Für die liebe ulla,
die geduldig meine Launen erträgt
und hilft, wenn Not am Mann ist ;-)
Das rhythmische Knacken in jeder Linkskurve war der erste Hinweis, dass etwas nicht in Ordnung sein könnte. Das Rascheln der Borsten beim Überholen war ebenfalls nicht zu überhören. Spätestens, als vor zwei Wochen der Funkenflug bei Start und Landung zu einem armseligen Glimmen schrumpfte, hätte ich handeln müssen.
Meine sture Ignoranz des Offensichtlichen hat heute ihr unrühmliches Ende gefunden. Frustriert stehe ich vor den Trümmern meines geliebten „Every Way 2000“. Die Heimreise haben wir mit Ach und Krach noch geschafft. Bereits während des Fluges verlor er einige Splitter, sodass ich ihn nur mit Mühe in der Spur halten konnte. Auf den letzten Metern versagte der Bremskraftverstärker und ich legte eine saubere Notlandung hin, die mir aufgeschrammte Knie, Kopfschmerzen und einen faustgroßen Bluterguss an der rechten Hüfte einbrachte. Meine blonden Haare sehen vom Staub eher mausgrau aus, meine Laune ist im Keller und meine Lieblingsjeans im Mülleimer.
Mit einem Eisbeutel auf dem Kopf wähle ich zum dritten Mal innerhalb einer Stunde Ullrichs Nummer. Das regelmäßige Tuten im Handy stellt meine Geduld auf eine harte Probe. Er ist der Einzige, der mir helfen kann. Ich brauche einen Ersatz, einen Rat oder wenigstens jemanden, der mich angemessen bedauert. Natürlich sitzt Ullrich nicht den ganzen Tag daheim und wartet auf ein Lebenszeichen von mir. Er hat genug eigenen Kram zu erledigen und ich versuche, ihm nicht allzu oft auf den Nerv zu gehen. Aber jetzt ist echt Not am Mann. Verdammt! Geh endlich dran.
„Ullrich ...“, ertönt die rettende Stimme aus dem kleinen Lautsprecher.
„Gott sei Dank! Ullrich, hier ist Elias, du musst mir helfen: Ich ...“
„Du hast deinen Every Way geschrottet, ich weiß. Ich habe das Notsignal auf dem Schirm gesehen.“
Typisch, Ullrich hat den vollen Überblick und ist die Ruhe selbst, während ich am Rad drehe. „Ich habe ihn nicht geschrottet! Das blöde Ding ist mir unter dem Arsch auseinandergebrochen. Wie schnell kannst du ihn reparieren?“
„Den kann ich nicht mehr reparieren. Ich habe ihn so oft geflickt, dass wahrscheinlich kein Krümel vom Original mehr dran ist.“
„Dann sag mir, was ich jetzt machen soll. Ich brauche einen Ersatz, einen Tipp, irgendwas. BITTE!“, flehe ich ihn an.
Vom anderen Ende höre ich einen Seufzer. „Hey, bleib ganz ruhig. Wir kriegen das schon hin, mir fällt sicher was ein.“ Dem Mann fällt immer etwas ein und seine sanfte Stimme ist Balsam für meine gereizten Nerven. „Komm erst mal her. Ich glaube, ich habe genau das Richtige für dich.“
„Zu dir? Hast du mir nicht zugehört? Ich kann nicht fliegen. Wie soll ich das machen? Durch halb Deutschland laufen?“
„Du hast doch Fantasie, lass dir was einfallen“, erwidert mein Freund leise lachend.
„Meine Fantasie reicht momentan nur für einen gepflegten Wutanfall“, grummele ich ungnädig. „Okay, ich bin in zwei oder drei Stunden da … irgendwie ...“
„Alles klar, bis dann“, sagt Ullrich gutgelaunt und trennt rücksichtslos die Verbindung. Und wer pflegt jetzt meine Wunden und trägt mich zu seinem Haus?
Mit etwas Wehmut packe ich die kläglichen Reste meines Every Ways in einen Karton und mache mich auf den Weg. Ullrich war schon oft meine letzte Rettung und ich hoffe, dass ich nicht vergebens in diesem überfüllten Zug sitze, der mich zu ihm bringt. Die vielen Menschen um mich herum sind mir lästig. Jeder riecht nach etwas anderem und bei jeder Geschwindigkeitsveränderung werde ich angestoßen, jemand tritt mir auf den Fuß oder kleckert mit seiner Cola herum. Ich hatte ganz vergessen, wie angenehm meine übliche Art des Reisens ist. Manche Dinge werden mit der Zeit viel zu selbstverständlich.
Ullrich wohnt in einem hübschen, verwinkelten Haus mit großen Kürbissen im Vorgarten und während ich den schmalen Weg hindurch auf die Tür zugehe, wird diese schon von ihm geöffnet. Schmunzelnd sieht er mir entgegen.
„Hallo, Elias“, begrüßt er mich fröhlich.
„Grüß dich“, muffele ich zurück und gehe an ihm vorbei in sein Wohnzimmer. Dort sinke ich auf die Couch, reibe über meine malträtierten Knie und sehe ihn erwartungsvoll an. „Also … was hast du für mich?“
„Die perfekte Lösung“, antwortet er grinsend und öffnet einen reich mit goldenen Schnörkeln verzierten, roten Schrank. „Das hier ...“, sagt er und macht eine bedeutungsvolle Pause, „... ist ein `BX-Super14 Express´, mein neuestes Modell. Es ist ein Prototyp und du bist manchmal ein Schussel. Also sei vorsichtig damit.“
„ICH BIN KEIN …“, brause ich auf und schlucke den Rest des Satzes bitter hinunter. Er hat recht – vor vier Jahren habe ich ziemlich viel versemmelt. Misstrauisch beäuge ich das schnittige Teil in seiner Hand. „Der ist … pink“, nuschele ich angewidert.
„Ja, ich weiß, das ist nicht dein Ding. Die Farbe wird sich bei Gelegenheit noch ändern und er ist genau das Richtige für dich, glaub mir. Er ist schneller als alle anderen, hat ein kleines Fach für Tinkturen, Rezepte und Pflanzen und ein paar kleine Überraschungen. Aber die wirst du mit der Zeit selbst herausfinden.“
Ullrichs amüsiertes Grienen gefällt mir nicht. Der Kerl führt was im Schilde und ich bin mir nicht sicher, ob ich das rosa Teil wirklich haben will. Leider habe ich keine andere Wahl, es sei denn, ich gehe zu Fuß oder quetsche mich in überladene Züge, Nasenvergiftung inklusive. Einen Führerschein für gewöhnliche Autos habe ich nie gemacht. Diese Alternative fällt also flach.
„Na gut, wenn du meinst ...“, antworte ich zweifelnd. „Ich hoffe, die Bremsen funktionieren einwandfrei. Meine Knie sind im Eimer und die Hüfte tut weh. Noch so eine Landung und ich kann mich eingipsen lassen.“
Ullrich sieht mich vorwurfsvoll an. „Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst Lederhosen anziehen, wenn du fliegst? Diese verdammten Jeans halten nichts ab, wenn was schiefgeht.“
„Lederhosen sind steif und unbequem. Sie knarzen und quietschen und im Sommer schwitzt man darunter wie Sau. Außerdem passt mein Umhang besser zu Jeans“, gebe ich überzeugt zurück.
„Trägst du den etwa immer noch? Elias! KEIN CAPE!“ Scharf trifft mich sein strafender Blick, während er die Hände in die Seiten stemmt.
„Mir gefällt´s.“ Stur verschränke ich die Arme. Über dieses Thema gibt es nichts zu diskutieren.
Ullrich verzieht missbilligend das Gesicht. „Okay, es ist dein Leben, das du riskierst, wenn der Stoff irgendwo hängenbleibt oder sich dir um den Hals wickelt … Zum `BX-Super14 Express´gibt es noch ein, äh, Extra.“
Stirnrunzelnd blicke ich auf den polierten Holzstiel und die elegant geschwungenen Borsten, um das „Extra“ zu suchen, während er fortfährt: „Du musst jemanden mitnehmen.“ Mein Kopf ruckt zornig zu ihm hoch. „Nur für vier Wochen und er ist ein guter Mann, bloß etwas aus der Übung“, ergänzt Ullrich hastig. Er weiß genau, wie ich dazu stehe, der Mistkerl.
„Kein Azubi, kein Partner. Auf keinen Fall!“
Ullrich seufzt schwer. „Ich weiß, dass du seit damals niemanden bei dir haben willst, aber es geht nicht anders. Du nimmst beides oder keins davon, überleg´s dir.“
Mir bleibt scheinbar nichts anderes übrig – stinkende Züge oder ein pinkfarbener Alptraum mit Begleiter. Ich schlucke und nicke. „Vier Wochen, keinen Tag länger!“
„Prima!“, sagt mein Kumpel begeistert. „Du wirst ihn mögen. Er ist wirklich begabt und schwer in Ordnung.“
Darum geht es nicht und auch das weiß er ganz genau. Vor vier Jahren hatte ich für kurze Zeit einen Anfänger dabei. Er war ebenfalls begabt und schwer in Ordnung. Darum hatte ich mich auch in ihn verguckt. Leider war er hetero und ich bin schwul. Aus uns wäre nie etwas geworden und wenn ich mich besser im Griff gehabt hätte, wäre der Unfall nicht passiert.
Es war ein ganz einfacher Auftrag: ein Mann, eine Frau, beide verliebt und viel zu schüchtern, um aktiv zu werden. Es fehlte nur ein kleiner Schubs in die richtige Richtung. Der passende Drink oder ein einfacher Zauberspruch und die Sache wäre gelaufen gewesen. Etwas, das die meisten von uns mit links erledigen.
Wir alle kommen mit einer Art genetischer Anomalie zur Welt: der Liebe zu Zauberworten, einem Gespür für Bücher und Pflanzen aller Art und einem Schuss Magie, der durch unsere Adern strömt. Mit dieser Mischung versuchen wir, die Welt etwas freundlicher zu machen, Dinge gerade zu rücken, die schieflaufen. Unser Instinkt führt uns meist zielsicher zu den Orten, wo wir etwas bewirken können. Bis auf ein paar wenige Idioten, die auf sinnlose Gewalt und Unglück stehen – zur Hölle sollen sie fahren und ewig darin brennen - machen wir diesen Job ganz gut und zum Teil mit wild blühender Fantasie. Es gibt sogar einige Vertreter meiner Art, die in wachem Zustand verliebte Drachen und Einhörner sehen.
In den dunklen Zeiten des Mittelalters hätte man uns wahrscheinlich als Hexer auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Heute können wir beinahe unbemerkt unseren Fähigkeiten freien Lauf lassen. Bedauerlicherweise wirken sie nicht bei uns selbst. Ich habe also in der fraglichen Nacht meinem Teamkollegen auf den Körper gestarrt statt auf die Hände und nicht bemerkt, dass er von der nötigen Tinktur einen Zuckertropfen zu viel in das Glas des Mannes fallen ließ, als dieser gerade nicht hinsah. Der arme Kerl lag eine Woche krank im Bett und kotzte sich die Seele aus dem Leib. Wir hatten Glück im Unglück, dass er zur zähen Sorte gehörte. Seine Angebetete besuchte ihn täglich und aus den beiden wurde dann doch noch ein Paar.
Für mich war damit das Thema „Begleitung“ allerdings erledigt. Bis heute. Während ich trübselig meinen Gedanken nachhänge, hat Ullrich die hintere Tür zum großen Garten geöffnet und ein Mann tritt neben mich. „Hallo, Elias“, sagt er mit weicher Stimme und vor meinem Gesicht taucht eine kräftige Hand auf. Überrascht hebe ich den Kopf. Mein Blick trifft auf eine schwarze Lederhose, folgt der Hand am Arm entlang bis zum breiten Brustkorb und bleibt an einem Gesicht hängen, das mir bekannt vorkommt.
„Aaron“, krächze ich und kann den Körper kaum mit dem Gesicht und der Stimme in Einklang bringen. Als ich ihn zuletzt gesehen habe, damals vor vier Jahren, war er deutlich schmaler und auch ein Stück kleiner. Der sanfte Klang seiner Stimme steht in seltsamem Widerspruch zur kräftigen Statur. Ich bin selbst kein dünner Hecht, doch mit ihm kann ich nun nicht mehr mithalten. Ich räuspere mich, stehe auf und schüttele ihm die Hand. „Hallo Aaron, hab dich lange nicht gesehen.“
„Ja, ich … habe mir eine kleine Auszeit gegönnt. Aber jetzt bin ich voll dabei“, sagt er und strahlt mich an. Scheiße! Ich hatte vergessen, welche Wirkung seine dunkelgrünen Augen auf mich haben. Mein Herz rast los und ich bin dankbar, dass ich heute eine Jeans aus festerem Stoff anhabe. Das schmerzt jetzt zwar, doch meine körperliche Reaktion auf Aaron fällt durch den Schnitt und die dunkle Farbe weniger auf als in meinen anderen Hosen.
„Okay, cool, ja ...“, stottere ich verlegen und drehe mich schnell zu Ullrich um. Von meinem mörderischen Blick müsste er sich eigentlich vor Schmerzen am Boden winden, doch in seinem Gesicht zeigt sich lediglich ein schiefes, entschuldigendes Grinsen. Der Kerl grinst heute eindeutig zu viel.
„Ihr werdet bestimmt ein gutes Team. Hier, nimm den `BX-Super14 Express´ und nun raus mit euch. Ich hab noch einiges zu tun.“
„Danke“, brumme ich, ergebe mich meinem Schicksal und folge Aaron zur Tür hinaus.
Der nächste Auftrag, der sich vor einigen Tagen in meinem Kopf manifestiert hat, führt uns zu Leonardo und Ferris, zwei Cousins, die ineinander verknallt sind und sich ebenfalls länger nicht gesehen haben. Es sollte nicht allzu schwer sein, die beiden zusammenzubringen. Wenn ich mich nicht wieder ablenken lasse.
Ich knöpfe meinen Umhang am Hals zu und schwinge mich auf den neuen Besen. Erfreut nehme ich seine Vibrationen wahr, ein tiefes, gleichmäßiges Brummen, das sich nach reichlich Power anfühlt. Der Funkenflug beim Start ist farbenfroher als bei meinem alten Modell und das ganze Teil liegt stabil in der Luft. Wer hier runterfällt, ist selber schuld.
Neben mir fliegt Aaron mit zwei Metern Abstand auf seinem blauen „Night Dream Forever“. Seine kastanienbraunen Haare flattern im Fahrtwind und die schwarze Lederjacke glänzt in der untergehenden Abendsonne. Ich atme tief durch, ziehe die frische Herbstluft in die Lungen und versuche, nur an unser Ziel zu denken. Doch der Stiel des Besens zieht ein wenig nach rechts, mein Blick huscht ungewollt zur Seite und fängt im gleichen Moment Aarons Lächeln auf, mit dem er mich ebenfalls aus seinen wundervollen Augen ansieht.
Dunkelgrün trifft auf hellblau, mein Herz bleibt fast stehen und ich kann nur mit Mühe dem hohen Strommast einer Überlandleitung ausweichen, den ich erst im letzten Moment wahrgenommen habe. Zum Glück meistert der neue Besen die Kurve mit Bravour und ich drossele die Geschwindigkeit, damit mir das nicht wieder passiert. Mit Aaron neben mir sollte ich am besten zu Fuß gehen oder gleich bewegungslos im Sessel sitzen bleiben.
„Tut mir leid, dass ich mich damals nicht mehr bei dir gemeldet habe“, spricht er mich an. „Ich war total durcheinander, weil ich solchen Mist gebaut hatte und bin erst mal abgetaucht. Mit dem ganzen Zeug hier wollte ich nichts mehr zu tun haben und ich war … ich musste noch ein paar andere Dinge für mich klären.“
„Ist schon okay, eigentlich war es mein Fehler. Ich hätte besser aufpassen müssen. Es ist ja nochmal gutgegangen. Schön, dass du wieder da bist.“
„Ich werde auch nicht mehr gehen. Die Fähigkeiten sind nun mal da und ich werde den Job so gut machen, wie ich kann. Ich hoffe, dass es dieses Mal besser läuft“, sagt Aaron und zuckt verlegen mit der Schulter. „Warte, hier würde ich gerne Halt machen. Dauert nicht lange“, sagt er und lenkt seinen blau glänzenden Feger nach unten auf ein kleines, altes Haus zu.
Notgedrungen folge ich ihm und freue mich fünf Sekunden später über die ausgesprochen weiche Landung. Beim Absteigen fällt mir der BX aus der Hand und rollt ein Stück auf Aarons fliegenden Untersatz zu. Beinahe wäre ich darüber gestolpert. Zum Glück sieht sein Besitzer nach vorne zum Garten mit den mickrigen Pflänzchen und nicht zu dem unbeholfenen Trottel hinter ihm.
Mit dem Zeigefinger schreibt Aaron das Wort „unsichtbar“ in die Luft und verschwindet fast vor meinen Augen. Ich mache es ihm nach und weiß, dass uns außer unseren eigenen Leuten nun niemand mehr sehen kann. Mit einer lockeren Bewegung aus dem Handgelenk streut mein Begleiter Wörter und Gartendünger über das ganze Grundstück. Die Wörter hat er, wie das bei uns üblich ist, zu Hause aus Zaubersprüchen kombiniert. Jedes schillert leicht durchsichtig in einer anderen Farbe und schwebt mit einem leisen Kichern durch die Luft. Erst kurz vor dem Kontakt mit dem Boden formieren sie sich wieder zu Sätzen und sickern in die Erde, bis nichts mehr von ihnen zu sehen ist.
Den Gartendünger mischen wir aus verschiedenen Blumen und Kräutern zusammen. Er alleine ist schon sehr wirkungsvoll, doch gemeinsam mit den Wörtern zeigt er seine ganze Kraft. Innerhalb weniger Minuten erscheint der Garten in voller Pracht. Die Pflanzen sind prall und saftig grün. Halbverwelkte Blumen blühen um die Wette und selbst an den knorrigen Obstbäumen sind nun Früchte zu entdecken.
„Die alte Dame, die hier wohnt, kann sich nicht mehr gut um den Garten kümmern“, erklärt Aaron mit einem verlegenen Schulterzucken. „Ich weiß, dass das nicht zu unserem Job gehört, aber ich wollte ihr eine Freude machen.“
Mir geht das Herz auf. Der Kerl kann einfach nichts falsch machen – im Gegensatz zu mir, der ich vor lauter Verzückung über einen kleinen Kürbis stolpere. Aaron packt mich am Arm und verhindert größeres Ungemach. Peinlich ist es trotzdem. Ich scheine genau an der Stelle weiterzumachen, an der ich vor vier Jahren aufgehört habe.
„Danke … hast du gut gemacht … beides“, stottere ich aufgeregt, denn Aarons Berührung jagt mir einen Stromschlag durch den Körper.
Der Mann strahlt über das Lob und ich wackele zu den Besen zurück, die ich irritiert anstarre. Sie liegen mit wenigen Zentimetern Abstand exakt nebeneinander und wenn mich nicht alles täuscht, schimmert ein Hauch von dem Königsblau des einen auf dem schrillen Pink des anderen Exemplars. Ich hätte schwören können, dass der BX-Super14 vor zehn Minuten noch woanders lag. Ich schreibe das Wort „sichtbar“ in die Luft und bücke mich hinunter zum Besenstiel.
Beim Hochheben habe ich für einen Moment das Gefühl, als sei das Ding schwerer geworden, doch dann vergesse ich über dem schwunghaften Start die seltsamen Eindrücke. Wenn er nicht so eine scheußlich kitschige Farbe hätte, könnte ich mich glatt für diesen Renner erwärmen. Wir landen unbemerkt in einer kleinen Seitengasse in der Nähe des Marktplatzes und führen unser kleines Unsichtbarkeitsritual durch. Die Besen, die ebenfalls für andere nicht zu sehen sind, lehnen ordentlich an der Innenwand einer Kellertreppe, soll ja keiner drüberstolpern – verliebte Deppen wie ich zum Beispiel.
Das Café, in das wir mit anderen Gästen unauffällig hineingehen, macht einen frischen, modernen und doch gemütlichen Eindruck. Es liegt Liebe in der Luft, das spüre ich, und mit einem kurzen Seitenblick zur Theke, hinter der zwei Männer stehen und lachend Gläser sortieren, ist mir klar, warum. Um diese beiden müssen wir uns nicht kümmern.
Unsere „Opfer“ sitzen bereits an einem kleinen Tisch in der Ecke und unterhalten sich. Der eine mit klaren, selbstbewussten Worten, der andere nuschelt leise vor sich hin. Aaron und ich nicken uns zu. Wir sind uns stillschweigend einig, wer von den beiden einen kleinen Tritt in den Hintern braucht und die nötigen Zutaten haben wir mitgebracht. Aus einer Phiole lasse ich einen winzigen Tropfen meiner Spezialmischung in Leonardos Espresso fallen. Aaron pustet sachte ein paar verzauberte Wörter dazu und das Ganze versinkt als leuchtender Glitzernebel um die eigene Achse wirbelnd im Getränk.
Leonardo und Ferris sind von ihrem Gespräch abgelenkt und auch sonst hat niemand etwas von der Aktion bemerkt. Wir warten am Eingang, bis Leonardo einen Schluck getrunken hat und huschen heimlich wieder hinaus. Nun müssen wir den Dingen ihren Lauf lassen. Wenn das Bild der beiden Männer in meinem Kopf nur noch schwach präsent ist, hat alles geklappt. Meistens dauert es nur einige Stunden oder Tage, bis unser Eingreifen Wirkung zeigt.
Wenige Minuten später sind wir wieder sichtbar und in der Luft. Der von Ullrich so überschwänglich gepriesene Prototyp ist mittlerweile eher blau als pink. Außerdem hat er Schlagseite: ständig zieht er nach links und ich muss mein ganzes Können aufbringen, um geradeaus zu fliegen. Da wird mein Kumpel einiges nachbessern müssen.
„Stimmt was nicht? Du wirkst so abwesend“, ruft Aaron mir von links zu.
„Der Besen hat noch ein paar Macken. Ich werde Ullrich den Hals umdrehen, falls ich mir nicht vorher die Knochen breche mit dieser Schrottmühle“, knurre ich zurück.
„Aber du siehst rattenscharf aus auf dem Teil“, antwortet Aaron und zwinkert mir zu.
Fuck! Der Kerl macht mich ganz wuschig. Mir wird heiß, meine Hände schwitzen und das Holz des Besens drückt unangenehm im Schritt. Garantiert bin ich im Gesicht auch noch rot wie eine Verkehrsampel. Bevor Aaron das bemerkt und ich womöglich Blödsinn stottere – oder noch schlimmer, die Wahrheit gestehe -, schreibe ich schnell „unsichtbar“ in die Luft. Besser gesagt, ich versuche es. Das Gekrakel ist nicht zu entziffern, alles wackelt und schon ist es passiert – der Scheißbesen zieht nach links, den großen Baum mit dem breiten Stamm sehe ich erst zu spät und dann gar nicht mehr. Um mich herum wird es finster.
Als ich aufwache, nehme ich als erstes einen unglaublich leckeren Geruch wahr. Es duftet nach Leder und Aaron. Von weitem höre ich ihn sprechen: „Elias, Liebling, sag doch was. Mach wenigstens die Augen auf. Bitte ...“. Das ist nicht real. Bestimmt bin ich gestorben, aber wo bleibt der Tunnel mit dem dämlichen, weißen Licht, von dem jeder labert? Vorsichtig öffne ich die Augen. Wer weiß, was mein chaotischer Kopf sich an Halluzinationen ausgedacht hat. Den Schmerzen nach zu urteilen, sind sämtliche Hirnzellen Amok gelaufen.
„Bleib ganz still liegen“, flüstert die Aaron-Fata-Morgana und streichelt vorsichtig über meine Wange.
Jetzt bin ich mir sicher: das ist ein Traum, ein wundervoller Traum. Vielleicht sollte ich öfter einen Baum rammen – mit Anlauf. Leider halte ich es im Liegen nicht lange aus. Ich setze mich mühsam hoch, begegne direkt Aarons besorgtem Blick und sehe ein paar Zentimeter weiter unten auf seinen sinnlichen Mund.
„Handy ... ich brauche mein Handy … Ullrich ...“, flüstere ich benommen. Mein Schädel hat beschlossen, am Stück zu bleiben, doch er pocht höllisch. Sicher denkt er sich gerade neue, trügerische Bilder und Worte aus, um mich zu verarschen.
Aaron legt seinen starken Arm um meine Schultern und lächelt glücklich. „Du bist wieder da. Mann, hast du Schwein gehabt.“
Was ich gern tun WÜRDE, weiß ich. Was ich stattdessen tun MUSS, auch. Aaron reicht mir sein Handy und mit zitternden Fingern wähle ich Ullrichs Nummer.
„Ullrich? Welches Höllengerät hast du mir da angedreht? Es zieht nach rechts und links und ist jetzt blau und mein Kopf platzt gleich und … Wie? … WAS? … BIST DU WAHNSINNIG GEWORDEN? Aua … Nein … Nein, es geht schon … Ja … Ja, mache ich.“
Oh Mann, Ullrich ist der beste Freund, den man haben kann. Nur - wie soll ich das alles Aaron erklären? Der sitzt neben mir auf dem kalten Boden und lächelt mich immer noch an. Wenn das stimmt, was Ullrich mir eben verraten hat, dann bin ich der glücklichste Mensch der Welt. Aber ob Aaron das genauso sieht?
„Was hat Ullrich gesagt?“, fragt er prompt.
Nervös kaue ich auf meiner Unterlippe herum. „Er hat gesagt, dass … dass ...“, ich muss tief einatmen, „... dass er den `BX-Super14 Express´ mit einer Speziallösung namens `Romance Edition´getränkt hat. Der Besen findet von alleine den Menschen, der zu seinem Besitzer passen könnte und wenn beide ineinander verliebt sind, nimmt er die Farbe von dessen Besen an.“ Hilflos zucke ich mit den Schultern. Keine Ahnung, was Aaron mit dieser schrägen Information nun anfängt.
Aaron strahlt wie ein Honigkuchenpferd. „Weißt du, warum ich damals diesen blöden Fehler gemacht habe?“ Ich schüttele langsam den Kopf. Schneller geht nicht, sonst falle ich wegen durcheinandergewürfelten Hirnzellen und sehnsüchtig taumelndem Herz wahrscheinlich ins Koma. „Ich bin mit meinen Gefühlen für dich nicht klargekommen und war ständig abgelenkt. Aber jetzt weiß ich, was ich will und ich hoffe, dass das mit dem Besen und dir stimmt und ...“ Aaron bricht ab und kommt mir näher. Fasziniert versinke ich in seinen dunkelgrün leuchtenden Augen, seine Lippen berühren meinen Mund und seine Zunge sucht stürmisch nach meiner – ich brauche keinen Besen mehr, um in den Himmel zu fliegen.
*** Ende ***
Texte: Sämtliche Rechte am Buch und an den Figuren liegen bei der Autorin.
Bildmaterialien: pixabay/Savannah Lichtenwald
Tag der Veröffentlichung: 29.10.2014
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
„Magie ist gleich Wille mal Vorstellung minus Zweifel.“ Andreas Tenzer