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Der letzte Vorhang

In der Semper-Oper hatte ich meinen Platz eingenommen. "Was wurde eigentlich gespielt?", ging es mir durch den Kopf. Und mein Gott, warum sahen mich die anderen Besucher dermaßen musternd und scheel an? Freilich, ich hatte mein kariertes Alltagskleid an, und alle hatten sich richtig herausgeputzt. Neben mir war der Platz leer - wie immer. Warum starrte der ältere Herr auf der anderen Seite der Sitzreihe dermaßen belustigt zu mir herüber? Ich atmete auf, als das Licht ausging und sich der Vorhang hob. Wieso wurde nur gesprochen und nicht gesungen? Die Handlung packte mich, vor allem als Hexen oben ohne Bekleidung im wabernden Nebel auf der Bühne tanzten. In der großen Pause hatte ich das Opernhaus zu verlassen, so war es ausgemacht. Heute wartete mein Vater, um mich abzuholen.Hier muß ich einflechten, dass man das Jahr 1945 schrieb, und es war der 12. Febuar. Noch war alles friedlich und die Stadt ganz ruhug. Erst am nächsten Tag begann der Großangriff auf die Stadt Dresden. Vergessen darf man nicht, wir hatten den zweiten Weltkrieg.

 

So wütend wie an diesem Abend zu Hause habe ich meine Mutter selten erlebt. Ich hörte sie am Telefon rufen: "Unerhört von Ihnen meine Tochter mit ihren sieben Jahren in den Faust zu schicken!" Auch sei die Aufführung sehr in der Diskussion und umstritten. Ganz schüchtern fragte ich meinen Vater, warum denn im Faust nicht gesungen wurde, da das Stück doch in der Oper aufgeführt wurde. Er erklärte mir, dass dieses monumentale Werk auf der viel größeren Bühne, der Oper, statt im Theater gespielt werden würde.

 

Verbockt hatte diese Verwechslung im Spielplan Familie Weishaupt. Jede Woche fuhr ich zur Tochter, der Konzertpianistin Helga Weishaupt zum Klavierunterricht. Sie wohnte mit ihren Eltern in der Töpfergasse. Vater Weishaupt war der Instrumentenwart der Semper-Oper. Ihm und seiner Familie standen zu jeder Aufführung zwei Freiplätze zu. Für mich war das sehr verlockend, wenn gefragt wurde "willst du?" Und ob ich wollte. So waren es oft die Schüler, die die Freiplätze belegten. Und das mit großer Begeisterung. Ich glaube, so habe ich in der Nachmittagsvorstellung acht Mal "Hänsel und Gretel" besucht. Den "Freischütz" hörte ich sicherlich fünf Mal. Besuchte ich Abendveranstaltungen, hatte ich die Vorstellung in der großen Pause zu verlassen und wurde abgeholt. Bis zum Beginn der Oper blieb ich bei Weishaupts. Während des Abendessens lernte ich namhafte Künstler kennen. Mutter Weishaupt hatte bekannte Sänger unter ihren künsterlischen Fittichen. So wurde ich eines Abends Rudolph Schock vorgestellt. Heute zweifle ich keinen Moment daran, dass der Beruf meiner Eltern, eine Konditorei und Bäckerei zu haben, in der damaligen schlechten Zeit den Ausschlag gab, dass sowohl ich als auch meine beiden Schwestern Klavierunterricht bei den prominenten Weishaupts erhielten.

 

An den letzten Vorhang in der Semper-Oper vor dem Inferno in Dresden und der Zerstörung des Opernhauses erinnere ich mich, als ob es gestern gewesen wäre. Und der Faust hat der Siebenjährigen keinen Schaden zugefügt.

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Tag der Veröffentlichung: 07.03.2014

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