Vor 13 Jahren
Sein Blick hing fasziniert an der Libelle, seine ganze Aufmerksamkeit schien auf sie gerichtet zu sein. Nach einer Weile löste er sich aus der Erstarrung und schob ihr langsam seine kleine, ungeschickte Kinderhand entgegen. Er erwartete nicht, dass sie sich darauf niederließ. Umso glücklicher war er demnach, als sie es trotzdem tat. Ein zufriedenes Lächeln huschte über das junge Gesicht.
Libellen waren seine Lieblingstiere. Wieso, das wusste er selbst nicht so genau. Vielleicht waren es ihre hauchdünnen Flügel oder ihr verletzlicher, oft wunderschön gefärbter Körper; vielleicht bewunderte er die Ruhe, welche diese Tiere ausstrahlten. Eines war ihm allerdings bewusst: sie gaben ihm Kraft und Mut. Sie gaben ihm die Gewissheit, dass er ein schönes Leben führte. Außerdem hatte er tief in seinem Inneren das merkwürdige Gefühl, dass Libellen für ihn bedeutsamer waren, als er dachte.
„Schätzchen? Wo bist du?”, hörte er seine Mutter rufen. Sie war durch die Seitentür der Villa getreten und blickte sich nun suchend um. Als sie ihn auf dem Rasen hinter den Rosenbüschen entdeckte, seufzte sie erleichtert auf, um kurz darauf verärgert zu schimpfen.
„Was machst du bloß mit meinen Rosen? Ryan, ich habe dir gesagt, dort sollst du nicht spielen!”, fuhr sie ihn an. Der Junge zuckte verängstigt zusammen und sah sogleich, das Gesicht zu einer unschuldigen Miene verzogen, zu ihr auf.
„Ich habe sie nicht angefasst, ich schwöre es!”, sagte er eilig und nickte bekräftigend. Seine Mutter konnte sich das Lächeln trotz ihres Ärgers nicht verkneifen. Ihr Blick schweifte von seinem Gesicht zu den Händen hinunter und erfasste die Libelle, die ihr, im Gegensatz zu Ryans kleinen Fingern, riesig erschien. Einen Augenblick lang starrte sie das Tier regungslos an. Sie wusste nicht, ob sie Freude oder Trauer empfinden sollte. Ryan liebte diese Tiere, genau wie seine Eltern. Seine richtigen Eltern. Und eben diese Tiere hatten Ryans Eltern in anderes Leben gezwungen. Ein Leben ohne ihren Sohn.
Nein, Elisabeth Henning konnte sich nicht entscheiden, wie sie auf die Faszination ihres Adoptivsohns reagieren sollte. Doch etwas war ihr in diesem Augenblick klargeworden. Ryan sollte die Wahrheit erfahren. Zumindest einen Teil davon. Sie setzte sich neben ihren Sohn ins Gras und strich ihm zärtlich über den Rücken. „Ryan”, begann sie vorsichtig, „ich muss dir etwas erzählen ...”
Elisabeth war sich nicht sicher, ob ihr Sohn begriffen hatte, was sie ihm soeben zu erklären versucht hatte. Sein verträumter Blick sah zu ihr hoch und bemerkte das traurige Lächeln, das ihre Lippen umspielte. Ohne auch nur einen Moment zu zögern, kuschelte er sich in ihre Arme.
Nein, Elisabeth glaubte nicht, dass ihr Sohn es verstanden hatte. Ryan war schließlich erst 5 Jahre alt.
Es war ein Montagnachmittag. Die Sonne stand hoch am Himmel und brannte auf die Stadt nieder. Der überbelastete Verkehr versorgte die Umgebung zudem mit stinkenden Abgasen. Es war unerträglich heiß. Doch die Hitze gehörte hier der Normalität an. Schließlich war Sommer.
Ryan Henning überquerte mit schnellen Schritten die Straße und blickte dabei prüfend um sich. Tangili war eine gefährliche Stadt. Tagtäglich quollen in dieser Region die Zeitungen über mit Artikeln zu schweren, geplanten als auch spontanen Verbrechen. Obwohl sich seine Schule ganz in der Nähe ihrer Villa befand, und das Reichenviertel der Stadt sicherer war, als der restliche Teil, hatte Ryan seinen Eltern versprochen, stets wachsam zu sein. Auch seine dunkle Hautfarbe sollte einige Kriminelle davon abhalten, ihn zu überfallen. Hellhäutige Menschen wurden in diesem Land häufiger als Opfer gewählt. Es sollte keinesfalls auf einen rassistischen Akt hindeuten. Der einleuchtende Grund dafür war die Tatsache, dass hellhäutige Leute reicher wirkten und meist auch waren.
Ein unwohles Gefühl durchströmte Ryan. Beobachtete ihn jemand? Unwillkürlich beschleunigte er seine Schritte. Er warf einen kurzen Blick über die Schulter zurück, konnte jedoch nichts Ungewöhnliches entdecken. Die Straße war menschenleer. Sehr untypisch für eine solch bevölkerungsreiche Stadt, doch im Villenviertel trieb sich keiner auf der Straße herum. Vor jedem Haus stand ein kleines Wachhäuschen, wo ein bewaffneter Brasilianer den ganzen Tag lang die Einfahrt im Auge behielt.
Ryan bog in seine Straße ein. Neben der Familie Henning wohnten hier bloß zwei weitere Familien. Er war froh darüber. Obwohl er, seit er sich erinnern konnte, an diesem Ort lebte, schienen ihm die Nachbarn noch immer nicht zu vertrauen. Wenn er an ihnen vorbeiging und grüßend die Hand hob, kassierte er meist nur einen misstrauischen oder gar wütenden Blick. Er hatte auch schon mitgekriegt, wie sie sich bei seinen Eltern über ihn beschwert hatten. Manchmal warfen sie ihm die lächerlichsten Dinge vor, die er ihrer Meinung nach getan haben sollte. Als beispielsweise ihre Tochter ihr Spielzeug nicht mehr fand, wurde sofort Ryan beschuldigt, es geklaut zu haben, und Elisabeth hatte es ohne ein Murren durch ein Neugekauftes ersetzt. Ryan wusste, dass es an seiner Hautfarbe lag und es stimmte ihn traurig. Andererseits ließ es in ihm auch eine gewisse Wut hochkommen. Wieso bildeten sich Weißhäutige ein, besser zu sein als Dunkelhäutige? Schlussendlich waren sie alle nur Menschen.
Nun war er vor seinem Haus angekommen, das eiserne Tor hinter dem sich eine breite Auffahrt erstreckte, war das letzte Hindernis. Ryan blickte zu Will, dem Mann im Kontrollhäuschen, und zuckte sogleich erschrocken zusammen.
Dort war kein Will. Niemand saß dort. Sein Hirn arbeitete in Hochtouren. Entweder war etwas vorgefallen, oder Will hatte nur kurz eine Pause gemacht, wobei er das Tor niemals unbewacht ließ. Er sollte wissen, dass ihn das seinen Job kosten würde. Vielleicht hatte er sich auch nur kurz gebückt und hantierte an einem Gerät, zog Ryan schließlich in Erwägung und ging langsam auf das Hüttchen zu.
Normalerweise öffnete Will ihm das Tor, sobald er ihn erblickte und grüßte ihn freundlich. Manchmal - aber eher selten - war er am Telefon oder reparierte ein Gerät in dem Häuschen, sodass Ryan zuerst an die Scheibe klopfen musste, um seine Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken. Das tat er auch jetzt.
In der sich spiegelnden Fensterscheibe konnte er Wills Rücken ausmachen. Ein wenig erleichtert atmete er aus.
Nichts geschah. Wahrscheinlich hatte er ihn nicht gehört, dachte Ryan, und klopfte erneut. Will regte sich nicht. Einzelne Sorgerunzeln erschienen auf Ryans Stirn. Was war hier los? Hatte er einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt gehabt? Hastig öffnete er die Tür zum Häuschen und bückte sich über Will. Der Brasilianer saß auf dem Boden, sein Oberkörper war nach vorne gekippt, sodass man hauptsächlich seinen Rücken sehen konnte. Ryan richtete den Körper behutsam auf. Da fiel sein Blick auf die offene Wunde, die in seiner Brust klaffte. Genau über dem Herzen. Blut hatte das Hemd vorne rot gefärbt und rann seinen Körper hinab. Der Mord hatte erst vor kurzem stattgefunden.
Ryan schluckte schwer, eine Gänsehaut legte sich über seinen Körper. Er schauderte trotz der Hitze. Irgendetwas in ihm hatte immer befürchtet, dass dieser Tag kommen würde. Ryan widerstand dem Drang seine Augen zu schließen, um dieser Welt für einen kurzen Moment zu entfliehen.
Nachdem er das Tor geöffnet hatte und so unauffällig wie möglich zu dem Haus hinaufgeschlichen war, trat er durch die Seitentür in die Küche. Die Seitentür war nie verschlossen. Seine Mutter vertraute Will und nahm an, dass er seinen Job gut erledigte. Außerdem würde ein Einbrecher sowieso die Glastür einschlagen, wenn es ihm ernst ist, meinte Elisabeth immer. Eine verschlossene Seitentür würde ihn nicht daran hindern.
Ryan ließ seinen Blick umherschweifen. Die Küche war riesig und lag unverändert vor. Elisabeth hatte beim Aussuchen der Villa entschieden, dass sie genügend Platz brauchte, um zu kochen. Eigentlich hätte sie diese Aufgabe ohne ein Zögern dem Angestellten überlassen können, doch es war eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen die verschiedensten Gerichte zu zaubern.
Ohne lange zu überlegen streifte sich Ryan die Flipflops von den Füssen, nahm sie in die Hand und huschte auf Zehenspitzen aus dem Raum. Dahinter erwartete ihn der Speisesaal. Auch hier traf er auf niemanden. Es war ungewöhnlich still. Gerne hätte Ryan das Radio angeschaltet, das tat er oft, wenn er als Einziger im Haus war und sich nicht alleine fühlen wollte. Doch er spürte, dass er nun definitiv nicht alleine war und wusste, dass er sich eigentlich nicht mehr hier aufhalten sollte. Es war zu gefährlich.
Trotzdem bog er um die Ecke und stieg langsam die breite Treppe in den ersten Stock hoch. Er hatte keine Waffe in der Hand. Gegen einen Mörder konnte er sich sowieso nicht wehren.
Mit gemischten Gefühlen öffnete er die Tür zum Schlafzimmer seiner Eltern und schlüpfte in den Raum hinein. Die Vorhänge waren vorgezogen. An jedem Rand zwängte sich ein kleiner, feiner Lichtstrahl ins Zimmer, sodass trotz der Dunkelheit gerade genug zu erkennen war. Vermutlich hatten seine Eltern sie nach dem Mittagsschlaf vergessen zurückzuziehen.
Aufmerksam betrachtete Ryan das Zimmer. Abgesehen von dem romantischen Himmelbett war es schlicht eingerichtet. Ein langer, weißer Schrank stand an der hinteren Wand. Ryans Blick fiel auf das Bett und nahm die Form zweier Körper unter der dünnen Decke wahr. Schliefen sie um diese Zeit immer noch? Oder waren sie auch ... tot? Ryan wurde übel bei dem Gedanken. Mit unsicheren Schritten und vor Angst zitternd näherte er sich dem Bett.
„Mom? Dad?”, fragte er leise, doch wie befürchtet kam keine Antwort. Er zupfte ein wenig an der Decke und zog sie zur Seite. Und was er dann sah, ließ sein Herz einen Schlag aussetzen. In Elisabeths Brust steckten zwei große Fleischmesser. Blut hatte den weißen Bettlaken rot gefärbt. Auch das Gesicht und das Haar seiner Mutter war in Blut getränkt.
Ryan wandte sich schlagartig ab und übergab sich auf den teuren Teppich neben dem Himmelbett. Er wagte es nicht, die Leiche seines Vaters anzuschauen. Entsetzen und Panik stand in seinem Gesicht geschrieben. Was sollte er tun? Hier warten, bis der Mörder ihn entdeckte? Abhauen? Wohin?
Ehe er es sich überlegen konnte, wurde er von einem festen Griff an der Schulter nach hinten gezerrt. Kurz darauf wurde es um ihn stockfinster. Nach seinen Kenntnissen befand er sich wohl im Schrank. Ryan spürte, dass sich hinter ihm jemand rührte. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und er zwang sich, vor Angst nicht in die Hosen zu machen.
„Sorry”, flüsterte eine ihm allzu bekannte Stimme. Ryan versuchte sich umzudrehen, obwohl er in der Dunkelheit sowieso nichts erkennen konnte.
„Luis?”, erwiderte er fragend.
„Ja.”
Ryan verzog ungläubig das Gesicht. Luis hatte seine Eltern ermordet? Das war doch nicht möglich. Luis vergötterte sie. Und warum versteckte er sich mit ihm in einem Schrank?
„Was ist hier los?”, wagte Ryan zu fragen. So sehr er sich auch bemühte, die Angst war seiner Stimme anzuhören. Er spürte, wie Luis nach seinem Arm griff und leicht zudrückte - bestimmt, aber nicht schmerzhaft.
„Wir müssen hier verschwinden, Ryan”, wisperte er dem Jungen ins Ohr. „Sofort.”
Ryan nickte. Bis ihm auffiel, dass Luis es nicht sehen konnte. „Ich weiß.”
Luis war der Angestellte der Familie Henning. Er übernahm den Haushalt zum größten Teil und half auch in anderen Bereichen fleißig mit. Wenn Ryan ein Problem hatte - ob bei den Hausaufgaben oder wegen eines Mädchens - stand er ihm jederzeit zur Seite. Luis arbeitete schon seit neunzehn Jahren für die Hennings. Als Elisabeth und ihr Mann nach Luis‘ erstem Jahr bei ihnen entschieden, den kleinen Ryan zu sich zu holen, hatte es sich Luis sogleich zur Aufgabe gemacht, auf den Jungen aufzupassen. In Ryans Körper floss brasilianisches Blut und Luis befürchtete, dass er sich bei seinen weißhäutigen Eltern anders und somit unwohl fühlen würde. Was allerdings nicht der Fall war. Trotzdem hatte sich zwischen dem heute 37-jährigen Luis und dem fast halb so alten Ryan eine ungewöhnliche Freundschaft entwickelt.
Ryan hatte keine Zweifel mehr. Luis war bestimmt nicht der Täter. Er wollte ihm helfen zu fliehen. Wieso er ihn allerdings in den Schrank gezogen hatte, leuchtete ihm nicht ganz ein. Doch er wusste, es war nicht der richtige Zeitpunkt um Fragen zu stellen.
Kurz zuvor hatte Luis ihn sanft aus dem Schrank geschubst und war an ihm vorbei zur Tür getreten. Jetzt zückte er eine kleine Pistole und blickte angespannt aus dem Zimmer. Er winkte Ryan auffordernd zu sich und wollte mit ihm die Treppe hinuntersteigen, als von unten ein Gemurmel ertönte. „... Nicht hier ... Scheiße ...”, konnten sie ein paar Gesprächsfetzen aufschnappen. Ryan wäre gerne näher hingetreten, um mehr zu erfahren, aber Luis zog in bestimmt in den ersten Stock zurück. Er deutete nach unten und schüttelte warnend den Kopf. Ryan verstand. Sie konnten die Treppe nicht benutzen, solange die Mörder unten lauerten.
Nach kurzem Überlegen wandte sich Luis ab und ging eilig den breiten Korridor entlang. Ryan folgte ihm, nachdem er prüfend zurückgeblickt hatte.
Die weiß gestrichenen Holzplanken quietschten leise, als er darauf trat. Ryan verzog bei jedem Schritt das Gesicht und hoffte inständig, dass die Männer im Untergeschoss ihn nicht hörten.
Luis war am anderen Ende des Korridors angelangt und forderte Ryan mit einer hektischen Handbewegung auf, sich zu beeilen.
„Mach schon!”, zischte er nervös. Schweißtropfen zierten seine Stirn. Ryan zögerte einen Augenblick lang und setzte seine Beine dann in Bewegung. Ohne auf das leise Knarren zu achten, lief er auf seinen Kollegen zu. Dieser hatte in der Zwischenzeit das Fenster, das einen Ausblick in den hinteren Teil des Gartens gewährte, geöffnet und zeigte auf die alte Feuertreppe. Sie stand etwas seitlich von dem Fenster, doch nahe genug, dass man mit einem kleinen Sprung hinübergelangen konnte.
Ryan warf Luis einen fragenden Blick zu, der daraufhin mit dem Kopf in Richtung der Feuertreppe nickte. Ryan kletterte vorsichtig auf das Fensterbrett, lehnte sich mit einer Hand zur Seite ausgestreckt, die andere an den Fensterrahmen gekrallt, nach vorne und bekam das Eisengitter zu fassen. Den Blick nach unten meidend, schob er seinen Körper zu der Treppe und stieg über das Geländer, auf die richtige Seite. Dann schaute er suchend um sich. Im Garten war niemand zu sehen. Eine Spur aus zerdrücktem Gras führte über den Rasen zurück zum Haus. Ryan war sich nicht sicher, von wem die Spur stammte, es hätte auch die des Gärtners sein können.
Eine Berührung an seinem Oberarm ließ ihn herumfahren.
„Schsch”, beruhigte Luis ihn sogleich, als er Ryans erschrockenen Gesichtsausdruck wahrnahm. „Ich glaube, sie haben uns bemerkt”, fügte er, mit einem unruhigen Blick über seine Schulter, hinzu.
Sie verloren keine weiteren Worte und hechteten die Feuertreppe hinunter. Ryan verließ sich voll und ganz auf den verantwortungsbewussten Brasilianer. Wie es sich zeigte, konnte dieser sogar in einer unangenehmen Situation klar denken.
Unten angekommen drückte sich Luis flach an die Hauswand und schlich dem nächsten Fenster entgegen. Er spähte hinein, konnte allerdings niemanden erkennen. Ryan folgte ihm dicht an den Fersen. Dann bogen sie um die Ecke.
„He, ich habe dort jemanden gesehen!”, hörten sie eine raue Männerstimme rufen.
„Nein, da war nichts!”, entgegnete eine zweite Stimme.
„Doch, ich schwöre es, Mann!”
Ryan sah Luis unbehaglich an. Dieser zuckte kurz mit den Achseln. „Da lang”, flüsterte er und zeigte auf einige Büsche, die am Rande des Gartens aneinandergereiht waren. Sie waren über einen Meter hoch und sollten das hässliche Gitter verbergen, das zwischen den beiden Häusern errichtet worden war. Der Gärtner hatte den Pflanzen genügend Platz einberechnet, damit sie wachsen konnten, darum lag noch immer ein kleiner Spalt zwischen dem Zaun und den Büschen vor. Gerade breit genug, um Ryan und Luis einen schmalen Weg zum Tor zu gewähren.
Das Tor war der einzige Zugang zu diesem Grundstück. Wer auch immer das Haus und den Garten konstruiert hatte, dachte, dass nur ein einziges Tor die Sicherheit verbessern würde. Einerseits hatte er recht: Jeder der das Grundstück betrat, musste zuerst an dem Wächter vorbei. Andererseits hatte er nicht berücksichtigt, wie man das Grundstück verlassen konnte, wenn sich zwei Mörder im Haus aufhielten, die den Vorteil nutzen konnten und nur ein Tor im Auge behalten mussten. Ryan überlegte hin und her und entschied sich, dass er in seiner Wut nicht dem Architekten die Schuld geben sollte. Wobei er sich besser gefühlt hätte, wenn er die Wut an jemandem hätte auslassen können.
„Was, wenn sie uns sehen?”, wollte Ryan nervös wissen. Luis zuckte zum wiederholten Male mit den Schultern. „Wir können nur hoffen, dass sie es nicht tun.”
Er merkte, dass Ryan nicht zufrieden war mit der Antwort. „Hör zu, ich öffne das Tor mit der Fernbedienung und dann rennen wir. Falls ich es nicht schaffe, suchst du in der McAllen Bar nach Larry. Er ist ein guter Kerl und wird dich bestimmt aufnehmen.”
Ryan sah ihn mit seinen großen, dunklen Augen an und nickte besorgt. Gerne hätte er Luis gefragt, was er tun sollte, wenn die Mörder ihn anschossen oder sich auf ihn stürzten. Ryan war mit seinen 18 Jahren ein kräftiger, junger Mann, schlank und sportlich. Doch er wusste nicht, wie er sich gegen zwei oder mehrere kriminelle Männer wehren sollte. Luis hatte ihn gelehrt seine Wut unter Kontrolle zu halten, so hatte er sich nie auf Prügeleien eingelassen. Er hatte null Erfahrung.
Luis schien seine Gedanken gelesen zu haben. „Keine Angst, ich helfe dir”, versprach er ihm leise. Dann holte er ein kleines Gerät hervor, wartete auf Ryans zustimmendes Nicken und öffnete das Tor. Im selben Moment sprang Ryan zwischen den Büschen hervor und rannte auf die rettende Straße zu. Hinter ihm hörte er Luis’ regelmäßigen Atem. In der Ferne nahm er aufgeregte Stimmen wahr. Ein Schuss ertönte. Dann noch einer. Ryan traute sich nicht umzublicken und lief unbeirrt weiter. Ein dritter Schuss fiel. Er hatte das Gefühl sein Herz würde jeden Moment explodieren, seine Lungenflügel bersten. Doch seine Beine trugen ihn immer weiter. Fort von diesem Haus, den Leichen, den Mördern. Dem Tatort eines grausamen Verbrechens.
Luis’ Schnaufen war leiser geworden.
Ryan bog nach mehreren Straßen auf einen schmalen Kiesweg, der auf beiden Seiten von hohen Hecken umgeben war. Endlich kam er zum Stehen und warf einen Blick zurück. Niemand war ihm gefolgt. Nicht einmal Luis. Ryan wischte sich den Schweiß von der Stirn und atmete tief durch. Sein Mund fühlte sich trocken und bitter an, gerne hätte er einen Schluck Wasser getrunken. Schon in der Schule hatte er Durst gehabt, doch er hatte nicht das erste Mal darauf verzichtet, das teure Wasser aus dem Automaten zu kaufen, das sowieso nicht gut schmeckte. Er hatte sich zufrieden gegeben mit Warten, da er wusste, dass er bald zu Hause sein würde und dort etwas trinken konnte. Dabei hatte er nicht miteinberechnet, dass seine Eltern ... ermordet in ihrem Bett lagen.
Ryan schluckte schwer und versuchte gegen die erneut aufkommende Übelkeit anzukämpfen. Seine Eltern. Tot. Er konnte es nicht fassen. Was wurde jetzt aus seinem Leben? Plötzlich fiel ihm auf, dass er reich war. Er würde alles erben. Der Gedanke schien ihn nicht wirklich aufzumuntern. Wie konnte er jetzt nur an Geld denken, wenn seine Eltern vor einer knappen Stunde ermordet worden waren? Wie verachtenswert er war.
Ryan wartete einige Minuten und wurde immer ungeduldiger. Wo war Luis? Hatten sie ihn angeschossen? Er lief unruhig hin und her und wagte sich schließlich aus seinem Versteck. Rasch lief er den Weg zurück, den er gekommen war, mit den Augen suchte er die Umgebung ab. Die Wächter in den Wachhäuschen schenkten ihm keine Beachtung, die meisten von ihnen hatten sich in ihre Zeitung vertieft. Ryan schüttelte nur kurz ungläubig den Kopf, er hatte keine Zeit sich länger darüber Gedanken zu machen. Am liebsten hätte er panisch nach seinem Kollegen gerufen, doch er wollte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Außerdem wusste er nicht, ob die Wächter möglicherweise mit den Mördern unter einer Decke steckten.
„Ryan!”, keuchte jemand heiser. Aus den Augenwinkeln nahm Ryan eine Hand wahr, die sich unter einem Busch hervorgeschoben hatte. Er ging auf sie zu.
„Luis, bist du verletzt?”, wisperte er durch die grünen Blätter. Eine Weile war nur das mühevolle Atmen des Mannes zu hören.
„Nicht so schlimm. Hat mich nur am Oberschenkel erwischt.” Ryan hätte seinen Worten gerne geglaubt, doch ihm war klar, dass Luis ihn nur nicht beunruhigen wollte. Auf keinen Fall war es 'nicht so schlimm'. Luis spielte die Dinge immer herunter, wenn sie ihm nicht besonders wichtig waren. Es war eine Eigenschaft, die Ryan oft an ihm bewundert hatte. Er hatte davon schon mehr als einmal profitiert, wie zum Beispiel, wenn ihm eine Vase zu Bruch gegangen war oder er versehentlich Elisabeths Rosen zertrampelt hatte. Luis wusste immer die richtigen Worte, um die Menschen zu besänftigen.
„Luis, komm hier raus und lass es mich ansehen”, verlangte Ryan in einem bestimmten Tonfall. Er wollte möglichst schnell von diesem Ort verschwinden. Mit Ausnahme von Elisabeth und Craig hatte ihn hier niemand besonders gemocht.
Luis zögerte, doch Ryan ließ ihm nicht lange Zeit dazu. „Wenn du nicht kommst, gehe ich ohne dich”, meinte er warnend, obwohl Luis wahrscheinlich klar sein musste, dass er ihn nicht im Stich lassen würde.
Ein Geraschel ertönte und kurz darauf schob sich Luis’ Kopf zwischen den Büschen hervor. Alles Blut war von seinen Wangen gewichen, er wirkte bleich, als hätte er seit Jahren kein Sonnenlicht mehr gesehen.
Ryan umfasste seine Hände und zog ihn vorsichtig nach draußen. Er fragte ihn nicht, wieso er überhaupt unter das Gebüsch gekrochen war. Blut tropfte auf den Asphalt und bildete eine kleine, rote Lache. Ryan sah sich suchend um und zog schließlich sein T-Shirt über den Kopf. Ein braungebrannter Oberkörper kam zum Vorschein und der Ansatz eines Sixpacks war auf seinem Bauch zu erkennen.
Ryan zerriss den Stoff in einzelne Streifen und umwickelte die blutende Stelle fest mit einem davon. „Nur provisorisch”, sagte er und deutete darauf. „Wenn wir in Sicherheit sind, entferne ich die Kugel.” Die übrigen Stoffbänder stopfte er sich in die Hosentasche. Er erhob sich und streckte Luis freundlich die Hand entgegen, um ihm aufzuhelfen.
„Stütz dich ruhig an mir ab”, meinte er und klopfte mit der linken Hand auf die gegenüberliegende Schulter. Luis nahm das Angebot dankbar an. Sie nahmen den kürzesten Weg aus dem Reichenviertel und mischten sich bald darauf unter die Menschenmasse in der brasilianischen Stadt.
Ryan zog seinen Kollegen in die nächstgelegene, ruhigere Gasse, um vor dem Trubel zu fliehen. Zwei alte Männer saßen auf einer schiefen Bank und rauchten ihre Zigarren. Sie würdigten Ryan und Luis keines Blickes.
Der Junge deutete auf eine Stelle und half Luis, sich dort hinzusetzen. Seine Stirn war fiebrig heiß geworden und Ryan befürchtete, dass er krank wurde. Er kniete sich vor Luis hin und begann den Knoten zu lösen, den er kurz zuvor in den Stofffetzen gemacht hatte. Nachdem er die Wunde freigelegt hatte, besah er sie sich genauer. Die Kugel steckte nicht tief, doch er hatte keine Ahnung, wie er sie da herausholen sollte.
„Drück den Stoff so lange auf die Wunde, bis ich zurückkomme, okay? Wage es nicht zu verbluten!” sagte er zu Luis, er betonte jede einzelne Silbe, damit Luis ihn verstand.
Ryan näherte sich den beiden alten Männern und bemerkte, wie sie seinen nackten Oberkörper musterten.
„Habt ihr vielleicht eine Pinzette?”, fragte er sie direkt ohne ein Wort der Begrüßung. Die zwei sahen sich an und begannen zu lachen. Nicht jeder schien hier das Wort Pinzette zu verstehen. Vielleicht lachten sie auch, weil kaum jemand mit einer Pinzette in der Stadt herumlief und die Frage geradezu überflüssig war.
Ryan wandte sich wieder ab. „Wart Junge, sucht ihr einen Arzt?”, wollte der eine plötzlich wissen. Anscheinend hatten die Männer sie trotzdem beobachtet. Ryan kniff misstrauisch die Augen zusammen und nickte dann unmerklich.
„Gleich um die Ecke”, fuhr der alte Mann fort und zeigte mit der Hand vage ans Ende der Gasse. Ryan warf einen Blick auf Luis und sah, wie dieser den Kopf schüttelte. Seine gekrausten Haare klebten nass an seiner Stirn. Er würde es nicht überleben, schoss es Ryan durch den Kopf und etwas in seinem Inneren zog sich krampfhaft zusammen. Entschlossen drehte er ihm den Rücken zu und eilte der Gasse entlang, an deren Ende er schließlich um die Ecke bog. Plötzlich war er wieder mitten in der Menschenmenge.
„Einen Arzt? Nein, hier in der Nähe gibt es keinen Arzt”, versicherte die hübsche Bedienung in dem kleinen Restaurant um die Ecke.
Ryan schaute nervös um sich. „Sind Sie ganz sicher? Mein Kollege wurde angeschossen und braucht dringend Hilfe!” Seine Stimme verriet der jungen Frau, dass es ihm ernst war.
Sie blickte ihn mitleidig an. Ihre Augen schimmerten olivgrün und ihr langes, dunkelbraunes Haar hatte sich im salzigen Wind gewellt. Die Spitzen waren von der Sonne ausgebleicht. Sie hob die Hand und strich es sich hinters Ohr. Wäre Ryan ihr zu einem anderen Zeitpunkt begegnet, hätte er keine Sekunde gezögert und sie nach ihrer Telefonnummer gefragt. Doch seine Gedanken waren ein riesiges Chaos, er fühlte sich überfordert in der jetzigen Lage. Das Einzige, was für ihn nun zählte, war, dem letzten Menschen, der ihm ungemein viel bedeutete, zu helfen.
„Es tut mir leid. Das nächste Krankenhaus liegt ein wenig außerhalb. Soll ich euch ein Taxi rufen?”, antwortete die Frau ihm.
Ryans Blick löste sich von ihrem Gesicht und fiel auf das einzige, scharfe Messer auf ihrem Tablett. Er runzelte nachdenklich die Stirn. „Oder dürfte ich vielleicht das Messer haben?”, bat er. Ihm war bewusst, dass die Frau ihn nach dieser Frage möglicherweise für einen Verrückten halten würde. Es war ihm egal. Zu diesem Zeitpunkt jedenfalls.
Die Kellnerin sah ihn misstrauisch an. In Brasilien bat man nicht um Waffen. Entweder man nahm sie sich, oder nicht. Die höfliche Bitte verwirrte die junge Frau. Sie zögerte.
Ryan nickte zu dem Tablett in ihrer Hand. „Vielleicht retten Sie damit ein Leben.” Er hoffte, diese Aussage würde sie überzeugen. Er hoffte, sie würde ihr klarmachen, dass er nicht auf eine gefährliche Straftat aus war. Sie senkte unsicher den Blick.
„Hey, bitte.” Ryan verstand ihr Misstrauen. An ihrer Stelle hätte er ebenfalls Angst empfunden, wenn ein dunkler Mann in den Laden gestürmt wäre und ein Messer verlangt hätte. Aber es ging um Luis. Er hatte keine Wahl. Er wollte ihn nicht verlieren. Luis war die einzige Person, die er noch hatte. Für ihn hätte er in diesem Moment alles riskiert.
Sie warf einen prüfenden Blick über die Schulter und streckte ihm unmerklich das Tablett entgegen. Ryan nickte ihr dankbar zu und ließ das Messer vorsichtig in seiner Hosentasche verschwinden.
„Normalerweise betteln die Leute hier nicht um Messer…”, bemerkte die junge Frau und ein leises Lächeln umspielte ihren Mund. „Und bestimmt nicht ein gutaussehender, junger Mann mit einem durchtrainierten Oberkörper.” Sie zwinkerte ihm zu.
Ryan grinste kurz und machte Anstalten zu gehen. Er war nicht in der richtigen Stimmung für einen Flirt. „Danke”, sagte er und hob die Hand zum Abschied.
Ein wenig später war er wieder in der Seitengasse und blieb vor Luis stehen. Die beiden alten Männer, die ihn angelogen hatten, waren verschwunden.
„Luis?! Luis bleib bei mir!” Ryan beugte sich über den bewusstlos werdenden Mann und fuchtelte wild vor seinem Gesicht herum. Luis’ Augenlider zitterten und öffneten sich träge. Sein Mund bewegte sich, doch kein Ton war zu hören.
„Überfallen worden”, flüsterte er heiser.
Ryan musste nicht lange überlegen. „Von den zwei Alten?”, fragte er, während er das Messer aus seiner Hosentasche holte.
Luis nickte.
Ryan nahm den Stofffetzen vom Oberschenkel, band ihn etwas oberhalb der Wunde fest, um den Blutfluss einzuschränken und den Blutverlust zu senken. Dann konzentrierte er sich auf die Schusswunde.
„Nicht bewegen, ja? Und nicht einschlafen!”
Er strich das Messer kurz an seiner Hose sauber, rückte etwas näher an Luis’ Bein und versuchte, die Kugel damit zu entfernen. Seine Hand zitterte ein wenig. Ryan biss sich nervös auf die Lippen. Reiß dich zusammen, du schaffst das!
Blut quoll aus Luis’ Oberschenkel und lief in feinen Strömen an seinem Bein hinunter, tropfte schlussendlich auf den Boden. Luis zuckte mehrmals zusammen und wimmerte leise vor Schmerz.
Es dauerte weniger lange, als Ryan angenommen hatte. Nachdem die Kugel aus dem Bein entfernt war, hatte Ryan aus seinem alten T-Shirt erneut einen Verband angelegt. Diesmal gab er sich dabei mehr Mühe.
Das Wasser fühlte sich warm an, doch Ryan schien es nicht zu stören. Als er ein paar Schlucke getrunken hatte, reichte er die Wasserflasche an Luis zurück. Er hatte sie vor kurzem an einem kleinen Stand ganz in der Nähe gekauft. Während er bezahlt hatte, war ihm aufgefallen, dass sein Portemonnaie nur noch wenige Geldscheine und ein paar Münzen enthielt.
„Wie fühlst du dich?”
Ryan wandte seinen Kopf Luis zu. Dieser schaute an sich herab und zupfte ein wenig an der verschwitzen Kleidung herum.
„Schon viel besser”, meinte er.
Ryan hatte das Gefühl, dass er es ernst meinte.
„Ich sehe aus, als wäre ich ein Obdachloser”, stieß Luis aus und klang dabei enttäuscht. Er hatte Ryan von seiner Vergangenheit erzählt. Von seinem Leben auf der Straße. Davon wie er sich hochgearbeitet und schlussendlich die Familie Henning gefunden hatte. Er war stolz auf seinen Weg. Vielleicht war er eher stolz darauf, was er erreicht hatte. Doch nun war alles zerstört. Er musste von vorne beginnen, mit einem Jugendlichen an seiner Seite, den das Schicksal noch härter getroffen hatte.
Ryan lachte, seine weißen Zähne blitzten auf. „Na und wenn schon. Wir werden die bestaussehenden Obdachlosen der Stadt!” Ein trauriger Unterton hatte sich in seine Stimme eingeschlichen. Nun war er obdachlos. Er gehörte nicht in die Villa der Hennings. Nicht ohne Elisabeth und Craig. Und nicht ohne Will. Sein Leben hatte sich gewendet. Nun wusste er nicht mehr, was er damit anfangen sollte.
Luis fasste ihm an die Schulter.
„Denk nicht ständig daran”, riet er ihm.
Ryan seufzte tief. „Ich werde es versuchen.”
Für eine Weile sagte keiner von ihnen ein Wort. Sie saßen stumm da, in der kühlen Gasse, und versteckten sich vor dem Menschentrubel.
„Was war geschehen, als ich kurz weg war?”, durchbrach Ryan die Stille. „Das erste Mal, meine ich.”
Luis starrte in die Ferne. „Sobald du um die Ecke verschwunden bist, kamen sie auf mich zu und tasteten alle Taschen ab. Mein Portemonnaie haben sie geklaut. Vielleicht auch noch mehr. Ich habe es kaum mitbekommen, denn ich war schon fast weggetreten.”
Ryan schüttelte grimmig den Kopf. „Arschlöcher.”
„Das tut jeder hier, das werden wir vielleicht auch tun müssen”, versuchte Luis ihm zu erklären.
„Na und? Sie hatten sogar ihre Zigarren! Wieso bestehlen sie einen verletzten Mann?! Nur aus Spaß?! Was sollte daran überhaupt lustig sein?!” Ryans Stimme war immer lauter geworden.
„Ryan, beruhig dich!”, warf Luis ein.
„Nein, ich beruhige mich nicht! Und wer zum Teufel kommt auf die Idee meine Eltern im Schlaf zu ermorden, dazu noch Will?! Sie hatten nichts getan! Wie kann man nur einem unschuldigen Menschen zwei Messer in die Brust rammen?!” Er begann zu schluchzen, zog seine Knie bis ans Kinn hoch und legte seinen Kopf darauf. Einzelne Tränen liefen ihm über die Wangen und tropften zu Boden. Er fühlte sich verletzlich wie ein kleines Kind.
Luis sagte kein Wort mehr, sondern tastete stumm nach seiner Hand und drückte sie fest.
Hey Kumpels, das geht aufs Haus!”, rief Larry, als er zwei kühle Bier vor ihnen auf den Bartresen stellte. Die beiden bedankten sich und lächelten ihm zu. Das hieß, Ryan lächelte und Luis versuchte sich auf dem hohen, wackligen Stuhl zu halten. Sein Bein schmerzte immer noch höllisch, vor allem seit dem Spaziergang zum Strand hinunter.
Die Stadt war an einem Hang gebaut, wobei sich das reiche Viertel oberhalb des restlichen Teils befand, wo man einen guten Ausblick auf das Meer hatte. Es hatte Luis beinahe seine ganze Kraft gekostet, die steilen Straßen hinunter zu humpeln. Als er sich in der McAllens Bar erschöpft auf einen Stuhl sinken ließ, war er jedoch froh, dass er es geschafft hatte.
Larry hatte Luis sofort erkannt und ihm kumpelhaft auf die Schulter geklopft. „Ein Bier gefällig?”, hatte er gefragt und gar nicht erst eine Antwort abgewartet. Larry war der Besitzer dieser Bar, ein breiter Kerl mit kahl rasiertem Schädel und einem stoppeligen Bart. Sein spitzbübisches Grinsen, das einen schiefen Zahn entblößte, ließ ihn jedoch sympathisch erscheinen. Ryan musste jedoch zugeben, als er durch den offenen Türrahmen getreten war, und Larry zum ersten Mal erblickt hatte, hatte sein Aussehen ihn ein wenig eingeschüchtert.
„Ein kräftiger Bursche, hat mal für die Polizei gearbeitet”, meinte Luis, der Ryans Blick gefolgt war. Larry hatte eben zwei weitere Gäste bedient und kam nun hinter der Theke hervor.
„Na, schon lange nicht mehr gesehen, Luis!” Er grinste ihm zu und ließ dann seinen Blick zu Ryan schweifen. „Und wen hast du da mitgebracht? Meinst du nicht, er ist ein wenig zu jung um zu dieser Uhrzeit noch hier zu sein?” Larry hob die Hand und zeigte um sich.
Luis lachte gezwungen. „Es hatte ein Problem gegeben”, sagte er nur.
Larry fragte nicht weiter.
„Und du bist?” Er drehte seinen Kopf zu Ryan und betrachtete dessen Oberkörper ohne eine Miene zu verziehen.
„Ryan.” Der Junge wagte sich nicht seinen Nachnamen zu nennen. Sobald die Polizei die Leichen seiner Eltern fand, würde er unter Verdacht stehen, das wusste er.
„Soso.” Larry kratzte sich am Bart. „Ihr sucht eine Unterkunft, hab’ ich recht?”
Ryan warf Luis einen fragenden Blick zu.
„Ja, eigentlich schon.”
Larry nickte. „Ich schließe die Bar um eins. Wenn ihr schon hochgehen wollt ...” Er wies zu einer schmalen Treppe in der hintersten Ecke des Raumes.
Luis machte Anstalten sich zu erheben, konnte sich allerdings nicht auf den Beinen halten und schwankte kurz. Larry zeigte eine schnelle Reaktion und umfasste ihn mit seinen starken Armen.
„So viel hast du doch nicht getrunken, Luis”, meinte er und ein fragender Unterton schlich sich in seine Stimme.
„Er wurde angeschossen”, erklärte Ryan und deutete auf Luis’ Oberschenkel.
Larry runzelte besorgt die Stirn. „Und das sagt ihr erst jetzt?”
Nachdem sie Luis nach oben gebracht, auf ein Bett gelegt und medizinisch versorgt hatten, stiegen Ryan und Larry die Treppe wieder hinab.
„Woher kennst du ihn?”, wollte Ryan
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 19.07.2017
ISBN: 978-3-7438-2371-6
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Widmung:
Für meine kleine Schwester