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Anna




Es war wieder da. Das Adrenalin strömte durch meinen ganzen Körper, tausend unbeantwortete Fragen, die wie aus dem nichts in meinem Kopf auftauchten und die Angst, die ich nur in diesen Augenblicken spürte. Ob man mich wohl von da unten sieht? Ein Strich auf der 200-Meter-Brücke? Würde mir wieder jemand zur Hilfe eilen? Würden die Ärzte wieder eine Erklärung finden weswegen ich überlebt habe? Würde ich wieder meine Mutter mit dem finsteren Blick vor meinem Bett im Krankenhaus sehen, während sie den Ärzten vorspielt, wie froh sie sei dass ich noch am Leben bin? Wieso konnte ich nicht einfach sterben? Hier und jetzt in dieser Sekunde. Ich wollte springen und tot sein. Nichts mehr spüren, nichts mehr fühlen. Einfach nicht mehr da sein. Als hätte ich nie existiert. Wer würde mich denn auch vermissen? Meine nicht vorhandenen Freunde schon mal nicht. Meine Eltern wären wahrscheinlich froh, dass ich nicht mehr da wäre. Meine Katzen vielleicht. Sie würden verhungern, seit unsere verkorkste Nachbarin im Altersheim lag, kümmerte sich niemand mehr außer mir um die beiden. Ach und meine Lehrer. Ich war ja der Klassenprimus und in jeder nur winzig kleinen AG. Ich führte den Schachclub. Den französischen Buchclub und zahlreiche Englisch- und Mathekurse. Außerdem war ich Stufensprecherin und immer eine Vertrauensperson für Lehrer so wie für Schüler. Ach, und da war Luke, mein bester Freund, von dem niemand verstand, weshalb er mich überhaupt mochte. Es ging ein Gerücht um, dass er mich ausnutzte. Aber, zu was im Himmel, konnte man MICH bitte ausnutzen.
WIESO DENKE ICH DARÜBER EIGENTLICH NACH?! Normaler Weise hätte ich mir jetzt Vorwürfe gemacht, wieso ich nicht einfach gesprungen bin, das war doch was ich wollte. Wieso dachte ich denn darüber nach wem ich fehlen würde, gleich würde ich tot sein und keine meiner Gehirnzellen würde noch an die Personen aus meinem Leben denken. Ich würde keinem fehlen und mir ebenso niemand. Also sprang ich, ich vergaß alles um mich herum, ich vergaß, dass ich das ganze schon ein dutzendmal durchgemacht habe, ich vergaß dass es sowieso nicht funktionieren würde und sprang also als unwissendes Mädchen mit Kopf nach unten. Für wenige Sekunden sah ich die verlassenen Eisenbahnschienen, die in der roten Abendsonne orangen schimmerten und den zwischen den Gleisen geschotterten Weg, der ebenfalls vom Licht verfärbt wirkte. Doch dann sah ich mein Leben an mir vorbeiziehen. Wie ich als kleines Kind laufen lernte und mich selbst als einzige über jeden Schritt freute. Oder wie ich das erste mal Oma sagte und dann mit meinen dunklen Locken auf meinen Teddybär zukrabbelte. Oder wie ich den Preis der besten Jugendautoren überreicht bekam und dabei in Tränen ausbrach, sodass meinen Augen rot wurden und ein perfekter Kontrast zu meinem bleichen Gesicht und meinen fast schwarzen Haaren waren. Ich sah meine mal-beste Freundin Nelly, die mich ohne Worte verstand und trotzdem das komplette Gegenteil von mir war, sowohl vom Aussehen, mit ihren roten langen und glatten Haaren als auch vom Charakter, weniger zickig und viel selbstbewusster als ich. Ich sah mich 3 Monate lang weinen und wünschen zu ihr in den Himmel zu kommen. Das würde ich gleich. Ich war nur noch einige Meter vom Boden entfernt. Gleich werde ich sterben. Ich hatte das Bild meiner Eltern im Kopf wie sie an meinem Grab stehen werden und wie sie wütend auf ihre tote Tochter sein werden, dass sie ihnen immer so viel Mühe gemacht hat. Doch damit war es jetzt vorbei, denn das war das kurze Leben der Anna Clary.


Jane




Ich flitzte durch den Wald. Der Erdboden unter meinen vier sanften Pfoten war rau und übersäht mit Laub. Es war Herbst. Der Geruch lag in der Luft, den meine feine Nase geradezu aufsaugte. Frostig war es auch, Tau lag über der Erde und versetzte allen Bäumen einen schimmernden Glanz. Zum Glück spürte ich die Kälte kaum, denn mein dicker Pelz schützte mich.
In meinem Umfeld nahm ich alle Gedanken der Lebewesen wahr, von den Regenwürmern in der Erde bis zu den Vögeln, die schnell wegfogen als sie mich sahen. Dumme Flattertiere. Sie dachten ernsthaft, ich wolle sie fressen. Dabei war ich doch nur - eine Katze. Eine ziemlich fette Katze, aber das lag an meinem Winterfell. Besser als jeder Wintermantel der Welt, selbst der flauschigste konnte meinen dicken getiegerten Pelz nicht toppen.
Ich wich einigen Ästen aus und machte einen sensationellen Sprung über einen umgefallenen Baumstamm. Vor mir lichtete sich der Wald und ich konnte schon mein Viertel sehen. Hier standen die Prachtvillen mit den riesigen Gärten. Mein Zuhause war auch hier. Nur, dass meine Villa noch prachtvoller und der Garten noch größer war.
Ein zarter Rosenduft betörte meine Sinne, als ich die letzten Meter lief und mich dann zwischen den Metallstreben des Zaunes, der das Grundstück umgab, hindurchquetschte. Dann stolzierte ich den Kiesweg entlang. Hach, nirgendwo war es schöner. Außer in der Karibik, wo ich mit Delfinen schwamm. Oder am Nordpol, wo ich mit den Eisbären herumtollte. Aber hier war ich Zuhause.
Ich tapste auf meinen leisen Katzenpfoten an den Rosensträuchen vorbei, die trotz des Herbstes noch prachtvoll blühten und schlüpfte durch die offene Tür des Gartenschuppens. Die Luft schmeckte künstlich und wegen dem Dünger von Chemikalien verseucht. Aber wenigstens konnte mich hier niemand sehen, außer dem Gärtner, und der hatte heute seinen freien Tag. Wenn mich jemand dabei beobachtete, was ich jetzt tat dann wäre ich geliefert. Ich würde in eine Klinik eingeliefert werden, die Ärzte würden mich untersuchen und mich zu einem Versuchskaninchen machen. Nein, das hier musste geheim bleiben. Ich kniff meine Katzenaugen so gut es ging zusammen und stellte mir vor, wie es wäre, größer zu sein. Ein 15 einhalb jähriges Mädchen, mittelgroß, blond, relativ schlank aber kräftig. Dieses Mädchen hatte nichts gemeinsam mit der Katze, die auf dem Boden hockte, bereit zu springen.
Und dann sprang sie. Nicht nach vorne, sondern steil nach oben, aber ihre Hinterpfoten blieben fest mit dem Boden verankert. Ihr Körper jedoch wurde größer, breiter, er wurde zu dem Körper eines fast 16 Jahre alten Mädchens. Ihre Krallen wurden zu manikürten Fingernägeln, die Ballen wurden hautfarben und schossen in die Länge. Nicht nur die Pfoten, auch ihr restlicher Körper verwandelte sich in Sekundenschnelle. Die vorher grünen Augen der Katze färbten sich blau, es war als hätte man blaue Farbe auf die Pupille geschüttet, die sich dann gleichmäßig nach außen verteilte. Ihr vorher gestreifter Pelz wurde blond und wuchs dichter auf dem Kopf.
Ich öffnete die Augen. Genau wie in meiner Vorstellung war ich jetzt ein normales Mädchen. Leider ohne Klamotten. Schnell nahm ich die Anziehsachen aus dem Rucksack, den ich heute Morgen hier abgelegt hatteund zog mich an. Unterwäsche, eine lange Jeans und ein schwarzes Top. Eine Sweatshirtjacke zog ich noch darüber, denn es war ja Herbst.
Ich schob den grünen Vorhang vorm Fenster ein wenig zur Seite um nachschauen zu können, ob mich jemand gesehen hatte, was zu meinem Glück nicht der Fall war.
Dann lief ich in die Villa, um Hausaufgaben zu Morgen zu machen. Ich wollte mich wieder ein Bisschen anstrengen, um den Abschluss der elften Klasse zu schaffen.


Anna




Ich ging auf die Schule zu. Sie kam mir aus unerklärlichen Gründen fremd vor, so als wäre ich nie zuvor dort gewesen. Ich lief über den gepflasterten Boden, an beiden Seiten schimmerte das Gras bedeckt von leichtem Tau. Es glitzerte, wie tausend Diamanten. Ich hatte so was noch nie in meinem Leben gesehen. Ich näherte mich dem großen Gebäude. Einige Schüler kamen mir entgegen, standen in Grüppchen am Rand des Weges oder überholten mich. Ich wusste nicht wieso, aber alle hatten ihre Augen auf mich gerichtet. Hatte ich etwas Seltsames gemacht, oder wieso starrten mich alle an? Ich fiel mir schwer die Tür der Schule zu öffnen. Meine Schulter und meine Rippen taten weh als ich versuchte an ihr zu ziehen. Ich sah bestimmt ziemlich blöd aus, als ich solange vor der verschlossen Tür stand. Als ich einsah, dass ich sie nichtmehr öffnen würde, stellte ich mich ebenfalls an den Rand des Weges und wartete darauf, dass jemand anders zur Tür hinein ging. Vielleicht hatte die Schulleitung vergessen die Türen aufzuschließen, das würde auch erklären, wieso so viele Menschen vor der Schule standen. Wer machte das bei dieser Kälte freiwillig. Mir war heute morgen sogar so kalt gewesen, dass ich meinen neuen Wintermandel anzog. Er war das teuerste Kleidungsstück in meinem Kleiderschrank. Er war dunkelbraun, modisch geschnitten und betonte meine Figur, zu meinem passenden Schal-Handschuh-Mützen-Paar, sah er einfach noch besser aus. Ich stand ziemlich lange dort, und verfluchte innerlich den Hausmeister. „Dieser Trottel, kann der nicht die Tür aufschließen? Ich friere mir hier nicht den Arsch ab, nur wegen dem. Ich würde ihn feuern!“ Eine der Gruppen bewegte sich auf den Eingang zu, und öffnete die Tür ohne mit der Wimper zu zucken. Komisch, jetzt musste sie wohl offen sein.
Zu der Gruppe gehörten hauptsächlich Mädchen, alle hübsch, die meisten blond. Eines hatte strahlend blaue Augen, die ich bis hier her sehen konnte. Sie lief wie die Queen, als müsste sie betonen, dass sie die hübscheste und die reicheste Dame der Welt ist. um ehrlich zu sein, sah sie so auch aus. Arrogant!
Dann kam ein Junge schnell auf das Gebäude zugelaufen, naja nicht auf das Gebäude, er lief irgendwie schief, so in meine Richtung. Sehe ich etwa aus wie eine Tür? Hoffentlich rennt er mich nicht um, ich war doch erst im Krankenhaus. Doch er stoppte nicht, er lief immer weiter. Langsam bekam ich Angst. Er wohl nicht, den er strahlte bis über beide Ohren, und er rief einen Namen. „Anna? Anna! Du bist es! Ich hab dich so vermisst!“ Mit wem verdammt redete er da? Nein! Stopp! Ich bin keine Tür! Er lief nicht gegen mich, er breitete seine Arme aus, schlang sie um mich und wirbelte mich durch die Luft. Er fing an zu lachen. Ein schönes, erleichterndes Lachen. Der Junge setzte mich wieder ab und gab mir einen Kuss auf die Wange. Er hatte blonde kurze Haare und dunkelbraune Augen. Er hatte nur ein weißes T-shirt an, und natürlich eine schwarze Jeans. „Anna. Ich hatte mir solche Sorgen gemacht. Ich hab dich mehrfach auf deinem Handy angerufen, aber du bist nicht rangegangen. Deine private Nummer hast du mir nie gegeben und ich wusste deine normale Telefonnummer auch nicht mehr. Ich hab mir solche Sorgen gemacht, aber jetzt bist du ja wieder da. Was hast du denn auch angestellt?“ Ja, gute Frage. Der Arzt, sehr humorvoll, meinte ich sei von der Brücke gesprungen. Lustig, über sowas sollte man als Arzt keine Scherze machen. Meine Mutter ging mir total aus dem Weg, sie redete kein Wort mit mir, so als wäre sie sauer weil ich mir 2 Rippen und die Schulter gebrochen habe. Mein Vater war aus unerklärlichen Gründen für 3 Wochen verschwunden und dieser Junge wusste wohl auch nicht was ich habe. Naja kein Wunder, ich kannte ihn ja nichtmal. Aber er schien ziemlich freundlich und nett zu sein. „Erkläre ich dir später, weißt du was ich für Unterricht habe?“ „Ja, hier ist dein Plan, ich hab ihn dir schon besorgt, die Sekretärin meinte, du sollst dich ein bisschen an Jane halten, sie ist in allen deinen Kursen.“ sprach er während er mir die Tür öffnete und in die Schule führte. „Ja, Jane, natürlich.“ Er brachte mich zu seinen Freunden und alle umarmten mich und meinten, sie wären froh, dass es mir gut ginge. Ich dagegen wäre froh, wenn sie mir sagen würden wer sie sind.
,,Sieh mal, da ist Jane. Vielleicht bringt sie dich zu deinem Kurs.“, sagte er aufmunternd und wändete sich einem anderen Mädchen zu, „Hey Jane, komm mal rüber.“ Das Mädchen sah ihn an und lächelte breit. Ihr Ausdruck sagte mir nichts, aber ich kannte dieses Mädchen, ich hatte sie schon mal gesehen. Sie kam näher, würdigte mich aber keines Blickes. Ich dagegen sah ihr genau in die Augen. JA! Natürlich, das arrogante und hochnäsige Mädchen von vorhin!


Jane




Dieser Luke war echt süß. Und gutaussehend. Und leider vergeben, an die Streberin an seiner Seite. Ich betrachtete sie mit einem eisigen Blick. Sie sah gut aus, mit den langen schwarzen Locken und ihren hellbraunen Augen, die wie Bernstein leuchteten. Sie sahen ein bisschen aus wie Honig, fast golden nur noch dunkler. Auf ihrer bleichen Haut war kein Pickel zu sehen, oder sie waren so gut abgedeckt, dass man sie nicht erkennen konnte. Sie trug einen engen Pulli von C&A, ich hatte ihn vorgestern beim Shoppen im Sonderangebot gesehen. Er gefiel mir, doch ich kaufte ihn mir nicht. Meine Klamotten waren nur von Bench. oder anderen teuren Marken. Der Pulli betonte ihre schlanke Figur. Neidisch sah ich, dass sie ein Bisschen schlanker war als ich. Jane, denkst du etwa, diese Streberin wäre was Besseres als du? Wer kann sich denn hier verwandeln?, flüsterte mir eine kleine gemeine Stimme in meinem Kopf zu. Stimmt. Sie war ein Nichts. Ausserdem war sie nicht mehr ganz frisch in der Birne, denn sie hatte letzte Woche versucht, sich umzubringen. Ihre gebückte Haltung verriet mir, dass sie sich wohl ziemlich viel gebrochen oder geprellt haben musste. Wie bescheuert konnte man eigendlich sein, zu versuchen sich umzubringen? Ich grinste, als mir einfiel, dass sie kaum Freunde hatte. Dann hätte ich mich auch umgebracht. Das Lächeln gefror mir aber Augenblicklich im Gesicht, als mir einfiel, dass ich auch keine richtigen Freunde hatte. Meine Clique war nur mit mir befreundet, weil sie dann als cool galten. Obwohl ich wusste, dass sie hinter meinem Rücken über mich lachten und tuschelten, tat ich immer, als wären sie die allerbesten Freundinnender ganzen Welt.
„Was kann ich für dich tun?“, fragte ich mit meiner besten gespielten, freundlichen Stimme. Der Junge schaute mich verwirrt an. Er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass ich, das hochnäsigste und zickigste Mädchen der Schule, auch mal freundlich sein könnte. Da staunst du wohl, dachte ich zufrieden. Er bekam sich aber schnell wieder in den Griff. „Ja, öh, hmm, wie du weißt kann Anna ja kein Sport mehr mitmachen, seit sie, ähh, etwas ungeschickt gestürzt ist.“, brachte er stotternd hervor. Hat wohl Angst, sich zu blamieren oder so. „Ja, das sieht man.“, antwortete ich und blickte Anna mit hockgezogenen Augenbrauen an. Sie erwiderte meinen Blick tapfer. Ungeschickt gestürzt - das ist ja mal ´ne nette Umschreibung für “sie ist von einer 200 Meter hohen Brücke auf Eisenbahnschienen gesprungen.“ Ein Wunder, dass sie das überlebt hatte und die Ärzte ihre Überreste nicht von einem Zug kratzen mussten…Plötzlich tat sie mir Leid. Ihr musste es echt Scheiße gehen! „Und was habe ich damit zu tun?“, fragte ich. Ich blickte noch einmal in ihre Augen. Okay, ich war nicht der perfekte Menschenkenner oder in-die-Seele-Blicker, aber ich merkte, dass irgendetwas in ihren Augen nicht stimmte. Als wäre sie ganz woanders gewesen und sei gerade in dieser Sekunde wieder aufgewacht. Hatte so ein Kopfsprung vielleicht irgendwelche Nebenwirkungen, aussser einer Ohnmacht und gebrochenen Knochen? Hatte ihr Gehirn jetzt einen gewaltigen Aussetzer oder so was? Verdammt, wieso passte ich in Bio nie auf? Sie schaute sich verängstigt um. Oder war es verwirrt?
„Annas Kurse wurden geändert und jetzt hat sie den gleichen Stundenplan wie du. Würdest du ihr in den ersten Wochen zeigen, was ihr für Stunden habt? Das wäre sehr nett.“, sagte der Junge. Wieso redete eigendlich immer er und nicht sie? Konnte sie nicht reden? Es fehlte nurnoch, dass sie plötzlich anfing, zu sabbern. „Okay, mach ich. Komm mit, Anna!“, seufzte ich und ging zu unserer ersten Stunde. Das konnte ja heiter werden!
Jetzt, in Deutsch, würden wir eine Arbeit schreiben. Zum Glück hatte ich mich vorbereitet, oder, naja, ich wusste was alles in der Arbeit dran kam. Gestern flog ich nämlich in Gestalt einer Amsel zum Haus unserer Deutschlehrerin. Dann brummte ich als Hornisse durchs Fenster in ihr Arbeitszimmer, leider wurde ich dabei fast von ihren schweren Vorhängen erschlagen. Dank meinen fleißig schlagenden Insektenflügeln konnte ich noch rechtzeitig ausweichen (Ha, ich war ja so gut!). Als Maus arbeitete ich mich duch die Schubladen, bis ich fündig wurde: Die Arbeit für die Elfte, alle Frage und Antworten! Es dauerte zwar ein Weilchen, bis ich alle Informationen in mein kleines Hirn bekommen hatte, doch es hatte sich gelohnt. Zuhause hatte ich noch einmal geübt, und jetzt war ich bereit. Niemand hatte mich gesehen. Meine Deutschlehrerin würde heute ihr blaues Wunder erleben, denn im Unterricht hatte ich so gut wie nie aufgepasst!
Dank meiner Vorsich hatte seid zweieinhalb Jahren niemand bemerkt, dass ich mich in jedes beliebige Wesen der Erde verwandeln konnte, höchstens vielleicht die Tiere.Vor zweieinhalb Jahren hatte ich diese Gabe entdeckt. Ich war gerade 13 geworden. Mein Vater war mal wieder auf einer seiner Geschäftsreisen und meine Mutter war gerade auf der Reise zurück nach Deutschland, weil sie vorher in New York schoppen war. Ich feierte also alleine, denn alle Bediensteten die eigendlich auf mich aufpassen sollten, hatte ich kurz davor noch mit einem 100 Euro Schein für jeden bestochen, damit sie sich einen freien Tag machten. Ich lud alle Leute aus meinem Jahrgang, auch die Streber wie Anna und die gutaussehenden Jungs aus den Jahrgängen über mir ein und machte eine Party. Wir badeten alle im Schwimmbad in unserem Riesenkeller und machten so laute Musik an, dass sich am nächsten Tag alle Nachbarn im Umkreis beschwert haben. Es war die beste Party des Jahres.
Am nächsten Tag saß ich mit Kopfschmerzen in unserem Garten, denn irgendwer aus den Jahrgängen über mir hatte heimlich Alkohol in die Getränke geschmuggelt. Ich betrachtete gerade eine Taube auf unserem Gartenzaun. Ich stellte mir vor, so zu fliegen wie sie. Ich stellte mir vor, hoch über den Dächern der Stadt in Freiheit zu leben. Ich stellte mir vor, die Welt von oben sehen zu können und schloß die Augen um es mir besser vorstellen zu können. Ich sehnte mich danach, so zu sein wie sie. Und das war es auch schon. Ein Ruck ging durch meinen Körper, vom Kopf bis zu den Füßen. Ich öffnete verwirrt die Augen, um zu verstehen was passierte. Spitze Nadeln stachen in meine Haut, die Welt war plötzlich seitlich von mir zu sehen weil meine Augen so schräg am Kopf anlagen. Ich konnte kaum sehen was vor mir war, dafür musste ich jedes Mal den Kopf verdrehen. Als ich mir mit der Hand über die Augen fahren wollte, ging es nicht, denn ich hatte anstelle von einem Arm einen Flügel. Ich brach in Panik aus und wollte schreien, doch ich hörte nur einen Taubenschrei. Ich konnte meine Füße nicht mehr sehen, denn sie waren unter meinem Körper. Als ich meine Flügel bewegte, spürte ich die Luft an meinen Federn vorbeirauschen. Ich schlug noch einmal mit den Flügeln, und dann noch einmal, bis es zu einem Flattern wurde. Plötzlich spürte ich keinen Boden mehr unter den Füßen, und diese Erkenntnis kam so überraschend, dass ich immer unregelmäßiger flatterte und der Erdboden auf mich zuflog und unsanft halb auf den Kopf landete. Meine Kopfschmerzen wurden dadurch nur noch schlimmer. Ich versuchte es noch einmal, diesmal vorsichtiger und nicht so überstürzt. Mit meinen schwachen Beinen nahm ich leicht Anlauf und dann war ich in der Luft! Jetzt war ich frei. Jetzt konnte ich die Welt von oben sehen. Fliegend konnte ich fast alles tun, was ich wollte. Ich senkte die Flügel zu einem Sturzflug und spürte die Luft wieder unter meinen Flügeln und an meinem Köpfchen vorbeirauschen. Mein Schnabel öffnete sich zu einem triumphierenden Schrei, als ich sah wie frei ich war. Jetzt konnte mir niemand mehr etwas antun! Was hielt mich noch an der Menschenwelt? Etwa meine Eltern? Oh nein, ich war schon längst zu ihrem lästigen Problemkind geworden. Das Mädchen, das alle Arbeiten versaute und nur dank ihres Reichtums auf dem Gymnasium bleiben durfte. Oder meine nicht existierenden Freunde? Die waren alle sowieso nur wegen meinem Geld mit mir befreundet. Ich war schon kurz davor, mich für das Leben einer Taube zu entscheiden, als mir die ganzen Nachteile als Taube einfielen. Alles war so dreckig und jede verdammte Katze würde versuchen, mich als Frühstück zu verspeisen. Ich hatte mal in der Stadt in einer Leeren Gasse eine tote Taube gesehen. Sie lag zerfleischt auf dem Boden, ihre Federn lagen überall versträut um sie herum und ihr Bauch war aufgeschlitzt, sodass ihre Gedärme herauskamen. Es war kein schöner Anblick gewesen und ich hätte mich damals beinahe übergeben.
Ein weiterer Grund gegen das Leben einer Taube war, dass ich mich nicht wirklich jeden Tag von Straßenabfall ernähren wollte. Dafür vermisste das teure Essen bei mir zu Hause nun doch zu sehr!
So fing alles an.


Anna




Jane ging los und gab mir mit einer Geste das Zeichen ihr zu folgen. Ich wusste, dass ich auf sie angewiesen war, und ich wusste, dass sie das garnicht toll fand. Was hatte sie gegen mich? Ich war doch gar nicht böse zu ihr gewesen. „Jane? Wo gehen wir hin?“ fragte ich schüchtern. „Wo geht man in der Schule wohl hin, ganz sicher nicht zur Manieküre.“ sagte sie genervt und stöhnte leicht, sie mochte mich wirklich nicht. „Magst du mich nicht?“ fragte ich sie, nur um mich zu vergewissern. „Doch, wir sind beste Freude, schon vergessen?“ sagte sie übertrieben freundlich. „Ich stehe nämlich auf kleine Schlampen, die denken, dass sie was besseres sind, nur weil sie 'nen süßen Freund haben.“ Seltsame Art mit Freunden umzugehen. „Du verarschst mich!“ schnauzte ich sie an. "Ach, Anna, ich würde das doch niemals tun. Wir sind Freunde bis zum Mond und wieder zurück!“ sagte sie im selben Ton. Vielleicht war das ihre Methode zu zeigen, wer einem am Herzen liegt. „Ah, ok, Bitch.“ erwiederte ich, absichtlich in ihrer Art, zu zeigen, dass man befreundet war. Sie guckte mich verblüfft an, für einen kurzen Moment schien ihr die Sprachlosigkeit ins Gesicht geschrieben, doch sie verschwand noch schneller, als sie gekommen war. „Ah, sind wir jetzt auch noch vorlaut?“ sagte sie und zog ihre dünn gezupften Augenbrauen hoch. Vielleicht, wusste sie nicht was ich meinte. „Naja, ich dachte es wäre angemessen, dir zu zeigen, was ich von dir halte.“ sagte ich und schenkte ihr ein Lächeln. Sie funkelte mich an und machte ihre Augen ganz klein. Unter normalen Zuständen hätte ich es als wütenden Blick gedeutet, aber da Jane ganz und garkein normaler Zustand war, stellte mich der Blick vor ein Rätsel. Ich sagte nichts weiter und lief ihr einfach hinterher. Vor einem Raum bleiben wir stehen und sie drehte sich auf dem Absatz zu mir um. „Wir schreiben jetzt eine Klausur, über die Lektüre 'Kabale und Liebe'. Ich hoffe, das passt in deinen zu klein geratenen Kopf rein.“ sagte sie und schmunzelte. Dann drehte sie sich wieder auf dem Absatz um und lies mich vor dem Raum stehen. Ich ging ihr langsam hinterher und schaute mir die vielen Gesichter an den Tischen an. Sie sahen mich ebenfalls an, allesamt. „Hallo!“, sagte ich freundlich, „schön euch kennen zu lernen.“ Jetzt fielen verschiedenen Schülern die Münder auf. Wo war ich hier gelandet? Jane lies sich vorne an einem Tisch nieder und ich setzte mich nach hinten neben ein Mädchen mit roten ungebändigten Locken. „Hallo, Anna.“ murmelte sie. „Hallo ...“ sagte ich und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass ich keine Ahnung hatte, mit wem ich es zu tun hatte. „Julia, ich bin Julia.“ fügte sie hinzu. „Ja, Julia, ich weiß.“ Oh Gott war mir das alles peinlich. Ich kannte dieses Mädchen scheinbar und konnte mich nicht erinnern. Normalerweise konnte ich mich doch an alles erinnern. Ich konnte aus Büchern zitieren, alle möglichen Stücke auswendig auf Klavier und Geige vortragen. Ich konnte Jahreszahlen im Schlaf den verschiedenen Ereignissen zuordnen und normalerweise konnte ich mir auch Namen gut merken. Sie lächelte mich an, und schien zufrieden zu sein. „Gut. Sag mal...“ fing sie an zu reden, stoppte aber leicht ab. „Ja-... ?“ fragte ich nach. „..Ehm... seitwann bist du mit Jane befreundet?“ fragte sie ziemlich neugierig mit einer abfälligen Betonug auf Janes Namen. „Hör mal, Julia, Jane ist meine beste Freundin.“ sagte ich und lächelte zu ihr rüber. „Jane! Oh mein Gott, die krallt sich echt jeden, diese Schlampe!“ sagte Julia mehr zu sich selbst als zu mir. Aber ich hörte es trotzdem und erkannte, dass sie denselben Unterton benutzte, wie Jane es vorhin tat. Die Leute hier, hatten wohl alle einen ziemlich schrägen Humor. „Ja, ein richtiges Miststück!“


Jane




Frau Mains teilte unsere Arbeiten aus. Als sie an meinem Tisch vorbeikam und mich mitleidig anschaute, war ihr Gesichtsausdruck so offensichtlich, dass selbst ich ihn deuten konnte. Sie denkt, ich würde diese Arbeit schon wieder verhauen! Tja, zum Glück war ich ja vorbereitet. In ihrer Arbeit würden es 2 Aufgaben sein, einmal eine Ankreuzaufgabe mit: Ja, Nein, und Nicht im Text und einmal Charakterisierungen von zwei Personen aus dem Buch, die man sich aussuchen kann. Natürlich hatte ich das Buch nicht gelesen - also bitte, mit so etwas verschwendete ich doch nicht meine Zeit!- allerdings hatte ich mir die Zusammenfassung auf Wikipedia durchgelesen. Das würde ja wohl reichen! Ich schenkte Frau Mains also ein gewinnendes Lächeln, drehte das Blatt schwungvoll um – und erstarrte. Statt zwei Aufgaben gab es 5, und es gab keine einzige Ankreuzaufgabe! „Hä?!“, sagte ich erstmal laut. Alle Schüler drehten sich zu mir um. „Was gibt´s, Jane? Dreh dein Blatt bitte erst dann um, wenn ich es sage, okay?“, fragte Frau Mains ungeduldig. Diese miese, gemeine, blöde, hinterhältige Deutschlehrerin! „Ähm, nichts, alles okay, danke dass sie mich daran erinnern!“, stotterte ich. Oh Scheiße! Wie sollte ich denn das meinen Eltern erklären? Ich hatte ihnen doch extra gestern noch ganz stolz erzählt, dass ich total viel gelernt hatte! Aber diese Arbeit war der reine Horror! Mit der erststen Frage fing es schon an:
Analysieren Sie die vorliegende Szene. Arbeiten Sie mit Hilfe Ihrer Textkenntnis eine Charakterisierung der Lady heraus, indem Sie auf das Verhalten der Lady Luise gegenüber eingehen. Berücksichtigen Sie dabei die Art und Weise, wie diese mit Luise spricht bzw. sie behandelt. Beachten Sie auch die Funktion der Regieanweisungen.
Und für 1b:
Vergleichen und beurteilen Sie das Verhalten der beiden Frauen.
Na super! Die Quälerei ging mit Nummer 2 gleich weiter:
Der Tod der Liebenden - Analysieren Sie Ferdinands Gefühle für Luise und die Art, wie er mit ihr umgeht. Wie reagiert Luise auf ihn im Streit und im Sterben?
Hmm? Vergab sie ihm nicht am tragischen, dramatischen Schluss? Laut Wikipedia jedenfalls schon, glaubte ich zumindest… Nummer 3 war dann:
Welche sprachlichen und gestischen Mittel setzt Schiller in dieser Textstelle ein, um die Personen zu charakterisieren?
Keine Ahnung! Ich hatte das Buch doch garnicht gelesen! Ich blickte mich unauffällig um und bemerkte, dass Anna schon eifrig auf einem Kaugummi herumkaute und schon eine ganze Seite geschrieben hatte. Ausnahmsweise wünschte ich mir, mal ihr Gehirn zu haben. Grübelnd blickte ich wieder auf mein Blatt und sah, dass ich noch garnichts geschrieben hatte. Naja, die anderen Fragen würden dann doch sicherlich einfacher werden! Nummer 4a war dann leider auch nicht viel besser:
Wurm - Charakterisieren Sie Wurm und zeigen Sie an seiner Person die Ambivalenz von Macht und Ohnmacht auf.
Äh- was bitteschön war denn Ambivalenz? Es hörte sich nach einer Krankheit an. Und wer zum Geier war der Wurm? Ein Wurm von den 2 Liebenden, die ihn zum Angeln am See mitnahmen? Hatte der etwa Macht oder Ohnmacht? Jetzt verstand ich garnichts mehr. Noch schlimmer war dann Nummer 4b:
Lady Milford urteilt über die Menschen am Hof: “Das sind schlechte erbärmliche Menschen, ... Sklaven eines einzigen Marionettendrahts, den ich leichter als mein Filet regiere. - Was fange ich mit Leuten an, deren Seelen so gleich als ihre Sackuhren gehen? Kann ich eine Freude daran finden, sie was zu fragen, wenn ich voraus weiß, was sie mir antworten? Oder Worte mit ihnen wechseln, wenn sie das Herz nicht haben, anderer Meinung als ich zu sein?“ (II,1/S21, Z19ff) Trifft ihre Aussage auch auf Wurm zu? Nehmen Sie kritisch Stellung dazu.
Hmmm. Ich sollte also Stellung zu dieser Aussage nehmen? Was waren eigendlich Sackuhren? Und was gingen mich die Aussagen dieser Lady Miller an? Und war Wurm nicht ein ganz normaler Regenwurm? Warum hatte ich das Buch nicht gelesen? Ich raufte mir die Harre, ohne auf meine Frisur zu achten, die jetzt sicherlich total zerzaust war.Die letzte Aufgabe, Nummer 5 war eine Zusatzaufgabe:
Zeigen Sie auf, wie die Katastrophe aus Ihrer Sicht hätte verhindert werden können.
Okayyy… Also eines wusste ich sicher: Frau Mains war nicht mehr ganz dicht! Ich schaute mich noch einmal um und sah, dass auch andere Schüler langsam verwirrt bis hin zu ängstlich auf die Aufgaben starrten. Ich konnte jetzt nur noch hoffen, dass die Arbeit nachgeschrieben werden würde.
Frau Mains kam an meinem Platz vorbei und sah auf mein leeres Blatt herunter. „Aber Jane, du hast ja noch gar nichts geschrieben! Verstehst du die Aufgaben nicht?“ Mir stießen Tränen in die Augen. Oh nein, bitte, fang jetzt bloß nicht an zu heulen! , schrie mich meine innere Stimme verzweifelt an. Das würde die Katastrophe wohl komplett machen. „Nein, mir geht’s nicht gut. Ich hab totales Bauchweh.“, jammerte ich. Es stimmte sogar, denn mit der Zeit hatte sich ein ungutes Gefühl in meinem Magen ausgebreitet. Ich schloss die Augen und versuchte unauffällig mir die Tränen aus den Augenwinkeln zu wischen. Meine schöne Wimperntusche! „Oh, das ist aber schlecht. Wenn du jetzt ins Krankenzimmer gehst, kann ich nur das bewerten, was du geschrieben hast.“, sagte Frau Mains. Tja, das wäre dann wohl eine Sechs. Bis auf meinen Namen, das Datum und meine Klasse hatte ich nämlich noch garnichts geschrieben. Aber ich würde ja sowieso nichts schreiben können. Ich kritzelte noch zu Aufgabe fünf: Sie hätten zusammen fliehen sollen! So, hoffentlich würde ich jetzt eine Fünf bekommen. Immerhin hatte ich etwas geschrieben. Frau Mains schaute mich die ganze Zeit schweigend an. Das Gefühl in meinem Bauch wurde immer heftiger und in meinem Magen rumorte es stark. „Ich glaube ich muss mich übergeben!“, keuchte ich, presste mir die Hand auf den Mund und stürzte aus dem Klassenraum in die Mädchentoilette. Zum Glück lag sie genau gegenüber und ich schaffte es bis zu Papiermülleimer bis ich mir die Seele aus dem Leib kotzte. Was hatte ich nur gemacht, dass ich mich so übergeben musste? Ich schwitzte und meine offenen Haare hingen mir ins Gesicht. Das war bestimmt kein schöner Anblick. Ängstlich starrte ich in den Spiegel und sah ein Mädchen, deren Haare zerzaust abstanden und deren Gesicht Gerötet war. Schweißperlen lagen auf ihrer Stirn und ihre Wimperntusche war quer übers Gesicht verteilt. An ihrer Oberlippe war Kotze zu sehen. Igitt! Schnell machte ich den Wasserhahn an und schaufelte mir Wasser ins Gesicht. Schon besser. Ich wuch mir auch den Mund aus, außerdem glättete ich mir mit ein paar Handstrichen die Haare. Das sah doch schon viel besser aus!


Anna




Wir alle hatten aufgehört zu schreiben, nachdem Jane nach draußen gerannt war. Schweigend hörten wir ein Gegurgel aus der Toilette. Niemand außer mir und Julia konnte in die gegenüberliegende Tür sehen, doch das war auch gut so, denn es war kein schöner Anblick. Jane versuchte sich im Spiegel wieder herzurichten, doch kaum sah sie wieder einigermaßen ok aus krümmte sie sich und fiel zu Boden. Oh mein Gott, was war bloß los zu ihr. „Ich gehe mal nach ihr schauen.“ sagte ich und rannte zur Toilette. Jane kniete auf dem Boden und keuchte nach Luft. Ich hörte sie irgendetwas murmeln, etwas in der Art von „Lfwlskd“ was so viel bedeute dass ich es nicht erkennen konnte. „Au, mach das es aufhört! Mach das es aufhört!“ schrie sie plötzlich klar verständlich. Hatte sie Schmerzen? Sich zu übergeben tat doch normalerweise nicht weh! Es war zwar unangenehm, aber von Schmerzen hatte ich noch nichts gespürt. „Sie kommt gleich!“ schrie sie hysterisch „Sie kommt gleich!“ Wer kam gleich?
„Jane? Kann ich dir irgendwie helfen?“ kam eine dunkle Stimme von hinten. Ich drehte mich reflexartig um und ... erstarrte.
,,Na, wer ist deine hübsche Freundin?“ fragte er mit Sarkasmus in der Stimme. Er zog die braunen Augenbrauen hoch und strich sich durch sein dichtes Haar. Jane antwortete nicht, sie sah ihn nur mit großen Augen an.
„We ... we ... wer sind sie?“ Jane stotterte ängstlich. Ich meinte auch zu zittern. Mir war die Anwesenheit dieses Mannes nicht geheuer, denn wir waren alleine, in der Mädchentoilette, eingesperrt, da die Tür seltsamer weise von selbst zugegangen war.
„Jane! Du bist wirklich dumm! Dumm wie Stroh! Diese Arbeit eben, gut dass du noch schnell einen Satz hingekritzelt hast!“ er holte Luft und lachte laut, laut und böse.
Ich konnte kein Wort sagen, dafür hatte ich zufiel Angst. Er hatte einen schwarzen langen Mantel an, bis zum Boden. Seine Augen waren tiefbraun, doch in manchen Augenblicken blitzen sie grün auf. Unsicher war ich immer weiter nach hinten gegangen, bis ich jetzt an die Wand stieß. Verdammt! „Anna, richtig?“ sein Blick fiel in meine Augen. Er schien auf etwas zu warten, auf etwas in meinen Augen, die seinen färbten sich wieder grün und erst als er enttäuscht wieder weg sah verschwand die grüne Farbe und Jane meldete sich zu Wort. „Sie .. sie ... sie ist meine ... meine ... Cousine.“ stammelte sie. Cousine? Also waren wir garkeine besten Freundinnen?
„Ich hatte gleich Ähnlichkeiten in eueren Augen gesehen.“ Da hätten wir es, er hatte befürchtet wir seien verwandt. „Also sah ich ob es irgendeine Reaktion zu sehen gibt, doch nichts. Nein, einfach nichts.“ seine Stimme kam mir plötzlich sehr weiblich vor, zu weiblich. Sie wurde mit jedem Wort höher und höher und langsam schienen seine Haare rot und lockig zu werden. Seine Hautfarbe war nicht mehr sonnengebräunt wie zuvor, sie war hell. Hilfe, was geschah hier? Wieso konnte ich denn nichts sagen?
„H ... H ....Hi...“ mehr kam nicht aus meinem Mund. Jane würdigte mich keines Blickes, dafür kam die gruslige Gestalt auf mich zu und drückte mich an die Wand. „Ja? Was willst du sagen?“ Sie nahm mein Kinn in ihre männlichen Hände. Ach du lieber Gott, die Nägel waren lackiert!
„Wer ... wer ... wer ...“ langsam fasste sich meine Stimme wieder und die Angst ersetzte sich durch Wut. „Was zum Teufel tun sie hier?“ das war nicht ganz die Frage die ich stellen wollte, doch immerhin hatte ich etwas gesagt und versucht, mich aus seinem Griff zu befreien. Versucht. „Zapple doch nicht so.“
„Oh mein Gott, ihre Haare, sie werden länger. Und sagen sie mal ... haben sie sich geschminkt?“, fragte ich böse. Vielleicht hatte er zu viele weibliche Hormone in seinem Körper und hatte daher solch eine Geschmacksverwirrung, wofür er vielleicht gar nicht konnte, aber ich musste ihn ablenken so dass Jane fliehen konnte. Ich versuchte mit meiner Hand ein Zeichen zu machen, doch sie schien nicht zu verstehen. „Ja, mein Schatz, du doch auch!“ mit einem Mal stand nicht mehr die angsteinlößende Gestalt vor mir, nein, es war eine Frau mit rotem ungebändigtem Haar. Sie war eigendlich ganz hübsch, aber ein verschorfter Kratzer, wie von einer Katze, zog sich von ihrer Nase bis zu ihrem rechten Auge und verunzierte somit ihr Gesicht. Sie drückte meinen Kiefer immer fester zusammen und ich versuchte, eine Haarsträhne von ihr zu greifen. Ich zog so fest ich konnte und plötzlich hielt ich nur Luft in meiner Hand, nur Luft. Ich sah Jane fragend an. Sie erwiderte meinen Blick, und eine Weile sagte niemand mehr was. Als sie sich aufrichtete und in den Spiegel sah, beobachtete sie mich und fragte „Sag mal, hast du eben mit dir selbst geredet? du warst ja ganz aufgebracht!“ Sie verließ den Raum.


Jane




Ich erinnerte mich wieder. Ich kannte diese Frau. Wieso war sie mir nicht sofort aufgefallen? Diese leuchtend rotgelockten Haare, die kalten grauen Augen und diese hochgewachsene schlanke Figur? Mir hätte es sofort auffallen sollen, als ich sie das erste Mal sah. Es war im Wald gewesen als ich, leichtsinnig wie ich war, als Katze im Laub herumtollte. Wenige Meter von mir entfernt waren Vögel gewesen, Mäuse in ihren Höhlen und Eichhörnchen auf der Suche nach der letzten Nuss zum Vergraben und was hatte ich, die Katze getan? Ich war an ihnen vorbeigelaufen was gegen alle Regeln der Natur sprach. Eine Katze, die keine Tiere fing, selbst wenn sie in ihrer unmittelbaren Nähe waren? Ziemlich komisch. Der Meinung war anscheinend auch die Frau gewesen, die durch den Wald spazierte, denn kaum hatte sie mich gesehen blieb sie wie angewurzelt stehen und runzelte die Stirn. Dank meiner Katzenaugen hatte ich ihr Gesichtgenau gesehen und auch das, was plötzlich mit ihren Augen passierte: Ein grünlicher Schimmer legte sich über die Iris und ihre vorher noch graue Farbe funkelte plötzlich in hellgrün! Ich hatte geblinzelt und verwirrt mit dem Schwanz gezuckt. Ihre Augen waren immer noch grün! Verängstigt hatte ich die Ohren angelegt. Was passierte dort mit ihr? Etwas hatte über mein Fell gestrichen und auf einmal war mir trotz des Pelzes eiskalt gewesen. Ich hatte meine Krallen ausgefahren und gefaucht. Mein Fell sträubte sich als ich einen Buckel machte und mich auf den plötzlich frostigen Boden kauerte. Die Augen der Rothaarigen schienen immer größer zu werden, ihre Pupillen immer heller. Ich miaute kläglich und schloss gequält die Augen. Alles war so hell! Schon wieder strich etwas über meinen Pelz. Jede Faser in meinem Körper schrie mich an, zu fliehen. Doch so gerne ich das getan hätte, ich konnte nicht. Die Frau lächelte, als ich die Augen wieder aufschlug und ihr Gesicht war nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Kratz sie wenigstens!, schrie mich meine innere Stimme an, doch ich hatte zu viel Angst und ich konnte keine Pfote rühren. Ihre Augen wurden wieder grün, heller und heller. Ihr Blick brannte sich regelrecht in meinen Kopf. Sie grinste wieder, die Augen wurden grau. Grün, grau, grün, grau, grün, grau, grün, grau. Mein Sichtfeld wurde verschwommen und es kam mir so vor, als bildete sich Nebel zwischen unseren Gesichtern. Starb ich da grade etwa? Neinneinneinneinnein, ich wollte noch nicht sterben! Endlich konnte ich eine meiner Pfoten aus der Erstarrung lösen, fuhr die Krallen aus und kratzte ihr quer übers Gesicht. Jetzt lächelte sie nicht mehr. Ich fauchte und wollte loslaufen, doch ihre Hand schnellte nach vorne und umfasste meinen Hals. Ich wand mich kreischend hin und her doch sie schüttelte mich wie einen Coctail, bis ich benommen auf dem Boden lag. Mir war schwindelig. Blut lief ihr übers Gesicht und mit einer wütenden Grimasse beugte sie sich über mich und knurrte: ,,Ich bin noch nicht fertig mit dir, wir sehen uns wieder!“ Ihre Augen wurden wieder grün. „Du wirst mich vergessen!“, flüsterte sie…

Und jetzt hatte ich den Salat. Dann war ich wohl nicht die einzige, die außergewöhnlich war. Die Rothaarige, deren Namen ich immernoch nicht wusste, konnte sogar mehrere Dinge: sich in andere Personen verwandeln, jemanden etwas vergessen lassen denn ich hatte mich erst am nächsten Tag bei meinem mysteriösen Kotzanfall wieder erinnert und noch etwas, denn irgendetwas hatte sie im Wald noch mit mir gemacht. Ich bekam eine Gänsehaut, als ich noch einmal daran dachte. Es hatte sich eisig kalt angefühlt.
Und zu allem Überfluss wusste sie auch noch, dass ich mich in Tiere verwandeln konnte!
Zum Glück war ich jetzt wieder in meinem Zimmer im Bett. Nach dem Kotzanfall durfte ich nach Hause fahren und jetzt versuchte ich mich leider vergeblich zu entspannen. Atme ruhig ein und aus, sie weiß schließlich nicht, wo du wohnst!, dachte ich mir doch so ganz sicher war ich mir dabei nicht. Was war, wenn doch? Und wenn sie in diesem Augenblick vor meinem Zuhause stand? Mir schauderte es. Schließlich wusste ich nicht, was sie noch so alles konnte.
Meine Mutter kam ins Zimmer und brachte mir ein Glas Wasser und eine Tablette. „Trink, Liebling!“, sagte sie. Ich runzelte die Stirn als mein Blick auf die Tablette fiel. „Mama? Was soll ich mit der Tablette?“, fragte ich. „Ich habe gerade von deiner Lehrerin gehört, dass du dich bei der Deutscharbeit übergeben hast. Geht es dir nicht gut?“, antwortete sie. Dankbar nahm ich die Tablette und sah sie an. Ich hatte von ihr eigendlich erwartet, dass sie von dem Ganzen nichts wusste. Sie hatte doch noch garkeine Gelegenheit gehabt, um mit Frau Mains oder den Schülern zu sprechen. Ich fuhr meistens mit dem Fahrrad zur Schule, deshalb holte sie mich nur selten ab und außerdem dürfte sie doch noch garnicht Zuhause sein, denn sie hatte doch einen Beauty-Termin bis halb acht. Wieder runzelte ich die Stirn und sah sie an. Ihre braunen Haare fielen ihr halb ins Gesicht und ihre grünen Augen sahen mich aufmunternd an. „Nee, mir war schlecht. Wieso bist du früher da? Ich hatte dich erst um halb acht erwartet.“, sagte ich und steckte die Tablette in den Mund, doch da fiel mir etwas auf. „Ich bin früher da, weil mein Termin verschoben wurde. Eine Unverschämtheit, nicht wahr?“, antwortete sie gerade als ich das Wasserglas nahm um die Tablette hinunterzuspülen und ihr noch einmal in die grünen Augen blickte. Grün? Wieso grün? Meine Mutter hatte doch blaue Augen! Mit einem Aufschrei spuckte ich ihr die Tablette ins Gesicht, spülte meinen Mund mit dem Glas Wasser aus und spuckte alles in den Papiermülleimer, der in der Nähe meines Bettes stand. „Wer zum Teufel sind sie?“ kreischte ich, sprang auf und schnappte mir die erste Waffe, die ich finden konnte: meine Nagelfeile. „Meine Mutter hat blaue Augen, keine grünen! Und ich nehme jetzt mal stark an dass das keine Kontaktlinsen sind. Meine Mutter kann damit doch garnicht umgehen.“ Meine Nicht-Mutter grinste und wischte sich die Tablette von der Wange sodass sie auf meinen schönen Teppich fiel. Igitt! „Gut erfasst, Jane! So, ich geb´s ja zu, ich bin nicht deine Mutter. Lass uns doch einfach wie zwei ganz normale Menschen reden und bitte, sei ein liebes Mädchen und nimm die Nagelfeile aus der Hand!“ „Oh nein, das werde ich ganz sicher nicht tun!“ Ich hielt sie drohend hoch. Wieso hatte ich bloß kein Messer oder so in meinem Zimmer? Sehnsüchtig dachte ich an die Golfschläger im Wohnzimmer. Ob ich sie wohl auch mit meinem Sparschwein K.O. schlagen konnte? „Ach ja, und was willst du dann mit deiner Nagelfeile machen?“, fragte sie spöttisch. „Hör zu Jane, ich weiß was du bist und du weißt wahrscheinlich zum Teil auch, was ich bin. Auch dumme Blondinchen wie du kommen darauf. Ich habe dir ein Angebot zu machen, also hör mir zu. Du kannst mir vertrauen!“ Diese Hexe! Ich zischte wütend. Ein Angebot also. Das hörte sich aber garnicht gut an! Vielleicht konnte ich es schaffen, mich in einen Panther oder eine Löwin zu verwandeln und dann auf sie loszugehen? „Zu ihrer Frage: Notfalls werde ich ihnen die Augen ausstechen, nach dem was sie da im Wald mit mir gemacht haben. Oder ich werde schreien. Oder beides. Wie kommen sie überhaupt auf die bescheuerte Idee, ich würde ihnen vertrauen nachdem sie mich gewürgt und beinahe getötet oder geblendet oder was auch immer sie da gemacht haben? Hauen sie gefälligst ab! Von ihrem Angebot will ich nichts wissen.“ Die normalerweise Rothaarige verzog ihr Gesicht, ihre Augen wurden noch grüner und sie verwandelte sich. Braune Haare wurden zu roten, sie wurde immer größer und ihre Fingernägel wurden wieder pink. Das war vielleicht unheimlich! Ich umfasste meine Nagelschere fester und sah mich noch einmal vergeblich nach einer brauchbaren Waffe um. Hoffentlich würde sie mich nicht noch einmal mit diesem Blick anschauen. Sie ihr nicht in die Augen! , riet mir mal wieder meine innere Stimme. Die jetzt wieder Rothaarige setzte sich auf mein Bett. „Was wollten sie mir da überhaupt einflößen?“, fragte ich und deutete auf die auf dem Boden liegende Tablette wie auf eine besonders hässliche Kakerlake. Gut, dass ich sie nicht geschluckt hatte! Mir hätte ja sonstwas passieren können. Ich hatte inzwischen die Hoffnung aufgegeben dass sie einfach wieder gehen würde und setzte mich auf die Kante meines Schreibtisches, bereit sofort aufzuspringen. Ob ich fliehen sollte? Mein Blick schnellte zum Fenster, doch um es zu öffnen, sich in einen Spatzen zu verwandeln und hinauszufliegen hatte ich nicht genug Zeit. Und um aus dem Haus zu rennen musste ich an ihr vorbeilaufen und sie würde mich bestimmt aufhalten. Im eigenen Zimmer gefangen zu sein war echt bitter! Ich rief mir die Gestalt eines Panthers ins Gehirn. Schwarzer Pelz. Gefährliche, intelligent glitzernde Augen. Mörderische Reißzähne… ,,Die Tablette ist von mir gebraut worden. Sie verhindert, dass du deine Gabe einsetzen kannst. Und bevor du jetzt denkst, du könntest dich trotzdem verwandeln weil du die Tablette ja nicht geschluckt hast, muss ich leider sagen dass schon der bloße Hautkontakt mit der Gabenperson reicht, dass derjenige für mehrere Stunden ohne Gabe ist.“ Meine Hoffnung schrumpfte bei ihren Worten immer weiter in sich zusammen, bis am Ende nur noch ein Körnchen übrig blieb. Da blieb wohl nur noch der Angriff mit der Nagelfeile. Gerade als ich mit dem Arm ausholte um ihr eins über die Rübe zu hauen, wich sie geschickt aus und streckte gleichzeitig ihre Hand nach vorne, um mir meine Nagelschere aus den Fingern zu schlagen. Ich quietschte auf, denn es fühlte sich an als hätte ich gegen eine Steinmauer geschlagen. Soviel zu Thema Angriff…
„Okay okay, erzählen sie mir ihr Angebot!“, jaulte ich schmerzerfüllt. Es trieb mir Tränen in die Augen, dass ich so hilflos war. Sie grinste wieder. Diese miese Hexe! „Na endlich. Schrei ruhig weiter, hier hört dich sowieso niemand.“ Argh, sie hatte Recht. Mein Vater war, wie fast immer, auf einer seiner Geschäftsreisen. Mein Wecker zeigte gerade mal sechs Uhr. Mist, noch eineinhalb Stunden, dann würde Mama von ihrem Beauty Termin wiederkommen. „Ich möchte gerne deine Gabe haben. Im Gegenzug bekommst du Geld. Viel Geld. Na, was hältst du davon?“, schlug sie vor. Tickte sie noch ganz richtig? Meine Gabe war das tollste, was ich hatte! Und ausserdem hatte ich schon viel Geld. Hatte sie nicht gesehen, wo sie hier war? Sie befand sich in einer der fettesten und schönsten Villa der Stadt und wollte mir Geld geben? Sah sie nicht meinen iMac auf dem Schreibtisch, die protzige Stereo Anlage, den riesigen Fernseher über meinem Bett oder den ganzen anderen Kram? Wer war denn jetzt dumm von uns beiden? Leider hatte ich die leise Vorahnung, dass sie ein „Nein“ nicht akzeptieren würde. „Das können sie sich abschminken!“, sagte ich wütend. „Haben sie sich hier schon einmal umgeguckt?“ Sie schwieg. Ich schaute ihr nicht in die Augen und ließ meinen Blick durch mein Zimmer schweifen. Immerhin konnte sie nicht ewig so weitermachen. Irgendwann würde meine Mutter nichts ahnend nach Hause kommen und ich würde schreien. Laut. „Hör zu, Jane. Ich lasse mich nicht von kleinen, verwöhnten Zicken herumkommandieren.“ Ihre Stimme wurde bei jedem Wort kühler. Ohne sie anschauen zu müssen, spürte ich wie sie mich ansah und versuchte, den Blick einzusetzen. Aber Moment mal! Wie konnte sie das denn jetzt machen? Ich dachte, schon der bloße Hautkontakt mit dieser Tablette könnte verhindern, dass sie ihre Gabe einsetzte? Und ich erinnerte mich noch sehr gut daran, dass ich ihr die Tablette ins Gesicht gespuckt hatte! Wie hatte sie das gemacht? „Hä? Also das check ich jetzt garnicht.“, sagte ich wenig intelligent. „Die Tablette hat Sie doch auch berührt! Wie können Sie dann ihre Gabe einsetzen?“ Die Rothaarige sagte nur geheimnisvoll: „Für jedes Gift gibt es ein Gegengift.“, nahm eine weitere Tablette aus ihrer Hosentasche, brach ein Paar Krümel davon ab und steckte sie in den Mund. Na toll. Ich starrte weiter auf meine Finger und pulte nervös am Nagellack herum. Ich durfte sie auf keinem Fall anschauen, es war schon riskant gewesen, als ich ihr grade zugeschaut hatte, wie sie die Tablette nahm, das durfte mir nicht noch einmal passieren.
„Also, Jane. Bist du dir sicher, dass du mir deine Gabe nicht geben willst?“, fragte sie mich jetzt seelenruhig. „Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!“ Trotzig blickte ich weiter auf meine Hände. Ich musste sie irgendwie ablenken. „Ich verstehe das mit den Gaben nicht so gut. Wie kommt es, dass Sie soviele haben und ich nur eine einzige?“ Es machte mich schon zu einem gewissen Teil eifersüchtig, dass sie soviele hatte und ich nur eine. „Je weniger du weißt, desto besser ist es für dich. Also, gibst du mir jetzt bitte deine Gabe, oder soll ich dich dazu überreden?“ Okay, Ablenkungsmanöver funktionierte auch nicht so toll. Und ich glaubte, “überreden“ war für sie die gewaltsame Methode. „Wie funktioniert dieses Gaben übergeben überhaupt? Was ist zum Beispiel, wen ich Ihnen meine Gabe überhaupt nicht geben will?“ Sie grinste. „Es gibt zwei Methoden. Wenn du sie mir freiwillig übergeben willst, und das ist meine dringende Emfehlung, dann tauschen wir unser Blut aus, während du im Geist fest an deine Gabe denkst. Solltest du sie mir nicht geben wollen, dann muss ich dich leider töten. Ich hoffe für dich, dass du die richtige Entscheidung triffst.“ Oh. Mein. Gott. Das hörte sich beides nicht besonders harmlos an. „Ich sehe, dass du dich noch nicht entschieden hast. Na gut, ich will Gnade walten lassen.“ Was? Das würde sie wirklich tun? Ich hätte eher erwartet, dass…- „Ich gebe dir zwei Wochen. Wenn du dich bis dahin nicht entschieden hast, werde ich die Entscheidung für dich übernehmen.“ Okay, das war zu früh gefreut. „Ich werde aber in deiner Nähe sein. Fürs erste gehe ich. Gute Nacht, Jane.“


Anna




Nachdem Jane abgeholt worden war, blieb ich verwirrt und verängstigt in der Schule zurück. Ich wurde mindestens fünfmal von Lehrern, an die ich mich nicht erinnern konnte, ermahnt, endlich aufzupassen, weil ich geistesabwesend aus dem Fenster gestarrt hatte, auf der Suche nach Antworten, die nur Jane mir geben konnte. Wer war die Frau? Woher kannte sie uns? Was hatte Jane mit dem Ganzen zu tun? Was hatte ich mit dem Ganzen zu tun? Und warum zum Teufel hatte Jane mir sowas komisches am Ende gesagt?! Das ergab doch alles keinen Sinn! Ich malte Kreise und Spiralen auf meinen Notizblock, zeichnete Felder aus und verzierte sie mit Blümchen und Vierecken. Aber auch das gab mir leider keine Antwort. Keiner außer mir und Jane hatten anscheinend die Frau gesehen. Oder den Mann, was auch immer dieses Etwas war. Obwohl Jane am Ende behauptet hatte, sie hätte sie nicht gesehen und warum ich denn mit mir selbst geredet hatte, war ich mir sicher, dass ich nicht fantasierte. Jane hatte sie gesehen, egal ob sie es verleugnete. Die Frau/der Mann hatte mich gewürgt, ganz egal, dass sie/er sich danach in Luft aufgelöst hatte. Mein Hals tat immer noch weh, und im Spiegel des Mädchenklos hatte ich ganz deutlich die Spuren ihrer/seiner Fingernägel erkennen können. Rote Streifen auf meiner blassen Haut. Ich fuhr mir an die Kehle, als ich mich an ihren/seinen festen Griff erinnerte. Meine Hand nahm wieder den Füller und zeichnete weiter Blüten und Kreise. „Anna! Das ist jetzt das dritte Mal, dass ich dich diese Stunde aufrufen muss!“, sagte eine tiefe Stimme direkt vor mir. Ich erschrak heftig, zuckte zurück und lies meinen Füller auf den hässlichen Teppich fallen, der bestimmt schon seit 100 Jahren den Boden der schmucklosen Klasenzimmer bedeckte. Dann sah ich zu meinem Lehrer hoch. Seine tiefe Stimme erinnerte mich an den Mann, der uns in der Mädchentoilette begegnet war, und ich sah ängstlich in seine matschbraunen Augen. Doch ich konnte keine Spur von dem sonderbaren hellgrün entdecken, das in den Augen der Person aufgeblitzt hatte, die sich in eine Frau verwandelt hatte. Der Lehrer vor mir zog genervt und ein wenig belustigt eine Augebraue hoch, wahrscheinlich weil ich so lange nichts gesagt, sondern nur tief in seine Augen geblickt hatte. Ich riss mich aus von meinen Gedanken los und murmelte: „Tut mir leid.“ Ich sollte echt besser aufpassen! In welchem Kurs war ich hier nochmal? Ich schielte unauffällig zu dem Buch meines Sitznachbarn herüber. „Biologie“ stand in großen Buchstaben auf dem dunkelgrünen Einband. Na super, auch noch Biologie! Bevor mein Lehrer noch irgendetwas sagen konnte, klingelte es zur großen Pause. Ich seufzte dankbar, sprang wie alle anderen Schüler auf und lief aus der Klasse, nachdem ich meine Federmappe, den Füller und meinen anderen Kram in meine Tasche gepackt hatte.Aber statt wie die anderen auf den Schulhof zu gehen, verzog ich mich ins Mädchenklo. Dort traf ich Julia, die in der Deutscharbeit neben mir gesessen hatte. Sie stand vor dem Spiegel und trug pinken Lipgloss auf ihren Lippen auf. Ich stellte mich neben sie und bürstete mir meine Haare mit den Fingern. An sie gewand fragte ich:„Sag
mal, hast du, als ich mit Jane in der Mädchentoilette war, noch irgendwas gehört oder gesehen?“ Julia schaute mich erstaunt an. „Nö, ich hab euch nur reden hören. Dann hat ja einer von euch noch die Tür zugemacht, und später wurde Jane ja abgeholt. Was soll denn noch gewesen sein, ist noch irgendetwas passiert?“ Ich schüttelte den Kopf. Es würde eh nichts bringen, ihr irgendetwas von einem gestaltenwandelnden Wesen zu erzählen, das mich gewürgt und bedroht hatte. Sie würde es eh nicht glauben. „Nein, es ist nichts passiert. Ich hab nur ein komisches Geräusch gehört, und dachte es käme von draussen, aber da hab ich mich wohl getäuscht…“, log ich. Julia nickte und ging.
Das wurde ja immer unheimlicher. Fantasierte ich? Hatte Jane am Ende doch Recht gehabt, und ich hatte mir das ganze nur eingebildet? Immerhin war ich sowieso im Moment ziemlich neben der Spur. Ich hatte ja auch irgendwie mein Gedächnis verloren. Es wurde Zeit, dass ich mich wieder erinnerte. Vielleicht hatte ich ja Tagebuch geschrieben?


Jane




In der Nacht schlief ich unruhig. Ich träumte von Personen mit grünen Augen und wimmernden Katzen. Durch ein komisches Geräusch schlug ich die Augen auf. Es war immernoch Nachts, vielleicht ein oder zwei Uhr, denn durch mein Fenster konnte ich die Sterne funkeln sehen. Verschlafen drehte ich mich langsam um und schaute plötzlich direkt in die Augen von Anna. Ich wollte aufschreien, doch kein Ton kam aus meinem Mund, nur ein hohes Wimmern: Da, wo normalerweise das Weiße in den Augen war, waren Annas Augen blutrot. Und ihre schöne bernsteinfarbene Iris war giftgrün, auch ihre Pupille! „Was ist denn los Jane, stimmt etwas mit meinem Gesicht nicht?“, fragte sie mit hoher, kleinmädchenhafter Stimme. Ich konnte nur den Kopf schütteln, immer und immer wieder, wie in Trance. Anna holte etwas aus ihrer Jeanstasche. Es war ein Seidenbeutel, und sie sagte:“Nimm das, dann wird es dir besser gehen!“ Aus dem Beutel nahm sie eine riesige Tablette, so groß wie ein Flaschendeckel. „Komm schon, ich beiße nicht!“, lachte sie und ich konnte ihre Zähne sehen. Sie waren nicht menschlich, sie waren animalisch. Fette Reißzähne ragten plötzlich aus ihrem Mund, wurden immer größer. Und ich konnte immernoch nicht schreien. Auch die Hand, mit der sie mir die Tablette anbot, veränderte sich. Sie wurde immer größer und lange Fingernägel sprossen aus ihrer Haut. Ich wollte nur noch weg von hier. Ich sprang auf und versuchte zum Fenster zu gelangen, doch es funktionierte nicht. Die Luft wurde immer schwerer und zäher, wie Kaugummi. Ich hatte das Gefühl, durch einen Fluss aus Wackelpuddig zu waten. Als ich endlich am Fenster angekommen war, sprang ich raus, doch ich fiel nicht, sondern schwebte eher mit der Geschwindigkeit einer Schnecke zu Boden. „Wo willst du denn hin, Jane?“, fragte Anna, die hinter mir am Fenster aufgetaucht war. Sie stand buckelig da, und ihre Haut wurde gelb und warzig. Uargh… Am Boden angelangt rannte ich in eine dunkle Gasse. Unterwegs begegneten mir meine Eltern, die genau die gleichen hässlichen Augen hatten wie Anna. Sie liefen ganz entspannt herum und ich hielt bei ihnen an. „Was ist denn los, Herzchen?“, fragte meine Mutter mit einer seltsamen krächzenden Stimme. „Hier, nimm das, dann wird es dir besser gehen!“, und sie bot mir eine Tablette an. Schluchzend rannte ich weiter. Jetzt war die Gasse voller Menschen, alles Personen, die ich kannte. Verwandte, Freunde meiner Eltern, Klassenkameraden und sogar Lehrer meiner Schule. Sie alle zerrten an mir und boten mit eine Tablette an. Und am Ende der Gasse saß - die Rothaarige auf einer Bank. Ich konnte immernoch nicht schreien. „Gib mir deine Gabe, Jane, und das alles hört auf!“, sagte sie mit sanfter Stimme. Tränen strömten mir übers Gesicht, doch ich schüttelte einfach nur den Kopf. „Gib mir deine Gabe, sofort, oder es wird dir leidtun!“, brüllte sie und ihr Gesicht verzerrte sich wütend. „NEIN!“, schrie ich zurück. Da packte sie meinen Arm und schlitzte ihn mit einer Nagelfeile auf, die sie plötzlich in der Hand hielt. Jetzt konnte ich schreien, und wie. Doch keiner half mir. Die Gasse war menschenleer bis auf mich und die Rothaarige. Ich entriss ihr meinen blutenden Arm und wollte fliehen, doch von hinten schlange sich zwei starke Arme um mich. Es waren Annas Arme. Seit wann war die denn so kräftig? Ihre langen gelben Fingernägel bohrten sich in meinen ungeschützten Arm und Blut quoll aus meiner Wunde. „Dann muss ich dich wohl leider töten!“, sagte die Rothaarige einfach nur und versengte die Nagelfeile zwischen meine Rippen mitten ins Herz.
Und ich erwachte. Und heulte los, während ich an diesen beschissenen Traum in einem Traum dachte. Ich krümmte mich so sehr, dass ich beinahe aus dem Bett fiel und schlang meine Arme um mich, während mir die Tränen in Sturzbächen aus den Augen rannen, bis ich erschöpft in einen traumlosen Schlaf eintauchte.


Anna




Als ich nach eineinhalb Wochen in die Schule kam, traute ich meinen Augen kaum, als ich Jane sah. Ich wollte ja nicht fies sein, aber es stimmte: Sie sah einfach beschissen aus. Ihre Augen waren rot geschwollen, als hätte sie eine fette Allergie, und sie hatte dicke Augenringe. Der Versuch, das ganze mit viel Schminke abzudecken, war anscheinend kläglich gescheitert. Jetzt verstand ich, warum sie dich ganze Zeit Zuhause geblieben war und nicht in die Schule kam. Ich wäre auch lieber Zuhause geblieben, denn ich hatte mich noch immer nicht an die Zeit vor meinem Sprung von der Brücke erinnern können. Warum hatte ich das getan? War ich so unglücklich gewesen? Hatte ich Liebeskummer? War irgendwer gestorben? Als ich im Kranken haus wieder aufgewacht war, saß meine Muttter neben mir. Sie beredete etwas mit dem Arzt, also schloss ich die Augen um hören zu können, was sie erzählte ohne dass sie bemerkte dass ich wach war. „ … Sie war schon immer etwas unglücklich. Hat auch einmal versucht, sich mit einem Küchenmesser die Pulsadern aufzuschneiden. Gottseidank wurde sie nur bewusstlos, ich weiß auch nicht, was sie falsch gemacht hat, aber zum Glück hat sie überlebt. Ich wüsste nicht, was ich sonst hätte tun sollen…“, sagte meine Mutter gerade. „Hat sie Ihnen denn schonmal von ihren Problemen erzählt?“, fragte der Arzt. „Nein, das hat sie nie. Sie ist sehr verschlossen, müssen Sie wissen. Ich schätze, es liegt an ihrer Freundin Nelly, sie ist nämlich…“ Weiter kam meine Mutter nicht, denn eine Krankenschwester unterbrach sie: „Anna müsste jetzt gleich aufwachen.“ Als ich eingesehen hatte, dass ich wohl sowieso nichts mehr lauschen könnte, schlug ich die Augen auf. Das war meine erste Erinnerung. Davor war mein Gedächnis verschwommen, neblig schwarz. An den Jungen vorm Schultor, der mich umarmt hatte, hatte ich auch keine Erinnerung, also ging ich ihm aus dem Weg und schloss mich in den Pausen im Mädchenklo ein, aus Angst die komische Rothaarige wieder zu treffen.
Die Hoffnung, bei mir Zuhause ein Tagebuch zu finden, gab ich bald auf, als ich in meinem Zimmer war. Ich hatte alle Schränke, Schubladen und meinen Nachttisch durchwühlt, fand jedoch nichts, was aussah wie mein Tageuch. In den darauffolgenden Tagen suchte ich weiter, doch ich fand immernoch nichts, noch nicht einmal unter meiner Matratze. In der Schule brannte ich darauf, Jane endlich zu fragen, was los war, was da im Mädchenklo passiert war und was ich damit zu tun hatte, doch Jane war krank. Und blieb krank, bis heute. Endlich war sie wieder in der Schule. Ich schob mit Mühe die Eingangstür auf (meine Rippen und meine Schuler taten immernoch höllisch weh), und trat auf sie zu. Ausnahmsweise stand sie mal nicht bei den anderen dämlichen Blondinen, sondern saß ganz alleine ein Biobuch lesend auf den Sitzplätzen in der großen Pausenhalle. Als sie mich sah, zuckte sie zusammen, dann seufzte sie genervt und verdrehte die Augen. Warum war sie zuerst zusammengezuckt? Hatte sie Angst vor mir? Ach, Jane war einfah nur seltsam.


Jane




Ich hörte Schritte, die auf mich zukamen, und sah auf. Anna. Sofort schoss mir mein Albtraum, der sich jede Nacht wiederholte, wieder ins Gedächnis und ich zuckte zusammen, als ich an die gruseligen Augen dachte. Dann verdrehte ich die Augen, verärgert über meine Angst. „Was gibt’s, Anna?“, fragte ich sie ohne Umschweife. Anna blieb vor mir stehen und sah mich an. „JAAAAA, ich weiß dass ich beschissen aussehe, aber musst du mich deshalb so anglotzen?!“, rief ich jetzt. Man! Kaum war man wieder in die Schule, kam die blöde Streberin, die natürlich perfekt in den grünen Klamotten aussah, und erinnerte einen wieder daran wie bescheuert man selber aussah. Verdammt, nur weil ich jede Nacht davon träumte, wie eine rothaarige Scheißhexe mein Herz mit einer Nagelfeile durchbohrte? „Tut mir leid.“, sagte sie wenigstens. Ja, klar, als ob sie das ernst meinte! Ihre dämliche Entschuldigung konnte sie sich sonst wohin stecken! „Jane, ich möchte wissen, was da in der Mädchentoilette passiert ist!“. Noch drei Tage, dann würde ich sterben. „Ich weiß dass du die Frau oder diesen Mann da gesehen hast, du brauchst mich icht anlügen!“ Ich würde dieser miesen Hexe meine Gabe niemals freiwillig geben. Soweit kommts noch! „Wer war diese Frau und was haben wir damit zu tun?“ Es kam einfach auf das selbe hinaus. Wenn ich ihr meine Gabe freiwillig gab, würde mein ganzes Leben nur noch beschissen laufen. Wut kochte in mir hoch, als ich mich an ihr dreistes Grinsen erinnerte, als sie mir erzählte dass sie mich töten würde wenn ich mich weigerte. „Warum hast du mir am Ende so einen Schrott erzählt? UND WARUM STARRST DU DIE GANZE ZEIT DIE WAND AN, WENN ICH MIT DIR REDE????!!!!!!“ Wow. Anna konnte ausraten. Was hatte sie mich nochmal gefragt? „Und du, schrei mich nicht an! Ich hab noch eigene Probleme, deine interessieren mich nicht!“ Meine Wut hatte sich entladen und Totenstille hing im Raum. Erst jetzt bemerkte ich, dass die Gespräche in er ganzen Pausenhalle verstummt waren, und alle Schüler zu uns rüberschauten. Doch das war mir scheißegal. Ich hatte keinen Bock drauf, dass Anna da auch noch mit reigezogen wurde, ausserdem müsste ich ihr dann von meiner Gabe erzählen. Eher würde ich mir einen Finger abhacken. „Heul dich bei jemand anderen aus, ich hab keinen Bock auf dein Gelaber.“ Anna schaute mich verletzt an und auch ihren nächsten Blick konnte selbst ich super deuten: Es war pute Abscheu. Als ob ich eine hässliche Made in ihrem Essen wäre. „Fick dich, Jane.“, sagte Anna leise, drehte sic schwungvoll um und lief davon. Obwohl sie so leise gesprochen hatte, hatte es jeder gehört. Aber ich sah kein Midleid oder Mitgefühl in den Augen, als sie mich alle ansahen. Das was ich grade gesagt hatte war echt fies gewesen, also guckten mich alle schadenfreudig an. Und ich verließ mit hängendem Kopf die Pausenhalle, um mich in der Toilette einzuschließen und zu heulen.


Anna




Ich konnte nicht glauben, was Jane vor fünf Minuten zu mir gesagt hatte. Für ein paar Sekunden hatte ich angenommen, dass ihre Arrogantheit und Fiesheit nur Fassade waren, dass sie eigendlich nett und freundlich sein konnte, doch ihre letzten Worte waren eindeutig gewesen. Sie hasste mich, und sie hatte nie daran gedacht, mir irgendetwas zu erklären. Die ganze Zeit hatte sie ins Leere gestarrt, als ich sie mit Fragen bombardierte, keine Regung von ihr deutete darauf hin dass sie mir überhaupt zuhörte. Und dann war mir einfach der Kragen geplatzt. Zu Recht, fand ich. Ich war auf die Mädchentoilette gegangen, um meine Ruhe zu haben. Keiner hatte mich gesehen, doch als ich mich gerade einschloss, hörte ich, wie noch jemand hineinkam. Ich schnellte zurück in meine Kabine und stellte mich an die wand, mucksmäuschenstill. Das Mädchen schluchzte, als es sich genau neben mir einschloss. Hatte sie mich bemerkt? Nein, hatte sie nicht. Sie murmelte etwas. Moment mal – war das etwa Janes Stimme?! Ich bückte mich und linste vorsichtig unter dem Rand der Kabine hindurch. Ja. Es war eindeutig Jane. Welches Mädchen sonst kam auf die Idee, zur Schule pinke Higheels anzuziehen? Ich schluckte. Hatte ich sie mit meinen Worten etwa so verletzt? Jetzt murmelte sie etwas vor sich hin: „Es ist nur ein Traum es ist nur ein Traum es ist nur ein Traum…“ Was war denn mit der los? Plötzlich schämte ich mich dafür, ihr zuzuhören. Das ging mich echt nichts an! Peinlich berührt schloss ich vorsichtig die Tür auf und schlich auf leisen Turnschuhsohlen an den Waschbecken entlang. Jetzt nur noch zur Tür, und dann – „Ist da jemand?“, fragte eine verheulte Stimme aus der Kabine. Jetzt rannte ich zur Tür. „Was zum Geier… Hallo?!“, fragte Jane noch einmal, während sich ihr Türschloss drehte, als sie sie öffnete. Doch weiter kam sie nicht, denn ich schlug die Tür schnell hinter mir zu und rannte den Weg in mein Klassenzimmer. Zum Glück hatte ich mir gemerkt, wo der Raum war.


Jane




Als es endlich zum Schulschluss klingelte, schnellte ich hoch und rannte zu meinem Fahrrad. Mir blieben nur noch wenige Stunden zu leben, ich wollte mich unbedingt noch einmal verwandeln! Aber in welches Tier? Ich hatte mir schon immer gewünscht, mich in einen Tiger zu verwandeln, hatte es mir aber bis jetzt nie getraut, denn das Risiko war immer zu hoch gewesen, gesehen zu werden. Bei meinem Fahrrad angelangt, knurrte ich erst einmal zornig auf. Welcher Vollpfosten hatte sein Rad auf meines geworfen?! Heute waren aber auch alle Menschen gegen mich. Gerade als ich das andere Fahrrad hochhob, um meines aufstellen zu können, ertönte hinter mir eine Stimme. „Hey, was machst du da mit meinem Fahrrad?“ Ich drehte mich wutschnaubend um und blickte genau in die tiefgrünen Augen eines etwa siebzehnjährigen Jungens. Okay- der sah gut aus. Sehr gut sogar. Er war groß mit blonden, etwas längeren Haaren und war anscheinend auch sehr muskulös, denn es nahm sein Fahrrad und hob es einfach von meinem weg. Das ging aber nicht so gut, denn sein Lenker hatte sich zwischen meinen Speichen verhakt. „Idiot! Du bezahlst den Schaden!“, zischte ich genevt und sah ihm direkt in die Augen. Ich wollte endlich nach Hause und meine letzten paar Stunden als Tier genießen, und mich nicht mit einem Jungen um einen Fahrradschaden streiten. Überrascht weiteten sich seine Augen, und ich hatte das Gefühl, sie wurden noch einen Tick grüner. „Was? Warum glotzt du mich so an?“, fragte ich noch genervter. Ich würde einfach in den Wald gehen und mich dann verwandeln. Wenn mir diesmal jemand zusah, war es sowieso egal, ich war ja in ein paar Tagen tot. Das alles schoss mir durch den Kopf, während der Typ mich mit offenen Mund anstarrte. „Mach deinen Kopf zu und sag mir gefälligst warum du mich so anstarrst!“, sagte ich jetzt wütend. „Hast du… - “, begann er, doch dann stoppte er abrupt. „Was?“, fragte ich verwirrt. Ich. Will. Nach. Hause. Und. Mich. Verwandeln. Und. Du. Sollst. Mich. In. Ruhe. Lassen. Dachte ich genervt. Er grinste jetzt einfach nur. Jetzt wurde es mir zu bunt. Ich pachte mein Fahrrad, riss es von seinem Lenker los und fuhr ohne ein weiteres Wort los. Nur weg von hier! Er rief mir irgendwas hinterhr, doch ich hörte ihm nicht zu, sondern fuhr noch schneller. Ich merkte, wie er mich verfolgte doch ich war sportlicher (jeah ich bin ja so gut) und hängte ihn ab. Endlich Zuhause angekommen, sprang ich vom Fahrrad und lief schnurstracks in den Wald. Aber dann hörte ich Schüsse. Verdammt! Ausgerechnet heute mussten diese dummen Jäger jagen gehen! Schon wieder bekam ich eine Sauwut. Ich fand es grausam von ihnen, dass sie Tiere töteten. Sie hatten gar keine Chance zu fliehen! Seitdem ich bemerkt hatte, dass ich mich in Tiere verwandeln konnte, war ich Veganer, das hieß ich aß nichts was von Tieren war. Also kein Fleisch oder Fisch, aber auch keine Milch, Eier oder Honig. Und keine Gummibärchen, auch sowieso nichts wo Gelatine drin war. Ich trug selbsterverstänlich auch keine Felljacken oder Lederhandschuhe oder sowas.
Ich machte also seufzend kehrt und machte Hausaufgaben, aß eine Gemüsepfanne und sah Fernsehen. Eigendlich hätte ich ängstlich sein sollen, weil meine Mutter und Mein Vater mal wieder nicht da waren, sondern übers Wochenende nach Australie geflogen waren, doch ich dachte nicht daran sondern schlief bei der hälfte des Filmes ein.


James




„Ich hab endlich mal wieder eine gefunden.“, sagte ich grinsend zu Linneah. Sie sah mich überrascht an und runzelte die stirn. Trotz ihrer 50 Jahre sah sie so gut wie 30 aus. Sie hatte kaum Falten, ihre Haut war braun gebräunt von der Sonne und in ihren kastanienbraunen Haaren war keine graue Strähne zu erkennen. Ich sah ihr tiefer in die Augen um zu sehen was sie dachte, doch sie winkte ab. „Lass es, James. Habe ich dir etwa erlaubt, in meinen Kopf zu gucken?“ Ich senkte den Blick beschämt zu Boden. „Nur weil du diese Gabe hast, sollst du sie nicht bei allen Menschen einsetzen.“ Ich nickte und sah sie wieder an. „Es tut mir leid, Linneah.“ Sie nickte auch. „Und jetzt zu deinem Fund. Wann hast du sie entdeckt?“ „Heute Mittag. Ich wollte nochmal in der Schule nachsehen, ob es noch Gabenleute gibt. Am Fahrradständer hab ich dann eine gesehen und ihre Gedanken gelesen. Es war eher ein Zufall, ich hätte nie gedacht, dass es dort noch welche gibt. Sie war ein bisschen sauer auf mich, ich hab nämlich ihr Fahrrad geschrottet und sie wollte so schnell wie möglich nach Hause um sich zu verwandeln. Dann hat sie noch irgendwas davon gedacht, dass sie sowieso in ein paar Tagen tot wäre und dass es ihr egal sei, wenn ihr jemand dabei zusieht.“ Bei meinen letzten Worten weiteten sich Linneahs Augen geschockt. „Sie will sich umbringen?!“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein, sie hat eher an irgendeine Rothaarige gedacht. Vielleicht wird sie ja erpresst.“ Das erste Mal seit ich Linneah kante, wurde sie bleich. „Beatrix…“, murmelte sie. Ich musste kichern. „Was? Die Hexe bei Harry Potter?“ Sie sah mich genervt an. Ups… Die waren heute aber auch alle schlecht gelaunt. Ich fuhr mir beschämt durch die blonden Haare, die für meinen Geschmack ein Bisschen zu lang waren. Ich sollte sie mal wieder schneiden. Mein Gedankengang wurde von Lineahs Stimme unterbrochen. „Das Mädchen steckt in Schwierigkeiten. Morgen gehen wir beide los und holen sie ins Lager. Nur wir beide, zu viele könnten Aufmerksamkeit erregen.“ Ich nickte.


Anna




Meine erste Überraschung war Zuhause, als meine Mutter sturzbetrunken auf mich zugetorkelt kam und „Paaaaaartyyyyy!“ grölte. Kurz darauf pennte sie auf dem Sofa ein. Oh man. Meine Mutter tat mir echt leid. Ich deckte sie zu und schlich dann leise in mein Zimmer um sie nicht aufzuwecken. Dort angekommen setze ich mich aufs Bett und lies meinen Blick durchs Zimmer wandern. Plötzlich sah ich einen kleinen Stift unter meinem Kleiderschrank. Ich hob ihn auf und schaute unter den Schrank, um zu sehen wo er herkam. An dem Boden des Schrankes konnte ich einen dunklen Schatten erkennen. Ich holte mir eine Taschenlampe, verrenkte mich und sah ein kleines Buch, mit Panzerband am Schrank befestigt. Ich konnte nur schwer einen Triumphschrei unterdrücken und nahm das Buch von dem Schrank. Es war blutrot und war mit kleinen goldeneingravierten Blümchen verziert. Ich schlug es auf und las etwa in der Mitte einen der vielen Einträge:
„Liebes Tagebuch.
Ein Monat ist jetzt vergangen seit Nelly tot ist und ich vermisse sie schrecklich. Warum musste sie ausgerechnet in diesem Auto mitfahren? Sonst würde sie jetzt noch leben. Warum musste ausgerechnet dieses Auto von der Straße abkommen und einen Laster rammen? Sag es mir Gott. Sag mir, warum sie das verdient hat. Ausgerechnet sie! Sie hat doch nie etwas böses getan!
Ich hasse diese Welt. Das alles kotzt mich an, es gibt keinen Sinn mehr für mich weiterzuleben. Das ist mein letzter Eintrag, ich werde mir morgen die Pulsadern aufschneiden. Dann bin ich bei ihr. Endlich.“
Ich schauderte. Hatte das wirklich ich geschrieben? Aber das war eindeutig meine Schrift, sie war unverwechselbar. Ich las mir den nächsten Eintrag durch, hier war die Schrift krakelig und kaum zu lesen:
„Liebes Tagebuch.
Heute ist estwas sehr komisches passiert. Es macht mir Angst und ich möchte es jemandem erzählen, aber ich kann es niemandem außer dir anvertrauen: Heute hatte ich vor mich umzubringen, wie du weißt. Ich ging also, als meine Mutter zur Arbeit ging, in die Küche und nahm ein großes, scharfes Messer. Damit schnitt ich mir die Pulsadern auf. Wirklich, ich habe auf beiden Armen hineingeschnitten, ganz tief. Es hat total geblutet, aber mir war es nur recht: Das war meine Einzige Möglichkeit, wieder glücklich zu sein. Ich genoss den Schmerz sogar, denn es war auf eine ekelhafte Weise sogar ein bisschen tröstlich. Dann fiel ich auch schon auf den Boden, schloss die Augen und wurde von einer wunderschönen samtenen Schwärze eingehüllt. Ich fühlte mich federleicht und stark und ich wollte, dass dieses Gefühl nie mehr aufhörte. War das der Himmel? Ich glaube schon. Aber dann passierte etwas anderes. Irgendwas zog mich zurück und ich wurde schwerer, immer schwerer, bis ich plötzlich wieder auf dem Boden der Küche lag. Als ich meine Arme ansah, musste ich aufschreien denn von meinen Wunden war nichts mehr zu sehen, noch nicht einmal eine Narbe war zu erkennen. Nur auf dem Boden war eine Blutlache. Ich versuchte es immer und immer wieder, mit dem Messer stach ich mir sogar einmal in den Hals und in die Brust. Aber es brachte nichts. Ich wurde bewusstlos, die Schwärze kam, Ich war im Himmel, Die Schwärze ging und ich war wieder auf der beschissenen Erde. Das einzige, was ich daran erinnerte, dass ich zweimal gestorben war, war dass ich am anfang nicht mehr schreiben konnte. Als ich es Anfangs versuchte, kam nur sinnloses Gekrakel heraus.
Ich kann mir nicht erklären, was mit mir los ist, aber eines weiß ich: Es ist nicht normal…“
Ich schlug mir die Hand vor den Mund und fing an zu heulen. Mit dem letzten Satz war alles wieder hochgekommen: Mein altes Leben.
Ich erinnerte mich.


Jane




Ich stand auf einer Klippe über einem Meer. Türkises Wasser schlug an die scharfen Felsen unter mir und das warme Licht der Sonne erwärmte meine nackten Arme. Nackt? Ich sah an mich herunter und erkannte, dass ich ein leichtes weißes Sommerkleid trug. „Hey Jane, willst du mit schwimmen gehen?“, fragte jemand neben mir. Ich drehte mich überrascht um und entdeckte Anna, de ebenfalls ein weißes Sommerkleid trug und fröhlich auf einem Handtuch lag. „Weiß nicht, lass uns noch ein bisschen sonnen!“, antwortete ich und schloss die Augen um mich zu entspannen. „Kann ich auch mitkommen?“, fragte eine weitere Stimme. Ich drehte mich entsetzt um und sah die Rothaarige mit einem Messer auf mich zukommen. Anna schaute sie überrascht an. „Was machen Sie denn hier?“, fragte sie. „Ich sonne mich.“ Ich wich von ihr zurück doch sie kam immer näher. Als ich schon ganz nah am Rand der Klippe stand hatte sie mich eingeholt und wollte mich hinunterstoßen, doch Anna kam von der Seite angelaufen. „NEIN, nicht Jane!“, schrie sie weinend und stoß mich zur Seite, gerade als die Rothaarige mich hinunterschubsen wollte. Statt mir traf sie Anna, und Anna stürzte von der Klippe. Sie landete im Wasser genau auf einen der spitzen Felsen und Blut lief über ihr Kleid und in das Meer. Es war jetzt blutrot verfärbt. Ich wachte kreischend und weinend auf, und erkannte, dass es nur ein weiterer Albtraum war. Ich stand auf und holte mir eine Flasche Wasser, um mich zu beruhigen und nahm auf dem Rückweg meinen iPod Touch gleich mit. „Es ist nur ein Traum, nur ein Traum…“, murmelte ich vor mich hin. Dann hörte ich erstmal meine Einpennliste. Ein Blick auf meinen Wecker zeigte, dass es erst 12 Uhr Nachts war, und ich wollte wieder einschlafen. Als ich schon im Halbschlaf war, stoppte das Lied plötzlich, das ich grade hörte, und ich blickte auf. Oh. Shit. Vor mir stand die Rothaarige, und sie hatte meinen iPod in der Hand und grinste fies. Erstmal schrie ich, und als ich merkte, dass Schreien sinnlos war, verstummte ich und nahm die fette Taschenlampe, die ich extra gegen Eibrecher seit letzter Woche auf meinem Nachttisch stehen hatte. So, jetzt war ich endlich mal bewaffnet. „Was wollen sie?“, fragte ich wütend. Sie grinste immernoch dreist vor sich hin. Zufrieden sah ich, dass die Narbe über ihrem Auge immernoch nicht ganz verheilt war, dann holte ich mit der Tashenlampe aus, doch sie machte es wieder wie bei der Nagelfeile und schlug sie mir einfach aus der Hand. Die Taschenlampe fiel polternd über mein Bettgestell und verschwand unter meinem Bücherregal. Na Super. Ich war echt dumm. Jetzt tat mein Handgelenk schon wieder so weh, ich musste diesen Trick unbedingt mal lernen. „Ich habe noch vergesse, dir etwas zu sagen.“, sagte die Rothaarige. Argh, wie ich sie hasste. „Solltest du versuchen zu fliehen, werde ich deine nette Freundin auch gleich töten. Also, überleg dir gut, was du tust.“ Ich wollte gerade anfangen, etwas zu sagen, da löste sie sich mal wieder in Luft auf. Puff, weg war sie. Man das nervte echt total.
Jetzt steckte Anna erst recht mit drin, und mir war klar: Selbst wenn ich ihr meine Gabe freiwillig gab, würde die Rothaarige sie töten. Anna hatte einfach zu viel gesehen. Und dann wurde mir noch etwas klar: Ich musste ihr alles erzählen was ich wusste. Auch von meiner Gabe. Jetzt konnte ich nurnoch hoffen, dass sie einen Plan hatte, wie wir uns aus dieser Scheiße wieder befreien konnten.


Anna




Ich wusste überhaupt nicht, was ich jetzt tun sollte. Ich hatte mein ganzes Tagebuch noch einmal durchgelesen und war sehr verwirrt. Noch verwirrter war ich allerdings, als Jane am nächsten Tag in der Schule auf mich zukam. Wollte sie mich jetzt fertigmachen? Aber Jane sah nicht wütend aus, sondern einfach nur müde und hoffnungslos. „Hi Anna.“, sagte sie. „Hi Jane. Es tut mir leid dass ich dich gestern so angeschrien hab. Das war eigendlich nicht mein Plan gewesen.“, sagte ich und Jane nickte. „Schon okay. War ja meine Schuld, im Moment läuft so ziemlich alles nicht nach Plan.“ Ich runzelte die Stirn. Seit wann hatte Jane einen Plan, und worum ging es in diesem Gespräch überhaupt? „Hör zu, Anna, ich muss nach der Schule dringend mit dir reden. Es geht um die Rothaarige.“ Ich nickte erleichtert. Na endlich würde sie mir erklären, was es damit auf sich hatte. „Also gibst du zu, dass sie in der Toilette da war?“, fragte ich triumphierend. „Jaaaahaaaa.“,antwortete Jane genervt. „Okay okay, dann erzähl!“, sagte ich. Jane seufzte und sah mich an als ob ich total bescheuert wäre. „Ich sagte doch: Nach. Der. Schule. Ich möchte nicht, dass uns jemand zuhört.“ Ich nickte, denn ich konnte es kaum erwarten.
Nach der Schule trafen wir uns beim Fahrradständer, doch auch da waren für Janes Geschmack zu viele Zuhörer, also gingen wir in einen Park. Hier liefen eh nur die einen oder anderen Rentner lang, und die interessierten sich nicht für uns. „Also Anna. Das was ich dir jetzt erzähle, muss unter uns bleiben, okay? Schwöre es.“ Ich nickte und schwörte es, auch wenn es für mich ein bisschen kindisch rüberkam, so wie Jane sich benahm… „Anna, ich bin anders als die anderen. Ich kann mich in Tiere verwandeln.“ Sie wartete auf meine Reaktion. Ich sah sie einfach nur entgeistert an. „Jane, wenn du mich verarscht, dann hasse ich dich für immer!“, sagte ich. Jane sah mich gleichgültig an. „Ich verarsche dich nicht. Mir ist es jetzt scheißegal ob du mir glaubst oder nicht, aber es ist so. Einmal war ich im Wald, verwandelt als Katze, und die Rothaarige sah mich.“ „Moment, ich hab eine Frage: Kannst du es mir zeigen?“ Jane sah mich noch genervter an als es überhaupt ging. „Dafür müsste ich mich ausziehen. Ich kann mich ja auch angezogen verwandeln, aber nur mein Körper verwandelt sich. Wenn ich mich später wieder zurückverwandle, bin ich nackt. Und auch wenn hier niemand ist, fände ich es jetzt nicht ganz so toll, wenn ich für dich strippen müsste, und -“ „Schon gut, das kann ich ja nicht wissen.“,wandte ich ein, bevor sie sich noch weiter aufregte. Also erzählte sie weiter. Sie erzählte von ihrer ersten Begegnung mit der Rothaarigen, wie sie sie bedrohte und dass ich da nur zufällig mit reingeraten war. „Und warum hat sie gesagt, sie hätte gleich Ähnlichkeiten mit unseren Augen gesehen?“,fragte ich und ahnte etwas. „Ich weiß auch nicht. Du hast doch keine Gabe, oder?“,antwortete sie und fluchte dann plötzlich leise, als sie hinter mich sah. Ich drehte mich ebenfalls um und sah sie auch. Die Rothaarige stand etwa 30 Meter von uns entfernt, hatte uns aber anscheinend noch nicht gesehen. „Versteck dich! Sofort! Sie will uns beide umbringen!“, zischte Jane mich an und huschte hinter einen Busch. Schlau wie ich war, stolperte ich vor Aufregung über meine eigenen Füße und fiel hin. Da rutschte mein Tagebuch aus meiner Tasche. Ich fluchte innerlich so bösartige Flüche, dass ich mich fragte woher ich diese ganzen Schimpfwörter überhaupt kannte. Dann erfasste ich mein Tagebuch und hob es auf. Dabei fiel mein Blick zurück zur Rothaarigen. Shit. Sie hatte sich umgedret und bemerkte meinen Blick. Dann erkannte sie mich. Und dann rief sie: „Hey du da! Komm mal her!“ Jetzt rannte ich los, Jane dicht auf meinen Fersen. Und die Rothaarige lief hinter uns her, leider war sie viel schneller als wir und holte uns langsam ein. Besonders ich keuchte und ächzte schon, Laufen war eben noch nie meine Stärke gewesen. „Na los Anna, mach hinne!“, schrie Jane mich von der Seite an. Wir liefen aus dem Park heraus und in die Stadt hinein. Normalerweise wäre ich in so einer Situation stehen geblieben und hätte geschrien, damit die Passanten auf der Straße bemerkten dass ich Hilfe brauchte, doch wie in einem Albtraum waren alle Straßen wie leergefegt. Ich rannte um die Ecke, Jane lief mir nach und so schlau wie ich war, waren wir in eine Sackgasse gelatscht. Ganz toll. Jetzt konnte die Rothaarige uns abmurksen, ohne dass es jemand mitbekam. Da bog sie auch schon um die Ecke und grinste teuflisch. Ich hasste sie von ganzem Herzen. „Ah, Jane und ihre Freundin.“ Langsam kam sie näher. Automatisch wichen wir einen Schritt zurück bis wir mit dem Rücken an eine Hauswand stießen. Jetzt saßen wir in der Falle.


Jane




Als ich sie auf mich zukommen sah, wusste ich, was zu tun ist: Ich musste mich verwandeln und diese Hexe erledigen. Noch hatte sie uns nicht erreicht, und diese paar Sekunden musste ich nutzen. Ich stellte mir im Geiste einen Panther vor, wie schon einmal: schwarzer Pelz, gefährliche Augen, mörderische scharfe Zähne zum Zerfleischen… Ich schloss die Augen und das war es schon. Meine Kleidung zeriss, als ich als Panther die Rothaarige ansprang. Ich hörte, wie sie aufschrie und ich fauchte noch lauter. Ich schnappte nach ihren Fingern, mein riesiger Kiefer erwischten sie fast und sie keuchte erschrocken auf. Das alles würde ihr noch leidtun! Ich holte mit der Pfote aus und warf sie um. Sie war leicht wie eine Feder. Mit mörderischer Kraft sprang ich auf sie zu und schnappte noch einmal nach ihrem Kopf. Ich erwischte allerdings nur ein paar der roten Haare und riss sie ihr aus. Meine Wut war riesig. Anna hinter mir feuerte mich an: „Ja, Jane, mach sie richtig fertig, sie hat keine Chance!“ Ich fauchte noch lauter, als sie versuchte von mir wegzukrabbeln. „Jane, lass uns noch einmal miteinander reden. Ich bin mir sicher, wir finden für alles eine Lösung!“, kreischte sie jetzt. Oh man, das nervte echt. Erst wollte sie uns umbringen, und dann kam sie mit sowas! „Komm einfach in deine menschliche Gestalt zurück, und wir reden in Ruhe!“ Nein, ich würde ganz bestimmt nicht in meine menschliche Gestalt zurückkehren! Ich riss ihr mit einer Kralle den Arm auf. Sie fing an zu schreien und ihr Blut tropfte in einem steten Fluss auf den Boden. Es roch widerlich. Dann machte ich den Fehler, ihr in die Augen zu sehen. Darauf hatte sie nur gewartet und machte diesen fiesen Blick, der mich folterte. Ich kauerte mich zusammen, jaulte nur noch. Mist, verdammter! Ich versuchte, mich aufzurichten, doch ich brach immer wieder wie schon einmal als Katze im Wald unter der Kraft ihres hypnotischen Blickes zusammen. Die Rothaarige zog, ohne ihren Blick von mir zu lösen, mit ihrem gesunden Arm ein großes, gezacktes Messer aus ihrem Gürtel und kam langsam auf mich zu. Ihre Augen wechselten wieder die Farbe zwischen grau und grün. Grün, grau, grün, grau, grün, grau… Sie hob das Messer, um es auf mich zu werfen. Ich war jetzt etwa drei Meter von ihr entfernt, denn ich versuchte nach hinten zu kriechen , doch dann gab ich auf. Und dann ging alles ganz schnell: Diese Hexe holte Schwung und lies das Messer los, das geradewegs auf meinen Kopf zuflog. Mittlerweile war mir das egal. Wenigstens ein schneller Tod… Zur gleichen Zeit hörte ich einen entsetzten Aufschrei von Anna von links, sie musste neben mich getreten sein: „NEIN! Nicht Jane!“ Sie warf sich vor mich, gerade als das Messer fast meinen Kopf erreichte. Ich sah alles wie in Zeitlupe: Wie Anna auf mich zusprang, wie das Messer sich im Flug drehte, wie es ihre Brust raf und sich zwischen ihren Rippen in ihr Herz bohrte und wie einzelne Blutztropfen herausspritzen. Mein Jaulen und Klagen hallte von den Wänen wieder. Die Rothaarige hatte den Blick von mir gelöst und schaute ungläubig auf Anna hinab. Dann kreischte sie auf als ich sie ansprang und ihren Fuß und ihre rechte Wade zefetzte.


Anna




Als sich das Messer in mein Herz bohrte, lächelte ich. Den Schmerz, der eigendlich hätte da sein müssen, spürte ich nicht, sondern nur, wie mein Herz aufhörte zu schlagen und wie ich hart auf dem Boden landete. Die samtene Dunkelheit umfing mich, streichelte mich und tröstete mich als ich langsam in den Himmel glitt. Ich war so federleicht, nichts hatte mehr Gewicht. Ich schlug die Augen auf und sah dass ich zu den Sternen glitt. Sie umarmten mich wie die Dunkelheit, die um mich waberte und blitzten und blinkten wie tausende von Diamanten und anderen Edelsteinen. Ich musste Lachen und tanzte fröhlich und ausgelassen mit den Sternen, die sich wie ein Wirbelsturm um mich drehten, als wäre ich die Sonne und sie die Planeten im Sonnensystem. Die Dunkelheit schmiegte sich warm an mich, nahm mich zärtlich in sich auf. Meine Haare flatterten um mein Gesicht, als ich mit dem Wind flog, immer höher und höher. Ich wollte, dass dieses Gefühl der Freiheit und Geborgenheit nie mehr aufhörte.


Jane




Gerade, als ich der Rothaarigen ihr Herz herausreißen wollte, verpuffte sie mal wieder. Mein siebter Sinn sagte mir allerdings, dass sie noch nicht verschwunden war, und ich hörte ihre Stimme neben meinem Ohr flüstern. „Es ist noch lange nicht vorbei, denn ich werde wiederkommen und dich langsam und genüsslich töten.“ Ich fauchte in die Richtung, aus der die Stimme herkam, doch ich spürte ihre Anwesenheit nicht mehr. Sie musste verschwunden sein. Ich verwandelte mich wieder zurück und zog mir schnell etwas an, was noch nicht zerrissen war, leider war alles ausser meines langen Wintermantels und meiner Unterhose kaputt, sodass ich nur diese zwei Klamotten am Leib trug, als ich aus der Gasse rannte und weinend um Hilfe schrie. Jetzt war nur eines wichtig: Anna das Leben zu retten.


James




„Ich glaube, ich höre sie!“,sagte Linneah. Sie hatte die Gabe, besonders gut hören, riechen und sehen zu können. Wir beide standen vor der Schule, aber diese war schon längst aus. Linneah drehte sich ein bisschen Richtung Park, dann wurde sie kreidebleich: „Sie ruft um Hilfe!“ Mehr brauchte ich nicht zu wissen und rannte los, Linneah dicht hinter mir. Irgendwie komisch, wenn eine 50jährige genauso schnell läuft wie du sprintest…dachte ich mir als ich durch den Park rannte. Jetzt hörte ich sie auch. Die Blondine von gestern stand verlassen vor einer Gasse und winkte hilflos mit den Armen. „Hilfe, meine Freundin ist tot!“, schrie sie heulend. Oh mein Gott. Es war also wirklich was ernstes. Ich glotzte sie an, ich konnte einfach nicht anders. Sie trug nur einen Wintermantel und sonst nichts. War sie vergewaltigt worden?! „Beatrix!“, zischte Linneah wütend. Ich verstand immernoch nicht, wen sie meinte, aber ich fragte nicht. Sie würde es mir sowieso nicht erklären. Ich rannte zu dem Mädchen hin und sie erkannte mich. „Du schon wieder! Du schuldest mir drei Speichen am Fahrrad!“, sagte sie, doch sie wirkte eher verängstigt als wütend. „Es tut mir ja auch leid. Wo ist denn deine tote Freundin?“, antwortete ich. Sie schluckte und lief in die dunkle Gasse. Und dort lag sie. Sie war wunderschön. Sie lag in einer Blutlache, denn ein Messer steckte in ihrer Brust. Selbst tot strahlte sie dennoch etwas Anmutiges aus. Ihre Haare waren lang und lagen kreisförmig um ihren Kopf verteilt auf dem Boden und rahmten ihr wunderschönes Gesicht ein. Das sonderbare war, dass sie lächelte. Mir rann ein Schauder über den Rücken, so unheimlich war es. Die Blondine rüttelte an ihrem Arm, dann schrie sie entsetzt auf. „Was ist los?“,fragte Linneah, die neben sie gtreten war. „Ihre Augen, sie verändern ihre Farbe!“, kreischte die Blondine. Ich sah dem wunderschönen Mädchen in die aufgerissenen bernsteinfarbenen Augen. Tatsächlich: grüne Farbe verteilte sich gleichmäßig um ihre rabenschwarze Pupille. Ich sah ihr tiefer in die Augen, um zu Sehen ob sie noch lebte. Dann zuckte ich zurück, als ihre Welle aus Gefühlen meinen Geist überwältigte. Sie schwebte in der Dunkelheit, Sterne, die wie Diamanten funkelten, kreisten um sie herum. Sie lachte und wirbelte immer höher hinauf in die Dunkelheit. Dann schrie ihr Geist auf: „NEIN!“ Von irgendetwas wurde sie zurückgerissen, wie ein Gummiseil dass sie gespannt hatte und nun wieder zurückfederte. Die Sterne um sie herum verblassten und die Dunkelheit verschwand, zurück blieb nur grelles, blendend helles Licht.
Mit einem Ruck wurde ich aus ihren Gedanken gerissen, und ich wendete mich verwirrt ab. Linneah, die mich “zurückgeholt“ hatte, starrte mich neugierig an. „Was hast du gesehen, James?“, fragte sie. Ich schluckte. „Sie lebt noch. -“weiter kam ich nicht, denn die Blondine schrie wieder auf. Plötzlich hatte das schwarzhaarige Mädchen mit ihrer Hand mit einem Ruck das Messer aus ihrer Brust gerissen. Das Blut verschwand, sie schnappte keuchend nach Luft und schloss die Augen, die auf einmal wieder bernsteinfarben waren. Dann schlief sie ein.


Anna




Ich erwachte weil irgendwer mich trug. Mein Kopf war an eine sehr männliche Brust gekuschelt und mein Typ der mich trug drückte mich näher an sich als ich zitterte. Seine eine Hand rubbelte über meine Arme und hob den Krage meiner Jacke gegen den Wind. Ich hörte Janes aufgeregte Stimme, die einer anderen weiblichen Stimmer erzählte, was wir beide heute erlebt hatten. Was war heute nochmach passiert…? Ach ja, ich war schon wieder gestorben. „Das Anna unsterblich ist, haben wir auch erst grade eben erfahren. Ich verstehe nicht, warum sie es mir nicht erzählt hat, aber das können wir sie ja später wenn sie aufwacht fragen.“ Unsterblich. Deshalb konnte ich nicht in den Himmel kommen! Ich kuschelte mich enger an meinen „Träger“, der jetz anfing meinen Kopf zu massieren. Oh man, war das angenehm! Ich entspannte mich so sehr, dass ich sofort wieder einschlief.


Jane




Linneah unterhielt sich lange mit mir während wir einen Weg gingen dessen Ziel ich nicht kannte. Sie fragte mich über meine Gabe aus und ich vertraute ihr alles an, was ich über Jahre geheim gehalten hatte. Daraufhin erzählte sie mir, dass es noch mehr Jugendliche mit einer Gabe, Menschen wie mich und Anna, gab. Sie alle hatten ein Zuhause im „Lager“, so wie sie ein großes Gelände im Wald ein Paar Kilometer südlich von unserer Stadt nannte.
Während Linneah und ich zu Fuß gingen, wurde Anna von James, der sie total anhimmelte, getragen. Und ich war noch nicht einmal eifersüchtig auf sie – ich gönnte es ihr. Sie wäre für mich gestorben und dafür würde ich ihr nie genug danken können. Dabei hatte sie noch nicht einmal einen richtigen Grung gehabt, mich zu retten. Immerhin war ich schon oft genug fies und arrogant und unfreundlich zu ihr gewesen… „ Ich gehe jetzt mit James und deiner Freundin ins Gabenlager und schicke jemanden, der dich auch gleich hinbringt. Bitte nimm vorher das wichtigste von deinen persönlichen Sachen mit, ich hoffe du bist einverstanden damit, dass du ab jetzt auch im Lager wohnen wirst. Es währe ein zu hohes Risiko, dich so weiterleben zu lassen wie du bist, sonst wird Beatrix dich bestimmt noch einmal besuchen kommen.“, sagte Linneah gerade. Ich nickte begeistert. Ich wusste, das klang blöd aber ich wollte unbedingt dahin. Mein ganzes Leben würde sich natürlich ändern - ich würde dort anderen Unterricht bekommen und nicht mehr auf meine dumme Schule gehen und ich würde mich von meinen nicht existirenden Freunden verabschieden- aber das war mir gerade Recht. Ein Neuanfang war genau das, was ich im Moment brauchte. „Ich freue mich wirklich, dass ich dort leben darf. Danke!“, antwortete ich strahlend. James sah mich belustigt an. „Du schuldest mir übrigens immernoch meine Speichen!“, sagte ich patzig. Nicht, dass da Gras über die Sache wachsen würde, oh nein! Da war es mir auch scheißegal ob er Gedanken lesen konnte. „Dann ist ja gut.“, sagte Linneah. „Wir sehen uns später!“ Ich nickte wieder. Sie ging mit James (und Anna auf seinen Armen) auf ein grünes Cabrio zu, öffnete es und stieg ein. James legte Anna behutsam auf der Rückbank ab und setzte sich neben sie. Sie gaben wirklich ein niedliches Pärchen ab…

Impressum

Texte: Alle Rechte liegen bei mir, die Geschichte und die Figuren sind frei erfunden.
Bildmaterialien: Das Cover ist von novizin.
Tag der Veröffentlichung: 01.07.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch allen, die neugierig genug waren um dieses Buch zu lesen ;)

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