Hallo, Du.
Bevor du diese Geschichte zu lesen beginnst, hier zuvor einige wichtige Informationen.
Dieses Buch besteht zu einer Hälfte aus wahren Begebenheiten und historischen Grundbausteinen, zur anderen Hälfte jedoch aus schöpferischen Einfällen, allerlei Hirngespinsten und kindischen Fantastereien.
Warum dieser konfuse Mix?
Ganz einfach: Weil ich Spaß dran habe.
Kein Buch ist wirklich gut, wenn man am Schreiben keinen Spaß hat. Anstatt also etwas historisch 100-prozentig korrektes zu schreiben, dass ich mir jedoch gewaltsam aus den Fingern hätte ziehen müssen, habe ich lieber einfach das gemacht, auf das ich eben gerade Lust hatte.
Im Folgenden liefere ich dir eine kurze Zusammenfassung der Wahrheiten und Unwahrheiten aus diesem Buch, damit es dir später einmal nicht so schwer fällt Fiktion von Realität zu unterscheiden. Wenn du jedoch den Zauber dieser Geschichte aufrechterhalten möchtest, dann überspringe einfach das restliche Vorwort.
Nein? Du möchtest weiterlesen? Du möchtest Fiktion und Realität nicht ineinanderfließen lassen? Du möchtest die knallharte Wahrheit hören? In Ordnung!
Ganz zu Anfang: Die Geschichte beginnt ungefähr im Jahr 1290.
Zu den Wahrheiten:
- Von 1284 bis 1327 lebte wirklich ein englischer König namens Eduard, der auch wirklich die schottische Thronfolgerin Magarete heiraten sollte, die auch wirklich bei der Überfahrt nach Schottland starb.
- Auch kam es 1294 wirklich zum Französisch- Englischen Krieg, aufgrund eines Streits, um die südwestfranzösische Gascogne.
Diese war als Teil des Herzogtums Aquitanien ein Rest des angevinischen Reiches im Besitz der englischen Könige, doch die französischen Könige konnten ein englisches Gebiet in Frankreich in keinster Weise tolerieren. Als Eduard dem Ersten, 1279, durch den Vertrag von Amiens noch die französische Provinz Agenais zugesprochen wurde, wie es bereits im Vertrag von Paris vereinbart worden war, spitzte sich die Lage unentwegt zu.
- Auch was die Kleidung angeht, habe ich mich an die Mode aus dem 13 Jahrhundert gehalten. Eine Cotte (auch Kittel genannt) war zum Beispiel ein langärmeliges Schlupfkleid; das Surcot trug man damals gewöhnlich darüber. Ein Gebende war eine Kopfbedeckung, die besonders verheiratete Frauen zu tragen pflegten und ein Bliaut war ein höfisches Obergewand, das in sehr extravaganten Variationen und teuren Stoffen nur in der Oberschicht seinen Platz gefunden hat.
- Existieren tat auch der französische Prinz Peter, aus der Dynastie der Kapetinger und seine beiden kleinen Söhne Louis und Philippe, die beide auch wirklich nur ein Jahr alt wurden.
- Die Nägelchen (Nelken) und den Heilsalbei, hat man damals wirklich zum desinfizieren und reinigen von Wunden verwendet. Das darin enthaltene Eugenol wirkt dabei leicht betäubend.
- Und auch die gelbe Rübe gab es wirklich, denn sie ist nichts anderes als eine Karotte.
Und zu den Unwahrheiten:
- Nein. Es lebte leider nie eine Prinzessin Namens Katharina Eve Backamly. Auch wurde Prinz Eduard nicht mit einer Prinzessin namens Katharina bekanntgemacht. Ihr gesamtes Königreich gab es nie.
- Es gab natürlich auch nie die ach so magische Maulwurfsblüte, genauso wenig wie die gläsernen Schuhe, doch wenn es dem Prinzen im Märchen "Cinderella" nur durch Cinderellas magische gläserne Schuhe möglich gewesen war, sie ausfindig zu machen, was spricht dann gegen magische Pflanzen und nicht magische, gläserne Schuhe?
- Damals regierte kein Kaiser namens Friedrich der Zweite, sondern eigentlich ein deutsch-römischer Kaiser, dessen Name mir, auch nach allerlei gründlicher Recherche, nicht bekannt ist.
- Auch König Leopold und Prinz Leopold haben nicht existiert.
Und wenn du dich im Laufe der Geschichte fragen solltest, was genau "zur linken Hand getraut" bedeutet, dann zitiere ich dir kurzerhand schon mal Wikipedia (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Morganatische_Ehe): „Als morganatische Ehe (lateinisch matrimonium morganaticum, mittellateinische Neubildung zu althochdeutsch morgangeba „Morgengabe“) oder Trauung zur linken Hand wird eine Form der Eheschließung im europäischen Adel bezeichnet, bei der ein Ehepartner – meistens die Frau – von niedererem gesellschaftlichen Stand war als der andere („Nichtebenbürtigkeit“, siehe auch Hypergamie: „Hinaufheiraten“)."
Ich denke, das war genug Geschichte für dich. Ich komme mir schon vor wie meine Geschichtslehrerin.
Ich hoffe also, du verzeihst mir mein "dezentes" Eingreifen in die Geschehnisse des 13. Jahrhunderts, hast trotzdem Spaß am Lesen meines Buches und spürst vielleicht sogar meine Leidenschaft und Hingabe für die Beziehung zwischen der aufgeweckten und aufsässigen Katharina und dem wilden, rebellischen Cristan.
Ganz liebe Grüße an dich,
Viviane
In faith I do not love thee with mine eyes,
For they in thee a thousand errors note,
But ‘tis my heart that loves what they despise,
Who in despite of view is pleased to dote.
– Shakespeare, Sonnet CXLI
Nicht mit den Augen lieb ich dich. Die sehn
Genau, daß du ja voller Fehler bist ;
Es ist mein Herz, das liebt, was sie verschmähn,
Und dir, trotz Augenschein, verfallen ist.
– Shakespeare, Sonett CXLI (141)
„Morgana? Morgana? So wacht doch endlich auf! Das Frühstück wurde bereits beendet!"
Ich versuche die verklebten Augenlider anzuheben, doch sie sind schwer wie Blei.
„Lasst mich in Ruhe, Marianna. Ihr könnt doch wohl sehen, dass ich versuche zu schlafen", fauche ich undamenhaft und drehe mich auf die andere Seite, um eine bequemere Schlafposition zu finden.
Nicht an ihrer Stimme merke ich, dass meine Zofe zu mir spricht, sondern an dem Spitznamen, den sie mir vor einigen Jahren hat zu Teil werden lassen. Eigentlich heiße ich nämlich Katharina Eve Backamly (die Dritte).
Eines Tages starb Mariannas Schwester an einer Frühgeburt. Auch das Kind - welches eigentlich den Namen Morgana tragen sollte - überlebte nicht. Jenes Kind hatte jedoch leuchtend blaue Iris, so wie ich. Aus diesem Grund, und weil sie nicht wollte, dass ihre Schwester und deren Tochter in Vergessenheit gerieten, taufte Marianna mich Morgana. Vielleicht hilft ihr der Name aber auch einfach, mich ohne Angst in der Stimme anzusprechen. Glücklicherweise achtet sie seitdem so oder so darauf diesen Spitznamen nicht in der Öffentlichkeit zu verwenden.
Das mir dieser Name irgendwann zum Verhängnis werden wird, ahne ich schon seit langem.
Marianna lässt nicht locker. Sie rüttelt wie eine Wilde an meinen Schultern und entzieht mich der wohligen Wärme meiner weichen Decke. Wäre Marianna nicht schon seid Beginn meines elften Lebensjahres meine Zofe, so hätten die Wachen an meiner Tür sie bereits in Gewahrsam genommen.
„Was ist denn so wichtig, dass mein Schönheitsschlaf gestört werden muss?", frage ich, ohne die Augen zu öffnen und angle blind nach meiner Decke oder zumindest einem warmen Mantel. Marianna scheint meine Suche bemerkt zu haben, denn jemand schiebt mir seidenen Stoff zwischen die Finger. Zu Seiden, als dass ich damit nur zum Speisen gehen sollte.
Als meine Zofe mir keine Antwort gibt, hebe ich schließlich die Lieder an... und möchte sie sogleich wieder fallen lassen.
„Nein!", rufe ich aus und vergrabe meinen Kopf zwischen meinen riesigen Federkissen.
Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, dass Marianna auf meinem Bettrand Platz nimmt. Freundschaftlich und verständnisvoll tätschelt sie meinen Handrücken.
„Ich kann euch nur zu gut verstehen, Mylady. Aber ihr seid nun einmal sechzehn Jahre alt. Eure älteste Schwester ist bereits verlobt und auch Elisabeth steht kurz davor."
„Nur, dass Georgiana nicht wählen muss und Elisabeth wahrlich verliebt ist." Ich seufze.
Natürlich freue ich mich für Elisabeth, doch genauso sehr bin ich eifersüchtig auf sie. Ich möchte, dass mich auch ein Mann mit solch liebevollen Blicken besieht, wie William es bei meiner Schwester stets tut. Meine Haut soll ebenfalls mit zärtlichen, flüchtigen Küssen bedeckt werden und mein Haar soll auch vorsichtig nach hinten in meinen Nacken geschoben werden, damit die starke Hand meines Geliebten dort verweilen kann.
Ich möchte dieses Kribbeln unter der Haut und den rasenden Puls spüren. Ich möchte blind vor Liebe sein und ich möchte meine nutzlosen Gedanken nur noch an eine einzige Person verschwenden.
„So würdet ihr gerne mit Georgiana tauschen?"
Eine Weile blicke ich meine Zofe an. Wähle meine Worte mit Bedacht.
„Ja. Lieber möchte ich verheiratet werden, als täglich neue potentiellen Bewerber vor dem Tore stehen zu sehen. Und jedes Mal kommen sie nur, weil sie mich auf einem Bild gesehen haben. Mein Charakter ist ihnen weniger Wert als ein Weizenkorn."
„Nun ja. Vielleicht ist der heutige junge Mann anders. Ein Prinz aus dem Nordwesten; geboren in Nordwales. Und mehr als gutaussehend, wenn ich das sagen darf", schwärmt Marianna und zwinkert mir verschwörerisch zu.
„Ich habe bereits von ihm gehört. Lass es uns hinter mich bringen." Mir bleibt ja doch keine andere Wahl.
Und so hilft Marianna mir in den seidenen, blutroten Stoff, den ich zuvor als zu edel für einen Morgenmantel ausmachte.
Es ist ein hübsches Kleid. Wie jedes Stück welches mir Zacharias anfertigt.
Zacharias kennt mich inzwischen allzu gut, um das geschnürte Mieder nicht mit Draht zu verstärken und den Saum des Kleides nicht zu lang zu machen. Bei jedem meiner Kleider dachte er außerdem immer daran die Träger breit genug und ja kein zu gewagtes Dekolleté zu schneidern. Auch legte er mir stets flache, spitze Schuhe und leichten Schmuck heraus. Auch meinen Schapel hat er, anstatt aus Metall, aus dunkelroter Borte gefertigt, sodass es mir am Kopf nicht drückt. Als Letztes hilft meine Zofe mir mit dem Surcot, welches mir mein Vater zu meinem sechzehnten Geburtstag schenkte. Und da Zacharias bei diesem Kleidungsstück seine Finger nicht im Spiel hatte, gefällt es mir auch nicht. Da es ein Überkleid ist, ist es glücklicherweise Ärmellos, doch trotzdem wiegt der mit Hermelinpelz gefütterte und verzierte Stoff schwer auf meinen Schultern. Davon einmal abgesehen, dass für jeden schwarzen Fleck auf diesem Surcot ein Hermelin sein Leben lassen musste, war es unfassbar warm unter dem Pelz. Und um das Grauen zu vollenden, fällt mir der Surcot auch noch bis über die Füße, sodass ich beim gehen, besondere Vorsicht walten lassen muss.
Ich betrachte mich kurz im Spiegel, streiche über den feinen Stoff meines Unterkleides und richte meinen Schapel, der über meinen, von Marianna kunstvoll hochgesteckten und mit dunkelroten Perlen verzierten, goldblonden Haaren und meiner Stirn sitzt.
Genau genommen leuchtet mein Haar ausschließlich in der Sonne goldblond, ansonsten ist es eher ein ausgewaschenes hellblond. Trist und Öde. Doch mit den Perlen darin und den kostbaren Kleidern an meinem Körper wirke ich doch noch wie eine Prinzessin. Wie eine potentielle Braut.
Bildschön!, wie die Prinzen so oft meinen.
Ich atme tief durch, straffe die Schultern und verlasse schlussendlich mein Gemach. Dicht gefolgt von Marianna.
Wir kommen an den Wachen vor meiner Türe vorbei und ich nicke ihnen höflich aber damenhaft zu. Während der Jüngere der beiden ausschließlich Augen für meine Zofe hat, kann ich in dem Blick des Älteren eine Spur von Mitleid erahnen. Von Marianna weiß ich, dass er glücklich verheiratet und eine treue Seele ist.
Um mir selbst Mut zuzusprechen, deute ich vor dem guten Mann einen zaghaften Knicks an. Dieser ist sichtlich überrascht und sieht hilfesuchend zu seinem Partner.
Marianna kichert wie ein kleines Mädchen und schiebt mich eilig vorwärts.
Im großen Jahreszeitensaal wartet bereits mein Vater auf mich. Da er meine Unpünktlichkeit gewohnt ist, lächelt er nur müde und lässt sich schwerfällig in seinen massigen Thron sinken.
Zu seiner Rechten sitzt Georgiana. Aufrecht, stolz und geduldig. Wie eine wahre Königin.
Gleich neben ihr, auf einem wesentlichen schmuckloseren Thron, streckt gerade Elisabeth ihre schlaffen Glieder von sich und wird auf der Stelle von meinem Vater zur Ordnung gerufen.
Der Platz zu seiner Linken ist leer. Mein Platz. Ausnahmsweise.
Widerwillig lasse ich mich nieder und blicke nervös zu meiner Zofe hinüber. Mein Vater bemerkt meinen Blick. Mit einer einfachen Handbewegung winkt er sie fort. Augenblicklich spannt sich mein gesamter Körper an, weshalb ich versuche mich, wenigstens für einen kurzen Moment, abzulenken, indem ich meine Aufmerksamkeit auf das Innere des Saals lenken. Jede Wand zeigt eine Landschaft in einer der vier Jahreszeiten. Blühende Blumenfelder - für den Frühling, die sich spiegelnde Sonne auf dem azurblauen Meer - für den Sommer, ein weites Weingut, in allerlei Rot- und Brauntönen - für den Herbst und eine verschneite Berglandschaft - für den Winter. Für jedes der Bilder hat der damalige Maler beinahe ein halbes Jahr gebraucht, doch die lange Warterei hat sich wahrlich gelohnt.
„So lasst den Jungen endlich herein", herrscht mein Vater die Wachen an und sogleich schwingen die gigantischen, mit Gold verzierten Flügeltüren nach beiden Seiten auf und verfehlen nur knapp die beiden elfenbeinfarbenen Säulen.
Der Herold tritt ein, verkündet einen englischen Prinzen mit dem Namen Eduard dem Zweiten und verschwindet sofort wieder.
Ich sehe kurz zu meinem Vater hinüber, doch der scheint sich ein Blickduell mit der bemalten Wand zu liefern. Er hat genauso wenig Lust auf diese Wählerei wie ich, doch noch am Totenbett nahm meine Mutter ihm das Versprechen ab, ihre beiden jüngsten Töchter nicht unfreiwillig zu verheiraten. Georgianas Hand war zu jener Zeit bereits an Prinz Leopold, dem zukünftigen König unseres Nachtbarkönigreiches, vergeben.
Was würde ich nur dafür geben, um jetzt mit meiner Schwester zu tauschen?
Und was würde sie erst mir anbieten?
Oder ist sie zufrieden mit dem was sie hat?
Ich versuche mich erneut auf das Geschehen vor mir zu konzentrieren.
Ein junger Mann ist eingetreten. Dunkelbraunes Haar, wache Augen, gepflegte Kleidung, erhabenes Auftreten und strahlenstes Lächeln. Alles in allem sehr attraktiv, also warte ich.
Mein Vater winkt ihn mit seiner großen, schweren Hand näher und mustert ihn eingehend. Unterdes fange ich den Blick meiner ältesten Schwester auf. Sie lehnt sich ein Stück zu mir herüber, wobei ihr langes goldblondes Haar in ihren Schoß fällt. Fragend und doch in eleganter Art und Weise zieht sie eine Augenbraue hoch.
Ich warte noch immer. Auf ein Kribbeln in meinem Bauch, beschleunigten Herzschlag oder einfach schwitzige Handinnenflächen... doch nichts dergleichen. Ich muss ein frustriertes Schnauben unterdrücken, dann schüttel ich als Antwort kaum merklich den Kopf. Georgiana wirkt genauso enttäuscht wie ich.
Ich sehe zu Elisabeth, welche mich aufmunternd anlächelt.
„Nun denn, Prinz Eduard. Meine Tochter, Katharina." Mein Vater macht mit einem Kopfnicken auf mich aufmerksam.
„Katharina Eve Backamly die Dritte, es freut mich äußerst eure Bekanntschaft zu machen. Ihr seid bildschön, wenn ich das sagen darf", schmeichelt Prinz Eduard mir, nimmt meine Fingerspitzen in seine raue, warme Hand und deutet einen sanften Kuss an.
„Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite", erkläre ich zögernd, kann mich allerdings nicht zu einer erfreuten Miene durchringen. Prinz Eduard bemerkt meine Unsicherheit sofort.
„Möchtet ihr mich auf einen Spaziergang begleiten?"
„Ich spaziere nicht", rutscht es mir unglücklicherweise heraus, woraufhin der Prinz mich mit einer Mischung aus Überraschung und Irritation anstarrt.
„Sie reitet viel lieber aus", sagt mein Vater mit einer Stimme die keinen Widerspruch duldet.
Das strahlende Lächeln huscht erneut über Eduards Lippen.
Das habe ich mir selber eingebrockt!, denke ich mir im Stillen und nicke langsam.
Eduard hält mir seinen Arm hin, damit ich mich unterhaken kann. Mit einem letzten leisen Knurren verlasse ich den Saal.
Nur widerwillig lasse ich zu, dass meinem Pferd, Buggette, ein Damensattel aufgeschnallt wird. Während mein Pferd bereits gesattelt wird, versucht einer der Stallburschen noch immer das Reittier für den Prinzen einzufangen. Eine mollige, pechschwarze New-Forest-Ponystute, mit edlem Temperament und guter Laune, dass mir einer der Männer schenkte, der mir den Hof machte. Wahrscheinlich weil er selbst nicht mit ihr zurecht kam.
Sollte Eduard es schaffen freundlich mit diesem kleinen Wildfang umzugehen, dann würde ich ihm eine Chance geben.
Dieser scheint meinen Plan bereits durchschaut zu haben. Mutig stellt er sich vor die Stute und wirft die Arme in die Luft.
Molly stoppt auf der Stelle. Mit gespitzten Ohren steht sie da und beobachtet den Prinzen und jede seiner noch so kleinen Bewegungen.
Vorsichtig und von der Seite her, greift dieser nach dem Zaumzeug und tätschelt schließlich sanft Mollys angespannten Hals. Und mit einem Mal lässt sie sich ohne Probleme satteln.
Mit einem Blick über seine Schulter vergewissert sich Eduard, dass ich seine Wundertat mit angesehen habe.
Mein Schnauben geht in dem Scharren meines nervösen Wallachs unter. Beruhigend fahre ich ihm durch die dünne Stehmähne. Sein schneeweißes Fell glänzt in der Sonne mit meinen Haaren um die Wette.
Sobald Molly fertig aufgetrenst und aufgesattelt ist und Eduard aufgesessen hat, treibe ich Buggette in den Schritt. Wir kommen keine zehn Fuß weit, da beginnt Molly mit ihrem Kopf zu schlagen. Doch ein, zwei geübte Handgriffe vom Prinzen und sie trottet in aller Seelenruhe weiter. Wut kocht in mir auf und ich hole meinen Wallach ungewollt in den Trab.
„Ihr kennt euch gut mit Pferden aus", stelle ich überflüssigerweise fest. „Wie kommt es dazu?"
„Ich gehe viel reiten. Die frische Luft wirkt wahre Wunder bei einem verklärten Kopf. Meist sattle und trense ich sogar selbst."
Dazu sage ich nichts. Der Stolz und die Eitelkeit in seinen Augen verbieten es.
Ohne Absicht greife ich die Zügel kürzer, woraufhin Buggette sich versucht meiner Kontrolle zu entziehen, was ich schließlich völlig unkommentiert geschehen lasse.
Ich schlucke die Aggression herunter, die sich, aufgrund Eduards arroganter Haltung, nur zu gern an ihm entladen möchte.
Irgendwie schaffe ich es mich wieder zusammenzureißen und spreche mit falschem Mitgefühl: „Ich habe gehört, was mit eurer Verlobten geschehen ist. Mein herzlichstes Beileid."
„Wie meinen?" Der Prinz blickt verwirrt drein.
„Mit eurer Verlobten? Der schottischen Thronfolgerin, Margarete? Sie starb vor wenigen Monaten bei der Überfahrt nach Schottland..." Nun bin ich diejenige die verwirrt drein blickt. Hatte ich da etwas falsch verstanden?
„Ach Margarete! Aber natürlich! Es ist zu traurig, was ihr widerfahren ist. Sie war noch so jung!", ruft Eduard, mit gekünstelter Traurigkeit in der Stimme und ebenso gekünstelter Erschütterung im Mienenspiel, aus.
Inzwischen schnaufe ich vor Wut.
Was sind wir Frauen denn für ihn?
Spielzeug?
Werkzeug?
Und wenn wir kaputt gehen, dann werden wir eben kurzerhand ersetzt?
Ich beschließe dem Prinzen eine allerletzte Chance zu geben.
„Und wie steht es mit eurer Beziehung zu Frankreich? Wie ich hörte, soll sich der Streit, um die Provinzen Gascogne und Agenais, zuspitzen. Liegt Gascogne nicht im Südwesten von Frankreich?"
„Das tut sie in der Tat. Aber derart politische Themen haben Prinzessin nicht zu interessieren. Sie reiten im Übrigen auch ganz hervorragend!", versichert Eduard mir, mit einem charmanten Lächeln.
Ich balle die Hände zu Fäusten.
Was fällt diesem Flegel ein!?
Wie kann er es wagen, meine Frage auf so offenkundig unhöfliche Art und Weise abzuweisen?
Ich habe nun offiziell genug von diesem arroganten, selbstverliebten Menschen. Vor Wut kochend, drücke ich die Fersen herunter, straffe die Schultern und richte meinen Blick nach vorne. Dann presse ich meine Waden leicht in die Seiten meines Pferdes und lockere meinen Griff um die Zügel.
Eine Sekunde später presche ich durch den Wald. Buggettes Hufe auf dem festen Waldboden klingen hohl und mindestens so schnell wie mein Herzschlag.
Der Wind zieht mit all seiner Kraft an meinem schweren Surcot und macht es meinem Pferd so nicht besonders leicht, in vollem Galopp an den Bäumen vorbei zu hetzen.
Ein kleiner Ast streift meine Wange, doch ich bemerke ihn kaum. Stattdessen versinke ich in dem vielen Grün um mich herum.
Schneller und schneller und immer schneller...
Bei einer scharfen Biegung hänge ich all meinen Frust und meine Gedanken ab und fühle mich sogleich frei und unbekümmert. Die Sätze, die Buggette unter meinem Körper macht, werden kürzer und allmählich beginnt der eigenwillige Damensattel mir weh zu tun.
Ein letztes Mal genieße ich den Wind, der nun auch an meinem Haarknoten zerrt, das viele vorbeifliegende Grün und den hämmernden Hufschlag, dann nehme ich die Zügel wieder auf. Mein Pferd gehorcht kommentarlos und verfällt in einen ruhigen - zum Auslaufen genau richtigen - Trott.
Als ich einen flüchtigen Blick über meine Schulter werfe, entdecke ich Eduard, der fast genauso schnell unterwegs ist wie ich gerade eben. Besonders Molly hat ihre Freude an dem flotten Galopp und wirkt beinahe enttäuscht, als ihr Reiter sie zum Schritt zwingt.
Ich erwarte, dass Eduard sauer oder wütend auf mich ist, doch er grinst nur vor sich hin. Sein dunkelbraunes Haar ist völlig zerzaust und auch ihm hat ein Ast das Gesicht zerkratzt.
„Das war... wundervoll!"
„Wohl eher bildschön", murmel ich und lasse mich den Rest des Weges vollquatschen.
Die Gesellschaft des Prinzen ist mir unangenehm und seine stolze, arrogante und unerschütterliche Fassade macht mich einerseits rasend und andererseits speiübel. Da ich jedoch zur Höflichkeit erzogen wurde, gebe ich ab und zu ein „Oh!", ein „Ach wirklich?" oder ein „Wie schön!" von mir und lasse hauptsächlich Eduard die Unterhaltung führen, der - ganz nebenbei - noch immer nicht bemerkt hat, dass mich seine Worte verletzt haben.
Als er schließlich beginnt von der Fuchsjagd zu schwärmen, schalte ich komplett ab.
Der Schrei ging mir durch Mark und Bein. Nicht weil er so laut war, sondern weil er so unverhofft kam. Ich war nicht vorbereitet. Plötzlich ertappe mich dabei, wie ich einen Schritt zu Prinz Eduard aufrücken möchte, doch schaffe es im letzten Moment, mich zusammenzureißen.
Zittrig drücke ich dem ebenfalls erschrockenen Stallburschen Buggettes Zügel in die Hand, schlinge die Arme fest um meinen Oberkörper und laufe dem Ursprung des Geräusches entgegen. Nebenbei bekomme ich mit, dass auch Eduard sein Pferd abgegeben hat und mir nun geschäftig hinterher eilt.
Sobald der zweite Schrei - diesmal lauter, aber auch erschöpfter - die warme Luft durchschneidet, raffe ich den Saum meines Surcots und renne schneller. Im Stillen danke ich Zacharias. Diesmal dafür, dass er mir für den heutigen Tag nicht nur ein Paar spitzer, flacher Damenschuhe, sondern auch ein Paar bequemer Reitstiefel aus Leder herausgelegt hat, mit denen es ein Leichtes ist, über die losen Platten am Boden zu springen.
Schlitternd komme ich einige Straßen vom Jahreszeitensaal entfernt, auf dem Königsplatz, zum Stehen. Beinahe hätte ich einen älteren Herren umgestoßen, da der Platz rappelvoll ist. Ich kann nichts außer Menschen und Menschen erkennen.
Ein dritter Schrei hallt an den Häuserwänden wider und dringt deshalb doppelt so schmerzhaft an mein Ohr. Doch da ist noch ein Geräusch. Ein fürchterliches Zischen, das ich nicht zuordnen kann.
Ich recke meinen Kopf, um etwas zu sehen, doch die Menschen sind so in das Geschehen vor sich vertieft, dass sie die verzweifelte Prinzessin hinter sich gar nicht bemerken. Empört stampfe ich auf. Da packt Eduard mich plötzlich an der Hüfte und schiebt mich von der Menschenmasse weg. Mit Händen und Füßen wehrend, schaffe ich es mich loszureißen.
„Was soll das!?", rufe ich und im selben Augenblick begreife ich.
Eduard ist mit Sicherheit zwei Köpfe größer als ich und all die andern Leute. Es macht ihm keine große Mühe, kurz über die Köpfe der vielen Menschen hinweg zu sehen und das spannende Treiben eine Weile zu beobachten.
„Was geht da vor sich?", frage ich den Prinzen hysterisch und verkralle meine Fingerspitzen in den Ärmeln meines Unterkleides, doch Eduard schweigt.
„Was geht da vor!?", frage ich noch einmal, diesmal gereizter.
Als er mich erneut an der Hüfte packen möchte, schlage ich seine Hände fort und stürze mich in die Meute. Erst sind die Leute verwirrt, dann wütend, dass ich ihnen ihren Platz streitig mache. Und schließlich stocken sie; halten in ihrer Bewegung inne; erkennen mich. Mich die jüngste Prinzessin.
Trotzig hebe ich das Kinn und ringe mich dazu durch langsamer zu gehen. Erhabener. Auf der Stelle versinken die Leute um mich herum in eine tiefe Verbeugung, machen mir jedoch nur widerwillig den Weg frei.
Und da ist es wieder. Dieses ohrenbetäubende Zischen. Dann ein lautes Klatschen und der gleich darauffolgende Schrei.
Irgendwann halten nicht mal mehr vier Menschenreihen meinen Blick ab. Im gleichen Moment indem ich einen hageren, älteren Mann und einen kleinen Jungen beiseite schieben will, sehe ich es.
Die Peitsche.
Wie sie sich, wie eine Schlange, gefährlich und angsteinflößend durch die Luft schlängelt. Zischend und fauchend. Dann ist sie mit einem Mal spurlos verschwunden und das Klatschen ertönt. In dem Moment, in dem der Schrei sich an den kalten Häuserwänden bricht, habe ich die letzte Menschenreihe durchbrochen.
Ich weiß nicht wie ich reagieren soll. Mein Herzschlag setzt kurz aus, meine Knie beginnen unkontrolliert zu beben und das Schlucken schmerzt in meiner Kehle.
Ein Junge - nicht älter als 20 Jahre - ist mit den Handgelenken über seinem Kopf an einen Pfahl aus massivem, dunklem Metall gekettet; den Blick dem Jahreszeitensaal und den blanken Rücken der Meute zugewandt. Sein Hemd hängt ihm in Fetzen vom Körper, doch das ist nichts im Vergleich zu seinem Rücken. Die Peitsche hat seine gebräunte Haut zerfleischt, wie ein Löwe ein Rehkitz. Die Striemen sind deutlich zu erkennen... Angeschwollen und blutverschmiert. Ich schätze es sind sechs. Vielleicht mehr. Hoffentlich weniger. Ich schlage mir die Hand vor den Mund, um den Würgereiz in Zaum zu halten, als die Peitsche erneut auf den kaum mehr erkennbaren Rücken knallt.
Blut... Überall Blut!
Ich atme angestrengt durch den Mund und suche verzweifelt einen Ausweg - für den Jungen genauso wie für mich - oder zumindest eine Erklärung.
Der Schrei zerreißt mir das Herz. Er ist leiser. Erstickter. Erschöpfter.
„Der arme Teufel", murmelt eine Frau zu meiner Linken und unterdrückt krampfhaft die Tränen.
„Was ist hier los?", frage ich sie vorsichtig.
Sie sieht nicht auf, antwortet jedoch: „Er ist einer der Anführer der Rebellen. Er wollte einen Attentat durchführen, kam allerdings nicht weit."
„In so jungen Jahren? Einer der Anführer?"
Sie nickt kaum merklich.
„Wie viele Peitschenhiebe hat er noch auszustehen?"
Die Frau streckt mir ihre zittrigen Hände entgegen. Als ein weiterer Schrei ertönt, klappt sie den linken kleinen Finger ein.
Also noch neun...
Unbeholfen taumle ich einen Schritt nach vorne, werde jedoch von zwei starken Armen festgehalten. Instinktiv weiß ich, dass es Eduard ist. Ich ramme ihm meinen Ellenbogen in die Magengegend und als er mich loslässt, stolpere ich und falle auf alle viere. Wie durch einen Schleier sehe ich die Peitsche hinabsausen. Sehe wie der Junge sich schwach aufbäumt und wie er mit der Stirn gegen den Metallpfosten prallt. Blut rinnt über seine Schläfen und auch seine Handgelenke sind von den Ketten blutig gerieben. Gedämpft höre ich den Schrei und das leise Schnauben des Peitschenschwingers. Groß und breit und ohne Mitleid ist er.
Bevor ich mich aufrichten kann, werde ich wieder gepackt. Diesmal sind es zwei Personen. Stärkere Personen. Personen in silberglänzenden Rüstungen.
Ich schließe die Augen und lasse mich fallen. Lasse mich von den Wachen hochhieven und abführen.
Sie haben mich schon längst erkannt. Wenn nicht an der edlen Frisur, den echten Perlen und dem königlichen Schapel, dann an dem schweren und kostbaren Hermelinpelz.
Eine Wache hat meinen Arm um seine Schulter gelegt, der Andere stützt mich an der Taille. Meine Füße sind mit einem Mal bleischwer. Langsam sauge ich durch den Mund Sauerstoff in meine Lungen, wobei sich der Geschmack von Eisen auf meiner Zunge ablegt.
In der Ferne türmt sich der Jahreszeitensaal auf, in dessen Erker der König... mein Vater steht. Bis jetzt scheint er mich und die Wachen noch nicht entdeckt zu haben. Ich werfe einen Blick hinter mich. Eduard quatscht munter mit einer dritten Wache und deutet dabei immer wieder auf seinen Bauch, die Frau steht noch immer kurz vor einem Nervenzusammenbruch und der Rebell... sieht mich an. Er sieht mir direkt in die Augen. Seine sind dunkelbraun. Beinahe schwarz. Ich kann seine Iris kaum von seinen Pupillen unterscheiden.
Er bettelt und fleht mich nicht an. Er weint nicht. Er zeigt, bis auf seine Schreie, keine Schwäche und verlangt auch keine Hilfe von mir. Er sieht mich nur an... und da spüre ich es. Wie einen Blitzschlag durchfährt es mich. Von Kopf bis Fuß. Ich starre ihn an, bis er aus meinem Sichtfeld verschwunden ist.
Was hat er nur mit mir gemacht?
Ich liege in meinem Bett und starre in Gedanken versunken die Decke an. Gerade hatte ich mich mit Marianna unterhalten. Über den jungen Rebellen hatte sie noch nichts in Erfahrung bringen können, dafür aber ein wichtiges Detail über den Prinzen Eduard. Anscheinend legte sein Vater, König Eduard der Erste, allerlei Hoffnung in den heutigen Tag, da ihm die Vermählung seines einzigen überlebenden Sohnes, mit einer der Backamly Tochter, politisch viel bringen würde. Mein Vater könne nämlich König Eduard bei dem Streit, um die Provinzen Gascogne und Agenais, zur Seite stehen und König Eduard könne wiederum meinen Vater im Kampf gegen die Rebellen unterstützen.
Komischerweise drehten sich meine Gedanken, seit dem Gespräch mit Marianna, ununterbrochen um den Rebellen, anstatt, wie von meiner Zofe angenommen, um den Prinzen.
Da klopf es an die Tür. Mein Vater tritt zögernd ein und lässt sich anschließend auf meinem Bettrand nieder.
„Prinz Eduard ist, auf deinen Wunsch hin, abgereist", beginnt er und streicht mir vorsichtig das lange Haar aus der Stirn. „Stimmt es, dass du ihn in den Bauch geschlagen hast?"
Der König grinst schief, als ich unsicher nicke.
Meinem Bauch geht es bestimmt viel schlimmer, als dem von Eduard, denn in meinem herrscht noch immer ein völliges Gefühlschaos.
„Warum hast du das getan?" Mein Vater grinst noch immer, was ihm etwas Jungenhaftes verleiht.
„Ich mochte ihn nicht. Würde jemand seinen Stolz und seine Arroganz in Silber aufwiegen, so könnte unser gesamtes Volk sein Leben in Reichtum verbringen."
Meine Bemerkung bringt ihn zum Lachen.
„Vater? Warum rebelliert man gegen uns? Du bist doch ein guter König?"
Verwirrt, über den plötzlichen Themenumschwung, mustert mein Vater mich.
„Wie kommst du denn darauf?", fragt er und verschränkt die Hände ineinander.
„Du lässt alle Bauern mit ihren Problemen zu dir kommen. Du behandelst sie wie unseresgleichen. Du glaubst ihnen sogar, wenn sie schlecht von einem Adligen reden. Macht dich das nicht zu einem guten König?" Erschöpft setze ich mich auf. Mein Vater zuckt die Schultern.
„Merke dir eins: Es wird immer Leute geben, die sich ungerecht behandelt fühlen. Niemand kann es jedem recht machen."
„Und der Junge der... ausgepeitscht wurde? Warum war er unzufrieden? Warum hat er rebelliert?" Allein das Wort 'ausgepeitscht' lässt die Galle in mir aufsteigen.
Die Miene meines Vaters ist undurchdringlich und wie aus Granit gemeißelt, als er spricht: „Du scheinst ein reges Interesse an diesem Jungen gefunden zu haben."
Ich schweige. Würde ich es abstreiten, hätte ich mich enttarnt und würde ich es zugeben, weiß ich nicht was mein Vater als Nächstes tun würde.
„Vielleicht solltest du erfahren, wem sein Attentat gelten sollte. Nämlich dir und deinen Schwestern."
Die Worte meines Vaters schmerzen mehr als es ein Schlag ins Gesicht hätte tun können.
Deshalb hat er dich so angeschaut, bemerkt mein Hirn scharfsinnig. Nur schwer kann ich die Tränen unterdrücken.
„Wird er hingerichtet?", frage ich mit bebender Stimme, doch mein Vater deutet mich falsch.
„Aber natürlich, mein Liebling. Mach dir keine Sorgen. Wir holen noch ein paar Informationen aus ihm raus und in spätestens einer Woche erfährt ihn der Tod durch den Strick", flüstert er behutsam, tätschelt noch einmal meinen Arm und verlässt anschließend mein Gemach.
Die ganze Nacht bekomme ich kein Auge zu. Sobald sich meine Lider senken, sehe ich sofort die Auspeitschung vor mir. Also beschäftige ich mich stattdessen mit allerlei Fragen.
Warum rebelliert der Junge gegen meinen so gütigen Vater?
Warum waren ich und meine Schwestern das Ziel des Anschlags und nicht der König selbst?
Um ihm seelische Qualen zu breiten?
Oder hätte mein Tod noch einen anderen Zweck gehabt?
Hat der Junge mich deshalb so eindringlich angeschaut?
Hat er Angst vor dem Tod? Vor der Hinrichtung?
Und was ist dieses Gefühl, das er so nah an meinem Herzen zurückgelassen hat?
Nicht eine der Fragen kann ich sicher beantworten. Sie bleiben alle ungeklärt.
Das Einzige dessen ich mir nun mit Sicherheit gewiss bin ist, dass dem Jungen im Kerker kalt ist, dass er gigantischen Hunger und fürchterliche Schmerzen hat.
Ich versuche mir sein Gesicht in Erinnerung zu rufen und erst da fällt mir auf, dass ich mich nicht an seine Haarfarbe erinnern kann und auch nicht weiß ob er große Ohren oder eine kleine Nase hat. Ich kann mich allein an seine Augen erinnern. An seine wunderschönen Augen und seinen zerschlagenen Rücken.
Bald finde ich heraus, dass ich die schrecklichen Bilder der Auspeitschung ganz einfach, durch die dunklen Augen des Jungen, ersetzen kann. Sobald ich die Lider senke, sehe ich sie. Freundlich und irgendwie drängend blicken sie auf mich herab.
Und schließlich werde ich von einem sanften Kribbeln unter dem Herzen in tiefen Schlaf gewogen.
Ohne Erbarmen zieht Marianna den langen, goldenen Stoff vor den Fenstern zur Seite. Die Sonnenstrahlen fahren durch das dicke Glas und strahlen mir direkt auf die geschlossenen Lider. Am ganzen Körper zitternd fahre ich hoch, da mich das plötzliche helle Licht aus meinem Traum gerissen hat.
Überall dunkelbraune Augen...
Marianna beginnt heiter zu singen und macht sich an der frischen Wäsche zu schaffen.
„Zacharias arbeitet wieder an einem neuen Kleid für euch."
„Ach ja?", frage ich gähnend und strecke meine steifen Arme.
„Es soll schwarz mit einigen Goldstickereien werden. Ohne Pelz, Gürtel und Glitzersteine. Und ziemlich kurz! Mann wird doch tatsächlich einen Teil eurer Waden sehen!", ruft Marianna empört aus, faltet eine giftgrüne Cotte zusammen und singt weiter.
Ich seufze und lasse mich zurück in die weichen Kissen sinken, doch meine Zofe hat ganz andere Pläne. Sie packt mich am Arm und zieht mich aus dem Bett.
„Tss-tss-tss! Aufstehen... Aufstehen habe ich gesagt! Euer Vater hat mir höchstpersönlich aufgetragen, dafür zu sorgen, dass ihr heute beim Essen erscheint! Er duldet keinen Widerspruch!" Sie zwinkert mir verschwörerisch zu. „Keine Sorge. Für den heutigen Tag stehen keine bereitwilligen Ehemänner vor der Tür."
Das Wort 'Ehemann' versetzt mir einen üblen Schlag in die Magengegend. Unwillkürlich muss ich an den Jungen mit den dunkelbraunen Augen denken...
Ich schüttel wild den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben und greife reflexartig nach dem giftgrünen Unterkleid.
Marianna wirkt geschockt über meine Farbwahl, doch sie verkneift sich jeden Kommentar. Stattdessen schnürt sie mir das Mieder, streift mir flache, schwarze Schuhe und ein dunkelgrünes Surcot mit schwarzem Saum über und zupft schließlich eine Weile an meiner Sturmfrisur herum.
„Gefällt mir! Hat etwas Wildes!", lobt sie meine aufgeplusterten Haare und steckt sie mit flinken Fingern etwas fester. Um von meinen grünen Gewändern abzulenken, wählt sie ein sehr edles und auffälliges Schapel. Zacharias hat es aus weißem und goldenem Damast genäht und es üppig mit verschiedenen Goldbrokatborten, einem Satinband, weißen Wachsperlen und drei kleinen Topasen verziert.
Als ich mein Gemach verlasse stehen dort wieder zwei Wachen. Der Jüngere wurde durch einen Mann mit strenger, mitleidloser Miene ersetzt. Der Ältere macht seinem Stand weiterhin alle Ehre. Als ich an ihm vorbei gehe, erlaubt er sich sogar ein winziges Lächeln, welches ich nur zu gern erwidere.
Der Speisesaal liegt etwas erhöht und in direkter Nähe zum Jahreszeitensaal. Von hier aus kann man den Königsplatz in all seiner Pracht sehen. Der dunkle Metallpfosten steht noch immer an der selben Stelle wie gestern und selbst das Blut wurde nicht von den breiten Pflastersteinen gewischt oder mit Sand verdeckt. Augenblicklich dreht sich mir der Magen um. Ich wende den Blick ab und nehme neben meiner Schwester Elisabeth Platz, welche völlig undamenhaft mit ihrem Besteck spielt. Ihr kurzes, hellbraunes Haar hat sie sich zu einem strengen Pferdeschwanz binden lassen, doch ihre fröhlichen blauen Augen würden jeden ersten ernsten Gesamteindruck zerstören.
„Hübscher Schapel! Hat Marianna ihn für dich ausgesucht?", fragt sie neugierig.
Ich nicke nur.
„Glaubst du, du könntest sie mal entbehren? Also... Marianna meine ich. Damit sie mir die Haare macht?"
Ich nicke wieder.
„Geht es dir gut?"
„Hm? Ja..."
„Was ist los? Ich bin doch nicht blind", flüstert Elisabeth und tätschelt liebevoll meinen Handrücken.
Ich zucke nur die Schultern. Irgendwann würde ich mal mit ihr darüber reden, doch im Moment würde ich mich nicht mal meiner ältesten Schwester anvertrauen.
„Nun gut. Ich möchte dich nicht bedrängen."
„Wegen was, möchtest du sie nicht bedrängen?" Georgiana hat den Raum betreten. Der Saum ihres langen goldenen Bliauts schleift über den Boden und ihre goldblondes Haar wurde kunstvoll nach oben gesteckt. Ihre gerade Haltung strahlt etwas Erhabenes aus. Würde und Stolz.
Mit einer fließenden Bewegungen nimmt Georgiana mir gegenüber Platz und falten die Hände sorgsam in ihrem Schoß.
Sie ist ganz anders als Elisabeth. Elisabeth nimmt alles hin wie es kommt und lebt ihr Leben so wie sie es für richtig hält. Anstand und Manieren besitzt sie, doch ab und zu schüttelt sie alles ab und vergisst sogar, wo sie sich zur Zeit aufhält.
Im selben Augenblick in dem ich daran denke, stützt Elisabeth, wie zur Bestätigung, die Ellenbogen auf die Tischplatte.
„Also?"
Weder ich noch meine Schwester geben Georgiana eine vernünftige Antwort, doch jene belässt es dabei. Geduldig wartet sie auf den König und beginnt anschließend, so vornehm wie es ihr mit den langen und weiten Ärmeln des Bliauts möglich ist, ihre Eiersuppe mit Safran zu löffeln. Was ihr erstaunlicherweise mit äußerst eleganten Bewegungen gelang.
„Katharina?", spricht mich mein Vater an, nachdem dutzende Tablette mit allerlei verschiedenen Brotsorten und Aufstrichen aufgetragen wurden. Überrascht hebe ich meinen Blick.
„Ja?"
„Schmeckt es dir nicht?"
Eine Weile schaue ich meinen unangerührten Teller an und schüttle schließlich den Kopf.
Mein Vater legt sein Besteck beiseite und beginnt sich nachdenklich durch den dichten Bart zu streichen.
„Was ist los? Ich bin doch nicht blind!"
Elisabeth verschluckt sich lachend an einem Bissen Brot und versucht leise ihre Lunge wieder frei zu husten... Was, meiner Meinung nach, nicht sonderlich gut zu funktionieren scheint. Ich erwarte eine strenge Ermahnung meines Vaters, doch dieser ist vollkommen auf mich fixiert. Er scheint Elisabeth nicht einmal gehört zu haben.
„Seid bereits einer Stunde starrst du aus dem Fenster. Du sprichst kein Wort und auch deine Tischmanieren lassen zu wünschen übrig. Bis auf die Suppe, hast du nichts angerührt und statt dem dir üblichen Wasser, hast du Wein gefordert. In sehr ruppigen Tonfall übrigens."
Mein Mund klappt auf, doch ich bringe keine Erklärung über die Lippen.
Was sollte ich schon sagen?
„Wenn ich mich einmischen darf? Ich denke Katharina hat einfach große Lust reiten zu gehen. Kein Wunder, bei dem schönen Wetter", meldet Georgiana sich zu Wort und rettet mich damit aus meiner misslichen Lage. Sie wird einmal eine hervorragende Königin abgeben.
„Ja! So ist es! Ich kann es kaum noch erwarten!", rufe ich voller Inbrunst und lächle meiner ältesten Schwester unauffällig zu.
„Nun, wenn das so ist..." In den Augen meines Vaters kann ich sehen, dass er uns nur wenig Glauben schenkt. Er weiß, wo meine Gedanken hängen. Er weiß, bei wem meine Gedanken hängen.
Doch er schweigt; nickt nur. Anscheinend hat er, genauso wie ich, keine Ahnung, wie man dieses heikle Thema endlich vom Tisch räumen könnte.
Irgendwann hebt mein Vater die Hand und sagt: „Du bist entlassen, Katharina."
Um meine Tarnung nicht zu gefährden, springe ich voller Elan auf, wobei ich beinahe meinen Stuhl umstoße. Während Georgiana keine Miene verzieht, macht Elisabeth keinen Hehl aus ihrer Belustigung. Selbst dem König rutscht ein winziges Grinsen heraus.
Selbstzufrieden stürme ich aus dem Speisesaal hinaus, die langen, prunkvollen Gänge entlang, in mein Gemach. Auch ohne meine Zofe, schaffe ich es mir die Haare ordentlich zusammenzubinden, ein ordentliches Reitgewand anzuziehen und die festen, kniehohen Lederstiefel aus meinem Kleiderschrank zu holen.
Im selben Moment, in dem ich mich aufmachen will, öffnet sich die Tür und Marianna tritt ein. Verwundert bleibt sie stehen; die Tür noch in der Hand.
„Mylady..."
„Hast du Lust mich auf einen Ausritt zu begleiten?"
Vollends irritiert blinzelt sie mich an und sucht verzweifelt nach den richtigen Worten.
„Ich... Ich besitze doch gar kein Pferd, Mylady", stottert sie schließlich.
Ich winke ab. „Ich stelle dir eins zur Verfügung. Willst du nun mitkommen oder nicht?"
Natürlich will sie.
Marianna reitet Molly. Alle anderen Pferde werden irgendwo gebraucht. Klugerweise verschweige ich meiner Zofe, welchen Ruf die dunkle Stute genießt. Doch meine Sorgen sind unbegründet. Da sie gestern ausgiebig mit Buggette um die Wette gerannt ist, ist Molly beinahe träge. Sie lässt ihren schweren Schädel hängen und stolpert sogar einige Male. Ich muss mein Pferd zügeln, damit sie hinterher kommen kann.
Eine Zeit lang schweigen Marianna und ich. Es ist an mir - an der Prinzessin - das Gespräch einzuleiten.
Ich seufze. „Marianna?"
„Ja, Morgana?"
Eine kleine Pause entsteht, da ich nicht weiß, wie ich meine Frage formulieren soll.
„Wie weit würdest du für mich gehen?", bricht es plötzlich aus mir heraus.
„Wie meint ihr das?" Ihr Gesicht hat sie zu einer entstellten Fratze verzogen. Sie ist mit der Situation sichtlich überfordert.
„Schon gut", entschuldige ich mich und wende den Blick ab.
Ein hübscher, bunter Vogel zwitschert in einer dunkelgrün blühenden Baumkrone seine Melodie. Ich schließe die Augen und lausche. Genieße die Ruhe und den Frieden; die warmen Sonnenstrahlen auf meinen nackten Unterarmen.
„Nein! Bitte! Bitte sprecht!", fordert mich Marianna leicht hysterisch auf. Die Zügel hat sie unbewusst fester gegriffen.
„Wenn ich dich um etwas bitten würde...", beginne ich stockend. „Würdest du das dann auch tun? Ohne Fragen zu stellen?"
Sie legt den Kopf schief und überlegt eine ganze Weile.
Als ich mir schon fast sicher bin, dass sie mir die Antwort schuldig bleiben wird, flüstert Marianna: „Ich denke, das kommt ganz auf die Bitte an."
Ich beiße mir kräftig auf die Unterlippe.
„Was möchtet ihr den, dass ich für euch tue?"
Ich atme tief durch, straffe meine Schultern, wie es sich für eine Dame in meinem Stand gehört und sage dann: „Ich möchte, dass du für eine halbe Stunde Prinzessin spielst."
Mit flinken Schritten verlasse ich mein Gemach und schreite an den Wachen vorbei. Mein Rücken ist gebeugt und den Blick habe ich demütig gesenkt. Am Ende des Flurs atme ich erleichtert auf. Die Wachen haben mich nicht erkannt.
Wie sollten sie auch?
Mein Gesicht ist mit Ruß beschmiert, ein Gebende aus Leinen verbirgt meine blonden Haare und die edlen, wunderschönen Kleider von Zacharias habe ich durch eine kurze, braune Zofen-Aufmachung eingetauscht.
Ich fühle mich ziemlich unwohl, doch ein Ziehen direkt unter meinem Herzen drängt mich dazu, alle negativen Gedanken einfach abzuschütteln.
Mit zittrigen Knien, verlasse ich das imposante Gebäude und nähere mich dem Königsplatz. Da ich es gewohnt bin, dass die Leute vor mir ausweichen, stoße ich prompt mit einem jungen Mann zusammen.
„Pass doch auf, Miststück!", fährt er mich an und stößt mich weg.
Geschockt stehe ich da, balle die Hände zu Fäusten und suche nach Worten.
Was für eine Frechheit!!
Was bildet der sich ein!?
Schweren Herzens schlucke ich die aufkeimende Wut in meinem Inneren herunter und tippe dem Mann leicht auf die Schulter.
Wie vom Blitz getroffen, wirbelt er herum, sodass ich unsicher einen Schritt zurück weiche.
„Was will-"
„Wo befinden sich die Kellergewölbe?", unterbreche ich ihn bissig, da ich felsenfest davon überzeugt bin, dass er mich ignorieren würde, wenn ich weiterhin freundlich zu ihm wäre.
„Die Kellergewölbe? Sag mal, sprichst du von den Kerkern?" Er starrt mich an, als wäre ich das dümmste und naivste Ding, das ihm jemals vor die Füße gekommen ist.
Ich nicke nur.
„Da lang. Immer der Nase nach", knurrt der Mann, deutet auf die gegenüberliegende Seite des Platzes und dreht mir erneut den Rücken zu. Ich zische noch ein unfreundliches „Danke", dann mache ich mich auf.
Nach wenigen Metern wird mir klar, was 'immer der Nase nach' zu bedeuten hat. Mit jedem Schritt den ich tue, wird die Luft dicker und der Gestank schlimmer. Bald ist er so unerträglich, dass ich mir den Ärmel meines Kleides vor das Gesicht halten muss. Es riecht nach verrichteter Notdurft, Verwesung, Ratten und... dem Tod.
Hustend und würgend komme ich vor einem schmiedeeisernem Tor zum Stehen. Eine breitschultrige Wache steht davor und sieht grimmig auf mich herab.
„Was!?"
Ängstlich und mit einem Schlag vollkommen unsicher, ziehe ich die Schriftrolle mit dem königlichen Siegel aus einer der tiefen Taschen des Kleides und halte sie ihm wortlos hin.
Den Stempel meines Vaters kurz und ungesehen zu 'borgen' ist überhaupt kein Problem gewesen, doch ich konnte ihn ja schlecht bitten, mir eine Erlaubnis, für den Besuch eines zum Tode verurteilten Rebellen, zu schreiben. Aus diesem Grund hoffe ich, dass die Wache weder die Schrift des Königs noch die meine kennt und ihn die unbeholfenen Formulierungen nicht stutzig machen.
Mir fällt ein Backstein von Herzen, als die Wache kurz angebunden nickt und mich nur nach der Bibel fragt. Schnell ziehe ich den Vorwand meines Besuches aus einer anderen Tasche meines Gewands. Ein dünnes, in rotem Samt eingeschlagenes Buch mit der Aufschrift: Das Alte Testament.
Wieder nickt die Wache und öffnet mir schließlich - quietschend und knarrend - das Tor. Er verschließt es hinter uns, greift nach einer der an der Wand hängenden Fackeln und beginnt anschließend die steilen Treppen nach unten zu steigen.
„Achtung! Nicht ausrutschen!", faucht die Wache und ich gebe mein Bestes seinen Rat zu befolgen. Doch mit jedem Schritt, werden die Stufen feuchter und brüchiger. Noch dazu ist hier unten die Fackel die einzige Lichtquelle.
Langsam kommen mir Zweifel bei meinem Vorhaben. Allerdings ist es dafür nun mehr als zu spät.
Nach einer ein drittel Ewigkeit fange ich an, mich mit den Händen an der rauen, kalten und glitschigen Wand abzustützen.
Nach einer halben Ewigkeit spüre ich, wie mir eine übergewichtige Ratte über die Stiefel huscht. Mit aller Kraft schaffe ich es einen Schrei zu unterdrücken.
Nach einer ganzen Ewigkeit hören die Stufen endlich auf und die Fackel erleuchtet einen in bloßen Stein gehauenen Gang. Ich zähle ungefähr sieben gusseiserne Türen, die brutal in den dunklen Fels geschlagen worden waren. Vier davon sind aus den Angeln gerissen und hängen lose im Steintürrahmen.
Die Wache stößt die zweite Tür auf, hinter der sich ein weiterer Gang befindet. So geht das noch zweimal und dann stehe ich ohne jede Vorwarnung vor handbreiten Gitterstäben. Dahinter ist ein Loch, das einige Leute wohl als Verlies bezeichnen würden. Für mich jedoch ist es nur ein stinkendes Loch.
„Der Kerl ist angekettet, also... keine Angst", murrt die Wache, mustert mich prüfend und schließt mir dann auf.
Mein Herzschlag rast unkontrollierbar und meine Atmung habe ich unbewusst eingestellt. Mit zittrigen Fingern umklammere ich die Bibel und betrete... den Kerker. An den Geruch habe ich mich inzwischen gewöhnt, doch ich atme auch weitestgehend durch den Mund.
„Fünf Minuten", bellt die Wache mich durch die Gitterstäbe an, entzündet eine Fackel zu meiner Linken und verlässt gelangweilt den Raum. Ich stoße den angehaltenen Atem aus und ziehe mit einer Hand den braunen Mantel etwas enger um meinen Oberkörper, da es hier unten eiskalt ist. Schließlich drehe ich mich um und versuche in dem Halbdunkel irgendeine Bewegung auszumachen.
„Besuch!? Pah! Mit wem habe ich denn das Vergnügen!? Mit dem Schlächter höchstpersönlich!?", zischt eine heißere Stimme.
Ich mache einen zögernden Schritt auf sie zu und kann bereits Umrisse erahnen.
Und noch einen Schritt...
„Nicht so zöger-" Die Stimme bricht ab. „Ein... Mädchen!?"
Ich schlucke und nicke, bin mir aber nicht sicher, ob der Junge, zu dem die heißere Stimme gehört, das in dem wenigen Licht der Fackel erkennen kann.
Noch einen Schritt...
Und dann sehe ich ihn.
Zusammengesunken hockt er auf einem flachen Stein. Um die Hand- und Fußgelenke prangen schwere Ketten, die ihren Ursprung in der Wand hinter ihm haben. Weder seinen zerschlagenen Rücken noch die Platzwunde an seinem Kopf hat jemand behandelt.
Warum sollte man auch?
Mit neuem Mut hocke ich mich vor ihn, jedoch außer Reichweite seiner Arme und Hände
„Bist du gläubig?", frage ich ihn vorsichtig.
Wenn ich mich bei dem trüben Licht nicht täusche, dann zieht er die Augenbrauen in die Höhe.
„Wird nicht jeder gläubig, sobald er dem Tod von Angesicht zu Angesicht gegenüber steht?", meint er schließlich und wirkt nur noch erschöpft.
„Hier." Ich lege ihm die Bibel vor die Füße. „Die Wache wird die Fackel brennen lassen."
Der Rebell rührt sich nicht.
Schweigen legt sich über unsere Häupter.
„Hat der König dir befohlen hier herunterzukommen?"
„Nein", antworte ich wohl etwas zu hastig. „Ähm... doch."
„Also nicht", stellt er fest und schiebt die Bibel mit seinem Fuß in Greifweite seiner linken Hand, wobei seine Ketten ohrenbetäubend klirren. Er schlägt sie nicht auf.
„Wie heißt du?"
„Wie heißt du?", antworte ich mit einer Gegenfrage.
Wieder senkt sich Schweigen über uns. Da höre ich die Wache, wie sie eine entfernte Tür öffnet. Gleich würde sie hier sein. Flink ziehe ich den gut versteckten Apfel und die beiden Brotscheiben hervor und halte sie dem Jungen hin. Dieser starrt mich an, als hätte er einen Geist gestehen.
„Jetzt nimm schon!", fauche ich gereizt.
Mit einer geübten Bewegung hat er mir das Essen entwendet und mir den Rücken zugedreht. Ich kann mir beim Aufrappeln ein Grinsen nicht verkneifen. Erst als die Wache das stinkenden Verlies betritt, reiße ich mich zusammen.
„Ich glaube noch immer nicht, dass ich das getan habe! Und ihr erst! Seht euch nur euer Gesicht an!", ruft Marianna hysterisch und läuft mir in einem meiner wertvollsten hellblauen Kleider entgegen, sobald die Tür hinter mir ins Schloss gefallen ist. „Und eure Hände erst!!"
„Nicht so laut! Die Wachen könnten
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 03.11.2017
ISBN: 978-3-7438-3941-0
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