Züricher Hauptbahnhof, 7. Mai 1999:
Eine kleine, zierliche Frau in einem bodenlangen Rock und einer zerknitterten Bluse gekleidet, ein Stoffbündel unter dem Arm haltend, bahnte sich hastig einen Weg durch die Menschenmenge. Sie schien kein grosses Aufsehen zu Erregen, niemand drehte sich nach ihr um, schliesslich war es nicht unüblich an einem Ort wie dem Hauptbahnhof in Eile zu sein. So gab es auch keinen vernünftigen Augenzeugen, der das folgende Ereignis schildern konnte. Mitten im Gehen rempelte die geschätzt 30-jährige Frau scheinbar unabsichtlich eine gleichaltrig aussehende Brünette an und drückte ihr ohne irgendwelche Worte das Bündel in die Hand. Bevor diese einen klaren Gedanken fassen geschweige denn reagieren konnte, war die Unbekannte wieder im Gedränge untergetaucht und glitt bald darauf ungesehen mit der Rolltreppe in den Untergrund.
Verdattert starrte die Beschenkte auf das Tuch in ihren Fingern, ihre Augen wurden noch grösser, als sie plötzlich eine Bewegung verspürte. Sekunden darauf schob sich eine kleine Babyhand hervor, und als es einen Finger ertastet hatte, schloss das Kind zufrieden glucksend die Faust darum. Vorsichtig schob die junge Frau den Stoff aus dem friedlichen dreinschauenden Gesichtchen und für einen Moment vergass sie ihren Schock und musste unwillkürlich lächeln.
Als sie jedoch den Blick hob und nach der Mutter des Kindes Ausschau hielt, konnte sie diese nirgends mehr erkennen. Ein besorgter Ausdruck machte sich auf ihrem Gesicht breit. Sie wandte sich nach dem älteren Herr im dunkelblauen Anzug und weissen Hemd um, der sich direkt neben ihr befand und nun zum wiederholten Mal ungeduldig auf seine teure Armbanduhr schaute, und tippte ihm vorsichtig auf die rechte Schulter. Überrascht drehte er sich zu ihr um, ihm entging das Bündel in ihrem Arm nicht, doch er dachte sich nichts dabei.
"Kann ich Ihnen helfen?", fragte er mit verwundert hochgezogenen Augenbrauen.
Die Angesprochene nickte schnell, brachte allerdings keinen Ton über ihre Lippen. Als der Herr erneut seine Aufmerksamkeit seiner Uhr widmete, stieg ihre Nervosität sichtlich an.
"Ähm...", stammelte sie leise, "Haben Sie zufällig die junge Frau bemerkt, die mir vorhin dieses Kind in die Hand gedrückt hat?"
Der Geschäftsmann kniff argwöhnisch die Augen zusammen und schien ihre verrückte Frage nicht ernst zu nehmen. "Entschuldigen Sie, ich muss weiter...", meinte er kurz angebunden und schritt kopfschüttelnd auf einen der Bahnsteige zu.
Enttäuscht sah die junge Frau ihm nach und drehte sich dann suchend im Kreis, doch die meisten Leute waren hier in Bewegung, achteten sich bloss auf die zwei Meter Asphalt vor ihren Füssen, starrten verkrampft in ihr Smartphone oder liessen ihre Blicke über die Anzeigetafeln schweifen. Kein Mensch schenkte ihr Beachtung, niemand konnte ihr skurrile Geschichte bestätigen. Einen hoffnungslosen Seufzer von sich gebend machte sich die junge Frau auf den Heimweg, das Baby fest an sich drückend. "Es wird alles gut", flüsterte sie leise und fuhr dem Kind über das schwach behaarte Köpfchen.
Tag der Veröffentlichung: 01.09.2017
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