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Brief an eine Freundin

 

 

Liebe Clara,

seit längerer Zeit kennen wir uns schon. Und ich freue mich immer, wenn von Dir eine e-mail eintrifft. Doch heute möchte ich Dir nun endlich sagen, was mich an Deinen Mitteilungen so sehr stört. – Manchmal sind Worte verdreht geschrieben, oder es fehlt hier und da mal ein Buchstabe. Ich weiß, es muss immer schnell gehen! Aber ich finde, man sollte seinem Brief- oder mail-Partner so viel Respekt entgegenbringen, dass man die Zeilen vor dem Abschicken noch ein Mal durchliest und wenn nötig, berichtigt. Ich meine keine Grammatik- oder Rechtschreibfehler,

sondern nur die Faselfehler, entstanden durch Unaufmerksamkeit.

Dazu möchte ich Dir eine Geschichte aus meinem Leben erzählen, die meine Ansicht bestätigt.

 

Während meiner Schulzeit in Dresden hatte unsere Klassenlehrerin, Frau Machold, eine Lerngruppe von vier Schülerinnen gebildet. Wir trafen uns zwei Mal in der Woche im Biologie-Zimmer der Schule. Nicht nur über unsere Lernprobleme sprachen wir mit Frau Machold, sondern auch über Gott und die Welt. Sie tröstete, wenn eine von uns Kummer hatte. Nach und nach waren wir unserer Lehrerin so ans Herz gewachsen, dass sie uns „ihre Kinder“ nannte. Eigene besaß sie nicht, und die Altersgrenze dazu hatte sie wohl gerade überschritten. Auch erzählte sie uns oft von ihrem Lebenspartner, einem bekannten Chirurgen in Dresden. Später erst wusste ich, dass dieser Arzt ein sehr korrekter , aufs Detail achtender Mensch war. Mein Vater erzählte mir damals ganz begeistert, dass er ein Arzt sei, der sich sehr für das künstliche Herz engagierte. „Er ist ein begnadeter Operateur, der sich für seine Patienten aufopfert,“ höre ich noch die Worte meines Vaters.

 

An einem unserer „Lerntage“ fanden wir Frau Machold in Tränen völlig aufgelöst vor. In ihrer Hand hielt sie einen Brief. Was sollten wir tun? Wir wollten schon leise den Raum verlassen, als sie zu uns sagte: „Leistet euch nie eine Schludigkeit im Leben. Auch seid nie schusslig im Umgang mit der Sprache! Das müsst ihr mir versprechen.“ Verständnislos sahen wir sie an! Erklärend erzählte sie uns dann, immer wieder unterbrochen von leisem Weinen, dass ihr Mann, wie sie ihn nannte, mit ihr Schluss gemacht habe. Erst nach und nach konnten wir uns folgendes zusammenreimen. Da sie sich oft tagelang nicht sehen konnten, hinterlegten sie Briefe oder Zettelchen mit Notizen oder lieben Worten in der gemeinsamen Wohnung. Und dann las sie uns einen Teil aus dem Abschiedsbrief vor.

 

„Liebes, wenn ich bei den Operationen so schludrig sein würde, wie Du in Deinen Zeilen an mich, würden die mir anvertrauten Menschen sterben. Ich halte das einfach nicht mehr aus...“

 

In dieser Nacht konnte ich kein Auge zumachen. Wie musste es Frau Machold ergehen, so kreisten meine Gedanken um das Erlebte. Am nächsten Tage in der ersten Schulstunde mit Frau Machold erschien sie nicht. Es wurde wild spekuliert, was los sein könnte. Als die zweite Stunde ohne unsere Lehrerin anbrach, öffnete sich die Tür, und der Schuldirektor trat ein. Etwas Unheimliches lag in der Luft, das spürten wir sofort. Mit erstickter Stimme sagte der Direktor: „Geht alle nach Hause. Frau Machold kommt nicht mehr. Sie ist gestern Abend von der Mordgrundbrücke in den Tod gesprungen!“

Unbeschreiblich, was diese offenen Worte auslösten! Alle waren wie erstarrt. An Unterricht wäre überhaupt nicht zu denken gewesen. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich diese Hiobsbotschaft – unsere geliebte Lehrerin - tot - unvorstellbar!

Bis weit nach dem Abitur hat mich dieser Freitod meiner Lehrerin bewegt. Sie hat den Abschied ihres Lebenspartners nicht verwinden können – wegen ihrer eigenen Unzulänglichkeit.

Ja, doch eigentlich bis heute prägte mich dieses Erlebnis, da ich Dir, liebe Clara, doch diese Zeilen schreibe!

 

Ergänzen möchte ich noch, dass der „Mordgrund“ keine Erfindung ist. Am Rande der Dresdner Heide liegt der Mordgrund – nicht weit vom Weißen Hirsch entfernt. Der Mordgrund wurde erstmals 1420 urkundlich erwähnt. Und über die Mordgrundbrücke darüber führt die Bautzner Straße. Unter der besagten Brücke fließt der Mordgrundbach. Interessant zu wissen ist, dass dieser ein kleiner Nebenfluss der Elbe im Osten von Dresden ist. Der Bach entspringt in der Dresdner Heide und mündet in Loschwitz in die Elbe. Er hat eine Länge von 3,5 Kilometern. Eine romantische Sage rankt sich um den Namen des Mordgrundes.

 

Meine liebe Freundin Clara, verstehst Du mich jetzt? Dass ich Dir diese Zeilen schreiben musste? Ich freue mich auf Deine nächste e-mail sehr!

Deine Freundin Helga

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 22.10.2016

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