Ich bin tot.
Mein Körper ist tot.
Der letzte Atemhauch ist aus meiner Lunge entwischt, der Herzmuskel hat aufgehört sich zusammenzuziehen. Sie haben es aufgegeben, das Herz, die Lunge, das Gehirn, die Niere, die Leber… haben mich alle im Stich gelassen. Ich bin nur noch eine Leiche. Kein Mensch mehr.
Ein Toter.
Kalt.
Leblos.
Natürlich, sie trauern alle. Tun wenigstens so, als ob. Sind einige, die sich auf die Kirchenbänke gedrückt, zwei oder drei Tränen herausgepresst haben und dann verschwunden sind, meinen Tod schon überwunden.
So sind die Menschen. Denken hauptsächlich an sich selbst. Wenn einer stirbt, wird ihnen bewusst, dass das Leben endlich ist. Dass es auch sie hätte treffen können.
Ich nehme es ihnen nicht übel. Im Gegenteil, ich verstehe sie.
Was für eine Last das Leben war. Die Angst, nicht alles erleben zu können, das man sich vorgenommen hat.
Ich bin tot und ich muss gestehen, ich hätte noch ein ganzes Leben vor mir gehabt. Doch was hat es für einen Wert? Was für einen Sinn?
Meine Fehler hätte ich nicht korrigieren können durch eine längere Lebenszeit. Mehr Erfahrungen hätten aus mir einen anderen Menschen gemacht, mich verändert. Doch ich bin zufrieden so wie ich nun bin. Wieso sollte man das Leben nicht anhalten können, wenn es einem gefällt?
Ich weiss, jeder Lebende wird mir an dieser Stelle widersprechen. Wieso anhalten, wenn alles gut läuft? Versteht mich nicht falsch: ich liebte das Leben, auch fürchtete ich den Tod nicht.
Ich bin endlich frei, meinen einengenden, bedrückenden Körper los. Es ist ein anderes Gefühl. Ob man dies ein Gefühl nennen kann?
Ich bin tot und ich bin mir dessen bewusst.
Ich weiss, was in der Welt geschieht, doch ich sehe keine Bilder, ich höre keine Töne, ich rieche keine Düfte. Das Einzige das existiert, ist das Wissen um die Welt, um das Weltgeschehen, als wäre ich noch immer ein Teil von ihr.
Hat das Leben schlussendlich doch einen Sinn? Vielleicht ist es eine Vorbereitung auf den Tod. Der Tod ist das Ende, das Ziel.Und als Lebende sehen wir keinen Sinn dahinter.
Vielleicht sind wir noch nicht genug reif dafür.
Ich bin ein Mensch, wie alle anderen.
Vielleicht denke ich mehr nach als die meisten meiner Mitmenschen. Denke zu viel Unwichtiges. Doch was ist schon wichtig? Wer definiert, was wichtig fürs Leben ist? Das Leben selbst ist unwichtig. Wir leben nur, um zu sterben. Dann ist sowieso alles vergangen, vorbei, vergessen.
Warum gebe ich mir überhaupt Mühe? Diese Frage stelle ich mir jeden Morgen, wenn der Wecker mich um 6 Uhr aus dem Schlaf reisst.
Warum bleibe ich nicht einfach liegen? Das Leben wäre einfacher, nicht?
Nein. Wir Menschen haben uns einen Sinn geschaffen, ein System, wie wir zusammenleben können. Wenn ich mich nicht daran halte, gehe ich unter. Ich bin ein Teil dieses Systems und abhängig davon. Ohne Geld, ohne Haus, ohne Kleider, ohne Kultur, ohne Wissen… was wäre ich nur? Ich wurde in diese Art zu leben hineingezwungen, es ist unmöglich, daraus auszubrechen.
Und auch wenn ich mir sage, es wäre gemütlich bis am Mittag im Bett liegen zu bleiben, so will ich mir dies selbst nicht antun. Ich habe Pflichten zu erfüllen, sonst sinke ich in diesem aufgebauten System bis an den Grund. Verlassen kann ich es nicht. Nur darin aufsteigen und sinken.
Jeder strebt das Ideal, das Höchste an. Den reichsten, hübschesten, glücklichsten Menschen auf dem Planeten zu sein. Wieso sollte man dies auch nicht wollen?
Klar, wir können zufrieden sein mit unserer aktuellen Position. Ist jedoch kein Funke in uns vorhanden, kein Wille da um im System aufsteigen zu wollen, so hat uns die Lebenslust verlassen.
Wie jeden Morgen strecke ich meinen Arm aus, um den schrillen Ton meines Weckers abzuwürgen. Die anschliessende Stille hüllt mich angenehm ein, ebenso meine Wärme spendende Bettdecke. Ich will nicht aufstehen. Ein Tag, wie jeder gestrige steht mir bevor.
Alltag nennt man dies.
Langweile nenne ich es.
Aufgezwungene Langweile.
Ich kann mich nicht dagegen wehren. Irgendwann werde ich es tun.
Ein Seufzer entwischt meinen Lippen, während meine Füsse sich über die Bettkante schieben, den Boden suchen.
Aufstehen.
Das Gleichgewicht finden.
Mein Körper macht es für mich, es fällt mir beinahe nicht mehr auf.
Faszinierend auf zwei kleinen Füssen zu stehen, die mein gesamtes Körpergewicht von 55 Kilogramm tragen können. Dass ich nicht durch des leisesten Windstoss umkippe. Eine Wahnsinnsleistung. Von mir? Von Gott, der mich geschaffen haben soll? Eigentlich haben ja meine Eltern mich geschaffen, doch die muss auch jemand auf die Welt gesetzt haben.
Sagte ich doch schon, ich denke zu viel. Und schweife gerne ab. Vom einen undurchdachten Gedanken in den nächsten. Meine Fragen bleiben offen. Wer könnte sie mir auch beantworten?
Höchstens Gott. Doch als könnte der sprechen. Er ist schliesslich kein Mensch.
Ich kann auch nicht mit meinem Hamster kommunizieren. Ich habe vielleicht eine Vorstellung davon, was er mir sagen möchte, doch wer weiss, möglicherweise ist meine Interpretation komplett falsch.
Glaube zwar trotzdem, dass wenn er erwartungsvoll auf seine Hinterbeine steht, wenn er mich kommen sieht, dass er dann auf Nahrung hofft. Einfach zu durchschauen.
Weiss der Hamster auch, dass ich eben aus der Dusche getreten war und nackt das Zimmer durchquere? Ist ihm bewusst, dass ich normalerweise Kleider trage?
Vermutlich nicht.
Wieso sollte es ihn auch interessieren?
Wir Menschen sehen schliesslich auch nur das, was wir sehen wollen. Wir sind gar nicht fähig alles zu sehen, alles wahrzunehmen. Und uns fällt bloss das Ausgeflippte auf, das Abnormale.
Was heisst denn normal?
Ich.
Ich bin normal.
Denke ich zumindest.
Eine junge Frau von 27 Jahren, ordentlich gekleidet, lebe in einer schlicht eingerichteten Wohnung in Zürich, besitze einen Hamster, studiere Psychologie.
Alles normal.
Nicht einverstanden? Ich erklärs dir: Normal bedeutet, was die meisten Menschen sind. Normal heisst nicht „richtig“. Es gibt keine Auskunft über richtig oder falsch.
Homosexualität beispielsweise ist nicht normal meiner Meinung nach. Und zwar nur deshalb, weil die meisten Menschen heterosexuell sind. Ohne Heteros wäre unsere Rasse ja auch ausgestorben. Was ich damit eigentlich sagen wollte: Nur weil Schwule und Lesben nicht normal sind, weil sie in der Minderzahl sind, ist Homosexualität nicht falsch, nichts Schlechtes.
Es sollte mich auch nicht kümmern, ist schliesslich jedem seine Sache. Ich lebe in meinem Körper, mit meinen Gedanken, also darf ich nur innerhalb meiner Gedanken urteilen, nicht vor den anderen.
Klar, ich sage meine Meinung auch offen. Doch da ist immer Vorsicht geboten.
„Bist du beleidigt, wenn ich dir sage, dass du stinkst, Hamster?“ Meine rechte Hand öffnet geschickt die Käfigtür, greift hinein und streichelt dem Tier sanft übers Fell.
Er versteht mich nicht.
Meine Aktion stimmt nicht mit meinen Worten überein.
Und da er meine Sprache nicht kennt, konzentriert er sich nur auf meine Handlungen.
Ja, ich nenne ihn Hamster. Genau aus dem Grund, dass er mich sowieso nicht versteht.
Wieso sollte ich ihm einen Namen geben? Wieso erfinden Menschen auch immer für alles Mögliche irgendwelche Namen? Das macht unsere Welt nur komplizierter.
Zwar, vielleicht macht es sie auch einfacher… Wir können uns besser verständigen.
Worte sind konkret.
Gesten, Mimik, Handlungen hingegen, sie sind auf verschiedene Arten und Weisen interpretierbar.
Trotzdem können Worte nicht alles ausdrücken. Gefühle. Sie sind kaum beschreibbar mit unserer Sprache. Sie sind eine eigene Sprache für sich. Eine Sprache, die auch Tiere sprechen.
Mein Hamster beisst mir zärtlich in den Finger. Ich glaube, er mag mich.
Vielleicht ist er auch nur dumm und denkt, mein Finger wäre essbar. Wer weiss?
Wir Menschen halten uns für etwas besseres, für intelligenter und vernünftiger als Tiere. Wenn der Hund uns nicht gehorcht, ist er ein dummes Vieh.
Doch wir dagegen verstehen auch nicht immer, was das Tier will. Wir ignorieren es eiskalt.
Das Tier steht nun mal tiefer in der Hierarchie der Lebewesen, der Mensch zuoberst. Der Mensch ist intelligent. Was hat das nur zu bedeuten?
Wir haben die Intelligenz schliesslich auch definiert.
Natürlich zu unserem Gunsten.
Wir sind diejenigen, die uns über der restlichen Welt eingeordnet haben. Du sagst, die Menschen beherrschen die Welt, was bedeutet, sie seien die besten. Wie kommst du auf diese Idee? Die Menschen bauen sich ein ganzes Leben auf.
Für nichts.
Eigentlich jämmerlich.
Und auch obwohl sie die ganze Welt beherrschen, sind sie nicht zufrieden.
Warum glaubst du nur, sie seien besser, als die anderen Lebewesen? Weil du einer von ihnen bist. Ein Mensch, dem von anderen Menschen beigebracht worden ist, er sei intelligent und vernünftig und er habe ein Leben zu gestalten, es zu schätzen und möglichst wenig Fehler zu machen.
Fühl dich nicht gekränkt.
Ich gehöre schliesslich auch dazu.
Ich bin auch ein Mensch.
Und ich bin auch dabei, mein Leben zu gestalten. Es scheint mir allerdings so, als hätte ich zu wenig Kreativität. Jeder Tag sieht bei mir gleich aus.
Wie kann ich es ändern? Schliesslich muss die Uni besuchen, ich muss zwischendurch etwas essen…
Mir bleibt keine Wahl.
Meine Füsse tragen mich in die Küche, meine Augen werfen einen Blick in den Kühlschrank, meine Hände nehmen ein Joghurt aus der obersten Etage.
Nahrung.
Fürs Gehirn.
Eigentlich für meinen ganzen Körper.
Ohne Morgenessen funktioniere ich nicht.
Eine knappe Minute später steht der leere Joghurtbecher vor mir auf dem Tisch. Er reicht nicht aus.
Brot. Ich brauche ein Stück Brot.
Meine Hände wissen, wo sie zu suchen haben. Mein Hirn arbeitet nicht, muss nicht überlegen.
Sicher doch! Das Gehirn sendet die Informationen schliesslich aus, es hat sie irgendwann gespeichert. Ich bin mir dessen nur nicht bewusst.
Eigentlich merkwürdig. Jahrelang versuche ich mir irgendwelchen Schulstoff einzuprägen, aber nie hatte ich Mühe gehabt, den Brotkasten zu finden, die richtige Schublade mit dem Besteck zu öffnen. Vielleicht treibt mich der Hunger an. Vielleicht ist mein Wissensdurst im Vergleich zu meinem morgendlichen Hunger unbedeutend klein.
Ich drehe den Schlüssel im Schloss, zweimal, zur Sicherheit. Jeder Mensch schliesst seine Wohnungstür ab, wenn er die Wohnung verlässt. Es wird zur Gewohnheit. Aber manchmal frage ich mich… hast du schon einmal vor einer fremden Wohnung gestanden und versucht die Tür zu öffnen? Einfach so? Nur um zu schauen, ob du eintreten könntest? Selbst bei meinen Kollegen klingle ich zuerst und warte. Nehmen wir an, ich würde tatsächlich eine fremde Tür öffnen, würde ich mich dann auch wagen einzutreten? Möglicherweise ist jemand Zuhause! Du musst gestehen, ein Mensch wie du und ich, wir würden dies nicht tun. Natürlich, es gibt Diebe, Einbrecher. Aber, wenn die etwas wollen, dann können sie auch mal ein Fenster einschlagen, die würden sich von einer verschlossenen Tür nicht abschrecken lassen. Ein Schloss als Vorsichtsmassnahme ist völlig in Ordnung, trotzdem dient es hauptsächlich zur eigenen Beruhigung, es gibt ein Gefühl von Sicherheit. Und Sicherheit ist etwas, das uns die heutige Welt zu wenig bieten kann. Also suchen wir selbst danach, jeder für sich. Man vertraut sich selbst am meisten. Alles andere wäre naiv. Hingegen… Vielleicht wäre es auch eine gute Lebenseinstellung, allen zu vertrauen. Alleine kommt man schliesslich nicht weit. Man soll Vertrauen zwar verschenken, aber sparsam damit umgehen.
Meine Beine tragen mich in die Richtung der Tramhaltestelle. Sollte ich zur Uni laufen? Fahren? Sport würde meinem Körper definitiv nicht schaden, Geldausgaben für eine Fahrkarte dagegen schaden meiner finanziellen Lage. Gut, ich will es mal nicht übertreiben, doch ich bin tatsächlich ein wenig knapp bei Kasse diesen Monat. Meine Entscheidung ist gefallen. So einfach geht das. Positive und negative Aspekte miteinander vergleichen, abwägen. Schlussendlich auf das Bauchgefühl hören. Bauchgefühl? Ein Gefühl im Bauch? Sitzt dieses nicht auch im Kopf? Das Bauchgefühl ist doch eine Umschreibung für unser Unterbewusstsein. Also, was unser Gehirn für Überlegungen macht, die wir nicht bewusst mitkriegen. Wie mit dem Brotkasten. Ich habe mir nie bewusst Gedanken darüber gemacht, wo er sich befindet. Mein Unterbewusstsein hat es für mich gespeichert. Und jetzt hat das Unterbewusstsein irgendwelche gespeicherten Informationen analysiert und mich in eine Richtung gelenkt. Nicht? Ich muss zugeben, ich habe keine Ahnung, ich bin mir nicht bewusst, wie das Unterbewusstsein funktioniert. Allerdings glaube ich nicht, dass jenes Bauchgefühl ganz zufällig entsteht. Und übrigens das mit dem Brotkasten: ich glaube nicht, dass dies ein Bauchgefühl war.
Sitzen. Zuhören. Schreiben. Zuhören. Schreiben. Zuhören und Schreiben. Gleichzeitig. Geht das überhaupt? In dem Moment in dem das Gehirn die gesprochenen Worte niederschreiben möchte, hat der Professor einen neuen Satz begonnen. Ich kann mich nicht auf beide Sätze konzentrieren. Auch wenn ich das glaube. Glauben möchte. Multitasking. Das ist beinahe unmöglich. Mindestens zwei Dinge BEWUSST gleichzeitig ausführen. Radio hören, telefonieren und die Mails am PC abrufen nennt man in der heutigen Welt Multitasking. Doch, das Radio läuft im Hintergrund, wir hören es nicht bewusst, achten uns wahrscheinlich nicht aufs Lied, weil wir zur selben Zeit mit einer Kollegin den nächsten Urlaub planen. Während wir die neuen Mails, die im Posteingang eingetroffen sind, kurz überfliegen, rückt die Stimme der Kollegin in den Hintergrund. Was wir tun, nennt sich Task-Switching. Multitasking wäre beispielsweise Klavier spielen und dazu singen. Möglich ist dies doch nur, wenn wir eine Tätigkeit so gut beherrschen, dass wir sie nicht bewusst ausführen müssen. So geht es jedenfalls mir. Kein Wunder habe ich Probleme dem Professor zu folgen.
Pause. Kaffee in anderen Worten. Ohne Zucker, mit ein wenig Milch. Nicht zu stark. Zucker verdirbt jedoch den bitteren Geschmack. Süss und bitter. Ich hatte noch nie gerne zwei Geschmacksrichtungen vermischt. Weder die chinesische Sweet and Sour Sauce, noch Pfeffer auf den Erdbeeren. Das verstehe ich einfach nicht. Wie andere Menschen sowas essen können, schon nur auf die Idee kommen. Warum haben wir eigentlich alle so unterschiedliche Geschmacksempfindungen? Wir sind alle Menschen, sind miteinander verwandt. Gibt es bei den Tieren etwa auch solche, die eine völlig andere Nahrung bevorzugen? Die essen doch alle dasselbe. Also… ich weiss nicht.
Ende der Zeit im Vorlesungssaal. Raus an die frische Luft. Rein in das chinesische Take-away Restaurant. Gleiche Bestellung wie immer. Fried Rice. Reis, wie Getreide und Kartoffeln ein Grundnahrungsmittel. Wie die Asiaten nicht ohne dieses Nahrungsmittel leben können, ist es für uns schwierig ohne Brot, Teigwaren, Müesli auszukommen. Ich brauche Abwechslung. Morgens Getreide enthaltende Nahrung, abends Reis. Eigentlich keine Abwechslung. Jeden Tag dasselbe. Das Brot immer aus der Bäckerei um die Ecke, den Fried Rice vom Chinesen am Zürcher Hauptbahnhof. Sie kennen mich dort. Doch was heisst hier schon kennen. Die Angestellten können sich an mein Aussehen erinnern, haben meinen Anblick irgendwo in ihrem Hinterkopf abgespeichert. Mein schmales längliches Gesicht, die braunen krausen Haare, die wenigen Sommersprossen auf der Nase, die Augen, die stets verträumt, versunken über die Speisekarte gleiten, die feinen Lippen, die trotzdem jedes Mal dieselben Worte formen. Sie wissen, dass ich jedes Mal bevor ich die Bestellung aufgebe, die rechte Hand hebe, um mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen. Gewohnheit. Ein Zeichen von Unsicherheit. Es ist mir bewusst. Sie wissen, dass ich jedes Mal wenn ich den Laden betrete, die Treppe nach oben blicke. Ein Verhalten das dem eigenen Schutz dient. Von oben ist man verwundbarer, einfacher anzugreifen. Eine Gefahr muss erstmals ausgeschlossen werden. Bin ich übervorsichtig? Wie mit dem Türschoss? Die Angestellten kennen viele Details. Aber nur diejenigen, die ihnen von aussen ersichtlich sind, sie kennen meinen Charakter nicht, meine Gefühle… nicht mal meinen Namen. Nur die Aussenhülle, welche mein Inneres durchschimmern lässt. Meinen Körper, welcher auf meine Gedanken reagiert und handelt.
Ich nehme die Plastikbox entgegen, die mir Thomas, wie sein Namenschild mir verrät, in die Finger drückt und schenke ihm ein dankbares Lächeln. Mit der rechten Hand, die ein Becher Cola umklammert hielt, winke ich den Angestellten kurz zu und gehe zielstrebig auf die gläserne Eingangstüre zu. Mir ist natürlich völlig bewusst, dass Cola, so wie alle übrigen Süssgetränke, einen irrsinnig hohen Zuckergehalt aufweist und dass ich mir auf Dauer nicht jeden Tag einen halben Liter davon gönnen durfte. Doch ich finde, das Leben ist zu schön und zu kurz um sich darüber ständig Gedanken machen zu müssen. Es gab zu viele Krankheiten und Gebrechen auf dieser Welt, selbst wenn sich einer noch so einen gesunden Essensplan erstellt und auch einhält, könnte er trotzdem an einem Schlaganfall sterben. Ich habe mir vorgenommen, mich erst um meine Gesundheit zu sorgen, wenn ich tatsächlich merke, dass ich ein paar Kilos zu viel auf den Rippen trage. Und davon bin ich noch weit entfernt. Vielleicht liegt das auch an meiner ansonsten gesunden Ernährungsweise.
Ich trete hinaus in die Menschenmenge, die Tür fällt hinter meinem Rücken geräuschvoll zu. Menschen. Sie sind überall. Stadt nennt sich das. Nie ausgestorben. Oder wohl eher Bahnhof. Hauptbahnhof Zürich. Keinen geeigneten Ort für Leute, die gerne ihre Ruhe haben. Wie beispielsweise für mich. Menschenmengen erdrücken mich, geben mir ein Gefühl des Untergangs, des Mitströmens in eine Richtung, die nicht die meine ist. Unkontrolliert, orientierungslos. Ich halte mich gerne am Rande auf, nicht mitten im Geschehen. Das Verlangen im Mittelpunkt zu stehen kommt bei mir selten zu Tage. So fühle ich mich auch nicht behaglich von vielen Menschen umgeben zu sein. Trotzdem hatte dieser Bahnhof es auf die Nummer 1 meiner Lieblingsplätze geschafft. Hängt natürlich ganz von meiner aktuellen Stimmung ab. Wie man es auch von uns Frauen behauptet. Zwei total verschiedene Reaktionen auf die gleiche Handlung. Nur durch die gegenwärtige Laune beeinflusst. So sind wir eben. So bin ich jedenfalls. Ich mag diesen Ort. Trotz der sich wandelnden Menschenmasse. Genau deshalb. Jeder Mensch, ein Individuum. Ein anderes Verhalten, ein anderes Aussehen. Sie sind interessant. Oft setze ich mich auf eine Bank am Rande des Geschehens, eine Wand zu meinem Rücken, die mir ein Gefühl der Sicherheit vermittelt. Die Augen auf die vorbeigehenden Passanten gerichtet, die Hand und der Mund mit meinem Abendessen beschäftigt. Man sollte sein Essen geniessen, es bewusst kauen. Ich weiss, ich mache hier einen Fehler. Doch das tun wir alle, unser Leben lang. Es geht nicht ohne. Fehler formen einen Menschen. Und wenn wir denselben Fehler immer wieder tun, dann ist es eine vielleicht bewusste Entscheidung. Eine bewusste schlechte Entscheidung. Wie beispielsweise Raucher sich jeden Tag von neuem entscheiden eine Zigarette anzuzünden. Doch wer definiert schon Fehler? An welchem Zeitpunkt begehen wir einen? Ist es schon ein Fehler den Kaugummi auf den Boden zu spucken, die Strasse nicht über den Fussgängerstreifen zu überqueren? Dies sind teilweise unausgesprochene, teilweise schriftlich festgesetzte Regeln, wie wir uns zu verhalten haben. Es sind doch keine Fehler, nur Verstösse gegen jene Regeln. Ein Rechtschreibefehler ist auch eine festgelegte Regel, trotzdem gilt es als Fehler. Vielleicht verstehe ich das Ganze einfach falsch.
„Klick! Er lässt seinen Fotoapparat sinken und begutacht die soeben geschossene Momentaufnahme, während seine Füsse sich wieder in Bewegung setzen. Zufrieden mit dem Ergebnis hebt er den Kopf und lässt seinen Blick über die Strasse von Los Angeles schweifen auf der Suche nach einem neuen Motiv. Links von ihm haben einige junge Leute aus gebrauchten Plastikflaschen Musikinstrumente gebastelt und spielen nun munter ein vermutlich selbst komponiertes Lied. Gleich neben der Gruppe hat sich eine ältere Frau auf einen schmutzigen, teilweise sogar zerrissenen Campingstuhl gesetzt. Ihre Arme sind übersät mit Mustern in den buntesten Farben. Sie winkt ihm freundlich lächelnd zu, zeigt mit der einen Hand auf die Stifte, mit der anderen auf ihre aufgemalten Tattoos. Er schüttelt entschuldigend den Kopf. Schon nach wenigen Schritten erwarten ihn weitere Künstler. Dieses Mal ist es ein Duo, welches zu laut aus Boxen dröhnender Musik Hip-Hop tanzt. Er weicht ihnen aus, doch er kann in seiner Faszination kaum den Blick von ihnen abwenden. Sie sind überall, diese Strassenkünstler. Sie tun mit Leidenschaft, was sie glücklich macht. Sie geniessen ihre Freiheit, ihr Leben. Und er beneidet sie dafür. Kunst hat viele verschiede Formen. Sie ist nicht festgesetzt, im Gegenteil, sie ist frei. Jeder Mensch kann Kunst auf seine eigene Weise interpretieren. Friedrich Schiller hat einmal gesagt: "die Kunst ist eine Tochter der Freiheit."
Oft hat er sich gefragt, ab wann etwas als Kunst gilt. "Kunst ist überall, alles ist Kunst, unser gesamtes Leben ist ein einziges Kunstwerk", sagen die einen. Auch ein weisser Hintergrund mit einem roten Farbspritzer gilt als Kunst? "Natürlich ist das Kunst, alles ist Kunst", wiederholen sie. Warum zahlt man dann so viel Geld für jenes Kunstwerk? Jeder wäre doch fähig es zu schaffen. "Aber nicht jeder tut es", entgegnen sie und sie haben Recht. Ein Kunstwerk ist einmalig und eine Kopie ist bloss eine Kopie, nicht das Original. Seien es Gemälde, Gedichte, Skulpturen, Lieder, Tänze oder Filme, die Kunst kennt keine Grenzen. Teilweise treffen wir abstrakte Formen der Kunst an, dann aber entdecken wir wieder Versuche der Künstler, die Wirklichkeit exakt wiederzugeben. Warum nennen wir es Kunst? Ein Landschaftsbild ist bloss ein Abbild der Natur.
Arno Holz, ein Naturalist, hat die Formel "Kunst = Natur - X" aufgestellt. Er meint damit, dass die Natur allein schon Kunst sei. Arno Holz will auf den Künstler verzichten, der im Prozess des Schaffens eines Kunstwerks anwesend ist. Seiner Meinung nach soll der Dichter die Wirklichkeit so wiedergeben, wie sie ist. Diese wird jedoch durch subjektive Einflüsse des Dichters geformt. Zu seiner Zeit, im Naturalismus, versuchte man diese Subjektivität zu vermeiden. Heutzutage spielt sie eine wichtige Rolle in der Kunst.
Hinter dem roten Farbspritzer auf dem weissen Hintergrund stecken sehr wahrscheinlich Gedanken und Gefühle. Es ist ein Ausdruck der tiefsten Empfindungen. Aber dies trifft nicht nur auf Gemälde zu, sondern auch andere Formen der Kunst.
Eine Freundin hat ihm gegenüber zugegeben, dass sie tanzt, wenn sie etwas bedrückt. Sie meint, sie vergesse dann die Welt um sich herum, sie fühle sich frei und glücklich. Manchmal lässt die sich von ihren Gefühlen führen und kann diese so auch verarbeiten. "Niemand schreibt die vor, welche Schritte du zu tun hast", erklärte sie ihm, "du musst dich von dir selbst leiten lassen, es gibt kein Urteil von Richtig und Falsch. Du musst dich komplett fallen lassen, dann spürst du dieses befreiende Gefühl."
Sie tanzt nicht immer alleine, manchmal auch mit einem Partner zusammen, manchmal in einer Gruppe. Für ein Kunstwerk braucht es nicht nur EINEN Erschaffer. Ein Orchester beispielsweise besteht aus vielen einzelnen Künstlern, die miteinander harmonieren und Eins werden. Es ist wie viele kleine Puzzleteilchen, die zu einem grossen, schönen Bild, einem Kunstwerk zusammengefügt werden.
Als er noch jünger war, hat Kunst ihn kaum interessiert und nicht beeindruckt. Wenn auf einem Bild kein Elefant und keine Giraffe zu sehen war, richtete er seine Aufmerksamkeit schnell auf andere Dinge. Gedichte waren sowieso unverständlich geschrieben und Skulpturen bewegten sich nicht einmal. Irgendwann kam er im Leben aber an den Punkt, wo Kunst für ihn faszinierend und inspirierend wurde. Es ist wie ein Eintauchen in die Welt anderer Menschen. Ihre Kunstwerke machen ihre Ängste und Sorgen, aber auch ihre Sehnsüchte sichtbar für uns alle. Durch die Kunst gelangen sie zur inneren Freiheit. Die Kunst selbst ist frei. In der heutigen Welt gibt es Regeln, Verbote und allgemein Einschränkungen. Aber die Kunst ist nicht eingeschränkt. Sie ist ja auch eine Tochter der Freiheit.
Auch dieser Donnerstag war wie jeder andere Wochentag verlaufen, abgesehen davon, dass mein Stundenplan ein wenig Abwechslung gebracht hat. Ich knülle die dreckige Serviette zusammen und stopfe sie in den Styroporbehälter, der vor 5 Minuten noch eine üppige Portion Reis enthalten hat. Wie in Zeitlupe erhebe mich von der Sitzbank und strebe im Gegensatz zu den vorbeieilenden Menschen langsam auf den Mülleimer zu, um den Abfall zu entsorgen. Wie kann man auch nur so gestresst durch die Welt gehen? Diese Leute starren ja gerade einmal die zwei Meter vor sich auf den asphaltierten Boden, ansonsten scheinen sie sich überhaupt nicht für ihre Umgebung zu interessieren. Ich schüttle nur den Kopf.
Wie gewohnt steuern meine Beine in Richtung der Fussgängerunterführung und bevor ich ihn sah, hörte ich ihn. Sein bezauberndes Geigenspiel. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen bewege ich mich auf die Quelle der Musik zu. Vor dem schlanken, grossgewachsenen Mann, der auf dem Boden kniet, das Instrument in seinen Händen hält, als wäre es aus Gold, und seine Augen geschlossen hat, um sich zweifelsfrei vollständig in den reinen Klängen fallen zu lassen, bleibe ich stehen wie in Trance versetzt und vergesse die vielen Menschen um uns herum. In diesem Augenblick fühlt es sich an, als gäbe es nur den jungen, hübschen Geigenspieler und mich, als gälten die traurigen und sehnsüchtig klingenden Lieder mir, als hätte er nach mir gerufen, mich mit seinem Spiel angelockt und in seine Falle tappen lassen. Ich weiss nicht, wie viel Zeit verstrichen war, ob es bloss Sekunden oder ganze Minuten gewesen waren, aber plötzlich war das Lied zu Ende und der Spieler öffnete langsam seine Augen. Sein Blick trifft mich und jagt mir unwillkürlich einen heissen Schauer über meinen Körper.
Tag der Veröffentlichung: 31.08.2017
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