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Prolog

November 1687, Konstantinopel

 

Süleymann saß auf dem mit bunten Kissen ausgelegten Diwan und trank mit Honig gesüßten Kaffee. Ein ganz besonderer Genuss, den er sich nur selten gönnte, war doch das belebende Getränk nicht gern gesehen beim Sultan. Er ließ seinen Blick über den grünen, mit Buchsbäumen umsäumten Hof des Kafes, des Prinzengefängnisses, gleiten. Das Grün verbarg nur mehr schlecht als recht die hohen, grauen Mauern des Harems, den er seit sechsundvierzig Jahren sein Zuhause nannte.

Nur aus Erzählungen wusste er um die Schönheit Konstantinopels, seiner Heimatstadt. In seinen Träumen stellte er sich das Glitzern der Sonne in den Meereswogen vor, die Lieblichkeit der Rosengärten und Parks. Doch er selbst hatte die Mauern des Topkapi-Palastes niemals verlassen. Dies erlaubte Sultan Mehmed nicht.

Süleymann fiel es schwer, sich den Sultan, seinen Bruder, vorzustellen, wie er einst selbst das Kafes bewohnt haben musste. Sein Bruder war nur wenige Monate älter als er selbst und bereits in seinem sechsten Lebensjahr zum Sultan ernannt worden. Er konnte sich kaum noch an ihn erinnern.

Obschon er sich ab und an wünschte, die Mauern seines Zuhauses überwinden zu können, so hätte er um nichts in der Welt mit dem Sultan tauschen wollen.

Der Prinz fuhr sich über seinen vollen, allmählich ergrauten Bart und runzelte verwirrt die Stirn. Lautes Stimmengewirr drang von den Straßen durch die Tore des Kafes. Unruhig rutschte Süleymann auf dem Diwan hin und her. Seit Tagen herrschten große Unruhen in den Straßen der Hauptstadt. Er hatte von Mordanschlägen auf Sultan Mehmed gehört. Auch seine Konkubinen und Eunuchen verhielten sich in letzter Zeit sonderbar. Süleymann ahnte, warum. Sie hatten Angst vor der Zukunft. Eine mehr als berechtigte Besorgnis. Allah allein wusste, wie sehr sich Süleymann davor fürchtete, für die Putschversuche von seinem Bruder zur Rechenschaft gezogen zu werden. Doch beim Allmächtigen – er hatte fürwahr nichts damit zu tun! Der Sultan würde ihm indessen keinen Glauben schenken, so viel war gewiss.

Die Stimmen vor den Toren wurden lauter. Der Prinz überlegte, ob es nicht besser wäre, sich in seine privaten Gemächer zurückzuziehen. Da wurden die Türen zum Hof aufgerissen und ein ganzer Trupp von Soldaten und edel gekleideten Herren stürmten in den Kafes.

Süleymann fuhr hoch und ließ vor Schreck seine messingbeschlagene Kaffeetasse fallen. Die braune Brühe spritzte über das bodenlange, weiße Gewand des Prinzen und hinterließ dunkle Flecken auf den Kissen des Diwans. Polternd und klirrend rollte die Tasse über den Terrassenboden unter dem schattenspendenden Baldachin.

Süleymanns erster Gedanke war, sich in seinen Gemächern zu verstecken. Aber in dem Moment besann er sich eines Besseren. Er war immerhin ein Prinz! Und eines wusste er nur zu gut: Seine Mutter hätte ihm ein ungebührliches Verhalten niemals verziehen.

Also riss er sich zusammen, straffte die Schultern und blickte dem edel gekleideten Mann vor ihm direkt in die Augen. Er betete zu Allah, dieser möge seine Furcht nicht bemerken. „Schickt Euch mein Bruder?“, begehrte er in Erfahrung zu bringen und hoffte, das Zittern in seiner Stimme würde niemandem auffallen.

Der Mann, flankiert von fünf bis an die Zähne bewaffneten Soldaten, schaute Süleymann mit einer Mischung aus Verblüffung und Abneigung an. Plötzlich senkte er demütig den Kopf und sprach mit klarer, lauter Stimme, sodass es für jeden Prinzen im Kafes hörbar war: „Ich bin gekommen, um euch über die Absetzung eures Bruders Mehmed dem Vierten in Kenntnis zu setzen.“

Süleymann starrte den fremden Mann mit offenem Mund an. Was sollte er darauf schon erwidern? Hatte man ihn etwa gar umgebracht? Oder war ein erneuter Putsch verantwortlich für die Absetzung seines Bruders?

Prompt fuhr der Mann fort: „Es ist mir eine Ehre, Euch mittzuteilen, dass Ihr, Süleymann, der neue Sultan seid!“

Unruhig verlagerte Süleymann sein Gewicht von einem auf den anderen Fuß, doch er sagte nichts. Dies konnte nur ein übler Scherz sein!

Der Mann schnipste mit seinem Finger und Süleymann zuckte verschreckt zusammen. Einer der Soldaten kam auf Süleymann zu, der hastig zurückwich. Das war eine List! Eine üble Farce seines Bruders! Die Soldaten würden ihn bestimmt umbringen.

„Fasst mich nicht an!“, herrschte er den Soldaten an, der sich ihm näherte.

Der Edelmann trat nun ebenfalls einen Schritt heran und runzelte brüskiert die Stirn. „Mein Prinz, seid versichert, dass Euch niemand etwas zuleide tun will. Dies“, er wies auf das blaue Kleidungsstück in des Soldaten Händen, „ist der Kaftan des Sultans. Es gebührt nun Euch, ihn zu tragen.“ Und dann tat der Mann etwas, was Süleymann nicht in seinen kühnsten Träumen erwägt hätte – er verneigte sich mit der Stirn bis auf den kalten Marmorboden und zollte ihm den Respekt, der ihm von Geburt an gebührte.

„Schnell!“, stieß Süleymann um sich blickend hervor. Er griff hastig nach dem blau-goldenen Kleidungsstück. „Bringt mich von hier fort!“ Er fasste den Mann grob beim Arm und zog ihn auf die Füße. „Rasch! Bringt mich von hier weg, und tragt Sorge, dass keiner meiner Brüder und Neffen herauskommt! Sonst werden sie mich ganz bestimmt töten!“, wisperte er bestürzt.

Der Edelmann deutete erneut eine demütige Verneigung an. „Wie Ihr wünscht, mein Gebieter.“

 

Kapitel 1 – 10. November 1688

Wien

 

Mustafa betrat wie jeden Morgen als Erster das Blaue Flascherl, das Kaffeehaus der armenischen Familie Theodat. Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen, als er über den Postboteneingang in die Küche gelangte und ihm vertrauter Kaffeeduft entgegenschlug.

Doch plötzlich beschlich den Türken ein merkwürdiges Gefühl. Etwas stimmte hier nicht! Vorsichtig öffnete er die Tür zum Schankraum. Kalter Wind schlug ihm entgegen und ließ den Kriegsgefangenen frösteln. Mustafas Herz schlug schneller, als er das Chaos im Schankraum erblickte. 

Eine Böe trug das Laub und den Dreck der Straßen in die Stube. Die Tische und Stühle lagen zertrümmert auf dem mit Scherben bedeckten Steinboden. Mustafa ballte die Hände zu Fäusten. Der Anblick der eingeschlagenen Butzenscheiben schnürte ihm die Kehle zu und er kämpfte gegen den brodelnden Zorn in seiner Brust. Das hatte die Frau Kaffeesiederin nicht verdient! Wäre er noch ein Krieger der osmanischen Armee gewesen, so hätte er seinem Zorn freien Lauf gelassen, hätte all diese ungläubigen Schweine niedergeschlagen, die es wagten, der Frau Kaffeesiederin so etwas anzutun. Doch jetzt war er ein Sklave, der sich beherrschen und unterordnen musste.

Er atmete tief ein und trat weiter in die Schankstube des Kaffeehauses. Bei jedem Schritt knirschten die Scherben unter seinen Schuhen und schnitten sich dabei tief in seine Seele.

Er hob einen der umgekippten Stühle auf und versuchte überfordert, Ordnung in das Chaos zu bringen.

Ein erstickter Aufschrei ließ den Türken herumfahren. Die junge Frau Kaffeesiederin stand in der Tür zur Schankstube und hielt sich mit vor Schreck geweiteten Augen die Hände vor den Mund. Wie versteinert stand sie da und starrte auf das, was vom Blauen Flascherl noch übrig geblieben war.

Hinter ihr trat Osman ein, derbe, türkische Flüche auf den Lippen. Auch Osman war ein türkischer Kriegsgefangener, den Areg Theodat noch vor seinem Tod eingestellt hatte.

Mustafa räumte die Scherben der Butzenfenster beiseite und beobachtete seinen Freund Osman, der sich verlegen an die Frau Kaffeesiederin wandte.

Tapfer wischte sich die Frau die Tränen aus den Augenwinkeln und rang um Fassung.

„Ich werde Bretter besorgen“, meinte Osman befangen und deutete zu den zerstörten Fenstern. „Es könnte jeden Moment der Winter einbrechen.“

Die Frau Kaffeesiederin nickte und kämpfte sichtlich mit der Verzweiflung. „Tu das.“ Sie schluckte heftig und mit hörbarem Beben in der Stimme sagte sie pragmatisch, er solle den Tischler auch gleich fragen, wie lange es denn dauern würde, die Fenster zu reparieren.

Osman nickte und war bereits auf dem Weg in Richtung Ausgang, als er nochmals innehielt und ihre Herrin mit traurigen Augen ansah. „Tut mir leid für Ihren Verlust, Frau Kaffeesiederin. Ich wünschte, ich wäre früher hier gewesen und hätte diese Taugenichtse erwischt!“

Die Frau Kaffeesiederin schenkte ihm ein dankbares Lächeln. „Schon gut, Osman. Dich trifft ganz bestimmt keine Schuld.“

Der Türke verließ das Blaue Flascherl und ließ Mustafa mit der Frau allein zurück. Die Frau Kaffeesiederin band ihre schwarzen, langen Haare zu einem Zopf und setzte sich wie gewöhnlich die graue Haube auf. Mustafa betrachtete fasziniert das Aussehen der jungen Frau. Die Form ihrer Augen und die breiten Wangenknochen musste sie von ihrer türkischen Mutter geerbt haben. Die Farbe ihrer Haut und die blauen, wassertiefen Augen stammten jedoch deutlich von ihrem Vater.

In diesem Moment rauschte Gohar, eine verhärmte, allseits ungeliebte Theodat, in den Raum. Sie trug noch immer Schwarz, nicht gewillt, den Ausdruck der Trauer um ihren Sohn, den ehemaligen Besitzer des Kaffeehauses, abzulegen. Auch sie starrte mit Entsetzen auf die zerstörte Einrichtung des Blauen Flascherls. Mit ihrer knorrigen Hand umfasste sie das Kruzifix an ihrem Hals und bekreuzigte sich sogleich vor ihrem Gott. Mit tiefer Zornesfalte auf der Stirn wandte sie sich jäh an die junge Frau an ihrer Seite.

„Yana“, fauchte sie. „Ich verstehe ja, dass dir das Schicksal des Volkes deiner Mutter am Herzen liegt.“ Sie deutete missbilligend auf Mustafa, der sich darum bemühte, möglichst beschäftigt zu wirken, und fuhr fort: „Aber du siehst ja selbst, was für Auswirkungen diese Kindereien auf unser aller Leben haben!“ Sie holte tief Luft und baute sich vor Yana zu voller Größe auf. Ihre dürren, knorrigen Finger krallten sich in deren Arm. „Ich bitte dich“, sprach Gohar bedrohlich leise. „Um Aregs willen, belass es dabei!“

Das war keine Bitte. Das war ein Befehl und Mustafa konnte sich nur zu gut vorstellen, was für ein Gezeter die Frau veranstalten würde, sollte es die Frau Kaffeesiederin wagen, sich ihr entgegenzusetzen.

Über das Gesicht der Kaffeesiederin huschte ein Ausdruck des Schmerzes – bei der Erwähnung ihres verstorbenen Gatten. Doch deren Schwiegermutter schien dies nicht zu bemerken. „Du und Areg, ihr konntet schon vielen Männern und Frauen dabei helfen, eine gute Anstellung zu erhalten“, fuhr Gohar ungerührt weiter. „Und Kardinal Kollonitsch wird bestimmt weiterhin alles in seiner Macht Stehende tun, um die Kinder zu ihren türkischen Müttern zurückzuführen.“ Ihre Lippen kräuselten sich. „Aber diese Familie verkraftet keine weiteren Angriffe!“

Die Frau Kaffeesiederin blickte wehmütig auf das, was vom Kaffeehaus übrig geblieben war. In einer verzweifelten Geste fuhr sie sich über das Gesicht. „Du hast recht, Gohar. Es tut mir leid, dass ich das Wohl der Familie hintangestellt habe.“ Unvermittelt zog sie ihre Schwiegermutter in die Arme, was Gohar überraschenderweise zuließ.

Mustafa entschied, dass dies der Moment war, um sich unauffällig aus dem Staub zu machen. Gut möglich, dass Yanas Anstrengungen, den Türken zu helfen, den Wienern nicht gefiel und sie ihr deshalb das Leben schwer machten. Aber dieser Übergriff – da war sich Mustafa sicher –, da steckte womöglich mehr dahinter.

 

***

 

Mustafa beobachtete aus einiger Entfernung das rege Treiben im Blauen Flascherl. Die Nachbarn halfen tatkräftig beim Wideraufbau mit, schleppten gar Tische und Stühle heran, damit der Wiedereröffnung nichts mehr im Wege stand.

Sogar der Bürgermeister brachte mithilfe eines Dieners einen mit Samt bezogenen Stuhl vorbei und wünschte der Kaffeesiederin alles Gute. Verächtlich spie Mustafa auf den feuchten Boden vor dem Schankhaus. Hätte der gute Mann nur bei der Hinrichtung Areg Theodats genauso viel Interesse und Mitgefühl gezeigt! Doch niemand hatte den Theodats geholfen, als es darum ging, den Kaffeehausbesitzer zu begnadigen. Mustafa war sich sicher, dass mehr hinter der Verurteilung und Hinrichtung des jungen Theodats steckte.

Areg und dessen Onkel Johannes hatten für das Wohl der Protestanten in Eperjes, in Ungarn, gekämpft. Sie hatten verlangt, dass den willkürlichen Hinrichtungen dieser unschuldigen Menschen Einhalt geboten würde. Die obrigkeitlichen Gewalten hatten sie des Verrats bezichtigt. Johannes konnte flüchten, doch Areg, sein Neffe, wurde verhaftet und zum Tode verurteilt. Eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit, unter der hauptsächlich die Frau Kaffeesiederin zu leiden hatte.

Es dauerte lange, bis Mustafa seine Wut so weit im Griff hatte, dass er das Blaue Flascherl wieder betreten konnte. Die Sonne war bereits untergegangen, die fleißigen Helfer längst nach Hause verschwunden. Nur Georg Kolschitzky, ein alter Freund der Familie, war noch geblieben und wischte den letzten Staub von den Tischen. Froh, dass ihm niemand Beachtung schenkte, verschwand Mustafa in der Küche, setzte Wasser auf und stellte zwei Tassen auf ein silbernes Tablett. Hier, in Wien, machte er nur selten Kaffee. Meist war dies Aufgabe der Köchin oder die Frau Kaffeesiederin kümmerte sich darum. Für Mustafa war diese seltene Gelegenheit eine liebevolle Erinnerung an seine türkische Heimat und seine Familie. Er schüttete den frisch gemahlenen Kaffee in das Ibrik, ein langstieliges Kännchen aus Kupfer, und gab einen halben Löffel Honig dazu. Dann füllte er das Ibrik mit Wasser, stellte es aufs Feuer und wartete. Es dauerte nicht lange, bis der Kaffee seinen süßlich-herben Duft verströmte. Mustafa sah vor seinem geistigen Auge seine Mutter, seine große Schwester und deren Kinder vor sich. Er hörte das laute Lachen seiner kleinen Neffen und er sah das zufriedene Lächeln seines Vaters, der die beiden bei ihrem wilden Spiel beobachtete. „Mustafa“, hörte er die sanfte, besorgte Stimme seiner Mutter.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Mia Mazur
Bildmaterialien: Fotolia © Diana Savich/© yuliakotina / Portrait of beautiful woman in traditional clothes of India © Diana Svich - stock.adobe.com
Cover: Mia Mazur
Lektorat: Gaby Hoffmann
Satz: Mia Mazur
Tag der Veröffentlichung: 28.03.2018
ISBN: 978-3-7487-5337-7

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