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Liebe und Mut im Angesicht der Macht

Widerwillig stieg Nicolas aus seinem schwarzen Sportflitzer und ging auf die sechs Meter breite Außentreppe des hell beleuchteten Festhauses zu. Flankiert von Buchsbäumchen auf jeder zweiten Stufe trugen seine Füße ihn schwerfällig dem Eingang näher. Lieber würde er die altersschwache Tür einer Folterkammer öffnen als dem livrierten Empfangschef seine Einladungskarte entgegenzustrecken, doch er hatte keine Wahl.



»Herr Nicolas-Friederich Stefan Maximilian von Maienfeld, herzlich willkommen. Ihr Vater erwartet Sie bereits«, begrüßte ihn der Angestellte des Hauses steif und respektvoll.

»Danke, Gerhard«, erwiderte er bemüht freundlich.



Der alte Mann - seit vielen Jahren in Diensten der Familie stehend und stolz darauf - konnte schließlich nichts dafür, dass Nicolas solche Pflichttermine hasste. Feierliche Eröffnungen, Opernabende mit den Spitzen der Gesellschaft, Wohltätigkeitsveranstaltungen, Sport-Events – regelmäßig musste ein Mitglied der Familie den Platz an der Seite seines Vaters einnehmen. Als designierter Nachfolger am Kopf des Familientisches fiel die Wahl meist auf ihn. In der Pubertät hatte er regelmäßig versucht, sich mit zahlreichen kreativen Ausreden davor zu drücken, doch es war ihm jedes Mal schlecht bekommen. Vaters Einladungen waren bindend und kamen einem Befehl gleich, bei dem die Sippe strammzustehen hatte. Wer sich verweigerte, dem wurde der Geldhahn zugedreht oder bekam die harte Hand des Patriarchen, wahlweise auch den Gehstock des Großvaters, der noch im Arbeitszimmer aufbewahrt wurde, zu spüren. Alles für die ruhmreiche, alte Tradition derer von Maienfeld.

Nicolas schnaubte verächtlich, setzte ein künstliches Lächeln auf und betrat den prachtvoll geschmückten Saal. Unzählige Stehtische waren mit blütenweißem Stoff ummantelt, der von großen grünen Schleifen zusammengefasst wurde. Daran anschließend standen etliche Sechsertische, jeder mit opulentem grüngoldenem Blumengesteck in der Mitte, für das an die salbungsvollen Reden anschließende Fressgelage. An der Decke hingen überdimensionale, glitzernde Kronleuchter und selbst das Rednerpult auf dem kleinen Podest am Ende des Raumes war mit mehreren Blätter- und Blütenranken verziert. Das Büfett an der linken Seite bog sich vor teuren Köstlichkeiten und sein Vater hatte es sich nicht nehmen lassen, einen Künstler mit der Gestaltung einer ein Meter großen Eisfigur zu beauftragen. Der vielzackige Stern thronte über Dutzenden Platten mit Spezialitäten aus aller Herren Länder. Es handelte sich jedoch ausschließlich um Vorspeisen, denn später gab es noch ein Bankett, zu dem ein viergängiges Menü serviert werden würde. Man musste den teuer zahlenden Gästen etwas bieten, damit das Charity Dinner – wieder einmal – alle Rekorde brach und am nächsten Tag gebührend in den einschlägigen Käseblättern bejubelt wurde.

Einem der vorbeilaufenden Diener nahm Nicolas ein Glas Sekt vom Tablett und begab sich an einen der wenigen, noch freien Stehtische. Ihm war nicht nach Small Talk und er fühlte sich generell unwohl, im Mittelpunkt zu stehen. Je schneller der Abend vorüberging, respektive Nicolas sich mit einem leichten Alkoholrausch entschuldigen und die Veranstaltung verlassen konnte, umso besser.



»Hallo Nicky. Na? Wieder mal über die Maßen angetan vom süßen, glamourösen Leben?«, erklang Sarafinas amüsierte Stimme neben ihm.

Mit einem leisen Seufzer drehte er sich zu seiner jüngeren Schwester um und erwiderte sarkastisch: »Ich bin entzückt. Du bist der einzige Lichtblick, obwohl mich hier die Kronleuchter, Diamanten und falschen Zähne blenden.«

»Na, na, so schlimm ist es auch wieder nicht«, widersprach Sara – wie nur er sie nennen durfte - und legte ihm besänftigend den Arm über die schwarz befrackte Schulter. »Du hast es die letzten Jahre überlebt und wirst es auch heute mit Anstand hinter dich bringen.«

»Mir ist nach einer gepflegten Emesis.«

»Und für Normalsterbliche …«

»Ich kotze gleich.«

Belustigt zwinkerte Sara ihm zu. Der Schalk blitzte in ihren graublauen Augen, die gleiche Farbe, die auch ihm zu eigen war. »Aber, aber, Nicolas! Gossensprache in diesen heiligen Hallen? Lass das bloß nicht den alten Zerberus hören.«

Kaum hatte sie ihren Satz beendet, kam ihre Tante Olga mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. »Nickolaaah, isch binne so froh, disch `ier su se´en! Guuud siehsu aus, chérie«, rief sie strahlend und drückte ihn an ihre großen, fachkundig in einer Privatklinik gestalteten Brüste. Seit sein Onkel ihr eine Villa in Saint-Tropez geschenkt hatte, befleißigte sie sich eines französischen Akzents, was angesichts ihrer Herkunft als Dorfschönheit aus der Lüneburger Heide unfreiwillig komisch wirkte. Sie zu heiraten, war die erste und letzte eigenmächtige Tat seines Onkels Bernhard. Seltsamerweise schienen die beiden gut miteinander auszukommen - trotz oder gerade wegen der ständigen Sticheleien seines Vaters.

»Hallo Tante Olga, natürlich bin ich hier. Wie könnte ich der überaus charmanten Einladung meines werten Herrn Vaters widerstehen?«, sagte Nicolas und befreite sich vorsichtig aus der überschwänglichen Umarmung.



Kurz blitzte in Olgas braunen Augen ein Ausdruck des Bedauerns auf. Nicht zum ersten Mal hatte er den Verdacht, dass sie mehr vom echten Leben und vielleicht sogar von ihm wusste, als es den Anschein hatte. Ihre oberflächliche Fröhlichkeit wirkte auf ihn vorgetäuscht, wie eine Art Rüstung, die ihr das Leben innerhalb der familiären Konventionen erleichterte. Als Kind hatte er sich oft gewünscht, dass seine verschollene Mutter ihr ähnlich wäre, denn Olgas Herzlichkeit war immer echt. Sie freute sich bei jeder Begegnung, ihn zu sehen und störte sich nicht an seiner Herkunft, obwohl sie die wahren Umstände kannte.

Nicolas war der einzige ihm bekannte Fauxpas seines Vaters. Als sein Großvater von dem Malheur erfuhr, nahm er der jungen Frau das Baby aus dem Arm, drückte es einem Kindermädchen in die Hand und bot Nicolas´ Mutter Schweigegeld in sechsstelliger Höhe. Dazu konnte sie leider nicht Nein sagen und verschwand, ohne noch einmal nach ihrem Kind zu fragen. Sein Großvater verbreitete das Märchen von der Skandinavierin aus niederem Adel, die leider, leider bei der Geburt gestorben sei, bevor der vielversprechende, junge Erbe des Maienfeldschen Imperiums sie in Liebe heiraten konnte. Dass dieser Erbe ein Zimmermädchen genötigt und der allseits angesehene alte Maienfeld ihr das Kind abgekauft hatte, durfte keiner erfahren. Niemand wagte es, die rührselige Geschichte anzuzweifeln oder Nachforschungen anzustellen und seine Mutter tauchte nie wieder auf. Nicolas besaß nicht einmal ein Bild von ihr und entsprechende Fragen würgte sein Vater rigoros ab. Die beiden später folgenden Ehefrauen konnten ihm die Mutter nicht ersetzen und hatten auch gar kein Interesse daran. Ihnen waren Schönheitsfarmen und Shoppingtouren rund um die Welt wichtiger als der kleine Bastard ihres einflussreichen und vor allem wohlhabenden Gönners.



Aus den Lautsprechern erklang eine ankündigende Melodie, auf dem Podium klatschte der Gastgeber herrisch in die Hände, um die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich zu ziehen und begann in der schnell eintretenden Stille seine wohlformulierte Rede. Wir sind heute zusammengekommen … laber, laber … freue mich … rhabarber, rhabarber … Ihre großzügigen Spenden … schwafel, schwafel … für die vom Leben Benachteiligten … sülz, sülz …

Die scheinheiligen Worte seines Erzeugers wollten kein Ende nehmen und Nicolas wäre beinahe im Stehen eingeschlafen, als endlich rauschender Applaus ertönte und die feine Gesellschaft sich zum Büfett begab. Danach würden verschiedene, förderungswürdige Projekte vorgestellt werden und die Honoratioren der Stadt weitere salbungsvolle Reden halten. Dies war der richtige Moment, sich unauffällig aufs Dach des Hauses zu begeben, bevor sein Vater ihn womöglich entdeckte und mit seinen Lebensweisheiten belästigte. Die heuchlerischen Phrasen könnte er heute noch weniger ertragen als sonst. Die hungernden Kinder in Afrika, die Behinderten in Südamerika, die inhaftierten Regimegegner diverser Diktaturen waren Friederich Hugo Wilhelm von Maienfeld vollkommen gleichgültig. Für ihn zählten Herkunft, Ansehen, Tradition und Börsenkurse. Es galt, den schönen Schein, die Fassade der Wohlanständigkeit aufrechtzuerhalten, egal, was es kostete.

Frustriert schob Nicolas zwei Finger hinter den Kragen und lockerte den gestärkten Stoff. Die schwarzblaue Fliege davor machte dank eines versteckten Gummibands jede Bewegung mit. Er hatte keinen Nerv dazu, sie auf althergebrachte Art zu binden und fühlte sich selbst mit diesem Teil schon eingeengt genug. Es stand stellvertretend für die kalten Finger, mit denen sein Vater ihn im Griff hatte. Würgte ihn ebenso unbarmherzig wie dessen Anweisungen, denen Nicolas Zeit seines Lebens ohne Widerspruch nachzukommen hatte. Wer nicht für die Maienfelds war, war gegen sie. Das galt auch für Sohn und Tochter des Herrn Maienfeld, für seinen Bruder und die vier Schwestern, die Schwägerin, Schwäger, Nichten, Neffen und entfernte Verwandte. Sein Vater herrschte über jeden Einzelnen wie ein mittelalterlicher König und konnte gleichermaßen großzügig wie grausam sein. Sein Credo waren Zuckerbrot und Peitsche. Beides setzte er effektiv und mit Genuss ein.



Erleichtert öffnete Nicolas die Stahltür, die zum Flachdach führte, und setzte sich dort neben einen der Schornsteine. Diesen Platz suchte er seit seiner Jugend auf, wenn ihm Protz und Prunk in den unteren Etagen zu viel wurde. Wenn er keine Schlauchbootlippen und Wohlstandsbäuche mehr sehen konnte oder sich ihm vom scharfen Kontrollblick seines Vaters die Nackenhaare aufstellten.

Hier oben bot sich ihm ein einzigartiger Blick über die ganze Stadt mit unzähligen beleuchteten Fenstern und der endlosen Weite des Nachthimmels. Für wenige Minuten konnte er sich frei und ungebunden fühlen, auch wenn er selbst hier nicht im Einklang mit sich war. Dafür sorgte sein schmutziges, kleines Geheimnis und infolgedessen das Damoklesschwert seines Vaters, das beständig über ihm hing. Frustriert malte er mit einem seiner teuren Schuhe Kreise in den Staub und verfluchte seine Mutlosigkeit. Zweimal hatte er sich in den vergangenen Jahren knapp an den Rand des Daches gestellt, in die Tiefe gestarrt und die letzte Alternative in Erwägung gezogen, die ihn endgültig befreien würde. Doch er liebte seine Schwester, seine Tante und seinen Beruf als Kinderarzt zu sehr, um alles hinter sich zu lassen, konnte weder aus dem engen Korsett seiner Existenz ausbrechen und in ein eigenes Leben flüchten noch sich ins Nichts stürzen – Feigling, der er war …



»Warum sitzt du schon wieder auf dem Dach im Dreck?«, dröhnte hinter ihm eine machtvolle Stimme. »Geh gefälligst runter aufs glänzende Parkett, wo ein von Maienfeld hingehört und such dir endlich eine passende Partie aus! Auf der Liste, die ich dir vor Monaten gab, sollte doch etwas dabei sein, womit du dich sehen lassen kannst.«

Ach ja, die Liste: Sorgfältig ausgewählte Prinzesschen, allesamt getrimmt auf ein Leben in der besseren Gesellschaft, Sprösslinge wohlklingender Namen der High Society. Für seinen Vater waren sie nicht Frauen, Damen oder Töchter von Freunden, sondern allenfalls »passende Partien« und »etwas«, womit man sich sehen lassen konnte.

»Ich werde nicht heiraten«, antwortete Nicolas in einem Anfall von Wagemut. »Keine von deiner Liste und auch keine andere Frau.«

»Du wirst!«, bellte der alte Maienfeld. »Andernfalls kannst du dich von deiner schicken Praxis verabschieden, die ich dir finanziert habe, genauso wie von der eleganten Wohnung, die du dank meines Wohlwollens besitzt. Vergiss das nicht! Ich will mich nicht auf deine Schwester verlassen müssen, um den Bestand unseres Geschlechts zu sichern. Aus allem, was Rang und Namen hat, habe ich dir erstklassige Kandidatinnen ausgesucht und jede von ihnen bringt eine Menge Kapital und Beziehungen mit. Ich erwarte, dass du einen Stammhalter produzierst und die Linie fortsetzt, wie die Generationen vor dir!«

»Ich kann nicht!«, blaffte er zurück. Selbst wenn er eine von ihnen heiraten würde, bliebe da noch ein klitzekleines Problem: Um Kinder in die Welt zu setzen, müsste er angesichts eines Frauenkörpers erst mal eine Erektion bekommen und ihm war schleierhaft, wie das funktionieren sollte. Natürlich gab es Möglichkeiten, dem nachzuhelfen. Er wäre nicht der erste Schwule, der eine Familie gründete, um sein Geheimnis zu wahren. Nicolas hingegen käme sich wie ein Betrüger vor, gegenüber sich selbst und ebenso an seiner künftigen Ehefrau.

»Natürlich kannst du! Deinen … Obszönitäten … darfst du später nachgehen, so lange du die Etikette wahrst und niemand davon erfährt. Also beweg dich wieder nach unten und halte Ausschau nach einem gebärfreudigen Becken, sonst erkläre ich dich zur Persona non grata wie Isabella!«, befahl sein Vater mit zorngerötetem Gesicht, machte auf dem Absatz kehrt und verließ mit schweren Schritten das Dach. Allein daran, wie er das Wort »Obszönitäten« ausgespuckt hatte, war klar zu erkennen, wie sehr er seinen eigenen Sohn verachtete.

An seine Cousine Bella konnte Nicolas sich gut erinnern. Die hübsche, dunkelhaarige Frau hatte ihre Bisexualität öffentlich ausgelebt, mit Männern und Frauen gleichermaßen geflirtet, bis sein Vater dem Treiben ein Ende setzte. Er strich ihr die Apanage, verkaufte die Wohnung, in der sie lebte und kündigte ihr den Job als Geschäftsführerin, den sie in einem seiner zahlreichen Subunternehmen innehatte. Ihre Karriere endete schlagartig und ihr Name durfte nicht mehr genannt werden. Die Gerüchte raunten von einer Lebensgefährtin, mit der Isabella in München leben sollte, aber niemand wusste etwas Genaues.

Seufzend ließ Nicolas den Kopf auf die angewinkelten Knie fallen. Sein Vater hatte einen langen Arm mit weitreichenden Kontakten in Politik und Wirtschaft. Wenn Nicolas sich sträubte, dessen Wünsche zu erfüllen, bekäme er künftig keinen Fuß mehr auf den Boden. Ihm bliebe höchstens übrig, zu ‚Ärzte ohne Grenzen‘ zu gehen und irgendwo in einem moskitoverseuchten Urwald 20-Stunden-Schichten zu schieben, und selbst das würde der Mistkerl garantiert noch zu verhindern wissen. Nach knapp einem Jahr warf seine Praxis noch nicht genug Gewinn ab, um ohne Daddys Unterstützung überleben zu können und selbst wenn: Ein homosexueller Kinderarzt stand doch per se unter Pädophilieverdacht. Grund genug für die Hälfte der Eltern, mit ihren Kindern zur Konkurrenz zu flüchten. Bei allem, was in den letzten Jahren offiziell erreicht worden war, sah der Alltag eines schwulen Mannes immer noch anders aus, als er sich das wünschen würde. Zumindest vermutete er das aufgrund dessen, was in den Medien publiziert wurde. Persönlich kannte er niemanden, der seine Neigung teilte.



Nicolas richtete sich auf, zog das schwarz glänzende Jackett gerade und schlich ungesehen über die Feuertreppe zum Hinterausgang. Den Wagen parkte er selbst aus, ohne den jungen Mann zu bemühen, der extra dafür eingestellt worden war, die noblen Karossen der Gäste vorzufahren. Er musste hier dringend weg, irgendwohin, wo ihm der Schatten seines Vaters nicht gar so übermächtig erschien. Kurzentschlossen bog er in Richtung Autobahn ab und raste fünfzig Kilometer nach Norden bis zur nächsten Großstadt. Dort suchte er sich in der City einen Parkplatz, riss sich Fliege und Jackett vom Leib, verstaute die grüngoldenen Manschettenknöpfe mit dem Familienwappen im Handschuhfach und krempelte die weißen Ärmel hoch.

In einer kleinen Seitengasse gab es einen Club, das ‚Römer Amicorum‘, den er bereits zweimal aufgesucht hatte, als ihn die Aussichtslosigkeit seiner Situation wieder einmal zu überwältigen drohte. Eine Bar, die fast ausschließlich von Männern besucht wurde, in ausreichender Entfernung von seinem Wohnort, um – hoffentlich – nicht erkannt zu werden und wenn doch, könnte er notfalls behaupten, versehentlich hierhin geraten zu sein. Es gäbe ein Mini-Skandälchen, aber nichts, was die von den Maienfelds so gefürchteten negativen Schlagzeilen produzieren würde. Kurz vor der Tür fuhr er sich mit allen Fingern durch die blonden Haare, atmete tief durch und trat ein. Drin wurde er von dröhnender Musik und einem freundlichen Nicken des muskulösen Barkeepers empfangen, der ihn von seinem letzten Besuch wiedererkannte.



»Zwei Finger breit?«, fragte er und wies mit einer Geste zu dem ansehnlichen Vorrat an Spirituosen hinter sich.



Nicolas nahm auf dem silberfarbenen Barhocker am Ende des Tresens Platz und bestätigte resigniert die Frage. An dem Abend vor zwei Monaten hatte er sich dermaßen mit Whisky abgeschossen, dass er mit dem Taxi heimfahren musste und seinen Sportwagen erst am übernächsten Tag abholen konnte. Es war leider kein legendäres Wochenende mit viel Sex und Spaß, sondern nichts weiter als der armselige Versuch, seinen goldenen Käfig zu vergessen. Bis heute hatte er es nicht gewagt, hier ein Angebot anzunehmen geschweige denn jemanden anzusprechen, obwohl die Auswahl nichts zu wünschen übrig ließ. Zum einen war er extrem schüchtern und zum anderen saß ihm die Angst im Nacken, sich damit erpressbar zu machen. Sein Vater nutzte solches Wissen selbst gern, um andere nach seiner Pfeife tanzen zu lassen und das große Vermögen der Maienfelds dürfte manch einen hier schwach machen, wenn er wüsste, was es da zu holen gäbe.

Nachdenklich schwenkte Nicolas die helle Flüssigkeit im Glas. Das alles war Jammern auf höchstem Niveau. Viele Menschen würden sich alle Finger danach lecken, ihr Leben mit dem seinen zu tauschen. Er sollte wirklich dankbar sein für das, was ihm geboten wurde, doch er konnte die tiefe Unzufriedenheit nicht abschütteln, die ihn seit Jahren begleitete. Himmel, er war 29 Jahre alt und hatte noch nicht ein einziges Mal eine Beziehung geführt, welcher Art auch immer. Mit fünfzehn hatte sein Vater ihn mit dem Sohn eines Freundes der Familie beim gegenseitigen Masturbieren ertappt und so gründlich verprügelt, dass er tagelang nicht sitzen konnte und froh war, im kalten Winter die Hämatome mit Pullovern und Schals verdecken zu können. Kindesmisshandlung kam leider in allen Schichten der Gesellschaft vor. Seit diesem schmerzhaften Ereignis hatte sich ihr Verhältnis noch mehr verschlechtert. Sein Erzeuger war nur zufrieden, wenn Nicolas brav und schweigend zustimmte, egal, was von ihm verlangt wurde.

Seine sexuellen Erfahrungen beschränkten sich auf die kleine Jugendaffäre und zwei Blowjobs irgendwo am Rande eines dunklen Rastplatzes, wo man ihn aufgrund schlechter Beleuchtung nicht genau erkennen konnte. Dort hatte er sich bloß hingestellt und zustimmend genickt, als ein Mann auf ihn zukam - weit, weit weg vom Anwesen der Familie und den mit ihr befreundeten oder bekannten Augen und Ohren. Verbunden mit einem schlechten Gewissen, Angst vor Entdeckung und Ekel vor der Umgebung. Beim zweiten Mal hatte er sich beinahe übergeben angesichts der hygienischen Verhältnisse. Nicolas war nun mal nicht geboren für versiffte Raststättenklos, düstere Hinterzimmer und zugemüllte Seitengassen. Für ein Leben nach den Vorstellungen seines Vaters allerdings auch nicht. Eigentlich hätte er nach dessen Willen Chirurg werden oder den Vorstand einer seiner Firmen übernehmen sollen. Nachdem Nicolas sich mit dem Berufswunsch Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin durchgesetzt hatte, war der Vorrat an väterlichem Entgegenkommen in gleichem Maße aufgebraucht wie seine Kraft, gegen den Despoten zu rebellieren.



Unauffällig ließ Nicolas den Blick über die Menge schweifen, immer auf der Suche nach einem Mann, dessen Bild er nachts im Bett oder unter der Dusche wieder hervorrufen würde. Natürlich könnte er sich auch am PC einen Porno zu Gemüte führen, doch beim Anblick braungebrannter Anabolikahengste oder in Unehren ergrauter Herren mit mageren Jünglingen regte sich bei ihm nichts. Eher gingen ihm dabei medizinische Fragen durch den Kopf. Angesagte Datingportale und Callboys kamen erst recht nicht infrage. Viel zu hoch war das Risiko, dass jemand ihn erkannte. Schließlich war sein Gesicht hin und wieder in den bunten Blättern zu sehen, wenn auch im Hintergrund, so weit es eben ging. Die halbe Welt vertrieb sich beim Frisör die Zeit mit den neuesten Halbwahrheiten, die dort zu lesen waren, oder informierte sich an Laptop und Smartphone über die Welt der Schönen und Reichen. Nicolas fühlte sich weder schön noch reich, aber sein Name wäre Garant für alle Klatschreporter, gutes Geld für die Story zu bekommen. Eine solche Affäre würden sie wochenlang durchhecheln. Seinen heißgeliebten Beruf müsste er aufgeben, seine Schwester würde mit durch den Dreck gezogen werden und die Reaktion seines Vaters wollte er sich besser nicht vorstellen.



»Tanzen?«, wurde Nicolas von einem Zwei-Meter-Hünen gefragt, der sich neben ihn gestellt und die Ellbogen auf die Theke gestützt hatte.

»Nein, danke«, antwortete er und der Mann zog wieder ab.

Eine halbe Stunde später zwinkerte ihm vom Rand der Tanzfläche ein anderer Mann zu. Nicolas seufzte. Er hatte sich absichtlich in die dunkelste Ecke gesetzt und trotzdem wurde er gesehen. Dabei wäre er angesichts des gut gebauten Dunkelhaarigen nicht einmal abgeneigt. Leider konnte er es sich nicht erlauben, auf ein Angebot einzugehen und selbst in Aktion zu treten, war ebenso ausgeschlossen.

Nicolas konnte unvernünftige Eltern überzeugen, ihre Kinder impfen zu lassen, war seiner Arzthelferin ein guter Chef und hatte über Stunden konzentriert den Opfern eines schweren Verkehrsunfalls geholfen, der in der Nähe seiner Praxis geschehen war, bis alle Verletzten sicher ins Krankenhaus gebracht werden konnten. Als Arzt in seinem Fachbereich bewegte er sich relativ selbstbewusst, als Mensch hingegen traute er sich nicht einmal zu einem Therapeuten, um seine Schüchternheit zu bekämpfen. Ganz abgesehen von dem wahrscheinlich behandlungsbedürftigen Verhältnis zu seinem Vater.



»Tanzen ist wohl nicht dein Ding«, wurde Nicolas von der Seite angesprochen.

»Nein«, erwiderte er und drehte sich zu dem Mann um, der das Wort an ihn gerichtet hatte.

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Tag der Veröffentlichung: 21.09.2015

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