Cover

Es war für Hellen nicht leicht gewesen, einen Termin bei Frau Cherny zu bekommen. Diese Fünfundsechzigjährige kokettierte gern mit ihrem Alter, zumal sie wesentlich jünger wirkte, wahrscheinlich auch durch ihre Kompetenz in Sachen Kunst und ihr Temperament. Sie war als Kunstwissenschaftlerin Berater großer Auktionshäuser. Meist trug sie weiße Blusen zu einem sportlichen, grauen Hosenanzug. Ihre schulterlangen, brünetten Haare waren mit grauen Strähnchen durchwoben. Manchmal legte sie sich einen Schal um die Schultern – so wie es Künstler tun.

Hellen nickte ihr anerkennend zu, als Frau Cherny forschen Schrittes auf sie zukam. Diese musterte ihr Gegenüber mit einem wachen Blick. „Sie kommen wegen Meissner Porzellan. Seit wann haben Sie die Vorliebe für diese Schönheiten?“ Hellen antwortete: „Seit mir meine Großmutter, als ich sechs Jahre alt war, ein Gedeck in Indisch Grün schenkte. Ich liebe es sehr, und es durfte nie benutzt werden.“ Frau Cherny musste herzlich lachen: „Diese Liebe hat ja länger gehalten als zwischen zwei Menschen. - Darf ich fragen, wie alt sie sind?“ „Älter als Sie selbst,“ antwortete Hellen.

Sie fuhr fort: „Nun aber zu meinem Anliegen. „Diese Liebe zu Meissner Porzellan habe ich
noch vor der Preisregulierung vor 1980 vertieft und erweitert durch 60 Wandteller.“ Frau Cherny unterbrach Hellen: „Aber wie war das möglich? Wie Sie mir am Telefon sagten, sind Sie Dresdnerin. In der DDR gab es kaum Meissner Porzellan zu kaufen, das war ein begehrter Export-Artikel!“ Hellen antwortete: „Es war mir mit viel Enthusiasmus möglich. Aber das ist eine sehr lange Geschichte.“ „Diese müssen Sie mir erzählen. Jetzt habe ich Zeit zu hören.“ Frau Cherny ließ nicht locker.

„Als Autorin wollte ich zusammen mit einem Wissenschaftler ein Buch über Porzellanmarken schreiben.“ Frau Cherny warf ein: „Oh, da gab es bereits ein großes Werk im damaligen Westdeutschland.“ Aber es war uns nicht zugängig,“ entgegnete Hellen. „Ein Kunstverlag hatte auch großes Interesse, aber er stellte die Bedingung, dass die Marken auf fotografierten Exponaten dargestellt werden.“ Frau Cherny konnte sich vorstellen, was das bedeutete. Da klingelte ihr Handy, und das Gespräch war vorerst unterbrochen.

Hellen dachte an die ersten Anfänge des Meissner Porzellans. Das war vor 1708, da der Alchimist Johann Friedrich Böttger behauptete, aus werstlosen Materialien Gold herstellen zu können. Als das der Sächsische Kurfürst, August der Starke, in Dresden erfuhr, ließ er Böttger in der Jungfernbastei einsperren. Diese erste Werkstatt Böttgers ist durch den Dresdner Angriff verschüttet worden und noch heute unter Schutt begraben. In der Jungfernbastei machte Böttger zusammen mit Ehrenfried Walther von Tschirnhaus Versuche zur Herstellung von Porzellan. Diese Experimente führten 1708 zur Erfindung des ersten europäischen Porzellans, dem „weißen Gold“, denn es hatte damals eine sehr hohe Wertigkeit.

August der Starke ließ es 1710 patentieren. Und hergestellt wurde es 1710 bis 1863 auf der Albrechtsburg in Meißen. Von da an bis zum heutigen Tage liegen die Produktionsstätten im Triebischtal des kleinen Ortes in Sachsen. Daher stammt auch der Name „Meissner Porzellan“. Sein Symbol: die gekreuzten Schwerter. Zur Kennzeichnung qualitativ nur bedingter Ware und von Weißware wurden nach der Glasur seit 1764 Schleifstriche angebracht. Die Kennzeichnung durch die gekreuzten Schwerter war der Schutz vor Fälschungen.

Als Frau Cherny ihr Telefonat beendet hatte, setzte Hellen ihre Erzählung fort: „Das Buchvorhaben mussten wir aufgeben, es wäre zu kostspielig geworden, aber ich hatte schon angefangen, Meissner Porzellanteile mit unterschiedlichen Schwerterdarstellungen , also aus unterschiedlichen Zeiten, zu sammeln. Es war nicht mehr nur mein Anliegen, Porzellanmarken zu präsentieren, ich war regelrecht von einer Sammelleidenschaft befallen und von der Schönheit der Dekore verzaubert.“

Hellen steigerte sich in ihre Erzählung: „Durch meine Dienststelle hatte ich viel in Berlin zu tun. Diese Termine legte ich montags. An diesem Tag öffnete das Meißner Porzellangeschäft „Unter den Linden“ in Berlin 9 Uhr. Von zu Hause nahm ich den Nachtzug gegen 2 Uhr, dann war ich um 5 Uhr in Berlin. Am Porzellangeschäft warteten dann meist schon zwei bis drei Fanatiker, manchmal war ich auch die erste. Wir kannten uns schon, und gemeinsam standen wir dann bis 9 Uhr an – bei Wind und Wetter. Montags wurden zur Geschäftsöffnung immer fünf Exponate mit Sicherheit herausgestellt und verkauft.“

Hellen stoppte ihren Redefluss, die Erinnerung hatte sie übermannt. Auch Frau Cherny schwieg bis Hellen weitererzählte: „Und dann begann das Tauschen bis wieder eine neue Porzellanmarke ergattert war.“ „Welche Odyssee für Sie“, so Frau Cherny, „und in Westdeutschland platzten die Antiquitätengeschäfte aus allen Nähten. Bitte zeigen Sie mir nun die sechs Meissner Porzellanteller, die Sie zur Ansicht mitgebracht haben.“ Hellen wickelte vorsichtig ihren Schatz aus.

Die ersten Motive waren vor allem Chinoiserien in Aufglasurmalerei von dem berühmten Porzellan-Maler Johann Gregorius Höroldt. Diese chinesischen und japanischen Dekore wurden 1740 von „deutschen Blumen“ abgelöst. Es kam auch das sogenannte „Zwiebelmuster“ in Unterglasurblau auf den Markt. August der Starke ließ für den Dresdner Hof Figurenplastiken durch Johann Joachim Kändler herstellen.

Und nun kam Frau Cherny ins Schwärmen, als sie die Teller in den Händen hielt und sich an den Dekoren wie „alter reicher Löwe“, „Mingdrache“ und „Indisch Grün“ erfreute. Die Expertin selbst war Fan von der „Meissner Rose“ und „Streublümchenmuster“.

Die Teller von Hellen mit den drei zuerst genannten Dekoren waren auf der Unterseite gekennzeichnet mit dem Marcolini-Stern unter den blauen Schwertern. „Das ist eine große Besonderheit,“ meinte Frau Cherny. „Die Königliche Porzellan-Manufaktur erlebte eine Hochblüte von 1775 bis 1814 unter Graf Camillo Marcolini. Er war Minister sowie Generaldirektor der Künste und Direktor der Meißener Manufaktur. Er führte den Stern zusätzlich unter den Schwertern ein. „Das Porzellan mit dem Marcolini-Stern hat großen Seltenheitswert und ist kostbar, Hellen, so darf ich zu Ihnen doch sagen?“

„Und all diese Schönheiten wollen Sie in einer Auktion anbieten und verkaufen?“ fragte Frau Cherny. Die Antwort von Hellen kam rasch: „Ja, denn ich werde in ein Seniorenheim ziehen und habe keinen Platz mehr dafür.“ Die beiden Frauen unterhielten sich noch lange und verabredeten einen Termin bis zum endgültigen Bescheid und der Übergabe von diesem wunderbaren Fundus aus Meissner Porzellan.

Sehr schwer war Hellen diese Entscheidung gefallen, denn seit fast 30 Jahren erfreute sie sich an den Farben und Mustern auf dem „Meißen“. Jeder Strich wurde in Handmalerei ausgeführt. Wie oft hatte sie davor gestanden, und immer erfreute sie sich daran. In einsamen Stunden war sie getröstet worden.

Dann kam der Tag, da sich Hellen endgültig entschließen musste. Frau Cherny erwartete sie schon mit einer Tasse Kaffee. Und dann hörte sich Hellen selbst sagen: „Nein, ich werde nicht verkaufen. Ich vermache das Meissner Porzellan einer Galerie, damit sich auch andere daran erfreuen können!“ Frau Cherny umarmte Hellen herzlich. Beide Frauen waren sich vollständig einig, dass noch vielen Menschen Freude bereitet werden soll am „Weißen Gold“ aus der weltberühmten Manufaktur in Sachsen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 22.08.2009

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /