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Das Flugzeug landete, ohne Verspätung, auf dem Flughafen Sheremetjewo. Ich war wieder einmal in Moskau angekommen! Die Zoll- und Passformalitäten verliefen bei mir reibungslos.
Meine gute Lena sah ich schon von weitem am Empfang stehen. Sie hatte mich noch nicht erspäht. Durch den Strom der Passagiere kam man nur langsam voran. Lena war etwas älter als ich. Sie hatte eine große, kräftige Statur und schlanke Beine, die in geschnürten Halbschuhen steckten. Diesmal wieder trug sie ein geblümtes Sommerkleid und darüber eine Kostümjacke. Sie war eine absolute Respektsperson, und von ihren Kollegen wurde sie als sehr streng eingeschätzt. Ich allerdings kannte sie ganz anders. Wenn ich in Moskau ankam, dann war sie die Glucke und ich ihr Küken, das sie umsorgte und bemutterte bis zu meinem Abflug. Wir mochten uns vom ersten Augenblick unserer beruflichen Zusammenarbeit. Lena sprach perfekt Deutsch. Das gab den Ausschlag! Außer der Dolmetscherin sprach in meinem Betrieb niemand Russisch, auch ich nicht.

Jetzt hatte mich Lena erspäht. Sie winkte mir mit den Begrüßungsblumen zu. Noch ein paar Schritte – und dann lagen wir uns in den Armen! Nun konnte nichts mehr schief gehen. Lena fragte mich „wie geht`s? Wie war der Flug? Ist alles okay?“ – „Ja, ja, alles bestens!“ Sie hakte mich unter, und wir gingen zu ihrem Dienstauto. „Ich bringe dich erst mal in dein Quartier. Wie du mir geschrieben hast, ist es diesmal in der Handelsvertretung.“

Während der Fahrt sprachen wir auch über unsere Familien. Lenas einziger Sohn war das Sorgenkind. Kolja fuhr Taxe, zwar in einer Art Genossenschaft, aber er nahm sich Auszeiten wie es ihm gut dünkte. Meine arbeitswütige Freundin ärgerte sich über ihren Sohn maßlos. Von zwei jungen Frauen hatte er drei Kinder. „Mit seiner Balalaika und dem schönen Gesang betört er jeden“, so meinte Lena. „Und was das Schlimmste ist, noch mehr liebt er den Wodka! Auch mischt er in der Taxi-Mafia mit. Ich habe keinen Einfluss mehr auf ihn!“ Sie war bekümmert zusammengesunken.
Dann straffte sich Lena, wandte sich mir direkt zu und sprach mit ihrer tiefen Stimme, die keinen Widerspruch duldete „heute abend bist du bei uns zu Gast. 19 Uhr hole ich dich vom Quartier ab. Wir haben uns so viel zu erzählen. Die Arbeitsgespräche beginnen erst morgen.“

Wir waren an der Handelsvertretung angekommen, in der ich das erste Mal logierte. Das große Gebäude war mit einem Zaun umgeben, der weiß angestrichen war. An den Masten wehten die Fahnen unserer beiden Länder. Das Foyer war mit Marmor ausgelegt, erhellt durch mehrere Kronleuchter. Wer weiß, welcher Fürst hier einst residiert hatte.

Am Abend holte mich Lena und ihr Mann ab. Lew hatte ich schon zwei Mal in den vergangenen Jahren gesehen. Er war Professor für Mathematik an der Lomonossow-Universität. Lew passte gut zu Lena. Sie hatten die gleiche Größe. Lew war etwas schlanker als seine Frau. Er hatte schwarze Haare, die er nach hinten gekämmt trug, und er war bekleidet mit einem grauen Pullover und grauen Hosen. Das Auffälligste an ihm waren seine dunkelbraunen Augen und vor allem seine Brille. Diese sah aus, als ob er einen Kneifer tragen würde. Aber es war eine Brille mit Bügeln, wie ich ihn im Profil beobachten konnte.

Beide wohnten in einem Hochhaus, das der Universität gehörte. Die Wohnung lag im 9. Stock. Im breiten Flug ruhte auf einer Decke „Daida“, die schwarze Jagdhündin. Sie knurrte mich an. Lena meinte „du darfst sie nicht ansehen, dann lässt sie dich in Ruhe.“

Aufgehalten haben wir uns dann nur in der Küche. Es war ein quadratischer Raum mit einer großen Arbeitsfläche. „Das Buffet ist noch von meiner Mutter“, erzählte mir Lena. Und wirklich, dieses Möbelstück mit gehäkelten Scheibengardinen im Oberteil strahlte für diesen Raum totale Gemütlichkeit aus. Lew bat mich Platz zu nehmen an einem viereckigen Holztisch, der mit vier altmodischen Stühlen in der Mitte stand. Bald herrschte ein Stimmengewirr. Lew unterhielt sich mit mir in Englisch, mit seiner Frau in Russisch, und Lena sprach mit mir Deutsch. Dass ich Russisch weder sprach noch verstand, erwies sich für mich wieder einmal als nachteilig, aber wir hatten ja eine Lösung gefunden. Unsere Unterhaltung gab oft zum Lachen Anlass. Und so nach und nach füllte sich der Tisch mit Essereien und Wodka, gespickt mit Erzählungen aus ihrem Urlaub.

Lew ist passionierter Jäger. Er und Lena fahren jedes Jahr zusammen mit einem befreundeten Ehepaar in ihren Autos zur Rebhuhn-Jagd in die Taiga. Meist verbringen sie hier in Zelten einen ganzen Monat. Zu Hause wird das Gesammelte und Erjagte eingeweckt. Wenn man Lena auf den ersten Blick sah, konnte man sich kaum vorstellen, dass sie eine so exzellente Hausfrau ist. „Du musst von den Pilzen kosten, „und hier sind Moosbeeren, iss nur! Ich habe alles selbst gesammelt“, so Lena. Dazwischen anstoßen mit „sto-gramm“ Wodka. Russische Sitte ist es, dass das viele Geschirr während der ganzen Mahlzeit auf dem Tisch stehen bleibt. Nichts wird weggeräumt, aber immer mehr kommt hinzu. Und die Gläser werden immer bis zum Rand gefüllt – „na sdarowie , Prosit!“

Die Zeit verging wie im Fluge. Lew erwies sich als ein guter Erzähler der vielen Erlebnisse in der Taiga und an der Universität. Plötzlich klingelte das Telefon. Daida kläffte und sprang in die Küche, Lena nahm den Hörer ab. Ihr Gesicht verfinsterte sich. Was war geschehen? Sie sprach erst in Russisch mit ihrem Mann, dann erklärte sie mir in Deutsch „unser Sohn Kolja hätte heute Taxi-Dienst gehabt, und wir baten ihn, dich um Mitternacht in die Handelsvertretung zurückzubringen. Und nun...“. Meine Freundin schnippte mit Mittelfinger und Daumen an die Außenseite vom Kinn, was so viel hieß „er hat getrunken!“ Die gelöste Stimmung war auch bei Lew verflogen. „Aber Kolja hat mit der Abholung einen jungen Kollegen beauftragt, er wird in etwa 15 Minuten bei uns sein!“ Und tatsächlich zeigte die Uhr Mitternacht an. Plötzlich herrschte Hektik. Nach alter russischer Sitte wollten wir ein paar Minuten in Ruhe sitzen bleiben und schweigen – zur Verabschiedung. Aber es misslang, da Daida aufgeregt von einem und anderen rannte. Dann klingelte es, und es kam die Stunde des Abschieds. „Sleep well, bye bye“, so Lew und Nina „bestes Bekommen, lass es dir gut gehen! Ich hole dich morgen früh 9 Uhr ab, tschüs, tschüs.” Im Lift fuhren wir nach unten. Ich sah einen schwarzhaarigen Mann an einem schäbigen Auto stehen. Er sah aus wie ein Kirgise. Lena sprach mit ihm und drückte ihm etwas in die Hand. Dann umarmte sie mich herzlich und meinte „die Taxe habe ich bezahlt, ich gab auch ein fettes Trinkgeld, nur dass du Bescheid weißt. In etwa 10 Minuten bist du in deinem Quartier.“ Winken, ein letzter Gruß, dann fuhr das Taxi durch den Lichterschein der Großstadt.

Ganz überraschend, ich hoffte schon bald an der Handelsvertretung zu sein, bog das Auto in ein kleines Wäldchen. Wieso mussten wir durch dieses dunkle Gelände fahren? Ich versuchte meine Uhr zu erkennen, was aber in der Finsternis unmöglich war. Nur die beiden Scheinwerfer wirkten wie Finger, die sich durch die Finsternis krallten. Ich versuchte den Fahrer auf Englisch anzusprechen. Umsonst! Dann auf Deutsch – keine Antwort. Und ich konnte nicht Russisch sprechen! Wie war je eine Verständigung möglich? Die Fahrt ging weiter. Mir schien es, wir fuhren im Kreis. Was sollte das werden? Eine Entführung? Meine Finger fassten in die zum Teil aufgerissene Lederpolsterung. Jetzt drehte der dunkle Mann seinen Kopf etwas zur Seite. Grinste er höhnisch? Seine Hand langte zum Beifahrersitz. Griff er nach einer Pistole? Ich sah etwas Helles in seiner Hand blitzen. War es etwa ein Messer? Meine Angst stieg ins Unermessliche. Was war seine Absicht? Wenn es um Raub ging, so konnte ich nichts geben, außer meiner Armbanduhr. Noch Schlimmeres geisterte mir durch den Kopf, – dann tauchten einzelne Straßenlichter und Häuser auf. Das Taxi bog in eine Hauptstraße. Hatte es sich der Entführer anders überlegt?

Schließlich sah ich den weißen Zaun der Handelsvertretung leuchten und auch die Fahnen. Es musste die doppelte Zeit verstrichen sein. Ohne ein Wort stürzte ich aus dem Wagen und rannte zur Eingangstür. Nun war ich sicher. Mein Herz klopfte immer noch bis zum Hals. Auf meinem Zimmer rief ich sofort Lena an „warst du schon im Bett? Entschuldige!“ Und dann erzählte ich ihr von meinem Erlebnis und meinen Ängsten. Lena sagte „geht es dir gut? Beruhige dich. Ich werde alles aufklären. Morgen sage ich dir Bescheid. Nun schlafe nur.“ Erst gegen Morgen übermannte mich dann der Schlaf.

Meine russische Freundin begrüßte mich zur vereinbarten Zeit mit ausgebreiteten Armen.
„Entschuldige die Unbilden der nächtlichen Heimfahrt. Weißt du, was die Ursache war? Es war keine Mafia-Methode! Der Taxifahrer hat lediglich das Trinkgeld abgefahren! Er habe ein schlechtes Gewissen bekommen, da du doch Gast in unserem Moskau bist! Unwahrscheinlich, aber doch wahr! Er muss ganz neu im Geschäft sein. Sonst kassieren unsere Taxifahrer eher die doppelte Gebühr bei Gästen.“ – Lena lachte herzlich – und ich stimmte schließlich mit ein.

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Tag der Veröffentlichung: 07.03.2010

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