Cover

Die Liste

Ellie sass am Küchentisch in der beengten 3-Zimmer-Wohnung ihrer Eltern in Berlin Reinickendorf. Das Haus war eines der vielen Nachkriegsbauten, an dessen Fassade eine Plakette mit der Aufschrift «Aufbauprogramm 1962» prangte.

Ellie lauschte mit einem Ohr der Unterhaltung zwischen Mutter und Schwester. Sie spülten gemeinsam das Geschirr ab. Ohne Ellie.

Nervös fuhr Ellie über die Rundungen am Henkel der «Ich habe die beste Oma der Welt» – Tasse und versuchte vergeblich das Zittern ihrer Beine in den Griff zu bekommen. Sie konzentrierte sich auf das gleichmässige Ticken der vergilbten Wanduhr über der Küchentür und lauschte dem monotonen Rauschen der Hauptstrasse. Sie fixierte die Kaffeeflecken auf dem Plastiktischtuch, zählte die bunten Blumen darauf. Doch auch das beruhigte ihre Nerven nicht.

Das einschläfernde Geschnatter, durchdrungen von gelegentlichem Gelächter der beiden Frauen, drang nur wie durch Watte an ihre Ohren. Sie fühlte sich ausgeschlossen, doch das machte ihr nichts aus, vielmehr beruhigte sie diese Tatsache. Es bedeutete Normalität. Und Normalität war im Moment die beste Medizin für Ellie.

Sie beobachtete wie ein stiller Zuschauer das Schauspiel des harmonischen Miteinanders, registrierte die energischen, fast schon hektischen Bewegungen ihrer rundlichen Mutter, und die eleganten Gesten ihrer langbeinigen, perfekt geformten Schwester.

Ellie blickte frustriert und enttäuscht an ihrer eigenen Erscheinung hinab. Sie konnte höchstens als durchschnittlich beschrieben werden. Ihrer älteren Schwester konnte sie in Punkto Mode und Schönheit nicht im Mindesten das Wasser reichen.  

Sie musterte Lauras makelloses, ebenmässiges Gesicht und deren vollen roten Lippen. Mit ihren aschblonden, schulterlangen Haaren hätte sie für jedes Volumenshampoo Werbung machen können. Ihre Kleidung strahlte Eleganz aus, wirkte aber dennoch jung und modern. Laura war nur zwei Jahre älter als sie selbst, und dennoch fühlte sich Ellie in jeder Beziehung unterlegen. Dass ihre Eltern dergleichen Meinung waren, daran gab es für Ellie keine Zweifel. Das begann ja schon bei ihrem Namen: Elleonore. Wer gab seinem Kind schon den Namen Elleonore? Nur alte Omis hiessen Elleonore!

Jan. Jan hatte sich nie an ihrem Namen gestört. Im Gegenteil, er hatte ihr immer beteuert, dass er sich gar keinen anderen Namen für sie vorstellen könne. Das dies für ihn der Schönste der Welt sei; da es ihrer ist.

Ellie stöhnte. Na toll. Jetzt war ihr schlecht.

Verzweifelt kniff sie die Augen zusammen. Sie hatte heute nicht an ihn denken wollen. Doch gegen die Flut an Bildern und Erinnerungen in ihrem Kopf, konnte sie nicht ankämpfen.

Sie sah sein makellos rasiertes Gesicht, die Lachfältchen an den Augen und das spitzbübische Glitzern darin, seine dünnen Lippen, die stets zu einem Lächeln geformt waren. Sie hörte seine warme Stimme, die ihr Liebkosungen zuflüsterten und sein sorgloses, ansteckendes Lachen. Unwillkürlich hoben sich ihre Mundwinkel.

„Lörchen! Hörst du mir überhaupt zu?“

Ellie konnte nur erahnen, wie rot ihre Ohren glühten. „Tschuldigung“, nuschelte sie. „War in Gedanken.“

Beatrice ignorierte die geistige Umnachtung ihrer Tochter und meinte stattdessen Kopfschüttelnd: „Hast du deine Schwester nicht gehört? Sie hat Recht, du solltest wirklich öfters aus dem Haus gehen. Du lässt dich gehen.“

Ellie war sich nicht sicher was sie mehr verunsicherte, die offensichtliche Unzufriedenheit der Mutter ihr gegenüber, oder deren ersichtlichen Stolz auf Laura.

„Ich gehe ja aus dem Haus“, versuchte sie sich zu rechtfertigen und ignorierte den Schmerz in ihrer Brust.

„Damit meine ich nicht die Post zu holen und dem Pizzaboten den Karton abzunehmen.“

Ellies Gesicht fühlte sich an wie ein rotes Heizkissen. Sie fühlte sich ertappt.

„Er ist erst ein Jahr tot, Mama. Ich brauche noch etwas Zeit …“ Geistesabwesend liess sie den schmalen Goldring an ihrem Finger kreisen.

„Wir alle vermissen deinen Jan, und mein Gott, du weisst wie sehr wir ihn alle geliebt haben, aber es sind schon bald zwei Jahre, und abgesehen davon ist ein Jahr eine lange Zeit!“ Beatrice stand mit in die fülligen Hüften gestemmten Händen vor ihr. Nur noch der Tisch stand zwischen ihr und der Mutter, schütze sie vor der Schelte, die ihr ganz offensichtlich bevorstand. Die Stirn in Falten gelegt und den Mund gespitzt, blickte Beatrice ihre Tochter an.

Ellie fühlte sich zurückversetzt in ihre Kindheit, erinnerte sich an nicht aufgeräumte Zimmer, an Streit mit Laura und Tränen, wenn es darum ging den Brokkoli aufzuessen. Aber sie war kein Kind mehr, versuchte sie sich selbst zuzureden. Und dennoch übten Beatrices Worte eine gewaltige Macht auf sie aus.

„In einem Jahr kann so Vieles passieren“, tadelte Beatrice ihre jüngste Tochter und machte eine kurze Pause. „In einem Jahr kann man Kinder bekommen.“ Mit einem seligen Lächeln auf den Lippen deutete sie auf die Zweifachmutter Laura.

Ein heftiger Schmerz durchfuhr Ellies Brust und eine eiserne Faust legte sich um ihr Herz. Wie sehr hatte sie sich ein Kind mit Jan gewünscht. Doch sie hatten sich dafür entschieden, noch ein paar Jahre zu warten. Sie war schliesslich erst 26, sie hatten noch Zeit ohne Ende! Ein fataler Irrtum.

„Oder den Schulabschluss machen“, mischte sich nun Laura ein, die sich bisher wohlwissentlich aus der Unterhaltung gehalten hatte.

Ellie war sich bewusst, dass Laura ihr mit dem Themenwechsel nur helfen wollte, doch damit goss sie nur Öl ins Feuer und bot ihrer Mutter die Optimale Vorlage, um ihr deutlich vor Augen zu halten, was sie in ihrem Leben bisher alles falsch gemacht hatte.

„Ja, deinen Schulabschuss! Den wolltest du doch nachholen, nicht wahr?“

Laura blickte mit einer stumme Entschuldigung auf den Lippen zu Ellie rüber. Ellie lächelte ihr zu. Ihre Schwester konnte nichts dafür, so war Beatrice einfach.

„Das Semester fängt im Sommer neu an, das wäre doch der optimale Moment. Irgendwann musst du auch mal etwas durchzeihen, in deinem Leben.“
Ellie schwieg. Es hatte keinen Sinn ihr zu widersprechen. Stattdessen verkroch sie sich in ihr Schneckenhaus und hüllte sich in den Mantel des Schweigens.

„Du musst nach vorne blicken!“, redete die Mutter eindringlich auf sie ein. „Und du musst besser auf dich achtgeben. Wie du heut schon wieder ausschaust … Wirklich, Kind.“ Sie fasste mit zusammengekniffenem Mund nach ihrem Haar und gab einen schnalzenden Ton des Missfallens von sich. „So findest du nie einen neuen Mann.“

Ellie schob energisch die Hand ihrer Mutter fort und erhob sich. „Du hast Recht Mama.“ Sie presste den Kiefer so fest zusammen, dass es knackte. Krampfhaft darauf bedacht, nicht die Fassung zu verlieren, stellte sie die Omi-Tasse in den Schüttstein, schluckte den Ärger und die Tränen hinunter und drehte sich mit einem Lächeln zu Beatrice um. „Und deshalb werde ich jetzt nach Hause gehen und mich um alles kümmern.“

Laura stand mit hängenden Schultern am Eingang der Küche und bedachte sie mit einem Mitleidigen Blick. Ellie wusste dass ihre Schwester es nur gut meinte, dennoch gab ihr dies den Rest. Allein Lauras Anwesenheit genügte, um ihr deutlich vor Augen zu führen, in welch perfekten Bahnen deren Leben verlief, und wie erbärmlich es hingegen um ihre eigene Zukunft stand. Sie zwang sich zu einem Lächeln, als Laura sie in die Arme zog. „Macht euch keine Sorgen um mich. Ich komme schon klar“, log sie und küsste die Mutter auf die Wange.

Beatrice hob skeptisch eine Braue. „Nimm wenigstens etwas zu Essen mit“, meinte sie mit einem Anflug von Sorge in der Stimme und drückte ihr eine Tupperdose mit Gulasch und Klössen in die Hand. „Das Fastfood tut dir nicht gut.“

Ellie nickte ergeben und verstaute die Dose in ihrer Tasche. Aus dem Wohnzimmer drang das Gemurmel des Nachrichtensprechers und als sie das Zimmer betrat schlug ihr ein unangenehmer Alte-Leute-Geruch entgegen. Das kalte, bläuliche Licht des Fernsehers flackerte über das fahle Gesicht ihres Vaters und liess ihn Geisterhaft aussehen. Die Leicht herabhängenden Lippen, das beinahe Geschlossene Linke Auge und sein nutzlos herabhängender Arm fiel unter den gegebenen Umständen kaum auf. Die Bierdose in seiner andern Hand versuchte Ellie zu ignorieren, sie sagte sich: Er ist ein alter, gebrochener Mann. Er kann nichts für seine Lethargie. Der Schlaganfall war schuld. Und dennoch nagte der leise Zweifel an ihr, ob nicht sein Hang zur Resignation und Frustration ein Grossteil zu seiner Verfassung beitrug.

Als sie ihm mitteilte, dass sie nun gehen werde, kam keine Reaktion. Nur das leise, schwere Schnauben verriet, dass er sie überhaupt gehört hatte.

Froh, dem beklemmenden Gefühl, dass sie jedes Mal bei einem Besuch bei den Eltern vereinnahmte, entfliehen zu können, trat sie eilig hinaus in den Gang des Mehrfamilienhauses. Wie immer roch es nach einer Mischung aus blumigem Wasch- und ätzendem Bleichmittel.

Fahrig drückte sie den Knopf für den Lift und winkte Mutter und Schwester ein letztes Mal zu, fest darauf konzentriert, die aufkommende Feuchtigkeit in ihren Augenwinkeln zurückzudrängen. Ungeduldig drückte sie ein zweites Mal auf den Knopf, als sich der Lift endlich mit einem Rumpeln ankündigte. Erleichtert flüchtete sie sich in den Fahrstuhl, zählte die Sekunden, bis sich die Türen hinter ihr schlossen. Wie immer setzte das mulmige Gefühl in ihrem Magen ein, wenn der Lift in Fahrt kam, was ihre Angst vor engen Räumen nicht gerade milderte. Eilig stieg sie im Erdgeschoss aus, murmelte eine Entschuldigung, als sie beinahe in eine mit Wäsche bepackte Nachbarin lief.

Als sie hinaus auf die Strasse trat, begrüsste sie ein düsterer, mit dunklen Wolken verhangener April-Himmel. Ihrer Umgebung schenkte sie jedoch keine Beachtung. Sie begann zu rennen. Sie rannte so schnell und so lange, bis ihre Lungen brannten. Es war ein gutes Gefühl, ein befreiendes. Als sie die Siedlung hinter sich liess, konnte sie jedoch nicht länger an sich halten. Die Verzweiflung und Frustration brach aus ihr heraus und die Tränen des Zorns und der Trauer waren nicht länger zurückzuhalten.

Die irritierten und brüskierten Blicke der Menschen auf der belebten Einkaufsstraße bemerkte sie nicht.

Ziellos lief Ellie an den ausladenden Schaufenstern der modernen Gebäudekomplexe entlang und blieb plötzlich abrupt stehen, wäre beinahe mit einer Frau in elegantem Businesskostüm zusammengestoßen. „Passen Sie doch auf!“, schnauzte die geschäftig wirkender Frau, ehe sie sich wieder der Gesprächsperson am andern Ende der Leitung widmete und um die Ecke des gläsernen Gebäudes verschwand.

Ellie schoss das Blut in die Wangen. Sie registrierte die missfälligen Blicke der Passanten. Sie musste ein schreckliches Bild geben! Sie schalt sich selbst für ihre Tollpatschigkeit und blickte beschämt auf den Grund ihres Beinahe-Zusammenstoßes.

Aufwühlt und mit heftig klopfendem Herzen starrte sie auf das graue, schlichte Schild über den Auslagen des Brautgeschäfts. Neckisch prangten die Lettern des Mery’s Couture von der Fassade und schien sie verspotten zu wollen.

In diesem Moment löste sich ein Knoten in ihr und es platzte alles aus ihr heraus: Die Tränen, die Verzweiflung, die Angst.

Wie eine Geistesgestörte heulte sie in sich zusammengesunken vor dem Schaufenster des Brautladens und ließ all ihren angestauten Gefühlen Lauf.

Sie hatte ihn so sehr geliebt, ihre Hochzeit war der schönste Tag in ihrem Leben gewesen, sie hatte geglaubt der glücklichste Mensch auf Erden zu sein. Alles war perfekt gewesen. Blassrosa Pfingstrosen, weisse Damast-Decken und ein Dach aus grünen, saftigen Blättern. Der süssliche Duft der Wiesenblumen hatte sich im Verlaufe des Abends mit den Kohlefeuern und dem Aroma des Grillguts vermischt, zauberte auch noch dem verdriesslichsten Gast ein Lächeln auf die Lippen. Es war eine warme, sternenklare Julinacht gewesen. Die Himmelslichter hatten ihnen ihr Licht gespendet, waren Zeugen ihrer tiefen, innigen Liebe gewesen.

„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, hörte sie plötzlich eine weibliche Stimme. Sie triefte nur so von Mitleid.

Rasch wischte Ellie sich die Tränen aus den Augen, drängte die Erinnerungen zurück und erhob sich energisch, sie wollte diese geheuchelte Barmherzigkeit nicht. „Nein, es geht schon“, meinte sie. Mit einem genuschelten „Entschuldigung“, ließ sie die junge, mit viel zu viel Make-up zugekleisterte Verkäuferin zurück und suchte das Weite.

Sie wollte weg, einfach nur weg! Ihr Kopf schmerzte und in ihrem Hirn überschlugen sich die Erinnerungen.

Blind vor Tränen taumelte sie durch die engen Gassen der Altstadt. Erst als sie ihr Ziel erreicht hatte, bemerkte sie, dass es regnete. In dunklen Strähnen hingen ihr die Haare ins Gesicht und hinterließen kleine Wasserfälle auf ihrem durchnässten Pullover. Mit zitternden Fingern steckte sie den Schlüssel in das ramponierte Schloss und betrat den miefenden Eingang des alten Hauses. Es roch nach nassem Hund, Bier, Kohleintopf und Urin. Aus den kaputten, mit Schmierereien verunstalteten Briefkästen quollen durchnässte Zeitungen und Werbeblätter hervor.

Die leeren Bierflaschen auf dem Boden geflissentlich ignorierend, lief Ellie die Treppe hoch, hoffte, keinem ihrer aufdringlichen Nachbarn über den Weg zu laufen.

Rasch schloss sie die Tür zu ihrer Wohnung auf und quetschte sich in den engen Gang. Die Tür schloss sich quietschend, sperrte die Welt da draussen aus Ellies kleinem, persönlichen Paradies aus.

Die Wohnung war schön. Keiner hätte erwartet in dieser Gegend, in diesem Haus, eine kleine Oase in der Tristesse vorzufinden. Es war ihrer beider kleines Paradies gewesen.

Mit zitternden Händen stellte Ellie die Tupperdose mit dem Gulasch in den Kühlschrank und warf ihre Tasche Lieblos in eine Ecke.

Während sie sich den tropfnassen Pullover über den Kopf streifte, betrat sie das Wohnzimmer. Die hohen Decken mit den eleganten Stuckaturen und die ausladenden Sprossenfenster, welche viel Licht hereinließen, verliehen dem Raum Charme.

Langsam ging sie auf einen hölzernen Sekretär zu. Ihre Mundwinkel zogen sich nach oben, als sie auf die Dokumente vor sich blickte. Sie widerstand dem inneren Drang, seine Briefe erneut zu lesen, seine Gedanken zu hören, seine Schrift zu sehen und in ihrem Kopf sein leise gemurmeltes „hmmm“ zu hören, wenn er nach den passenden Worten für einen Zeitungsartikel gesucht hatte.

Sie lief ins Schlafzimmer, ein ebenso einladender Ort wie das Wohnzimmer. Ein sanftes Gelb umgab den Raum, der grösstenteils von einem grossen Springboxbett eingenommen wurde. Vor der hohen Fensterfront hingen luftige, zartgelbe und grüne Vorhänge, die, wären die Fenster offen gestanden, lustig im Wind getanzt hätten.

Ellie warf den nassen Pulli achtlos auf den Boden und trat vor einen grossen Kleiderschrank mit Spiegeltüren. Als sie diesen öffnete, schloss sie die Augen und atmete tief ein. „Was wirst du heute anziehen?“, hörte sie seine Stimme und kurz darauf sein heiteres Lachen, da sie nie wusste, was sie anziehen sollte. Willkürlich traf sie ihre Wahl für einen formlosen, viel zu grossen Pulli, streifte ihn über und öffnete die linke Schranktür. Vor ihr erstreckten sich Kleiderbügel mit Hemden, Sakkos und Anzügen, auf den Tablaren lagen T-Shirts, Pullis und noch mehr Hemden. Zielstrebig zog sie einen dicken, dunkelblauen Kapuzenpulli aus dem Schrank und presste den Stoff an die Nase. Sein Duft war längst verflogen und doch war er in ihrer Erinnerung präsent. Sie setzte sich aufs Bett, griff nach der Fernbedienung auf dem Nachttischchen und drückte die Playtaste. Die zunächst zaghaften, sanften Töne steigerten sich in einen schnellen, energischen Rhythmus. Ellie sah ihn vor ihrem inneren Auge, wie er zu dem Lied den Takt angab und laut mitsang, hörte seine klare, wunderschöne Stimme, die Stimme eines guten aber nicht professionellen Sängers, und sah das Strahlen, das Glück in seinen Augen. Alles schien so real, so präsent, dass sie beinahe wirklich glaubte, er würde, sobald das Lied zu Ende war, sich zu ihr setzten, sie in den Arm nehmen und ihr ins Ohr flüstern, wie sehr er sie liebte.

Doch Erinnerungen verblassten. Er würde nicht zu ihr zurückkehren. Tote kehrten nicht zu den Lebenden zurück. Die Tränen rannen ihr über die Wangen und trübten ihre Sicht, als sie die Musik abstellte und in die Stille horchte. Es war stets nur ein kurzer Moment des Glücks, wenn sie in ihren Erinnerungen schwelgte. Die Realität holte sie nur als zu schnell und grausam ein.

Fahrig strich sie sich das nasse Haar aus der Stirn, rannte in die Küche, riss die Schubladen auf und holte einen grossen Müllsack hervor. Zurück im Schlafzimmer schmiss sie wahllos irgendwelche Kleider hinein. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sich der Schrank immer mehr leerte, bis schliesslich nichts als Leere das plötzlich bedrohlich wirkende Möbelstück füllte. Einsam baumelten die Kleiderbügel an der Stange und klimperten leise. Nichts mehr liess darauf schliessen, dass dieser einst die Garderobe eines jungen, intelligenten und zielstrebigen Menschen beherbergt hatte. Ellie starrte auf den dunkelblauen Kapuzenpulli in ihren zitternden Händen. Sie brachte es nicht fertig, diesen in die Tüte zu stecken.

Die innere Unruhe und der Trennungsschmerz liessen ein klein wenig von ihr ab, als sie den Pulli überstreifte und sich dabei vorstellte, es wären seine Arme, die sie eng umschlungen hielten. Als sie die Hände in die breiten Taschen des Pullis steckte, hielt sie überrascht inne. Sie fühlte kühles, weiches Leder. Ein kleines, in gelbes Leder gebundenes Notizbuch lag in ihren Händen. Das Herz pochte ihr bis zum Hals, die Luft um sie schien zu flirren und kleine helle Sterne tanzten vor ihrem Sichtfeld. Sie versuchte bewusst und ruhig zu atmen, wollte um jeden Preis die Panikattacke abwenden. Kraftlos liess sie sich auf das Bett gleiten und starrte auf das ihr bekannte Notizbuch. Sie löste das braune Lederband, dass die Seiten zusammenhielt und öffnete das Büchlein.

 

Für mein Glück

Ein jeder ist seines Glückes Schmied. So lass uns jetzt und für immer Pläne für die Zukunft schmieden.

Dein Jan

 

Die anfangs stillen Tränen wurden zu lauten Schluchzern. Ellie hielt das Büchlein fest an die Brust gepresst umschlungen, wog ihren Köper hin und her. Sie weinte und schrie vor Schmerz und Verzweiflung, bis sie nicht mehr konnte. Ihr gebeutelter Körper sank in die Kissen und bebte unaufhörlich unter ihren Schluchzern. Dieser Schmerz war schlimmer als alle körperlichen Leiden, die das Leben bereithielt. Dieser Schmerz war so allumfassend, so tief und zerstörend, dass ein weiterleben kaum möglich schien.

Als die Schluchzer nachliessen und sie ihren Körper wieder einigermassen unter Kontrolle hatte, griff sie nach einem in Silber umrahmtes Foto auf dem Nachttischchen. Glücklich strahlte das junge Hochzeitspaar in die Kamera, trunken vor Liebe, Freude und unbeschwert, nicht ahnend, welch schwere Zeiten auf sie zukommen würden.

Noch heute hatte sie den süsslichen Duft der blassrosa Pfingstrosen ihres Brautstrausses in der Nase. Sie hörte die unbeschwerten Klänge der Live-Band und der begeisternde Applaus, die Glückwünsche der Gäste für das junge Paar. Sie sah Jans vor Stolz geschwellte Brust, seine liebevollen Blicke, die jedermann sagten: Seht, dies ist meine Frau!

„Ich liebe dich“, murmelte er ihr ins Ohr und zog sie enger an seinen Körper. Sein Atem kitzelte in ihrem Nacken und schickte kleine Schauer über ihren Körper. Ein kühler Wind raschelte in den Baumkornen und Ellie kostete seine körpereigene Wärme aus.

Die letzten Gäste waren gegangen, das Buffet war aufgeräumt und der Rest würde morgen getan werden. Endlich hatten sie Zeit nur für sich.

Der Vollmond strahlte hell und leuchtete ihnen den Weg zu dem kleinen Landhaus, das sie für diesen Anlass gemietet hatten. Jan hielt sie bei der Hand und bevor sie eintraten hielt er sie sanft zurück, zog sie fest in seine Arme.

„Du siehst heute einfach umwerfend aus!“

Sie kicherte. „Das will ich doch hoffen! Man heiratet ja schliesslich nur einmal.“ Sie drehte sich in seiner Umarmung um und sah ihm hinter der dunklen Hornbrille in die strahlenden, moosgrünen Augen, die so viel Wärme und Herzlichkeit ausstrahlten, wie sie es niemals bei einem anderen Menschen beobachtet hatte.

„Ich nehme dich beim Wort!“, lachte er und küsste sie. Er strich ihr eine verwirrte Strähne hinters Ohr. „Bevor dieser Tag endet, möchte ich dir dies hier geben.“ Er holte ein kleines Päckchen aus der Innentasche seines dunkelblauen Anzuges und legte es in ihre Hände.

Sie konnte sich nicht vorstellen, was sich in dem dünnen Päckchen verbergen könnte. Mit vor Neugier und Aufregung geröteten Wangen riss sie das silberne, im Mondlicht schimmernde Papier auf. Gelbes Leder kam zum Vorschein und sie sah ihn fragend an. Er lächelte ob ihrer Verwirrtheit, nahm ihr das Büchlein aus der Hand und schlug die erste Seite auf.

„Für mein Glück“, las er vor, und beobachtete dabei jede noch so kleine Veränderung in ihrer Mine. „Ein jeder ist seines Glückes Schmied. So lass uns jetzt und für immer Pläne für die Zukunft schmieden.“

Er blickte ihr fest in die Augen, zeigte ihr die noch leeren Seiten des Notizbuches, als welches sich das Geschenk entpuppte, und sprach: „In dieses Buch werden wir all unsere Wünsche schreiben. Die Grossen und die Kleinen, die realistischen und die unrealistischen. Und irgendwann, in 30, 40 Jahren, werden wir es hervornehmen, auf unser gemeinsames Leben zurückblicken und in süssen Erinnerungen schwelgen.“

Sie hatte sich vorgenommen, nicht zu weinen. Und doch kullerte nun eine flüssige Perle über ihre Wange. Sie schlang die Arme um seinen Hals, trat auf die Zehenspitzen und küsste sein Kinn.

Er lachte, erfüllt von Glück, küsste sie auf den Mund und holte ihr die Sterne vom Himmel.

 

 

Etwas Verrücktes tun

Aleksander murmelte einen leisen Fluch in sein Kissen. Doch alles Fluchen half nichts. Der Wecker auf dem Nachttischchen neben dem aus dunklem Altholz gezimmerten Bett, klingelte weiter munter vor sich hin. Mit einem ergebenen Seufzer trat er die Bettdecke von den Beinen und stellte das Nerv-tötende Piepen ab. Ein Blick auf das Ziffernblatt verriet ihm, dass er verschlafen hatte. „Verdammt!“, murmelte er gereizt.

Energisch stand er auf, bereute die hektische Bewegung jedoch sofort. Heftig pochte der Schmerz in seinem Schädel und erinnerte ihn an die vergangene Nacht. Er hatte gehörig einen über den Durst getrunken. Jetzt bereute er sein kindisches Verhalten, doch die Konsequenzen musste er nun tragen, ob er wollte oder nicht.

Ein Blick aus dem Fenster verriet ihm, dass wenigstens das Wetter es gut mit ihm meinte. Die Mai-Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel und liess die Wiesen vor dem Landhaus in den herrlichsten Grün und Gelb-Tönen schimmern.

Die Landschaft hob seine Stimmung, half jedoch nicht gegen die stechenden Kopfschmerzen. Stöhnend kramte er im Nachttischchen nach Erlösung und fand diese in Form eines Päckchens Aspirin. Er schluckte zwei Tabletten auf einmal, in der Hoffnung eine schnellere Wirkung herbeizuführen.

Die Augen, auf Grund des Schmerzes, fest zusammengekniffen, zog er blindlings seine Anzugshose an. Die Wahl des Hemdes fiel ihm in Anbetracht der geringen Auswahl nicht schwer. Auf eine Krawatte verzichtete er und wäre es nach ihm gegangen, hätte er auch das dunkelblaue Sakko zurückgelassen.

Müde fuhr er sich über den kratzigen Dreitagebart und starrte in das mürrische Gesicht seines Spiegelbildes. Die dunkelbraunen Haare standen ihm in alle Himmelsrichtungen ab. Sie waren zu lang, als dass er sie mit Gel oder Haarspray hätte bändigen können, aber zu kurz, um sie zusammenzubinden. Er wusste, dass sein Äusseres für den heutigen Termin nichtgerade förderlich war. Aber zum Rasieren war es zu spät und für den Frisör reichte es erst recht nicht. Fluchend streifte er sich seine teure Swatch übers Handgelenk, schlüpfte in die glänzenden Lackschuhe und warf das Sakko über die Schulter. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend stürzte er in die grosse, mit weissem Täfer und dunklem Nussbaumparkett ausgestattete Wohnküche. Der Duft frisch frisch aufgebrühten Kaffees und süsser Marmelade strömte ihm entgegen.

„Oh! Da bist du ja endlich!“, begrüsste ihn sein Grossvater ungeduldig.

Aleksander nahm die dampfende Tasse Kaffee in Empfang, die er ihm reichte.

„Und, geht’s dir besser?“, fragte Wojtek scheinheilig und verschränkte die Arme vor der Brust.

Aleksander hörte deutlich die Spitze in dessen Stimme, überging diese jedoch geflissentlich. „Ja. Danke der Nachfrage“, brummt er und nahm einen grossen Schluck des willkommenen Muntermachers.

„Ich hoffe für dich, der Kater lohnt sich.“

Er ging nicht auf die Sticheleien seines Grossvaters ein, wusste er doch selbst, wie unreif er sich verhalten hatte. Nach einem Streit lief man nicht davon.

„Ich habe jetzt keine Zeit mit dir weiter zu streiten“, wich er einer erneuten Konfrontation aus. „Um 14:00 Uhr ist mein Termin beim Anwalt in Danzig. Wenn alles glatt läuft, bin ich in 3.5 Stunden dort. Also sollte ich jetzt gleich losfahren.“

Wojtek nickte, schnitt eine Scheibe Brot ab und verteilte eine grosszügige Menge Butter darauf.

Aleksander leerte den Kaffee in einem Zug und nahm dankend das Butterbrot entgegen. Sein vom Alkohol gebeutelter Magen wollte rebellieren, doch dann nahm er die Nahrung bereitwillig in Empfang. Aleksander griff nach seiner auf dem Küchentisch abgestellten Aktentasche, doch Wojtek kam ihm zuvor. „Du weisst, dass ich dir sehr dankbar bin, nichtwahr?“

Die tiefe Sorgenfalte auf der Sonnengebräunten Stirn beunruhigte Aleksander, doch er liess sich nichts anmerken. „Ich weiss“, sagte er nur und schenkte ihm ein versöhnliches Lächeln. „Trotzdem hättest du mir sagen müssen, wie es um den Hof steht.“

Wojtek nickte und fuhr sich fahrig durch seine weisse, volle Haarpracht, die längst einen neuen Haarschnitt vertragen hätte. „Du hast Recht, das hätte ich tun sollen. Aber …“ Er stockte, schien nach den richtigen Worten zu suchen. „Aber ich wollte dich nicht auch noch damit belasten.“

„Das solltest du aber, Dziadek. Du kannst nicht alles allein tragen.“

Wojtek sah seinen Enkel verdrossen an, nickte ergeben und drückte ihm den Aktenkoffer in die Hände. „Sei vorsichtig auf der Strasse. Man kann nie wissen, bei den Idioten da draussen.“

„Werde ich. Bis heute Abend, es wird spät werden.“

Wojtek winkte ihm zum Abschied zu, während er in den roten, zerbeulten Toyota Hi-Lux stieg und den Aktenkoffer mit den Papieren ihres ganzen Besitzes neben sich auf den Beifahrersitz warf. Der Motor startete erst beim zweiten Versuch und das Getriebe gab ein ächzendes Geräusch von sich, als der den Wagen wendete und vom Hof fuhr. Im Rückspiegel rückte das zweistöckige Fachwerkhaus mit dem braunen Reetdach in die Ferne, machte der Weite der Felder und Seen, sowie dem blauen, Wolkenlosen Himmel Platz. Aleksander blickte mit einem schmerzhaften Ziehen in der Brust über die gelben Rapsfelder, die sich vor ihm ausbreiteten. Er schloss einen kurzen Moment die Augen und sog den süsslichen Duft der Natur in sich auf, mit dem Wissen, dass ihm dieses Privileg womöglich bereits in Kürze versagt bleiben würde. Beim Gedanken an die Finanzhaie, die es auf den Besitz seiner Familie abgesehen hatten, verdüsterte sich seine Miene. Doch die glitzernde Wasseroberfläche des kleinen Sees, der sich zu seiner Linken erstreckte, stimmte ihn fröhlich, glättete seine Stirn und stärkte seine Entschlossenheit, um den Hof seines Grossvaters zu kämpfen, koste es, was es wolle!

 

***

 

„Mama, ich bin’s … Nein. Nein, ihr braucht euch keine Sorgen zu machen.“ Ellie hielt unter dem riesigen Glasdach des Berliner Hauptbahnhofes nach dem herannahenden Zug Ausschau und schielte ungeduldig auf die Schalttafel, die eine 5-Minütige Verspätung ankündigte. „Nach Polen. Nein, das ist kein Scherz.“ Sie seufzte tief und hielt ihr Handy an das andere Ohr. „Nein Mama, ich werde dir nicht sagen wo. Es muss dir genügen zu wissen, dass ich einfach in Polen bin.“ In der Ferne vernahm sie das Pfeifen des heranrollenden Zuges, die Passagiere um sie herum begannen ungeduldig ihre Koffer und Taschen zusammenzuraufen. „Ich muss jetzt Schluss machen, Mama. Ich melde mich in ein paar Tagen. Nein. Nein, mir geht es gut, wirklich!“ Ohne es zu wollen wurde sie lauter und mit jedem Wort wurde ihre Unzufriedenheit deutlicher.

Der Zug rollte mit quietschenden Bremsen in den Bahnhof ein.

„Grüss Papa und Laura von mir. Ciao!“ Mit zitternden Händen verstaute sie das Handy rasch in der Tasche ihres dunkelgrünen Parkas und schulterte stöhnend den zu bersten drohenden, blauen Trekking-Rucksack der Marke eines längst ausgestorbenen Säugetieres. Beinahe wäre sie aufgrund des enormen Gewichts vornübergefallen, wäre ihr nicht ein freundlich lächelnder Schaffner zu Hilfe gekommen. „Sieht nach einer langen Reise aus.“, meinte er und deutete auf das blaue Ungetüm auf ihren Schultern. „Wo soll‘s denn hingehen?“

Ellie schenkte dem älteren Mann ein Lächeln. „Nach Polen, Danzig“, antwortete sie schüchtern.

„Dann sollten Sie sich beeilen! Der Zug wartete nicht auf Sie. Warten Sie, ich helfe ihnen.“ Und schon nahm er ihr das schwere Gepäck von den Schultern und hievte den Rucksack ins Zugabteil. „Haben sie reserviert?“, fragte er, als sie ebenfalls das Abteil betrat.

Sie schüttelte den Kopf.

„Dann müssen sie wohl leider stehen, der Zug nach Danzig ist um diese Zeit überfüllt.“

Ellie dankte ihrem Retter mit einem schüchternen Lächeln, als er ihr den Rucksack übergab. Er wünschte ihr eine angenehme Reise, sprang aus dem Zug und gab einen lauten Pfiff von sich. Keine zwei Sekunden später schlossen sich die Türen und der Zug kam ins Rollen.

Ein Kribbeln erfüllte ihren ganzen Körper, als die roten Backsteinhäuser der Berliner Charité immer kleiner wurden und dafür die grossen, neuen Glaskomplexe ins Sichtfeld traten.

Sie überquerten die Spree und fuhren weiter nordöstlich, ihrem fernen Ziel entgegen.

Mit rasender Geschwindigkeit rollte der Zug an den wartenden Passagieren vorbei durch die alten Backsteinbahnhöfe und die neuen Glaskuppen, brauste durch das niemals schlafende Berlin, bis sich schliesslich die Landschaft zu wandeln begann. Die Konzerntürme und Plattenbauten machten einstöckigen Hallen und Fabriken Platz, der Fernsehturm verblasste in der Ferne und das Grau des Betons wandelte sich allmählich in das Grün der Wälder und Wiesen.

Wie paralysiert starrte Ellie aus dem mit Spraydosen beschmierten Fenstern, bis ihre Heimatstadt endgültig hinter den Hügeln verschwand. Plötzlich fühlte sie, wie die Anspannung von ihr abliess und sie wieder befreit Atmen konnte.

Die vielen Menschen machten ihr plötzlich keine Angst mehr, und als ein stinkender, verwahrloster Typ sich eng an ihr vorbeiquetschte, fühlte sie keinen Ekel in sich aufsteigen. Es war ihr egal. Einfach egal.

Nach einigen Minuten, in denen sie dem Rattern der Räder und dem Stimmengemurmel der Passagiere gelauscht hatte, holte sie ihr unablässig surrendes Handy aus der Jackentasche. Mama, stand in groben Ziffern auf dem Display. Ellie drückte den Anrufer beiseite. 5 Anrufe in Abwesenheit. Sie stöhnte genervt. Kurz zögerte sie, überlegte was ihr Verhalten zur Folge haben könnte. Egal, sagte sie sich selbst, mit einem Blick auf die Uhrzeit, und schaltete das Handy aus. In 6 Stunden würde sie Danzig erreicht haben. Dann konnte sie ihrer Mutter noch immer Bescheid geben, wo sie war. Aufhalten konnte sie jetzt sowieso niemand mehr!

Plötzlich fühlte sie so etwas wie Stolz aufkeimen. Ein erhabenes Gefühl! Ellie konnte es kaum glauben. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so viel Mut aufgebracht wie am heutigen Tage, hatte einen Schritt getan, der ihr niemand zugetraut hätte: sie verliess den sicheren Hafen ihrer Heimat und wagte sich in ein Abenteuer.

Darauf bedacht, niemandem im Weg zu sein, setzte sie sich auf den dreckigen Boden im Vorraum des Zuges, verstaute ihr Handy im Rucksack, und förderte stattdessen das kleine, in gelbes Leder gebundene Notizbuch zu tage. Sie löste das braune Lederband, dass die Seiten zusammenhielt und öffnete das Büchlein. Es dauerte einen Moment, bis sie die richtige Seite gefunden hatte.

 

Etwas verrücktes tun

 

Die Buchstaben zeigten sich in schön geformter Handschrift. Jans Handschrift.

Ellie dachte an die leergeräumte Wohnung, an ihren gekündigten Job und ihren gepackten Rucksack. Die Wälder und Bäume ihrer Heimat schossen nur so an ihr vorbei und machten einer wilderen, naturbelasseneren Umgebung Platz. Hatte sie je etwas Verrückteres getan? , fragte sie sich.

Engschlossen griff sie nach dem roten Bleistift, der an einer Schnur am Ledereinband hing, und setzte ein Häkchen hinter die drei Worte.

Als sie aufblickte erstrahlte vor ihr ein Meer in Gelb. Die Schönheit des Landes, die unendliche Weiten der grünen Wälder und Wiesen, der gelben Rapsfelder und strahlendblauen Seen zogen sie in ihren Bann, verschlangen jegliche schlechten Gefühle und liessen nichts als Frieden zurück.

 

Das Meer sehen

Ellie hatte Danzig am Abend zuvor erreicht und ihr im Voraus gebuchtes Hotel nur mit grösser Mühe und der freundlichen Hilfe eines deutschsprachigen Touristen-Pärchens gefunden. Diese zeitweilige Unsicherheit hatte eine Panikattacke zur Folge gehabt, doch der unvergleichliche Charme Danzigs hatte sie rasch in seinen Bann gezogen und ihre unbegründeten Ängste vertrieben. Auf den ersten Blick hatte sie sich in die bunten, turmhohen Häuserreihen verliebt. Sie mochte die grossen Plätze, an welchem sich ein Kaffee ans andere reihte und wo Strassenmusikanten und Künstler ihr Können unter Beweis stellten. Und sie liebte den herben, würzigen Duft frisch gebratenen Specks, der durch die Fenster der Restaurants auf die Strassen drang.

Ellie stand am Pier und sog die salzige Meeresluft tief in ihre Lungen. Die Weite und die Wildheit des Meeres, das sich vor ihr erstreckte, hatte etwas Beängstigendes und gleichzeitig beruhigendes. Nie hatte sie etwas Schöneres gesehen, als diese schier unendlichen, weissen Sanddünen, welche nur hie und da von grünen Grasbüscheln durchbrochen wurden. Sie genoss die Ruhe des frühen Morgens, wenn noch keine Touristen am Strand waren, die sich ein grosszügiges Revier absteckten, mit ihren Sonnenschirmen, Gummischläuchen und Kühlboxen so gross wie mancher Leute Kühlschränke.

In der Ferne tuckerten die Fischerboote gemächlich über das schaukelnde Wasser und die Möwen zogen ihre Kreise über die Fangstellen. Der Himmel war wolkenverhangen und nur hie und da drangen ein paar gebündelte Sonnenstrahlen durch das Gewölk, verliehen dem Augenblick eine ganz besondere Atmosphäre. Ein kühler Windstoss wehte durch die Dünen und zerzauste ihr Haar. Fröstelnd zog sie die Schultern hoch und vergrub die Hände tiefer in den Taschen ihres Pullis. Jans Pulli. Als sie das kühle Leder in Händen hielt, besann sie sich ihrer eigentlichen Aufgabe und holte das Notizbuch hervor. Sie schlug es auf der ersten Seite auf.

 

Das Meer sehen

 

So oft hatten sie ihre Reise ans Meer geplant, und immer wieder war etwas dazwischengekommen. „Die Arbeit geht vor“, hatte er immer gesagt. Ein Umstand, der sie beinahe zur Weissglut getrieben hatte. Seine Arbeitssucht war Ursache für viele ihrer Meinungsverschiedenheiten gewesen. „Ich habe das Gefühl, du bist mehr mit deiner Arbeit verheiratet als mit mir!“, hatte sie ihm an den Kopf geworfen.

Dann hatte er sie stets mit schief gehaltenem Kopf angesehen und sie angelächelt. „Du bist süss, wenn du verärgert bist.“

„Lass das!“, fauchte sie ihn an. Er wusste nur zu gut, dass er sie damit auf die Palme brachte und genau das war seine Absicht.

„Ich bin doch auch nicht eifersüchtig auf deine Bücher.“

Ellie kniff die Augen zusammen und wehrte seine tastenden Hände ab. „Das sagst du jedes Mal! Und ich sage dir, das ist kein Argument!“ Die Wut trieb ihr die Tränen ins Gesicht.

Er lachte. Er lachte und fuhr ihr versöhnlich über die Wange.

Sie sah die Grübchen in seinen Wangen und aller Ärger war plötzlich verpufft. Er war einfach weg.

„Ich verspreche dir, nach diesem Artikel werde ich mehr Zeit für uns haben. Nur noch eine Woche, dann ist er fertig.“ Er sah sie mit seinen moosgrünen Augen an, zog sie in seine warmen Arme und gewann den Streit. „Versprochen“, hauchte er in ihr Haar und sie glaubte ihm. Sie hätte ihm in diesem Moment alles geglaubt.

Dann fühlte sie seine weichen Lippen auf ihrem Mund und kostete ihre eigenen salzigen Tränen ...

 

Sie blinzelte die Tränen aus den Wimpern und blickte lächelnd über die Weite des Meeres. Jetzt hatte sie es geschafft, sie stand da, am Ziel nur einer ihrer vielen gemeinsamen Träume. Geschwind wischte sie sich die Tränen von den Wangen, nahm den roten Stift zur Hand und setzte das Häckchen. Es dauerte noch einen Moment, bis sie sich soweit im Griff hatte, nicht in einen Heulkrampf aufzubrechen.

Melancholisch beobachtete sie das Treiben am Strand. Einige der alten Kähne fuhren bereits in den Hafen ein und luden ihre Fänge aus. Die ersten Kunden standen ungeduldig am Kai und suchten sich die fettesten und schönsten Stücke aus.

Ellie lief am Pier entlang, beobachtete die kreisenden Möwen, die gierig auf irgendwelche Abfälle der Fischkutter hofften und genoss das langsame Erwachen der Stadt. Ein letztes Mal liess sie ihren Blick über das glitzernde Wasser gleiten, ehe sie sich auf die Suche nach einem Frühstück machte, um ihren knurrenden Magen zu beruhigen.

Sie lief an kleinen Kaffees und noch geschlossenen Restaurants vorbei, als ihr ein kleiner, unscheinbarer Laden ins Auge fiel. Piekarnia, stand in verschnörkelten Lettern über der weit geöffneten Tür. Der süsse Duft frisch gebackener Brötchen verzauberte ihre Sinne. Ihr fordernd knurrender Magen brachte sie dazu, die Bäckerei zu betreten. Die delikatesten Speisen lagen in der Auslage und in den Regalen an den Wänden, fruchtige Torten, mit Schokolade überzogene Baisers, Apfelküchlein, bunte Törtchen, salzige Brötchen mit Speck und herrlich duftendes Brot. Ellie konnte sich kaum sattsehen an den Leckereien. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen, als sie die mit Puderzucker bestreuten Vanille-Eclaires erblickte. Eine junge, dralle Brünette fragte sie irgendetwas, doch Ellie verstand nichts. Ihre Aufmerksamkeit galt einzig und allein ihren Erinnerungen.

„Verzeihung, sie waren zuerst da“, hörte sie seine Stimme hinter sich. Sie erinnerte sich nur zu gut an ihre eigenen, vor Schüchternheit nur mühsam hervorgebrachten Worte. „Nein, schon gut, gehen sie ruhig vor.“

Es war stickig in der kleinen Bäckerei in Berlin Wedding. Trotz des Frühen Morgens schien die Julisonne bereits erbarmungslos auf das Wellblechdach des Provisoriums, in welchem der Verkauf der Leckereien abgewickelt wurde, bis die Renovationen im eigentlichen Laden beendet sein würden. Sie hasste diese aufgestaute Hitze, doch die Croissants hier waren so gut, dass sie gerne ein verschwitztes T-Shirt in Kauf nahm. Doch jetzt, wo sie diesem sportlichen, unverschämt gutaussehenden Mann gegenüberstand, wünschte sie, ihr würde nicht der Schweiss auf der Stirn stehen und in kleinen Bächen über ihren Körper fliessen, fiese Flecken hinterlassend.

„Ich habe Zeit“, fuhr sie mit piepsender Stimme und glühenden Wangen fort, als er keine Anstalten machte, vorzutreten.

Der Jogger, denn dies war er auf Grund seiner Kleidung offensichtlich, schenkte ihr ein Lächeln, blickte auf seine digitale Armbanduhr und sagte: „Okay, dann sage ich nicht nein, ich bin nämlich ehrlichgesagt spät dran.“

Seine durchdringende Stimme jagte ihr einen Schauer über den Körper.

Er bestellte ein Croissant und einen Coffee to Go. Der Klang seiner Stimme hallte noch immer ihn ihren Ohren und sie wünschte sich, er würde erneut das Wort an sie richten. Als hätte er ihren Wunsch erraten, fragte er: „Sind sie oft hier?“ Sie nickte schüchtern, nicht fähig ein einfaches Wort hervorzubringen. Sie studierte seine festen Gesichtszüge, seine hagere, gerade aber etwas zu spitze Nase, die hohe Stirn und das schmale, glattrasierte Kinn. Das kurzgeschnittene, dunkelblonde Haar wirkte voll und gesund, seine hellgrünen Augen blitzten heiter und verreiten, dass in ihnen der Schalk sass.

Erschrocken zuckte sie zusammen, als er sie grinsend darauf aufmerksam machte, dass sie an der Reihe sei.

Das Herz klopfte ihr bis zum Hals und sie fühlte wie das Blut in ihre Wangen schoss. Peinlich berührt gab sie ihre Bestellung auf und heftete den Blick auf die hellen Keramikfliesen, um nicht erneut dem Drang nachzugeben ihn anzustarren. Erst als er sie wiederum ansprach, wagte sie aufzusehen, doch in seine Augen zu blicken, wagte sie nicht.

„Auf ein ander Mal!“, sagte er und fügte Augenzwinkernd hinzu: „Man sieht sich immer zweimal im Leben.“

Mit zitternden Knien sah sie ihn aus dem Laden in die gleissende Sonne treten, wissend, dass sie von nun an jeden Morgen um 7:00 Uhr ein Croissant kaufen würde.

 

In ihren Ohren wummerte und Summte es, ihr Hals war wie zugeschnürt. Stumm deutete sie auf die Auslagen des Tresens und hielt zwei Finger in die Höhe. Die Frau schien zu verstehen und packte das Gewünschte in eine Tüte. Wie in Trance und mit verschleiertem Blick legte sie irgendeinen Betrag hin, ohne den Worten der Verkäuferin Gehör zu schenken.

Als sie aus der Piekarnia hinaustrat, war sie in Gedanken noch immer in der kleinen Bäckerei in Wedding, Jans Worte hallten in ihren Ohren und ihr Herz klopfte unbändig gegen ihren Brustkorb, wie damals, vor acht Jahren.

 

***

 

Aleksander presste den Kiefer zusammen und stiess einen leisen Fluch aus. „Es tut mir leid!“, rief er lauter als beabsichtig in den Hörer. „Ich habe das Handy abgeschaltet. Ich weiss. Ich sagte doch, es tut mir leid!“ Er fuhr sich seufzend durchs zerzauste Haar und rieb sich die müden Augen. „Ja, ich bin schon auf dem Weg“, erwiderte er kleinlaut auf die resolute Frage seines Grossvaters, wann er endlich gedenke nachhause zu kommen. Plötzlich gab das Handy an seinem Ohr ein protestierendes Piepsen von sich, dann war es plötzlich still am andern Ende der Leitung. Verdutzt starrte Aleksander auf den schwarzen Display in seiner Hand. Akku tot.

Er stiess entnervt die Luft aus den Lungen, liess das Smartphone in seine Aktentasche gleiten und beeilte sich seine wenigen Habseligkeiten in dem kleinen, stickigen Hotelzimmer zusammenzuraufen.

Das schlechte Gewissen plagte ihn. Das Treffen mit dem Anwalt war alles andere als erfreulich verlaufen. Der Hof stand so gut wie vor dem Aus. Nur noch ein Wunder konnte sie aus der Misere retten und das Familienerbe erhalten. Aleksander glaubte jedoch nicht an Wunder. Das Leben hatte ihn gelehrt, nicht an Märchen zu glauben.

Der Anwalt, ein Deutscher, mit nasaler Stimme und einschläferndem Gesichtseindruck, hatte seine Geduld aufs Äusserste geprobt. Er wusste nicht mehr, wie er es geschafft hatte - bei der offenkundigen Verachtung, die der Mann ihm entgegengebracht hatte - nicht die Beherrschung zu verlieren und ihn einen fetten, überbezahlten Arsch zu betiteln.

Aber er war ruhig geblieben, hatte still den Vorwürfen gelauscht, die der Anwalt vorgebracht hatte, die angeblich zum finanziellen Dilemma geführt hätten. Nur am Rande hatte er die eventuell ungünstig gewählte Hypothek in Schweizerfranken erwähnt, die nun, da der Franken so stark sei, eine enorme finanzielle Belastung darstellte. Das diese Hypothek aber von den Banken als Werbemittel genutzt und stets nur in den höchsten Tönen empfohlen wurde, liess er dabei unerwähnt.

Die in Aleksander angestaute Wut, musste sich schlussendlich irgendwie Luft machen. In London hätte er sich einfach auf sein Laufband gestellt und der Ärger wäre irgendwann in Körperschweiss verpufft. Diese Option gab es aber nicht mehr. London gehörte längst der Vergangenheit an. Seine Zukunft lag in seinem Zuhause in Polen. Ebendiesem Zuhause, das nun kurz vor der Zwangsversteigerung stand.

Da ihm also der Sport verwehrt geblieben war, hatte er sich auf die altbewährte Methode besonnen; dem Alkohol.

Einen letzten Blick in das Zimmer werfend, vergewisserte er sich, nichts liegengelassen zu haben und trat schliesslich auf den engen Gang des schäbigen Motels.

Sein Zorn darüber, dass ihm Wojtek, sein Grossvater, über Monate hinweg die finanzielle Situation, in der sie sich befanden, verschwiegen hatte, verpuffte allmählich. Stattdessen machte sich mehr und mehr das beklemmende Gefühl der Zukunftsangst breit und damit einher kamen die Kopfschmerzen.

Die Augen zusammengekniffen und sich mit Zeigefinger und Daumen die Nasenwurzel reibend, trat er aus dem Motel in das grelle Sonnenlicht. Die typischen Hafendüfte nach Seegras, ungewaschenen Fischernetzen und dem salzigen Meerwasser schlugen ihm auf den Magen. Was andere in Ferienstimmung versetzte, trieb ihn zur Flucht an.

Er überlegte gerade wo er am Abend zuvor seinen Wagen abgestellt hatte, als ihn plötzlich etwas Hartes an der Schulter traf. Seine Aktentasche flog in hohem Bogen über den Gehsteig und schlitterte über das raue Pflaster. Er hielt sich den schmerzenden Arm und starrte mit zusammengekniffenen Augen in das erschrockene Gesicht einer jungen Frau. „Können sie nicht aufpassen?“, blaffte er sie wütend an. Der volle Mund in dem unnatürlich blassen Gesicht zuckte bei seinen barschen Worten und die braunen Reh-Augen sahen bestürzt zu ihm auf. Da registrierte er das zerquetschte Papier in ihren Händen, aus dessen Enden eine helle Creme gemächlich über ihren viel zu grossen Kapuzenpulli und auf ihre grauen, ausgelatschten Treckingschuhe tropfte.

Als er die schmierige Cremespur auf seinem Sakko erblickte, brachte dies das Fass zum Überlaufen. „Verdammt!“, schrie er und funkelte die Frau wütend an.

„I-i am Sorry“, stotterte die graue Maus in gebrochenem Englisch und starrte ihn mit grossen Augen und bebendem Mund an.

Er äffte ihre unbeholfene Art mit den Worten „I am Sorry!“, nach und fügte mit beissendem Ton hinzu: „I za co Sorry? Co mogę z tim kupić?! Der ist ruiniert! Was habe ich von Ihrem Sorry?“

Bei jedem seiner Worte sackte die Frau mehr in sich zusammen, bis sie Aleksander wie ein kleines Häufchen Elend erschien, wie eine kleine Maus, die sich mehr und mehr in ihr Loch zurückzog. Doch die Maus war flink! Mit einem weiteren Sorry liess sie das fettige Papier in ihren Händen fallen und rannte davon.

„Hey!“, rief Aleksander ihr nach und machte Anstalten ihr nachzusetzen. Doch dann besann er sich eines Besseren. Was spielte es in seiner Lage für eine Rolle, ob sein bestes Sakko ruiniert war oder nicht? Der braune Haarschopf der Frau verschwand hinter der nächsten Häuserzeile. Er schüttelte frustriert über sich selbst den Kopf. Normalerweise verlor er nicht so schnell die Fassung. Doch das war nur ein Beweis mehr, dass ihm diese ganze Situation an die Nieren ging. Und an die Leber, sollte er seinen Alkoholkonsum nicht drastisch herabsenken. Seufzend hob er die Aktentasche vom Gehsteig auf und registrierte das aufgeritzte Leder an der Unterseite. Erneut stieg die Wut in ihm hoch, doch diesmal liess er sie nicht die Oberhand gewinnen. Er atmete ruhig ein und aus und machte sich auf die Suche nach seinem Wagen.

 

Einen neuen Job finden

Ellie stand im Vorraum des Zugabteils, den blauen Rucksack fest an ihren Oberkörper gepresst. Sie liess Warschau hinter sich und fuhr nun Richtung Norden, zu den grossen Seeplatten Polens.

Das gleichmässige Ruckeln und Schaukeln des Zuges beruhigte Ellie. Das Stimmengewirr aus dem Zug drang nur gedämpft durch die Abteile.

Sie hätte allerdings ohnehin nichts verstanden. Ausser dzień dobry und Piwo konnte sie noch kein Wort dieser zungenbrecherischen Sprache. Zum Glück hatte sie ihr Monatsticket für das Zugnetz schon im Voraus bezahlt, sonst wäre sie womöglich in Timbuktu gelandet. Sie lächelte, als sie an den kläglichen Versuch dachte, dem Kellner ihren Wunsch mitzuteilen, dass sie gerne zur Abwechslung mal etwas ohne Fleisch essen würde.

Aber sonst, ja sonst lief eigentlich alles nach Plan.

Ausser vielleicht der kleine Zwischenfall mit dem Anzugträger, der sie in aller Öffentlichkeit zur Sau gemacht hatte. Zwar hatte sie kein Wort verstanden, aber sie war sich sicher, dass es nichts Schmeichelhaftes gewesen sein konnte. Jedenfalls wollte sie nicht mehr an den unfreundlichen Mann denken. Stattdessen schaute sie aus dem Fenster in den blauen, fast Wolkenlosen Himmel.

Ellie drückte den Rucksack enger an ihren Körper, als sich die Tür zum Abteil öffnete und ein älterer Herr mit Hut und Gehstock freundlich lächelnd an ihr vorüberging. Verstohlen beobachtete sie die knorrige Hand, die nach einer goldenen Taschenuhr in seinem dunkelgrauen Tweed Jackett griff. Kopfschüttelnd murmelte der Pole irgendwelche Worte vor sich hin und blickte aus dem Fenster in die grüne Landschaft. Ellie tat es ihm gleich und beobachtete die nun immer wilder werdende Landschaft, die an ihnen vorbeizog. Die grünen und gelben Felder wichen einer üppigen Steppenlandschaft. Auch die Gebäude zeigten sich hier in anderem Gewand. Wenn sie die Häuser in diesem Teil des Landes mit der gepflegten Warschauer Altstadt, mit ihren Gotischen und Barocken Gebäuden, und mit dem bunten Danzig verglich, bereitete ihr deren trostloser Anblick Unbehagen.

Der Zug wurde langsamer, grosse unfreundliche Industrie-Gebäude zogen an ihnen vorbei.

Sie fuhren in einen mehrgleisigen, nicht überdachten Bahnhof ein. Olsztyn, Stand da auf einem blauen, von der Sonne vergilbten Schild. Hier musste sie umsteigen, erinnerte sie sich und verkrampfte sich innerlich. Sie hasste es, wenn sie nicht wusste wann, wo und auf welchem Gleis ihr Zug fuhr. Denn eines hatte sie in den drei Wochen ihrer Reise durch Polen bereits gelernt: vertraue niemals dem geschriebenen Wort! Abfahrzeiten und Gleise konnten sich auch noch im letzten Moment ändern. Das bereitete ihr Bauchschmerzen, denn sollte sie ihren Anschlusszug verpassen, fuhr erst am nächsten Morgen wieder ein Zug nach Ruciane-Nida. Schon bei der Planung von Warschau in die Masuren, war ihr aufgefallen, dass gerademal zwei Züge pro Tag von Olsztyn zu ihrem Ziel fuhren.

Der elegant gekleidete Greis, der einem Sherlock Holmes Film entsprungen schien, tickte mit seinen blankpolierten Slippers ungeduldig auf den mit Kaugummiresten überzogenen Abteilboden.

Quietschend und Ruckelnd kam der Zug zum stehen. Der ältere Herr, der sich mit einer Hand auf seinem Stock abstützte, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, schaute erneut auf seine Taschenuhr und schien zufrieden. Er steckte sie zurück in seine Tasche, schenkte Ellie ein freundliches Lächeln und hob seinen Hut zum Abschied. Die Türen öffneten sich mechanisch und der Mann stieg vorsichtig, einen Tritt nach dem anderen nehmend, aus dem Zug. Jetzt drängten sich auch die anderen Passagiere an Ellie vorbei und zwängten sich mit lautem Geschnatter nach draussen. Ellie schluckte ihre Angst hinunter. Als sich der Zug leerte, schulterte sie ihren Rucksack und stieg aus. Der beissende Gestank der heissgelaufenen Bremsen stieg ihr in die Nase, was sie zum Husten brachte. Mit zusammengekniffenen Augen suchte sie nach einer Infotafel für ihren Anschlusszug. Sie fand einen Aushang in einem Glaskasten und suchte die Abfahrtszeiten. Der Kasten war wohl undicht, denn das gewellte Papier mit den An- und Abfahrtszeiten hatte unschöne Flecken und war an einigen Stellen unleserlich.

Es dauerte einen Moment, bis sie „Ruciane-Nida“ fand. 17:32 Uhr, Gleis 2. Sie verglich die Angaben mit ihrem, von der freundlichen Rezeptionistin in Warschau ausgedruckten Blatt und nickte zufrieden. Alles schien in Ordnung. Rasch schob sie das Papier in ihre Hosentasche und kramte stattdessen ihr Handy hervor. Fast fünf Uhr. Sie hatte also noch eine gute halbe Stunde Zeit sich etwas zu Essen zu besorgen. Ihr knurrender Magen erinnerte sie daran, dass ihr Frühstück schon viel zu lange zurücklag.

Sie stöhnte bei dem Gedanken, das blaue Ungetüm von Rucksack durch die ganze Stadt schleppen zu müssen. Doch das hier war ja so etwas wie ein Hauptbahnhof. Da würde sie doch sicherlich etwas zu Essen finden.

 

Zwanzig Minuten später fühlte sie sich eines besseren belehrt. Ihr Magen rebellierte laut und ihre Laune war im Keller. Kein Laden, kein Kiosk und kein einziges verdammtes Restaurant hatte geöffnet. Nicht mal die Dönerbude gleich neben dem Bahnhofsgebäude!

Es war wie verhext! Und das an einem hundsnormalen Donnerstag! Gab es in diesem Teil von Polen etwa so etwas wie eine Siesta?

Entnervt warf sie den Kopf in den Nacken und kniff die Augen zusammen. Es hatte ja doch keinen Sinn sich aufzuregen, sie konnte nichts an der Situation ändern. Also entschied sie, die eineinhalb Stunden Zugfahrt auch mit leerem Magen zu überstehen. Etwas zu trinken hatte sie ja zum Glück noch dabei. Ausserdem hatte sie keine Kraft mehr mit dem blauen Monster auch noch einen Schritt weiter als unbedingt nötig zu gehen.

Als sie keuchend Gleis zwei erreichte, stand vor ihr ein moderner, jedoch sehr kurzer Panoramazug. Vor dem Zug stand ein älterer Mann in einem kurzärmligen hellblauen Hemd und einer dunkelblauen Weste. Die Arme hinter dem Rücken verschränkt, schweiften seine freundlichen Augen unter einem Kranz buschiger Augenbrauen über die wenigen Fahrgäste auf dem Bahnsteig. „Ähm ... Entschuldigung?“, sprach sie den Zugbeamten schüchtern an. Dieser sah sie lächelnd an und deutete ihr mit einer Geste zu sprechen. „Ähm ... Ruciane-Nida?“, fragte sie auf den Panoramazug deutend.

Das Lächeln des Mannes wurde breiter. „Tak“, sagte er nickend. „Ruciane-Nida“, wobei er Rutschiane ganz besonders deutlich aussprach.

Ellie biss sich auf die Unterlippe und nickte ihm dankend zu. Mit dieser Sprache würde sie wohl nie warm werden, seufzte sie innerlich und stieg in den modernen, blau-weissen Zug ein. Wie sich herausstellte, bestand der ganze Zug aus nur einem Abteil. Die grosszügige Ausstattung überraschte Ellie. Im vergleich zu den alten Klapperkisten, mit denen sie in den vergangenen Wochen gefahren war, erschien ihr das hier wie der reinste Luxus! Zufrieden, von dem schweren Gewicht erlöst zu werden, liess sie den Rucksack auf einen der dunkelroten Sitze fallen. Der Zug war praktisch leer. Ganz hinten, am anderen Ende des Abteils, sass eine Mutter mit ihren quengelnden Kindern und etwas weiter vorne eine Kaugummi kauender Teenie mit dem Handy am Ohr.

Hier vorne würde sie ihre Ruhe haben, stellte sie erfreut fest und liess sich in die Polster fallen. Sie blickte über die braungrauen Gleise und Bahnsteige, als der Schaffner, den sie zuvor nach dem Ziel des Zuges gefragt hatte, lachend einstieg. Hinter ihm mühte sich der Sherlock Holmes die Stufen in das Abteil herauf. Die beiden schienen sich zu kennen, denn der Schaffner klopfte dem älteren Herrn lachend auf die Schulter. Dieser grinste bis über beide Ohren, nahm den Hut ab und grüsste Ellie mit einem freundlichen Kopfnicken. Der Schaffner, noch immer vor sich her lachend, trat hinaus und blies in seine kleine schwarze Pfeife und sprang behände in das Abteil. Der Laute Ton liess Ellie zusammenzucken. Doch als der Zug langsam in Bewegung kam, und sie die graue Betonwüste hinter sich liessen, entspannte sie sich. Die saftig grüne Steppenlandschaft schob sich wieder in ihr Blickfeld und ihre Mundwinkel hoben sich. Die Reise verlief an einem wirren Netz von Strommasten vorbei, auf denen immer wieder Storchenfamilien ihre riesigen Nester erbaut hatten. Irgendwann veränderte sich die Landschaft von Neuem und sie fuhren durch dichte Kiefernwälder. Die fast nackten, rötlichen Stämme der Kiefern standen im starkem Kontrast zu dem beinahe grell leuchtenden, moosbedeckten Waldboden und den üppigen, dunkelgrünen Baumkronen. Wie Streichhölzer reckten sich die Kiefern, mit ihren unten fast schwarzen Rinde, die nach obenhin immer heller, fast orange wurden, in die Höhe.

Die Wildheit und Unberührtheit der Natur faszinierte Ellie und fast hätte sie dabei den nagenden Hunger vergessen. Doch als ihr der Duft frisch gebackenen Brotes und würzigen Specks in die Nase stieg, zog sich ihr Magen geradezu schmerzhaft zusammen. Verstohlen beobachtete sie Shirlock und Holmes, die angeregt diskutieren. Als der Schaffner seinem Gegenüber ein Stück Brot mit einer dicken Scheibe Speck kredenzte, lief Ellie das Wasser im Mund zusammen. Sie verfluchte den Umstand, dass sie nicht vorausgeplant hatte und nun hungern musste.

Sie kaute unruhig auf ihrer Unterlippe herum und starrte ohne es zu merken auf das Essen. Erst das heranwinken des glatzköpfigen Sherlocks brachte sie wieder zur Besinnung. Peinlich berührt starrte sie in das freundlich lächelnde Gesicht des Mannes. Er schien sie tatsächlich zu sich zu winken. Mit klopfendem Herzen schüttelte sie vorsichtig den Kopf und stotterte ein unbeholfenes „Dziękuję“. Sie hoffte, dass dies wirklich Danke hiess und sie nicht gerade einen Fluch oder sonst irgendetwas Unhöfliches geäussert hatte. Doch der Tweed Jackett – Typ schien nicht empört. Im Gegenteil. Er sagte etwas zu seinem Freund und bevor sie sich versah, kamen die beiden zu ihr rüber. Der Sherlock Holmes, der bei genauerem Betrachten gar nicht mehr wie ein distinguierter Privatdetektiv wirkte, streckte ihr seine freie Hand entgegen und sagte etwas auf Polnisch. Ellie fühlte sich dazu gedrängt seine Hand zu schütteln, alles andere wäre unhöflich gewesen. Doch sie schämte sich für ihr unanständiges Starren. Sie lächelte ihn gequält an, registrierte seinen kräftigen Händedruck, und sah ihn entschuldigend an. „Es tut mir leid, ich verstehe kein Polnisch.“

Plötzlich huschte ein Leuchten über seine grauen Augen. „Oh! Sie kommen aus Deutschland?“, fragte er in fehlerfreiem, jedoch von einem harten, sklavischen Akzent befallenen Deutsch.

Ellie nickte zurückhaltend.

„Mein Name ist Krzysztof und das ist Dariusz“, stellte er ihr den Schaffner, der ihr nun ebenfalls die Hand hinhielt, vor. Ihr blieb der Mund offen stehen, beim Klang dieser ihr so fremden Namen, die so ähnlich wie Kristof und Darius und dennoch ganz anders klangen.

„Dürfen wir uns zu Ihnen setzen?“, fragte Kristof und deutete lächelnd auf die beiden freien Sitze ihr gegenüber.

Sie hätte dies gerne verneint, schämte sie sich doch schon so in Grund und Boden. Doch sie wollte die beiden Männer nicht verärgern und so nickte sie zögerlich und zwang sich zu einem Lächeln.

„Mein Freund hier“, er deutete auf Darius, der gerade Brot, Käse und Speck aus einem karierten Taschentuch zutage brachte, „spricht leider kein Deutsch.“

„Kein Problem“, murmelte Ellie, sie hatte keine Ahnung was sie darauf erwidern sollte. Sie fühlte sich von den Männern in die Enge getrieben und plötzlich wünschte sie, die Zugfahrt würde so bald die möglich enden.

„Wo leben Sie in Deutschland?“, versuchte Kristof das Gespräch in Gang zu halten. Sie hätte lieber geschwiegen und wäre ihren Gedanken nachgehangen, doch sie sah sich gezwungen zu antworten. „Berlin“, sagte sie knapp und blickte dann demonstrativ aus dem Fenster.

„Oh, Berlin schöne!“, rief der Schaffner euphorisch aus und nickte anerkennend mit dem Kopf.

Kristof sagte etwas auf polnisch zu seinem Freund und dieser streckte ihr sogleich ein stück Brot mit Käse entgegen. „Dürfen wir ihnen etwas zu Essen anbieten?“, fragte er an Stelle des Schaffners.

Wie gerne hätte sie ja gesagt und in das herrlich duftende Brot gebissen! Doch sie konnte doch nicht einfach Essen von ihr wildfremden Menschen annehmen! So etwas tat man einfach nicht.

„Nein, vielen Dank.“

„Aber sie haben doch sicher Hunger?“

„Ich ...“ Sie zögerte.

„Ah! Sehen Sie? Der Speck und der Käse ist vom Hof von Dariusz’s Tochter. Sie müssen probieren!“

Sie versuchte erneut abzulehnen, doch Darius der Schaffner blieb hartnäckig und forderte sie mit wilden Gesten dazu auf, zu essen.

„Ich bestehe darauf! Sie sind viel zu dünn, sie müssen Essen!“, drängte sie nun auch noch Kristof.

Ellie sah die beiden Männer mit einer Mischung aus Belustigung und Bestürzung an. Sie öffnete und schloss den Mund ohne Erwiderung.

„Für sie“, stammelte Darius in gebrochenem deutsch und hielt ihr das Brot mit einem Stück Käse und Speck vor die Nase.

Alle Widerrede schien zwecklos. „Dziekuje“, murmelte Ellie überfordert, nahm das Brot entgegen und biss hinein.

Kristof liess sie keinen Moment aus den Augen und schien auf eine Reaktion ihrerseits zu warten.

Sie schluckte den Bissen herunter und lächelte ihn an. „Das ist gut! Sehr gut sogar.“

Die beiden Männer nickten eifrig und strahlten bis über beide Ohren.

„Wir Polen wissen gutes Essen zu schätzen“, meinte Kristof augenzwinkernd, schnitt sich mit einem Taschenmesser ein Stück Speck ab und stopfte es sich sogleich in den Mund.

Ellie schmunzelte. Und als Kristof einen silbernen Flachmann hervorholte, ahnte sie bereits, was da auf sie zukommen würde.

„Na zdrowie!“, sagte er fröhlich, prostete ihr zu und goss sich das Gebräu in den Rachen. Darius tat es ihm gleich, gab einen Laut des Wohlwollens von sich, und reichte ihr grinsend den Flachmann. „Sie müssen probieren! Ich habe ihn selbst gemach!“

Ellie winkte ab. Sie mochte ab und zu ein Glas Wein, aber sie wusste nur zu gut, dass sie Alkohol nicht sonderlich gut vertrug.

Kristof liess jedoch nicht locker. „Ich bestehe darauf! Das ist polnische Tradition. Sie müssen mit uns trinken!“

Ellie lachte und schüttelte amüsiert den Kopf. „Na gut ...“, meinte sie zögerlich und nahm den Flachmann entgegen. „Na dann: Na zdrowie!“, sagte sie.

 

***

 

Ein lautes Räuspern und sanftes Rütteln an ihrer Schulter schreckte sie aus dem Schlaf. Verwirrt blinzelte sie in das lächelnde Gesicht des Schaffners und fuhr sich durchs vom Schlaf zerzauste Haar.

„Ruciane-Nida“, sagte Darius und deutete aus dem Zugfenster.

Ellie blinzelte erneut. Ihr Kopf schmerzte höllisch. Wie viel hatte sie denn mit den Männern getrunken?! Stöhnend schielte sie aus dem Zugfenster und riss sofort die Augen auf. Sie musste noch schlafen! Das da konnte unmöglich Ruciane-Nida sein!

Sie schluckte heftig. Das grafitibesprühte Bahnhofsgebäude sah aus, als würde es jeden Moment in sich zusammenstürzen. Ein Bahnhofsschild gab es nicht. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, an einen Metallpfeiler mit Schwarzer Farbe „Ruciane“ hinzuschreiben. Sie schluckte erneut.

Als sie keine Anstalten machte, sich zu erheben, deutete Darius – diesmal mit Nachdruck – hinaus aus dem Zug, winkte sie zu sich und meinte in gebrochenem Deutsch: „Sie kommen! Ruciane-Nida!“

Hektisch stand sie auf, überlegte sich bereits, wie sie schnellst möglichst von diesem Ort wegkam und wollte nach ihrem Rucksack greifen. Doch der war nicht da.

Ellies Herz machte einen Aussetzer. „Oh nein!“, hauchte sie von Panik ergriffen. Ihr wurde heiss und kalt zugleich. Man hatte sie bestohlen! „Ich bin so blöd!“, schimpfte sie laut. Warum musste sie sich auch abfüllen und beklauen lassen! Jeder wusste doch: die Polen sind versoffene, klauende Schurken!

Sie stiess einen wütenden Fluch aus und fuhr sich verzweifelt übers Gesicht.

„Darius, haben sie meinen Rucksack gesehen?“, fragte sie den allmählich ungeduldig werdenden Schaffner und deutete an eine schwere Last auf dem Rücken zu tragen.

„Tak, Tak“, sagte er nickend und deutete ihr erneut aus dem Zug zu steigen.

Ellie schüttelte ärgerlich den Kopf. „Nein. Mein Rucksack. Wo ist er?“

Darius fasste sie bestimmt sie am Arm und zog sie Richtung Ausgang. Sie wollte sich wehren, sie brauchte ihr blaues Monster, jetzt sofort! Doch der Griff des Mannes wurde nur noch fester und Ellie unterdrückte ein Jammern. Darius bugsierte sie zielstrebig zum Ausstieg und liess ihr gar keine Zeit sich zu wehren. Ungeschickt stolperte sie die Stufen hinunter auf den Bahnsteig. Ein gellender Laut drang durch die Trillerpfeife an Darius Hals, er schloss die Türen und der Zug fuhr los. Wie vor den Kopf gestossen starrt Ellie dem Zug hinterher, bis er hinter der nächsten Wegbiegung verschwand.

Sie konnte es nicht fassen! Ihr Handy, ihre Kreditkarte, ihr Pass ... Alles war weg! Zornestränen traten ihr in die Augen und sie begann zu zittern. Was sollte sie jetzt um Himmels willen tun?

„Pani Ellie!“, hörte sie eine ihr bereits vertraute Stimme hinter sich. Brüsk drehte sie sich um. Da stand er. Kristof. Und neben ihm das blaue Monster.

Ihr Gesicht lief vor Scham rot an und sofort hatte sie ein schlechtes Gewissen, dass sie ihre beiden Helfer in Gedanken als alkoholsüchtige, stehlende Schurken betitelt hatte.

Beschämt wich sie Kristofs gütigem Blick aus und griff nach dem Blauen Rucksack. Sofort fühlte sie sich ruhiger.

„Wo werden sie wohnen?“, fragte Kristof und half ihr das Ungetüm zu schultern.

„Ich weiss noch nicht“, erwiderte sie. „Ich wollte das auf mich zukommen lassen.“

„Oh“, meinte er nachdenklich. „Heute ist Boże Ciało. Da haben die meisten Geschäfte bis auf ein paar Restaurants zu. Ich hoffe sie finden noch eine Unterkunft.“

Ellie runzelte die Stirn. „Was für eine Tag ist heute? Bosche was?“

Kristof lachte. „Boże Ciało. Ein Feiertag der Kirche. Hat etwas mit Jesus zu tun.“

Ellie fuhr sich frustriert übers Gesicht. Sie hatte noch eine menge zu lernen über dieses Land und seine Kultur. Und sie schwor sich, nichts mehr auf Gerüchte und Vorurteile zu geben.

„Danke Kristof. Für alles. Ihre Hilfe und das Essen!“, meinte sie lächelnd und streckte ihm zum Abschied die Hand entgegen.

„Tun sie mir einen Gefallen, Ellie?“, fragte er und musterte sie mit seinen wachen Augen eingehend. „Lachen sie mehr. Das tut ihnen gut.“

Ellie schluckte. Sie fühlte sich ertappt. Wie war es möglich, dass er in so kurzer Zeit bis auf den Grund ihrer Seele blicken konnte, während ihre eigene Familie kaum das offensichtliche wahrnahm?

„Ich werde es versuchen“, sagte sie und hoffte, dies sei die Wahrheit.

 

 

***

 

„Hey Laura. Ich bin’s.“

„Ellie?“, rief ihre Schwester überrascht aus.

Ellie konnte regelrecht sehen, wie Laura ihre hübschen Augen aufriss und sich eine der blonden Strähnen aus dem Gesicht strich. „Geht’s dir gut Liebes? Wo bist du? Mama macht sich furchtbare Sorgen um dich!“

Ellie holte tief Luft und sprach sich selbst Mut zu. „Es geht mir gut, ehrlich. Ich brauchte etwas abstand von zu Hause, du weißt schon ...“

Einen kurzen Moment blieb es still auf der anderen Seite der Leitung. Laura schien sich ihre Worte genau zu überlegen. „Hauptsache du bist wohl auf. Ich werde Mama Grüsse von dir ausrichten, okay?“

Ellie schloss erleichtert die Augen. Ihre Schwester würde zu ihr halten. „Danke“, hauchte sie in das Telefon.

„Ist Polen schön?“

Ellie blickte von ihrem Platz im Restaurant auf die in der Abendsonne glitzernde Wasseroberfläche, betrachtete die schaukelnden Stangen der Segelboote am Hafen und die grünen, wogenden Baumkronen am anderen Ufer. „Wunderschön“, sagte sie und lächelte glücklich.

„Nimm dir so viel Zeit wie du brauchst, Kleines. Und hör nicht auf die anderen. Tu das, was dir gut tut.“

„Danke, Laura. Ich hab dich lieb.“

„Pass auf dich auf. Und sag-“

Auf ein kurzes Piepen folgte Stille. Überrascht starrte Ellie auf den schwarzen Display in ihrer Hand. Akku alle. Verdammt!, dachte sie. Ihr blieb allerdings keine Zeit sich weiter darüber Gedanken zu machen. Der Abend brach bereits herein, und sie hatte noch immer keine Übernachtungsmöglichkeit gefunden. Rasch bezahlte sie mit ihrem letzten Bargeld ihre Pommes und den herrlichen Fisch, den sie auf Empfehlung des Kellners bestellt hatte, packte ihre Sachen in das blaue Monster und machte sich gestärkt auf die Suche nach einem Hotel.

Zwei Stunden später - die Nacht war längst eingekehrt - liess sie den Rucksack erschöpft auf die Erde plumpsen und rutschte mit dem Rücken die graue Hauswand hinunter. Erschöpft legte sie den Kopf auf die Knie und kämpfte gegen die Tränen der Verzweiflung. Sie war sich sicher, sie würde diese Nacht unter freiem Himmel verbringen müssen. Der Gedanke daran liess sie frösteln.

„Jest u Pani wszystko w porządku?”, hörte sie auf einmal eine tiefe Stimme neben sich. Das plötzliche Auftauchen des Mannes liess sie zusammenzucken.

„I-ich verstehe leider kein Polnisch“, stotterte sie, versuchte ihre Angst nicht zu sehr zu zeigen und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

Der Mann tat einen Schritt auf sie zu beugte sich mit besorgtem Blick zu ihr hinunter. „Geht es ihnen gut?“, fragte er diesmal mit nahezu akzentfreiem Deutsch.

Sie nickte und erhob sich eilig aus ihrer erniedrigenden Haltung, er musste sie ja nicht gleich für eine Obdachlose halten. „Ja, vielen Dank, ich komme zurecht.“

„So sehen sie aber nicht aus“, konterte er prompt und musterte sie kritisch mit vor der Brust verschränkten Armen.

Er war jung, stellte Ellie fest. Sie musterte ihr Gegenüber genauer. Es war einer dieser Business-Männer in Anzug und Krawatte, eine teure Rolex am Handgelenk und ein fettes Portemonnaie in der Tasche. Ellie konnte diesen Schlag von Menschen nicht leiden.

„Lassen sie mich raten: Sie machen Urlaub und haben nichts im Voraus gebucht. Und jetzt sind sie gestrandet.“

Ellie hob auf seine unfreundlichen Worte die Augenbraue und musterte kritisch seine blankpolierten, schwarzen Slipper und sein schmalziges, nach hinten gegeltes Haar. Nein. Sie mochte ihn definitiv nicht. Ihr Blick verdüsterte sich, als sie ihm direkt in die wässrigen, blauen Augen sah. „Ich wüsste nicht, was sie das angeht. Und jetzt entschuldigen sie mich.“ Sie schultere das Monster und machte Anstalten an ihm vorbeizugehen, doch er stellte sich ihr in den Weg. Sie sah wütend zu ihm auf. Was erlaubte sich dieser Mensch!

„Es tut mir leid“, meinte er mit einer entschuldigenden Handbewegung. „Ich wollte ihnen nicht zu nahe treten.“ Seine Stimme klang jetzt sanft und aufrichtig.

Sie sah ihn erneut prüfend an. Sein merkwürdiges Verhalten irritierte sie. „Schon gut“, nuschelte sie und wollte ihren Weg fortsetzen, doch er hielt sie am Arm fest. Das ging jetzt aber definitiv zu weit! Als sie ihn zornig anfunkelte, liess er sie sofort wieder los. „Wenn sie möchten“, schlug er vor und fuhr sich über das nicht mehr ganz so glattrasierte Kinn, „kann ich sie mitnehmen. Mein Grossvater führt einen Ferienhof. Sie könnten in einem der Gästezimmer schlafen.“

Ellie starrte den ihr völlig fremden Mann perplex an.

„Natürlich nur, wenn sie möchten!“, fügte er rasch hinzu, hob beschwichtigend die Hände und schenkte ihr ein Lächeln. Er sah hübsch aus, wenn er lächelte, nicht mehr so streng und ernst.

Ellie zögerte. „Das ... ist wirklich sehr nett von ihnen, aber wie gesagt ... ich komme zurecht.“ Fest entschlossen, dieses Gespräch zu beenden, ging sie an ihm vorbei und lief Richtung Strand. Sie wollte einfach ihre Ruhe haben. Und sich eine Lösung für die Nacht überlegen. Vielleicht konnte sie sich auf eines der Schiffe schleichen? Lieber verbrachte sie die Nacht im Schutze eines schaukelnden Bootes, als wie eine Landstreicherin am Strand.

„Wie sie wollen“, hörte sie den Armanianzug hinter sich. Als sie über ihre Schulter blickte, war er verschwunden.

 

***

 

Aleksander zahlte sein Bier, nahm die zerknüllte Krawatte vom Tresen und stopfte sie in die Innentasche seines Sakkos. Als er aus der Bar in die kühle Nacht trat, zog er fröstelnd die Schultern hoch. Als er sich in Richtung seines Wagens begeben wollte, liess ihn ein Tumult in Richtung des kleinen Hafens blicken. Er hätte beinahe laut aufgelacht, als er die kleine Tramperin wild strampelnd in den Fängen der Hafen-Security entdeckte. Er wollte sich abwenden, das alles ging ihn schliesslich nichts an. Doch dann bekam er Mitleid mit der Frau, die ganz offensichtlich keines der harschen Worte des Sicherheitsmannes verstand.

Er schnaubte laut, ärgerte sich über seine eigene Gutmütigkeit, und lief auf die beiden Streithähne zu.

Die Frau wehrt sich mit aller Kraft gegen den festen Griff des Mannes und verfluchte ihn auf deutsch. Aleksander hoffte – zu ihrer eigenen Sicherheit - dass der Security-Typ nichts davon verstand.

„Guten Abend Kamil“, sagte er mit einem kurzen Seitenblick auf das Namensschildchen an dessen T-Shirt. „Was hat sie angestellt?“, fragte er auf die Tramperin deutend, die ihn – auf einmal ganz stumm geworden - anstarrte.

Kamil, der Security-Mann, schien überrascht, dass sich ein so fein gekleideter Herr in seine Angelegenheiten einmischte. Doch dann nickte er zu den Schiffen und brummte: „Hab sie erwischt, wie sie in eines der Boote einsteigen wollte.“

Aleksander stiess lässig die Hände in die Hosentaschen und setzte einen geschäftsmässigen Tonfall auf. „In welches Boot?“

Kamil hielt mit der einen Hand die zappelnde Frau fest und fuhr sich mit der anderen nachdenklich über den Mund. „Ich glaube, das war die Aurelia.“

„Das trifft sich gut“, meinte Aleksander selbstbewusst und zeigte sein falsches Lächeln. „Die Aurelia gehört nämlich mir.“

Der Security-Mann starrte Aleksander überrascht an. „Dann ... Möchten Sie gleich Anzeige erstatten?“

Aleksander blickte der jungen in die rehbraunen Augen, die ihn verschreckt anstarrten. Sie hatte Angst, das war nur zu deutlich.

„Nein“, sagte er schliesslich. „Ich regle das auf meine Weise.“ Er kramte einen Geldschein aus seinem Sakko, drückte es in Kamils freie Hand und klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter. Dieser liess die Frau los, die sich sofort einige Schritte von den beiden Männern entfernte. Sie starrte skeptisch auf das Geld in Kamils Hand. Kamil lächelte verschlagen und tippte zum Abschied an sein Baseball Cap.

„Danke, Kamil“, sagte Aleksander und nickte ihm zu, fasste die völlig perplexe Frau beim Arm und zog sie mit sich.

„Was hat das alles zu bedeuten?“, herrschte sie ihn mit bebenden Lippen an und befreite sich aus seinem Griff.

„Soll ich Sie nun mitnehmen oder wollen Sie doch lieber hier am Strand übernachten?“, schollt er sie. Da rettete er ihr den Hintern und sie fauchte ihn auch noch an!

Seine scharfen Worte schienen sie jedoch zur Besinnung zu bringen. Kleinlaut sagte sie: „Danke. Dafür, dass Sie mich von diesem Grobian gerettet haben. Aber ... Ich sollte jetzt wohl besser gehen.“

Er erwiderte nichts, betrachtete sie von oben herab, musterte ihr langes, strähniges Haar, den grünen Parka und den blauen Rucksack. Wie ein Hippie sah sie nicht aus, doch sie war ganz klar eine Tramperin wie sie im Buche stand. Eine Schmarotzerin. Und dennoch war er bereit, ihr zu helfen.

„Seien Sie nicht dumm!“, fuhr er sie an und registrierte ein Zusammenzucken ihrerseits. „Mein Wagen steht dort vorne an der Strasse.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich sollte jetzt wirklich ...“

„Verdammt! Sind Sie immer so stur?“ Er trat einen Schritt auf sie zu und funkelte sie wütend an. Er hatte keine Lust und Zeit für Spielchen. Doch da entdeckte er einen Wandel in ihren Zügen. Die Unsicherheit wich einer tiefen Traurigkeit und mit einem Mal bereute er seinen Ausbruch. „Es tut mir leid“, entschuldigte er sich. „Ich biete Ihnen lediglich eine Unterkunft für die Nacht an.“ Er holte tief Luft und verdrehte die Augen. „Wenn Sie wollen, können Sie sogar dafür bezahlen, wenn Sie sich dann besser fühlen.“

 

Ellie musterte den jungen Mann vor sich. Konnte sie ihm wirklich trauen? Das Knurren ihres Magens brachte sie schliesslich zur Vernunft. Sie hatte ja gar keine andere Wahl! Warum nur hatte sie dieser Grobian von einem Sicherheitsmann entdecken müssen!

Nur mit grösstem Widerwillen entschied sie sich also, mit dem Armani-Anzug mitzugehen. „Ist das weit von hier?“, fragte sie geknickt. Schliesslich galt sein Angebot ja nur für eine Nacht und irgendwie musste sie dann wieder zurückkommen.

„Nein“, sagte er. „höchstens zwanzig Minuten.“

„Okey“, sagte sie zögerlich. „Ich nehme ihr Angebot an. Für eine Nacht.“

Er schien zufrieden mit ihrer Antwort, kramte seinen Autoschlüssel aus dem Sakko und lief zur Hauptstrasse hin.

Sie folgte ihm mit hängenden Schultern. Noch immer hatte sie Zweifel, ob es wirklich eine gute Idee war mit diesem ihr völlig Fremden mitzugehen. Plötzlich erinnerte sie sich an Vermisstenanzeigen, an Berichte von Entführungen und Vergewaltigungen und eine schreckliche Unruhe erfasste sie.

Als er zu seinem Wagen trat und ihn aufschloss, blinzelte sie überrascht. Sie hatte irgendeinen teuren Schlitten erwartet, eine Protzkarre, die zu seinem Armanianzug und der teuren Rolex gepasst hätte. Ganz sicher jedoch keinen alten, vergilbten Pickup, dessen rote Lackierung bereits abblätterte und den Eindruck machte, als wäre er ein Putschauto auf der Kirmes und kein rechtens zugelassenes Fahrzeug mehr.

Der vermeintliche Wohltäter nahm ihr den Rucksack ab und warf ihn nicht gerade Sanft auf die zerbeulte Ladefläche. Dann setzte er sich, ohne weiter von ihr Notiz zu nehmen, auf den Fahrersitz. Ellie wusste, das war die letzte Möglichkeit noch kehrt zu machen. Doch ihr knurrender Magen, ihre müden Beine, die Angst vor einer Nacht unter freiem Himmel und nicht zuletzt vor Kamil, veranlassten sie in das Auto zu steigen.

Er startete den stotternden Motor und fuhr los. Sie verliessen das kleine Städtchen und bogen auf eine enge, löchrige Landstrasse ab. Ellie versuchte sich auf die Landschaft, auf die im Mondlicht schimmernden Wasseroberflächen und Felder zu konzentrieren. Sie hatte keine Lust auf eine Konversation. Doch irgendwann meinte ihr Retter die Stille durchbrechen zu müssen.

„Ich bin übrigens Aleksander“, stellte er sich vor und reichte ihr die Hand, den Blick nicht von der Strasse weichend.

„Ellie“, sagte sie und nahm seine Hand nur mit grösstem Widerstreben in die ihre. Sein Händedruck war fest und warm.

„Also, Ellie. Wie lange haben Sie vor in Polen zu bleiben?“

Wollte er jetzt allen ernstes Smalltalk mir ihr führen? Sie stöhnte frustriert auf. „Keine Ahnung. Darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht.“

Sie fühlte seinen Blick auf sich gerichtet und bemühte sich still sitzenzubleiben und nicht nervös die Hände zu kneten. Er würde ihre Unruhe nur falsch deuten.

„Keine Verpflichtungen, keine Familie, die Zuhause auf sie wartet? Ich nehme an, sie leben in Deutschland?“ Er schielte unauffällig auf den goldenen Ring an ihrem Finger.

„Nein“, sagte sie kopfschüttelnd. „Keine Verpflichtungen. Und ja, ich habe in Berlin gelebt.“

„Haben gelebt?“, hackte er nach.

Ellie überlegte sich bereits eine möglichst unverfängliche Antwort, die sie nicht in Erklärungsnot bringen würde, als er plötzlich aufs Gas drückte und wie ein Verrückter über die Holperstrasse bretterte. Vor ihnen leuchteten die Rücklichter eines Vans auf. Ellie schnappte nach Luft, krallte sich im Polster des Sitzes fest und schloss die Augen. Ihr Herz hämmerte heftig gegen ihren Brustkorb. Sie fühlte die Erschütterung der Schlaglöcher, hörte das Röhren des beschleunigenden Motors und sah sie beide bereits im nächsten Strassengraben liegen.

Erst Aleksanders amüsiertes Lachen liess sie die Augen öffnen. Der Wagen vor ihnen war verschwunden, im Rückspiegel erhaschte sie noch den Lichtkegel dessen Scheinwerfer, bevor sie hinter einer Biegung verschwanden.

Energisch drehte sie sich zu ihrem Fahrer um. „Wollen Sie uns umbringen?“, herrschte sie ihn an.

„Keine Sorge!“, lachte er. „Ich kenne diese Strassen. Ich bin hier aufgewachsen.“

Ellie stierte ihn wütend an. „Und Sie glauben, das rechtfertigt Ihren Fahrstil?“

Das brachte ihn nur noch mehr zum Lachen und Ellies Wut steigerte sich umso mehr. „Halten Sie auf der Stelle an! Ich will aussteigen!“

Aleksander drückte noch mehr aus Gas, die Bäume rasten nur so an Ellies Blickfeld vorüber. Sie hatte Angst, sie wollte schreien! Stattdessen erstarrte sie in ihrer Furcht, krallte sich nur noch fester in das Polster und japste nach Luft. Die Panik hatte sie in ihrem Würgegriff. Wie ein irrer fuhr er über die unebenen Strassen, dann plötzlich bogen sie mit quetschenden Reifen um eine übersichtliche Kurve. Ellie stiess einen spitzen Schrei aus. „Anhalten!“, bettelte sie mit Tränen in den Augen. Brüsk und mit quietschenden Rädern kam der Wagen zum Stehen. Mit zitternden Fingern öffnete Ellie die Beifahrertür und torkelte nach Luft ringend in die Nacht. Ihr war schlecht und sie konnte kaum Atmen. Ihre Brust schmerzte. Sie hatte eine Panikattacke.

Nervös kramte sie aus der Tasche ihres Parkas eine kleine Packung Tabletten heraus.

„Was tun Sie da?“, hörte sie plötzlich Aleksanders vorwurfsvolle Stimme neben sich. Er riss ihr die Tabletten aus den Händen. „Was soll das?“, fuhr er sie an. „Nehmen Sie etwa Drogen? Junkies können wir hier nicht gebrauchen!“

„Das sind keine Drogen!“, schrie sie ihn mit brüchiger Stimme an und rang noch immer nach Luft. Ihre Knie wurden weich, lange würde sie sich nicht mehr auf den Beinen halten können. Sie brauchte jetzt sofort ihre Tabletten!

Er starrte auf die Packung in seinen Händen. „Valium?“

Mit zitternden Händen versuchte sie ihm die Packung zu entreissen, doch er liess es nicht zu, sah ihr stattdessen ernst in die Augen. „Sind Sie krank?“

„Nein!“, schrie sie ihn an und startete einen erneuten Versuch an ihre Beruhigungstabletten zu kommen. Der Arzt hatte ihr gesagt, sie durfte nicht zu lange damit warten sie einzunehmen, wenn die Ängste sie erfassten!

Doch dann tat er etwas, was sie völlig in Panik versetzte; Er warf die Packung in hohem Bogen auf das vor ihnen liegende, im Mondlicht bläulich schimmernde Rapsfeld.

„Sind Sie wahnsinnig?“, schrie sie panisch und sammelte die letzten Kraftreserven, um die Tabletten zurückzuholen.

Doch er packte sie blitzschnell und hielt sie davon ab, in den kleinen Bach vor ihnen zu stürzen. „Sie brauchen diese Dinger nicht, Ellie“, sagte er mit ruhiger Stimme und zwang sie in die Knie.

Ellie wurde hysterisch, sie wand sich weinend unter seinem harten Griff, ihr einziger Gedanke galt nur noch diesen Tabletten, die ihr die Angst nehmen würden, die sie von dem beklemmenden Gefühl in ihrer Brust befreien würden. Sie schlug nach ihm, doch er umfasste ihr verweintes Gesicht mit beiden Händen und zwang sie sitzen zu bleiben. „Ellie, Sie müssen Atmen. Atmen Sie ganz ruhig“, redete er sanft und ruhig auf sie ein.

Sie schloss verzweifelt die Augen und versuchte den Schmerz in ihrer Brust zu ignorieren.

„Atmen Sie. Ein und aus. So ist’s gut.“ Er fasste nach ihrer zitternden Hand. Einen kurzen Moment lang hielt er sie einfach nur fest. Dann drückte er ihre Handfläche in das Gras. „Fühlen Sie, Ellie. Konzentrieren Sie sich auf das Gefühl in Ihrer Hand. Was fühlen Sie?“

Sie wollte aufbegehren, ihn abschütteln, ihre Ruhe haben, sich in ein Loch verkriechen! Doch dann fühlte sie das kühle Gras unter ihren Fingern. Es fühlte sich nass an, nass vom frischen Tau. Auf ihrem Handrücken fühlte sie Aleksanders Körperwärme. Seine Hand lag sanft auf der ihren und plötzlich wollte sie nicht mehr von ihm weg. Seine Nähe fühlte sich tröstlich an. Sie vergrub ihre Finger in der Erde, fühlte die kleinen Steinchen, den Sand zwischen ihren Nägeln und lauschte Aleksanders gleichmässigen Atem, dem Rascheln der Baumkronen und dem Ruf der Nachteule. Sie hörte das sanfte rauschen und Gurgeln des Baches. Sie hörte ihren eigenen Herzschlag. Ein ruhiges, gleichmässiges Pochen.

Langsam schlug sie die Lieder auf und sah in ein Paar wacher, hellblauer Augen. Die Angst war verschwunden. Und mit ihr der Schmerz in der Brust.

Er liess ihre Hand nicht los, als er sich vorsichtig neben sie setzte und ihr den Blick auf die Weite der Felder vor ihnen frei gab. Der Mond stand rund und hell am Himmel. Tausende Sterne funkelten mit ihm um die Wette und tauchten die Landschaft in ein märchenhaftes Licht. Ellie hatte noch nie in ihrem Leben so viele Sterne gesehen! Verzaubert legte sie den Kopf in den Nacken und liess sich ins feuchte Gras fallen.

Sie fühlte Aleksanders Anwesenheit, fühlte noch immer seine warme Haut auf ihrer Hand. Es war ihr egal. Sie wollte sogar, dass dieser Moment für immer so blieb. Sie fühlte sich ruhig und entspannt. Wie hatte er das bloss angestellt?

„Geht es Ihnen besser, Ellie?“ Seine frage kam sanft und vorsichtig.

Ellie löste ihren Blick vom Sternenhimmel und sah stattdessen in seine hellen Augen. Sie nickte und hauchte einen Dank.

„Es ist schon spät. Wir sollten weiterfahren.“ Als sie nicht reagierte, fügte er mit einem schiefen Lächeln hinzu: „Ich verspreche, dass ich anständig fahren werde. Ehrenwort!“

In diesem Moment wusste Ellie: Dieses lächeln konnte ihr gefährlich werden.

 

***

 

Ellie spürte seine forschen Blicke auf sich ruhen. Aber er sagte nichts. Sie versuchte ihre Hände im Schoss ruhig zu halten, doch das Zittern ebbte nur langsam ab. Schweigend fuhren sie durch die sternenklare Nach und bogen schon bald auf eine lange Allee ab. Die hohen, stattlichen Birkenbäume, welche die Strassen wie Wächter flankierten, wogen sachte im Wind. Die weisse Rinde schimmerte bläulich im Mondlicht. Eine unwirkliche Atmosphäre legte sich über die Nacht.

Nachdem sie die Birkenallee hinter sich gelassen und über eine wacklige Holzbrücke einen kleinen Fluss überquert hatten, trat ein Hof aus dem Nichts hervor.

Viel konnte Ellie in der Dunkelheit nicht erkennen, doch sie sah ein grosses, schmiedeeisernes Tor, darüber war ein Schild angebracht. Sie konnte nicht lesen, was dort stand. Sie passierten das offene Gatter und fuhren auf einen weiten Platz. Die Räder knirschten auf dem weichen Kies. Vor ihnen erstreckte sich ein grosses, zweistöckiges Fachwerkhaus mit Reetdach. Zu beiden Seiten davon befanden sich eine Art Schuppen, oder waren es Ställe?

Aleksander machte den Motor aus, stieg wortlos aus und knallte die Fahrertür hinter sich zu. Ellie entschied, es ihm gleich zu tun, atmete tief ein und versuchte das Beben ihrer Hände zu verbergen. Kaum war Ellie aus dem Auto gestiegen, drang ein Schwall aufgebrachter Worte an ihre Ohren. Die Haustür des Fachwerkhauses stand offen und ein älterer Mann, flankiert von zwei riesigen Dobermännern, trat wild gestikulierend auf den Hof. Der Mann hielt in seiner Schimpftirade abrupt inne und starrte Ellie überrasch an. Ganz anders als die beiden Hunde, die ihn begleiteten! Laut bellend und schwanzwedelnd stürmten sie auf den Neuankömmling zu und kreisten sie ein. Ellie war zwar ein Stadtkind, doch sie wusste, dass sie sich jetzt ruhig verhalten musste. Stocksteif stand sie da und liess sich von den beiden Hunden beschnuppern. Ellie hoffte, sie würden ihren erhöhten Pulsschlag nicht bemerken.

Glücklicherweise erlöste sie Aleksander aus ihrer misslichen Lage, indem er die beiden Hunde mit harscher Stimme zu sich rief und mit ihnen in einem der Schuppen verschwand.

„Dobry wieczór!”, begrüsste sie der ältere Herr mit einem gewinnenden Lächeln. Ellie erkannte in dem sonnengegerbtem Gesicht sofort eine Ähnlichkeit zu Aleksander.

„Guten Abend“, erwiderte sie und schüttelte die schwielige Hand des weisshaarigen Mannes. Die Lachfältchen um seine Augen, liessen ihn sofort sympathisch wirken.

„Ich bin Wojtek“, stellte er sich vor und lud sie mit einer einladenden Geste in das innere des Hauses ein. „Sind Sie eine Freundin von Aleksander?“, fragte er mit rollenden Akzent.

Ellie schüttelte den Kopf und trat über die Schwelle in eine grosse, gemütliche Wohnküche. „Ihr Enkel war so freundlich mir eine Unterkunft für die Nacht anzubieten.“

„Dann fühlen sie sich hier wie zu Hause“, hiess sie Wojtek herzlich willkommen und wies sie an, auf einer hölzernen Eckbank Platz zu nehmen. Ellie tat wie ihr geheissen und sah sich in dem grossen Raum neugierig um. Das Täfer der Decke war durch die Jahre dunkel geworden, doch der Parkettboden wirkte modern und war wohl vor nicht all zu langer zeit renoviert worden.

Sie beobachtete Wojtek schweigend, der in der offenen, weissen Landhausküche stand und auf einer Holzplatte irgendwelche Leckereien zusammenstellte.

„Wie heissen sie?“, fragte er plötzlich.

„Mein Name ist Elleonore, aber nennen sie mich bitte Ellie.“

Er blickte von seiner Arbeit auf und sah sie lächelnd an. „Eleonora. Ein wirklich schöner Name.“ Dabei betonte er die letzte Silbe ihres Namens. Ellie wiederstand dem Drang ihn zu korrigieren und sagte stattdessen nur: „Wie gesagt, Ellie reicht völlig.“

Wojtek trat zu ihr und stellte die Platte mit Wurst und Käse, sowie einen Laib Brot auf den Tisch. Die Haustür öffnete sich und Aleksander trat mit einschüchternd düsterer Miene ein und setzte sich neben sie. Der seltsame Blick, den Wojtek seinem Enkel zuwarf, irritierte Ellie. Die Spannung, die zwischen den beiden herrschte, war geradezu greifbar. Doch dann setzte der Hausherr ein freundlicheres Gesicht auf. „Essen Sie, Ellie! Sie müssen essen! Sie sind viel zu dünn!“

Ellie biss sich auf die Unterlippe und verkniff sich ein Grinsen. Hatte sie die gleichen Worte heute nicht schon einmal gehört?

„Das sind Kabanosy vom Jankowski“, erklärte Wojtek und deutete auf lange dünne Würstchen. „Und den Twaróg machen wir hier selbst!“, sagte er stolz.

Ellie verstand kein Wort, dennoch nickte sie höflich und langte hungrig zu.

„Es schmeckt alles wunderbar!“, lobte sie nach einer Weile des Schweigens und freute sich über Wojteks strahlendes Gesicht, als sie in eine der dünnen Kabanosy biss.

„Wie lange möchten Sie bleiben, Ellie?“, fragte Wojtek.

Ellie schluckte den Bissen hinunter. „Ich denke, ich bleibe nur eine Nacht, ich will Ihrer beider Gastfreundschaft nicht ausnutzen“, meinte sie mit einem Seitenblick auf Aleksander, der mit gewitterumwölkten Miene schweigend das Essen in sich hineinstopfte.

„Machen Sie sich darum bitte keine Gedanken! Wir haben Platz genug“, versicherte ihr Wojtek. „Olek, geh und mach den Caravan für die Nacht bereit!“

Aleksander gab ein genervtes Schnauben von sich, erhob sich mit unveränderter Miene und stapfte aus dem Haus.

Wieder an Ellie gewandt, fuhr Wojtek fort: „Sie werden froh sein, ein wenig Ruhe zu haben von uns beiden. Im Camper haben Sie ihre eigenen Vier Wände und werden nicht gestört von uns.“

„Ich möchte Ihnen wirklich keine Umstände bereiten, ich ...“

„Das sind keine Umstände!“, fuhr er dazwischen und lächelte Ellie glücklich an. „Im Gegenteil. Hier ist es oft sehr still, ich freue mich über Ihre Gesellschaft!“

Ellie lächelte und griff nach einer zweiten Wurst.

Nachdenklich fuhr sich Wojtek über das stoppelige Kinn und musterte sie eingehend. Sie erwiderte seinen neugierigen Blick. „Sagen Sie, Ellie“, fing er plötzlich mit einem schrägen Lächeln an, „Was würden Sie davon halten, wenn ich Ihnen einen Job anbiete?“

Ellie stutzte. „Einen Job?“

„Ganz Recht“, meinte er grinsend. „Wissen Sie, Ellie, auf einem Hof wie dem unseren, mit Pferden, Hühnern und Rindern, da fällt ganz schön viel Arbeit an. Und ich bin nicht mehr der jüngste. Wir könnten zwei fleissige Hände gebrauchen.“

„Aber ...“ Ellie schluckte und drehte sich verlegen eine Strähne ihrer Haare um den Finger. „Ich weiss nicht, ob ich Ihnen wirklich eine Hilfe wäre, ich bin nicht besonders geschickt und ...“

„Können Sie kochen?“

„Ich ... Ja, ich glaube schon ...“, erwiderte sie verunsichert. Sie verstand nicht ganz, was der Mann eigentlich von ihr wollte. Sie war ein Stadtmädchen, hatte keine Ahnung von dem Landleben, geschweige denn von Pferden und Rindern!

„Gut. Sie sind eingestellt!“, beschied Wojtek, stand von seinem Platz auf und trat an ihre Seite. Ellie starrte auf die ihr dargebotene Hand und sah perplex in Wojteks freundliche Augen. Er wollte ihr tatsächlich eine Arbeit anbieten? Sofort dachte sie an ihr kleines, gelbes Notizbuch und erinnerte sich an die Worte darin. Einen neuen Job finden.

 

„Babysitten ist kein Job.“

Ellie funkelte Jan böse an.

„Zumindest kein richtiger Job“, korrigierte er sich und warf ihr einen versöhnlichen Blick zu. „Warum kümmerst du dich nicht endlich um deinen Schulabschluss und suchst dir einen Job, der dir wirklich Spass macht? Und sag jetzt nicht es macht dir Freude die verzogenen Gören reicher Snobs zu betütteln.“

Ellie verschränkte die Arme vor der Brust. „Wie oft soll ich den noch durch die verdammte Prüfung rasseln?“

„Es gibt auch andere Menschen mit Prüfungsangst, die das auf die Reihe kriegen. Aber du willst ganz einfach nicht!“

„Ich will ja!“, jammerte sie und schob die Unterlippe vor. „Aber jedes Mal überkommt mich diese Panik und dann ist mein Kopf leer. Einfach leer!“

Jan schüttelte lächelnd den Kopf. Er streckte die Hand nach ihr aus und zog sie auf seinen Schoss. „Vielleicht gibt es ja auch noch andere Jobs. Auch ohne Schulabschluss. Bewirb dich doch einfach. Du hast nichts zu verlieren.“

Ellie seufzte tief. „Na gut. Morgen werde ich die Stellenausschriebe durchforsten.“

„Warum nicht heute?“

Sie knuffte ihn in die Seite.

Er prustete und hielt schützend die Hände vor sich. „Ist ja gut! Dann eben morgen.“

Ellie drückte ihm einen Kuss auf das Grübchen.

 

Entschlossen ergriff Ellie Wojteks Pranke und besiegelte damit den Vertrag.

Wojtek strahlte sie aus seinen blauen Augen heraus an und zeigte dabei eine reihe gelber, abgenutzter Zähne. „Willkommen auf Hof Michalski!“

 

Reiten lernen

„Es ist nichts Besonderes“, sagte Aleksander gelangweilt und öffnete die Tür des eiförmigen, gelben Wohnwagens, der zwischen zwei grossen Eichen ruhte. „Aber ich denke, zum Schlafen reicht es.“

„Er ist perfekt!“ Ellie strahle ihn an und nahm ihm ihr blaues Monster ab. Als sie in sein emotionsloses Gesicht blickte, überlief sie ein Schauer. Er war alles andere als begeistert, dass sie nun länger als geplant hier verweilen würde. Aber damit würde er sich abfinden müssen, beschloss Ellie.

„Bettwäsche finden Sie im Schrank neben der Spüle. Und wenn Sie warmes Wasser wollen, müssen Sie erst den Boiler anstellen.“

Ellie nickte. „Danke“, sagte sie und lächelte ihn erneut an, in der Hoffnung, dies würde seine Strenge Miene vertreiben. Jedoch ohne Erfolg.

„Gute Nacht“, brummte er und verschwand mit tief in die Hosentaschen gegrabenen Fäusten in der Dunkelheit.

Ellie sah ihm kopfschüttelnd nach. Was hatte sie bloss getan, dass er plötzlich so abweisend zu ihr war? Lag es an ihrer Panikattacke? Vermutlich war es das. Aber daran konnte sie jetzt nichts mehr ändern, er kannte ihre Schwachstelle und damit musste sie jetzt leben.

Sie fuhr sich müde übers Gesicht, nahm die zwei Stufen in den Caravan und machte das Licht an. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, als sie zwischen der dunklen Nussbaumeinrichtung die vielen bunten Kissen auf dem Liegebett und die gelben Spitzenvorhänge an den Fenstern registrierte. Zufrieden stellte sie ihren Rucksack in eine Ecke, nahm ihr Notizbuch hervor und liess sich seufzend auf das Bett fallen. Nachdem sie den Hacken bei Einen neuen Job finden platziert hatte, presste sie das Büchlein fest gegen ihre Brus. „Das hätte dir gefallen, Jan“, flüsterte sie in die Stille. „Sehr sogar.“

 

„Ich habe dir doch gesagt, das wird spitze!“, schwärmte er, drehte sich auf dem quietschenden Bett zur Seite und sah sie mit auf dem Arm gestützten Kopf an.

„Ja, ich geb’s ja zu, die Idee mit dem Wohnwagen war gar nicht mal schlecht.“

Jan schüttelte amüsiert den Kopf. „Du kannst es nicht leiden, wenn ich recht habe.“

Ellie funkelte ihn wütend an und machte Anstalten aufzustehen. Doch er fasste sie am Arm und zog sie auf seinen Schoss. „Es tut mir leid“, flüsterte er eine Entschuldigung an ihren Hals und küsste sie auf die Schläfe. Ellies Magen kribbelte. „Kannst du mir verzeihen?“ Sie fühlte seinen heissen Atem auf ihrer Haut und ein kribbeln durchfuhr sie. Kein Ton kam aus ihrer Kehle hervor, sie brachte nur ein Nicken zustande.

Jan zog sie fester an sich und küsste sie sanft auf die halb geöffneten Lippen. Ellies Herz machte einen Hüpfer und ihr ganzer Körper bebte.

„Ich liebe dich“, hauchte er an ihre Lippen und versigelte ihren Mund.

 

***


Aleksander Laune hatte sich auch am Nächsten Tag kein bisschen gebessert. Schweigsam hatte er ihre Anwesenheit am Frühstückstisch geduldet und die bissigen Bemerkungen, die ihm auf der Zunge langen, mühsam hinuntergeschluckt.

„Ich verstehe nicht, warum du ihr einen Job angeboten hast“, knurrte er, während er mit Wojtek zusammen in der Küche das Geschirr spülte. „Sie ist eine verwöhnte Stadtgöre, hat keine Ahnung vom Landleben, geschweige denn von der Pflege von Pferden oder Rindern. Und Geld um sie zu bezahlen haben wir erst recht nicht!“

Wojtek sah seinen Enkel mit einem seligen Lächeln an und drückte ihm den nächsten Teller zum Abtrocknen in die Finger. „Das brauchst du auch nicht zu verstehen, Junge. Ein Mann in meinem Alter darf sich solche Sperenzchen leisten.“

Aleksander schüttelte genervt den Kopf. Er konnte und wollte seinen Grossvater nicht verstehen. Das Wasser stand ihnen bis zum Halse und er stellte noch Arbeiter ein. „Du bist unvernünftig und Widerspenstig wie ein kleines Kind!“, schimpfte er und stellte das saubere Geschirr in die Anrichte.

Wojtek lachte. „Du hast Recht! Und das ist auch gut so, wir alle sollten mehr wie Kinder sein! Wie viel besser wäre dann unsere Welt? Und ausserdem tat mir das arme Mädchen leid. Sie braucht unsere Hilfe, und die werden wir ihr geben.“

„Armes Mädchen?“ Aleksander zog eine Augenbraue skeptisch nach oben. „Dann ist sie entweder eine hervorragende Schauspielerin, oder du ein blinder Narr. Es ist doch immer das gleiche mit diesen Aussteigern, die keinen Bock auf Arbeit haben, ihren Rucksack packen und einfach mal so draufloslaufen, in der Hoffnung irgendein Idiot erbarme sich ihrer und rette sie aus ihrer Misere! Aber hier wird sie nicht lange bleiben wollen, dass versichere ich dir!“ Wütend pfefferte er das feuchte Geschirrtuch auf den Küchentresen.

Wojtek blickte nachdenklich aus dem Fenster und wusch die letzten Schaumreste aus der Spüle. „Womöglich tust du ihr unrecht.“

„Du hättest sie gestern sehen sollen!“, fuhr Aleksander fort, ohne auf die Äusserung seines Grossvaters einzugehen. „Sie wäre vor lauter Angst beinahe in Ohnmacht gefallen, als Jupiter und Aurora auf sie zu gelaufen kamen. Nein, die wird nicht lange bleiben, das ist sicher.“ Er lächelte selbstgefällig, als er den letzten Teller abtrocknete und in den Schrank stellte.

Wojtek stellte den Wasserhahn ab und trocknete die Hände, während er lächelnd aus dem Küchenfenster schaute. „Für mich sieht das aber nicht so aus, als wäre sie sonderlich beeindruckt von den beiden“, meinte er und deutete mit dem Kopf auf den Hof hinaus.

Aleksander schaute aus dem Fenster. Ellie stand in der Mitte des Hofes, flankiert von seinen beiden Hunden. Jupiter liess einen Tennisball in eine der Pfützen auf dem Kiesplatz fallen. Ellie hob ihn ohne zu zögern auf, warf ihn über den Hof und wartete bis die beiden brav den Ball apportierten.

Sie griff erneut nach dem Matsch-Ball und rief den beiden irgendwelche Befehle zu, jedoch ohne Erfolg.

„Dein Vater“, meinte Wojtek plötzlich nachdenklich, „dein Vater hätte ihr eine Chance gegeben. Er hatte ein gutes Herz, war immer für alle da wenn es hart auf hart kam.“

Aleksander presste die Lippen zu einer dünnen Linie. „Ich bin nicht mein Vater!“, grollte er, zerknüllte das Geschirrtuch in seinen Händen und starrte mit zusammengezogenen Brauen weiter aus dem Fenster in den Hof.

Der schwere Seufzer seines Grossvaters schnitt ihm tief ins Fleisch.

„Das sagt ja auch niemand, Olek. Ich will damit nur sagen: Du solltest dem Mädchen eine Chance geben.“

Aleksander knirschte mit den Zähnen und murmelte einen leisen Fluch. Als er Wojteks tadelnden Blick bemerkte, fügte er hinzu: „Sorry, ich weiss. Keine Flüche!“

Er liess Wojtek keine Zeit etwas zu erwidern. Er hing das Küchentuch an den Hacken und schritt energisch hinaus in den Hof. „Szat, Jupiter!“, rief er mit lauter Stimme, sodass seine Worte an den Stallwänden widerhallten.

Ellie drehte sich erschrocken um, anscheinend hatte sie ihn nicht kommen hören. Jupiter führte indes brav den Befehl seines Herrchens aus und setzte sich.

„Er versteht kein Deutsch“, wies Aleksander sie schroff auf ihren Fehler hin.

Sie hob eine ihrer perfekt geschwungenen Augenbrauen, und gab so zum Ausdruck, dass ihr seine Worte missfielen. Doch dann hob sie die Hand mit dem Ball erneut und sprach klar und deutlich: „Aurora , Szat!“ Aurora gehorchte und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie warf den Ball mit einer Kraft, die er nicht für möglich gehalten hätte.

Mit vor der Brust verschränkten Armen stand er nun vor ihr und musterte ihre Erscheinung, registrierte die verblichenen Jeans und das blassgelbe T-Shirt, dass ihre krankhafte Blässe noch unterstrich. Sie sah nicht aus wie eine der typischen Aussteiger, mit ihren teuren Markenkleidern aus einem vormaligen Leben, den Manikürten Nägeln und der vornehmen Solarium-Bräune. Sie erinnerte ihn eher an ein verschrecktes, kleines Kirchen-Mäuschen, das sich bei der kleinsten Erschütterung in sein Loch zurückzog.

Aurora brachte Schwanzwedelnd den Ball zurück und liess ihn vor Ellie in den Matsch plumpsen. Lächelnd kraulte Ellie die Hündin am Kopf und streichelte gleichzeitig Jupiters‘ seidig glänzendes Fell.

„Das sind keine Schosshunde, mit denen man den ganzen Tag spielt“, fuhr er sie brüsk an. „Sie sind da, um den Hof zu bewachen.“

Zögernd, als sei sie nicht schlüssig, ob sie seinem indirekten Befehl Folge leisten wollte oder nicht, liess sie die Arme sinken. Während Aurora zum Spiel auffordernd mit der Schnauzte den Ball anstupste, lehnte sich Jupiter anschmiegend an Ellies Hand und bettelte um erneute Zärtlichkeit.

„Jupiter, Aurora! Idźcie stamtąd!“ befahl er gehässig und deutete den Hunden mit ausgestrecktem Arm von Ellie zu lassen. Die beiden schauten ihr Herrchen mit gespitzten Ohren an, wichen jedoch keinen Schritt von ihrer neuen Spielgefährtin.

Aleksander, der sonst ausschliesslichen Gehorsam von seinen Hunden gewohnt war, verzog den Mund zu einer dünnen Linie. „Idźcie stamtąd!“, brüllte er und sah die beiden mit durchdringendem Blick an. Dabei war ihm nicht entgangen, wie Ellie bei seinen harschen Worten zusammengeschreckt war und nun schützend die Arme vor der Brust verschränkte.

Mit Genugtuung blickte er den Hunden nach, die mit hängenden Köpfen und eingezogenen Schwänzen zu ihrer Hütte liefen und dort Stellung bezogen.

„Od kiedy jesteś taki ściśle z nimi?”, rief Wojteks anklagend aus dem Türrahmen. Aleksander wandte sich, verärgert über dessen Einmischung, zu ihm um. Seit wann er so streng mit seinen Hunden war? Nun das konnte er ihm sagen; seit so ein dahergelaufenes Frauenzimmer seine beiden Lieblinge für sich gewonnen hatte! Das gefiel ihm ganz und gar nicht!

„Siehst du nicht, dass sie sich von dir fürchtet, wenn du so herumschreist?”, fuhr Wojtek fort und deutete kopfnickend auf Ellie, die mit hochgezogenen Schultern und verschränkten Armen dastand.

„Was geht es dich an, wie ich mit meinen Hunden umgehe?”, stellte Aleksander eine Gegenfrage, ebenfalls auf Polnisch. „Ausserdem habe ich niemanden angeschrien, sondern lediglich einen Befehl erteilt. Was kann ich dafür, wenn diese Frau so schreckhaft ist?”

„Wir sollten nicht in ihrer Gegenwart über sie sprechen, das ist unhöflich.”

„Sie versteht ja doch kein Wort von dem was wir sagen, also wird es sie auch nicht stören“, brummte er und sah zu Ellie rüber, welche mit gesenktem Kopf zwischen ihnen beiden hin und herschaute und ganz offensichtlich nicht die leiseste Ahnung hatte, worum sich ihr Gespräch drehte.

Wojtek schüttelte gebieterisch den Kopf. „Das spielt keine Rolle! Sie wird es fühlen, dass über sie gesprochen wird und dieses Gefühl ist nicht angenehm. Du würdest das auch nicht wollen.“ Ohne ein weiteres Wort verschwand Wojtek im Haus und knallte die schwere Holztür hinter sich zu. Ellie zuckte erneut zusammen. Und Aleksander schüttelte, ungläubig über sein Los, dieses verschupfte Etwas von einer Frau unter seine Fittiche nehmen zu müssen, den Kopf.

„Kommen Sie mit, dann zeige ich Ihnen den Hof und Sie können sich nützlich machen“, brummte er verdrossen und deutete ihr, ihm zu folgen.

 

***

 

Ellie konnte nur staunen über dieses Anwesen. Es schien ihr wie ein verwunschener Garten, der Stück für Stück seine Geheimnisse frei gab. Immer Neues gab es zu Entdecken und alle paar Meter gab er ein neues Gesicht Preis. Alte, bröckelnde Mauern zeugten von fast vergessenen Zeiten. Blumentöpfe und Scherben versteckten sich zwischen den Blühenden Rhododendren. Die Fliederbüsche standen in voller Blüte und verströmten ihren schweren, süssen Geruch.

Aleksander führte sie hinters Haus, hinter die Stallungen, einem Backsteingebäude mit Wellblechdach, wo sich ein grosser eingezäunter Reitplatz befand. Weiter hinten ergoss sich das ihr bereits bekannte, gelbe Meer der Rapsblüten.

„Hier“, brummte Aleksander und drückte ihr eine Schaufel in die Hände. Ungeduldig bugsierte er Ellie zu den Stallungen, aus welchen die Köpfe der Pferde neugierig heruauslugten. Aufgeregt blähten sie ihre Nüstern und sie streckten ihre Hälse noch ein wenig mehr, um den Neuankömmling zu beschnuppern. Zögerlich hielt Ellie einem braunen Tier mit langer weisser Blesse die Hand hin. Es beschnupperte sie kurz, doch dann schien es sein Interesse zu verlieren und zog den Kopf zurück in den Stall.

„Hier geht’s lang!“, dirigierte Aleksander sie weiter und öffnete eine Seitentür, welche in ein grosses zweiflügliges Tor integriert war. Entgegen Ellies Befürchtungen roch es nach frischem Stroh, Heu und Pferd. Der Raum machte einen sauberen, gepflegten Eindruck. Rechterhand reihten sich die Pferdeboxen und auf der anderen Seite entdeckte Ellie nebst Sätteln und Halfter auch einen grossen Eisernen Ambos. Als sie weiter ihren Blick über den Raum gleiten liess, fiel ihr auch ein riesiger Blasebalg auf, dessen Ende in einer Art Backsteinofen mündete. Der ganze Stall wirkte wie aus einem anderen Jahrhundert. Weiter hinten entdeckte sie alte Kutschen und Anhänger, hölzerne Gerätschaften und etwas, das aussah wie eine Mühle. Alte Wagenräder, Jutesäcke und geflochtene Körbe lagen überall dazwischen verstreut.

Ellie konnte sich kaum sattsehen, sie hätte stundenlang durch die Scheune wandern können, um Schätze aus einer vergangenen Epoche zu entdecken.

Über den Dachsparren gurrte eine Taube und Ellie zuckte erschrocken zusammen. Die Pferde liessen ein Schnauben verlauten und scharrten mit ihren Hufen.

„Wir sind spät dran“, sagte Aleksander auf die Pferdeboxen deutend. „Ich füttere, Sie misten aus.“ Sie folgte seinem Blick und entdeckte das Verrostete Ding mit einem schmiedeeisernen Rad, das sich wohl eine Schubkarre schimpfte. Ellie musste schmunzeln. Ein modernes Gerät mit Gummipneus hätte hier auch definitiv nicht hereingepasst.

 

***

 

Der Schweiss rann ihr in Strömen übers Gesicht, als sie die Letzte Schaufel Mist auf die Schubkarre hievte. Sie hielt sich den schmerzenden Rücken und konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. Sie sah auf die roten Blasen an ihren Händen und liess einen leisen Fluch verlauten.

„Mein Grossvater mag es nicht, wenn man Flucht.“

Erschrocken hisste sie zur Seite und fuhr sich ertappt über das schweissnasse Gesicht. „Tschuldigung“, nuschelte sie und beeilte sich die übervolle Schubkarre aus dem Stall zu schieben. Der Weg bis zum Miststock war geteert und löchrig. Es erforderte ihre ganze Kraft, die Oberhand über das altertümliche Gefährt zu behalten. Aleksander folgte ihr und als die Karre zu kippen drohte, drängte er sie mit einem brummenden Laut beiseite und schob das rostige Ding kurzerhand selber zum Misthaufen hinter dem Stall. Ellie blieb seufzend im Schatten des Stalls stehen und band ihren Pferdeschwanz neu. Er war Unzufrieden mit ihrer Leistung, das konnte Ellie deutlich spüren. Und er hatte ja auch nicht unrecht, sie hatte sich am Anfang reichlich dämlich angestellt.

Sie nahm einen Schluck Wasser aus der Plastikflasche, die er ihr zwischenzeitlich gebracht hatte. Sein dunkelbrauner Schopf tauchte wieder hinter dem Backsteingebäude auf und verschwand sogleich mit der quietschenden Schubkarre im Stall. Sein Gesichtsausdruck wirkte bestenfalls gleichgültig. Ellie vermutete dass sie der Grund für seine schlechte Laune war, doch er hatte bisher kein Wort darüber verlauten lassen. Es dauerte nicht lange, bis Aleksander mit einem Pferd am Halfter hinaustrat. Er streckte Ellie eine schwarze Reitkappte hin. „Aufsetzen“, sagte er und führte den Braunen auf den mit Rundholz umzäunten Reitplatz.

Ellie gehorchte widerwillig und hastete ihm hinterher.

Als sie ihn erreicht hatte, drückte er ihr die Zügel in die Hände und deutete ihr aufzusitzen. Mit vor Schreck geweiteten Augen starrte Ellie auf den braunen Pferderücken vor ihr. Sie Schluckte leer. Mit einem Mal schien ihr dieses Tier gar nicht mehr so sympathisch, es war viel zu riesig, viel zu furchteinflössend! Ihr Puls beschleunigte sich und sie schielte angstvoll auf die zuckenden Ohren des Tieres.

„Ich ...“ Ellie blickte beschämt auf ihre zitternden Hände. „Ich kann nicht“, sagte sie und liess hastig die Zügel los. Sie hörte Aleksander Schnauben und konnte sich nur zu gut vorstellen, was er jetzt von ihr denken musste. Sie getraute sich nicht aufzusehen, als er die Zügel aufnahm und sich am Sattel zu schaffen machte. Aleksander trat näher an sie heran. Ellie versuchte ihre Atmung ruhig zu halten. Er stand jetzt mit verschränkten Armen vor ihr und schüttelte den Kopf. „Sie räumen ohne mit der Wimper zu zucken deren Mist weg“, stellte er nüchtern fest, „Wenn es aber darum geht, sie zu reiten, sträuben sie sich?“

Ellie zog die Stirn in Falten und versuchte ihre Hände ruhig zu halten. „Scheint so“, meinte sie kleinlaut. So wie er das sagte, hörte es sich wirklich dumm an. Aber die Angst war einfach da. Nicht vom Pferd an sich. Aber die Angst vor dem Versagen, vom hinunterstürzen und sich das Genick zu brechen.

„Ich kann das einfach nicht“, hauchte sie und kniff verzweifelt die Augen zusammen. Sie wollte nicht schon wieder Schwäche zeigen, sie wollte nicht weinen.

Plötzlich fühlte sie seine warme Hand auf ihrem Arm. Sie zuckte erschrocken zurück und riss die Augen auf. Doch Aleksander hielt sie fest und drehte sie um ihre eigene Achse, sodass sie erneut den Pferderücken anstarrte. Er stand direkt hinter ihr. Sie hörte seinen Atem in ihrem Nacken. Sie wollte sich umdrehen, doch er liess es nicht zu. Er umfasste ihre Hand fester. „Schliessen Sie die Augen“, sagte er. Sie drehte den Kopf und sah ihn irritiert an. Doch er blieb hartnäckig. „Schliessen Sie die Augen, Ellie. Vertrauen Sie mir.“

Genau wie am Tag zuvor, bei ihrem Zusammenbruch am Strassenrand, sträubte sich alles in ihr gegen diesen Befehl. Doch dann erinnerte sie sich an das Gefühl der Inneren Ruhe, das er ihr beschert hatte, und sie schloss ergeben die Augen.

Er fuhr ihr beruhigend über den Handrücken und dirigierte sie sanft nach vorne. Sie hörte das Schnauben des Pferdes, und ihr Herz machte einen kurzen Aussetzer. Doch dann fühlte sie seidiges Fell unter ihren Fingerspitzen. Aleksander führte sie weiter nach oben, bis sie die struppige Mähne zu fassen bekam. Ihre Hand glitt über den Hals, weiter über den Rücken, bis zum Schweifansatz. Das Ganze wiederholte sich und plötzlich beruhigte sich Ellies Herzschlag. Sie konzentrierte sich auf die Geräusche des Feldes, den Gesang der Vögel, das Schnauben und Scharren der Pferde. Und auf Aleksanders Atmung. Sie fühlte seine Anwesenheit und Wärme im Rücken. In diesem Moment wurde sie sich seiner viel zu intimen Nähe bewusst und ihre Nackenhaare stellten sich auf. Erschrocken riss sie die Augen auf und zog ihre Hand so schnell zurück, als hätte sie sich verbrannt. Ihre Hände zitterten.

Aleksander roch das Stroh und Heu, das an ihrer Kleidung haftete, doch es war ihr ganz eigener Duft, der ihm die Sinne vernebelte. Ihre Gegenwart beunruhigte ihn plötzlich und er war froh, als sie sich seiner Nähe entzog und Abstand zwischen sie brachte.

Brüsk drehte sie sich zu ihm um. Aleksander bemerkte den neuen, fest entschlossenen Ausdruck in ihrem Gesicht. Er staunte nicht schlecht, als sie ihm die Zügel aus der Hand nahm und meinte: „Ich will es versuchen.“

Er schenkte ihr ein Lächeln und formte seine Hände zu einer Leiter. Sie zögerte nur kurz, ehe sie ihren Fuss im Steigeisen platzierte und sich von ihm helfen lies. Im Nu sass sie auf dem Rücken des Braunen und fasste instinktiv die Zügel fester.

Olek fühlte plötzlich Stolz in sich aufwallen. Er war stolz auf sie.

Er gab ihr Anweisungen, wie sie sich verhalten sollte, wie man die Zügel hielt und wie sie sich positionieren sollte. Alles was er ihr sagte, tat sie mit natürlicher Leichtigkeit. Schnell bemerkte er ihr Talent und so flogen die Minuten nur so dahin. Aus Schritt wurde Trab und schliesslich verstummten seine Anweisungen. Aleksander betrachtete ihren hoch konzentrierten Gesichtsausdruck. Von Angst oder Unsicherheit war keine Spur mehr.

„Es ist spät“, sagte er schliesslich. „Wir sollten dem Armen eine Pause gönnen.“ Er klopfte dem Braunen auf den Rücken und half Ellie abzusteigen. Gemeinsam führten sie ihn zur Tränke und Aleksander zeigte ihr wie man die Schnallen an Sattel und Zaumzeug löste, wie das Leder und die Trense zu reinigen waren und wo das Reitgeschirr hingehörte. Sie lernte schnell und der Tag verging wie im Flug. Zwischenzeitlich verblasste gar sein Ärger über Wojtek und die Lage des Hofes. Und als sie alle gemeinsam am Abend um den Tisch sassen und ein wohlverdientes Abendessen zu sich nahmen, fand er die Idee seines Grossvaters - Ellie einzustellen - gar nicht mehr so schlimm.

 

***

 

Ellie sass auf der Stufe ihres Wohnwagens und sah in den sternenklaren Nachthimmel. Sie lauschte dem Rauschen des Windes, dem zirpen der Grillen und dem Ruf der Eulen.

Aus den Fenstern des Haupthauses fiel ein schwacher Lichtschein auf den Kiesplatz des Hofes und zeigte, dass dessen Bewohner noch auf waren. Ellie zog den Parka enger um ihren Körper, als ein kühler Wind sie erfasste. Tagsüber kroch das Thermometer bereits bis zu 20°, die Nächte hingegen waren empfindlich kalt. Schlafen konnte sie in dem schlecht isolierten Camper nur mit mehreren warmen Schichten und am Morgen schaffte sie es kaum sich aus dem warmen Bett zu bewegen. Aber alles in allem gefiel Ellie ihr neues Zuhause. Und ihr gefiel die Arbeit auf dem Hof, das Kochen mit Wojtek und das reiten.

Lächelnd griff sie in die Tasche des Parkas und holte das gelbe Büchlein hervor.

 

Reiten Lernen

 

Sie setzte ein Häkchen hinter die Zeile, steckte den Stift zurück und verstaute das Notizbuch an seinen Platz.

Erschrocken zuckte sie zusammen, als ein dunkler Schatten aus dem Gebüsch schnellte und auf sie zu rannte.

„Jupiter!“, schimpfte sie den Hund erleichtert aus. „Musst du mich so erschrecken?“

Jupiter bellte kurz auf und schmiegte sich dann zutraulich an Ellies Bein. Sie kraulte ihn hinter den Ohren und liess zu, dass er seine Schnauze in ihrem Schoss vergrub.

Ellie genoss den Moment der Ruhe, streichelte Jupiters seidiges Fell und atmete die kühle Nachtluft ein.

Plötzlich schnellte Jupiters Kopf in die Höhe. Seine Ohren stellten sich auf und er schnupperte aufgeregt. Das bedrohliche Knurren, das seiner Kehle entwich, machte Ellie angst. „Ruhig, Jupiter“, versuchte sie ihn zu beruhigen und suchte ängstlich die Umgebung nach dem Grund für Jupiters Verhalten ab. Eine Vogel krächzte in den Baumkronen der beiden Eichen, die sachte im Wind wogen, als neigten sie sich flüsternd einander zu. Die Schatten zwischen den Bäumen wirkten plötzlich bedrohlich. Jupiter bellte und dann fauchte es aus dem Gebüsch neben dem Camper. Der Hund machte einen Satz auf das Dickicht zu, knurrte und bellte. Eine getigerte Katze schoss aus dem Gebüsch, fauchte den Hund an und machte einen drohenden Buckel. Die scharfen Krallen trafen den dessen Schnautze Zielgenau. Winselnd zog Jupiter den Schwanz ein und wich zurück. Ellie befreite sich aus ihrer Starre und packte den Hund am Halsband, versuchte ihn noch weiter von dem fauchenden Tier wegzuziehen. Da erst registrierte Ellie die kleinen Wollknäuel unter dem Busch. Die Katzenbabys gaben ein jämmerliches Fiepen vor sich, welches sich erst legte, als die Katzenmutter ihnen energisch über die Köpfe leckte.

Plötzlich hörte Ellie ein erneutes Knurren hinter sich. „Oh nein!“, stöhnte sie und versuchte Aurora mit der freien Hand am Halsband zu fassen. Als fühle sich Jupiter durch den Zuspruch seiner Gefährtin bestärkt, preschte auch er erneut nach vorn. „Aus!“, schrie Ellie verzweifelt, als die beiden sie mühelos mit sich rissen. Sie hatte keine Chance, dieser geballten Kraft etwas entgegenzusetzen. „Aufhören!“, schrie sie die Hunde an und versuchte sie irgendwie von den Katzenbabys wegzureissen. Das Gebell und Gefauche steigerte sich und Ellie fürchtete um das Leben der Katzen.

Ein lauter Pfiff liess die beiden Hunde zusammenfahren. „Koniec!“, schrie Aleksander über den Hof und kam in ausholenden Schritten auf den Schauplatz des Geschehens zu. Die Hunde Knurrten ein letztes Mal in Richtung der Katzen und trotteten dann geduckt zu ihrem Herrchen, das nur in T-Shirt und einer langen Jogginghose bekleidet, auf sie zu kam.

„Was soll das?“, verlangte Aleksander zu wissen und funkelte Ellie verärgert an. „Es ist mitten in der Nacht!“

„Es tut mir Leid. Ich konnte sie nicht zurückrufen“, setzte Ellie zu einer Erklärung an und deutete zuerst auf die Hunde, dann auf das Gebüsch. Aleksander trat neben sie und gab einen genervten Ton von sich. „Und deshalb machen Sie so einen Aufstand?“, fragte er sie deutlich missgelaunt. „Das sind nur Katzen!“

Ellie starrte den Mann, der ihr von Anfang an so unsympathisch gewesen war, fassungslos an. „Nur Katzen?“, schrie sie ihn ungehalten an. „Das sind hilflose Babys! Ihre Hunde hätten die Kleinen fast umgebracht!“

„So ist der Lauf der Natur“, sagte er kalt und sah ihr dabei emotionslos in die Augen.

Ellies Hände bebten vor Zorn. Wie konnte er nur so gefühlskalt sein! Sie öffnete zitternd den Mund und wollte ihn gerade so richtig zur Schnecke machen, als er sich einfach umdrehte und ging. „Gute Nacht“, brummte er kaum hörbar und lief mit den Hunden im Schlepptau zurück ins Haus. Ellie liess er mit ihrer Wut im Magen allein zurück, die böse vor sich her schimpfte.

 

Fischen lernen

Ellie schreckte aus mit Herzklopfen aus dem Schlaf, als es laut gegen die dünne Tür des Campers hämmerte.

„Aufstehen!“, donnerte Alexanders Stimme durch die Dunkelheit in das Innere des Wohnwagens. Verschlafen rieb Ellie sich die Augen und tastete blind nach dem Handy auf der Ablage über dem Bett. 4:48 Uhr, leuchteten ihr die Ziffern auf dem Display verspottend entgegen. Stöhnend warf Ellie sich zurück in die Kissen und zog die Decke über den Kopf.

„Stehen Sie auf, Ellie!“, lärmte es erneut von Draussen. Die Katzenbabys, die seit jener unsäglichen Nacht Zuflucht im Camper gefunden hatten, gaben ein klägliches Maunzen von sich.

„Ja doch!“, knurrte sie widerwillig und strampelte die Decke von sich. „Es ist Sonntag!“

„Das ist mir bewusst“, hörte sie seine belustigte Stimme.

Sie schaltete seufzend das Licht an und zog sich absichtlich langsam Jans dicken Pulli an. Sie öffnete die Tür des Campers und warf Aleksander, der mit in die Seiten gestemmten Händen ungeduldig wartete, einen bösen Blick zu.

„Seit wann sind Sie denn so ein Morgenmuffel?“, feixte er und liess seinen Blick amüsiert über ihre verschlafene Gestallt wandern.

„Es ist Sonntag“, wiederholte sie das offensichtliche und strich ihr zerzaustes Haar glatt. Reichte es diesem Tyrann nicht, wenn sie jeden Tag von früh bis spät schuftete? War ihr denn kein freier Tag vergönnt?

„Das sagten Sie bereits. Und jetzt ziehen Sie sich etwas warmes an und kommen Sie ins Haus.“

Es missfiel Ellie, wie er mit ihr redete, doch er war ihr Boss und in den vergangenen Tagen hatte sie gelernt, dass es besser war ihm nicht zu widersprechen.

„Geben Sie mir zehn Minuten“, seufzte sie resigniert und wollte gerade die Tür schliessen, als ein dunkler Pfeil in den Wohnwagen schoss. Mit lautem Miauen begrüsste die Katzenmama ihre Kleinen und leckte ihnen eifrig über die Köpfchen.

Aleksander gab einen Laut des Missfallens von sich, als er die Katzen entdeckte. Er sagte jedoch nichts, stattdessen mahnte er sie zur Eile und stapfte durch die Morgendämmerung zurück ins hell erleuchtete Haus.

 

***

 

Als Ellie das Wohnhaus betrat, war es gerade mal 5:00 Uhr und die ersten Sonnenstrahlen krochen über den Hof. Der Duft frischer Brötchen und Kaffee wehte durchs Haus. Aleksander drückte ihr eine dampfende Tasse in die Hände und Ellie sog genüsslich das herbe Aroma des Kaffees in sich auf.

Wojtek schlurfte die Treppe hinunter und kratzte sich verschlafen am Kopf. „Morgen“, brummte er und verschwand sogleich im Badezimmer.

Aleksander streckte ihr ein Brötchen mit Honig entgegen, welches sie dankend ablehnte. Aleksander zuckte gleichgültig mit den Schultern und biss selbst hinein.

So früh am Morgen brachte Ellie keinen Bissen herunter. Ihr Magen hatte sich in den vergangenen Tagen bereits an den neuen Rhythmus gewohnt. Sie stand um 5:00 Uhr auf, war jeden Morgen pünktlich um 5:30 Uhr im Stall bei den Kühen, versorgte die Hühner, holte die Eier und richtete dann das Frühstück her. Überhaupt hatte sie gelernt, dass in Polen dem Frühstück eine viel grössere Bedeutung beigemessen wurde, als in ihrer Heimat.

„Sind sie fertig?“, fragte Aleksander mit halbvollem Mund und deutete auf die Tasse in ihren Händen. Mit einem Zug leerte Ellie den Kaffee und legte die Tasse in die Spüle.

„Gut. Steigen Sie schon mal in den Wagen, ich komme gleich nach.“

Ellie runzelte die Stirn. „Wo gehen wir hin?“, wollte sie irritiert wissen. Seit sie hier wohnte, hatte sie den Hof nicht mehr verlassen.

„Das werden Sie dann sehen“, sagte er kurzangebunden und packte zwei Bierflaschen in eine Kühltasche.

„Und Wojtek?“, fragte sie patzig, da ihr seine Antwort missfiel.

Ohne aufzublicken meinte er: „Dziadek geht in die Kirche. Wie jeden Sonntag.“

Ellie gab ein Brummen von sich. War es denn zu viel verlangt, dass er ihr einfach sagte was er vorhatte?

„Wollen Sie lieber mit ihm zur Messe fahren?“, fragte er belustigt und sah ihr prüfend ins Gesicht.

Ellie biss sich auf die Lippe und schüttelte den Kopf. Kirche war nicht so ihres und sie hätte ja auch nichts verstanden.

„Dachte ich mir“, meinte er schmunzelnd und deutete ihr draussen zu warten.

Als sie aus dem Haus trat, begrüssten sie Jupiter und Aurora schwanzwedelnd. Sie strich den Hunden über das seidige Fell. Böse war sie den beiden schon lange nicht mehr. Es lag halt in deren Natur, dass sie Katzen nicht mochten. Genau wie ihr Herrchen, dachte sie augenrollend.

Sie trat an den alten Pickup heran und zog ihren grünen Parka enger um die Schultern. Sie lauschte dem Trällern der Vögel und dem Gurgeln des Baches, liess ihren Blick über die ihr bereits vertraute Landschaft gleiten. Die Birken-Allee verlor sich im frühmorgendlichen Nebel, die Sonne warf ihre ersten sanften Strahlen über die gelben Rapsfelder und die Natur erwachte langsam zu neuem Leben. Der Hahn krähte wie immer pünktlich um kurz nach 5:00 Uhr und weckte auch noch die letzten Schläfer. Die Kühe muhten aus den Ställen und warteten ungeduldig auf Wojtek, der sie jeden Morgen mit lieblichen Zurufen begrüsste und molk. Die Pferde gaben ein zufriedenes Wiehern von sich und die Hühner gackerten vor sich hin.

Das Knirschen des Kieses liess Ellie aufblicken. Aleksander kam mit einer Kühltasche und einer grossen Sporttasche beladen auf den Pickup zu. Mühelos warf er die Tasche auf die Ladefläche, drückte Ellie die Kühltasche in die Hände und stieg auf der Fahrerseite ein.

Ellie winkte Wojtek, der zu den Ställen schlenderte, zum Abschied zu und stieg ein. Die schwere Kühltasche stellte sie auf den Boden der Fahrerkabine.

Schweigend fuhren sie vom Hof, über die schmale Brücke und zwischen den Birken hindurch.

Gedankenverloren sah Ellie aus dem Fenster und reib sich die von Blasen übersäten Hände.

„Wollen Sie ein Pflaster?“, riss Aleksander sie aus ihren Gedanken. Sie sah überrasch zu ihm auf und dann stirnrunzelnd auf ihre schwieligen Hände, die noch nie in ihrem Leben so viel gearbeitete hatten wie in den vergangenen Tagen.

„Danke, es geht schon“, meinte sie und versuchte seine Seitenblicke zu deuten.

„Sie haben gute Arbeit geleistet“, sagte er den Blick unverwandt auf die Strasse gerichtet.

Sein Lob traf Ellie völlig unerwartet. Sie brachte nur ein verdattertes „Danke“ hervor und starrte verunsichert auf ihre verknoteten Finger. Noch nie hatte er so etwas Nettes zu ihr gesagt. Im Gegenteil, er geizte nicht mit Kritik und er verlangte, dass seine Befehle sofort und mit grösster Präzision ausgeführt wurden. Dass sie ihre Sache anscheinend gut machte, war ihr neu. Sie hatte immer vermutet dass ihn ihre Unsicherheit und Unwissenheit gehörig auf den Senkel ging. Dass er sie aber jetzt für ihre Arbeit lobte, stimmte sie glücklich und sie konnte nicht verhindern, dass ein zufriedenes Lächeln auf ihre Lippen trat.

Sie fuhren entlang endloser Felder und irgendwann glaubte Ellie die Stelle zu erkennen, an der sie ihren peinlichen Zusammenbruch gehabt hatte. Das Valium lag wohl immer noch irgendwo zwischen den Pflanzen auf dem Feld und gammelte jetzt vor sich hin.

Plötzlich bogen sie auf eine Schotterstrasse ab. Der alte Pickup ächzte und stöhnte, fuhr jedoch zuverlässig in den tiefen Furchen der Strasse zwischen den gelben Rapsfeldern. Bald darauf fuhren sie in einen Wald, immer tiefer und tiefer in das Gehölz hinein, bis nur noch wenige Sonnenstrahlen durch das Blätterdach drangen. Ellie glaubte sich in einem Märchenwald wiederzufinden. Mehr noch, die umgestürzten Stämme, das Moos und die Schlingpflanzen gaben ihm den Anschein eines Urwaldes.

Aleksander fuhr immer weiter in den Wald hinein, bog an unzähligen Weggabelungen ab und schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein.

Ellie gestand sich ein, dass sie alleine niemals den Weg zurück finden würde.

„Wollen sie mich entführen?“

Er wandte ihr sein verdutztes Gesicht zu. „Wie kommen sie darauf?“

Sie machte eine Ausholende Geste. „Weil sich dieser Ort hervorragend dafür eignen würde, jemanden umzubringen und hier irgendwo zu verscharren.“

Er schaute sie überrascht an, dann lachte er. Er lachte laut und hemmungslos. Der tiefe Ton seiner Stimme liess Ellies Innerstes vibrieren. Dieser Laut war ansteckend und ohne es zu wollen hoben sich auch ihre Mundwinkel.

„Ich werde es mir merken“, sagte er lachend. „Nur für den Fall, wenn ich irgendwann eine Leiche zu entsorgen habe.“ Er grinste sie an und sie lächelte zurück.

 

***

Ellie blickte über die glitzernde Oberfläche des Wassers, die so glatt war, dass sich die Uferböschung darin wie ein Ebenbild spiegelte. Unzählige kleine Kringel breiteten sich auf dem Wasser aus, wurden grösser und grösser, bis sie sich im Nichts verloren.

Ellie hauchte ergriffen. Die Schönheit dieses abgeschiedenen Ortes raubte ihr den Atem.

In der Ferne erblickte sie ein Schwanenpärchen, ein Fischreiher flog über den See, in den Baumkronen über ihnen gaben die Vögel ihr Konzert zum Besten und der Wind flüsterte im Blattwerk.

„Haben sie schon einmal geangelt?“, fragte Aleksander, der die Sporttasche öffnete und eine Angelrute hervorzauberte.

Ellie sah ihn verärgert an und schüttelte den Kopf. Es war nicht seine Frage, die sie störte, sondern allein seiner Anwesenheit wegen fühlte sie sich belästigt. Sie wollte diesen magischen Ort nicht mit ihm teilen. Mit Jan hingegen ... Mit Jan hätte sie alles geteilt.

„Na toll“, murrte Alexander und gab ein Seufzer von sich, als sei es ein Verbrechen, noch nie einen Fisch ermordet zu haben. „Hier, halten sie das mal.“

Ellie nahm die Angel nur mit dem grössten Widerstreben entgegen. Ihr graute davor, den armen Tieren einen Hacken durchs Maul zu jagen. Doch sie musste es tun. Das bin ich Jan schuldig, sagte sie sich. Er hatte es geliebt, das Angeln. Aber nie hatte sie sich dazu durchringen können, ihn bei einer seiner Angeltouren zu begleiten. Also hielt sie die Rute ungeschickt von sich, musterte verwirrt die kleine rote Boje, den Hacken sowie die kleinen Bleikugeln an der Schnur, und wartete auf Aleksanders Instruktionen.

In aller Seelenruhe beförderte er derweil ein ganzes Arsenal von kleinen runden Bechern zu Tage, sowie einer Dose Mais.

Ellie musterte ihn stirnrunzelnd. Wollte er sich etwa einen Salat zubereiten?

Er öffnete die Dose, nahm ihr die Rute wieder aus der Hand und befestigte ein Maiskorn am Hacken. „Schauen Sie gut zu“, verlangte er und schwang die Angel mit graziler Leichtigkeit durch die Luft. Der rote Schwimmer landete mit einem Platsch weit draussen auf dem Wasser. Fasziniert verfolgte Ellie den Weg der kleinen, sich ausbreitenden Wellen und beobachtete den Schwimmer, der sich nun zu seiner vollen Grösse aufrichtete. Die Wasseroberfläche beruhigte sich und Ellie starte in diesen Spiegel der Natur. Bei genauerem Hinsehen entdeckte sie lauter kleine Fische, ja ganze Schwärme, die sich nahe an der Oberfläche tummelten. Ihr wurde klar, dass die vielen Kringel auf dem Wasser von den Fischen stammten, die kleine Mücken fingen.

Plötzlich riss Aleksander die Rute in die Höhe, drehte wie verrückt an der Spule und befahl ihr das Netz zu holen. Fahrig strich sie sich die Haare hinters Ohr und suchte angestrengt nach besagtem Netz.

„Beeilen sie sich!“, trieb er sie an und warf ihr einen nahezu kriegerischen Blick zu.

Endlich fand sie das schwarze, runde Netz und beeilte sich, es ihm zu bringen. Doch statt es ihr abzunehmen, deutete er nur nach vorn zum Wasser und wies sie an, es dort zu befestigen. An einem alten, porösen Tau band sie es fest. Lautes Platschen und Zappeln lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf das Wasser. Ein grosser, silberner Fisch mit roten Flossen und weissem Bauch hing an der Angel und kämpfte wild um sein Leben.

Aleksander strahlte eine souveräne Ruhe und Sicherheit aus. Nur das kaum merkliche Lächeln deutete auf seine Zufriedenheit hin. Geduldig wartete er, bis der Fisch sich beruhigt hatte und aufhörte zu zappeln. Mit einer geübten Bewegung packte er den nach Luft schnappenden Fisch, drückte Ellie die Angel in die Hände und löste den Hacken aus dem weit geöffneten Maul. Zu ihrem Erstaunen verletzte er das Tier dabei kaum.

„Wollen sie ihn halten?“, fragte er. „Das ist ein Płoć. Ein Rotauge.“

Ellie, die mit diesem Namen - egal ob auf polnisch oder deutsch - so gut wie nichts anfangen konnte, schüttelte den Kopf. „Lieber nicht“, meinte sie kleinlaut.

Er lachte sie aus, was ihr die Röte ins Gesicht trieb.

„Haben sie etwa angst vor einem Fisch?“, spottete er. „Das ist keine Schlange, keine Spinne und keine Ratte. Nur ein Fisch. Mögen sie etwa keinen Fisch?“

Ellie dachte an Sonntage mit Lachsbrötchen zum Frühstück, an Fischstäbchen mit Majo und Jans angestrengten Gesichtsausdruck beim Sezierversuch eines Fischfilets.

„Ich liebe Fisch. Aber ich spiele nicht gerne mit meinem Essen.“

Er schüttelte grinsend den Kopf und entliess seinen Fang in das von ihr befestigte Netz. „Und jetzt Sie“, entschied er, nicht weiter auf ihre Entgegnung eingehend, und befestigte ein neues Maiskorn am Hacken.

Ellie rieb sich die feuchten Hände an ihrem Parka und schluckte. „Aber Sie nehmen ihm den Hacken aus dem Maul.“

Er nickte. „Einverstanden. Und jetzt nehmen Sie die Rute so in die Hände.“ Er deutete ihr an, die Hände weiter auseinander zu halten und drückte ihr den Zeigefinger der rechten Hand auf die Angelschnur. „Ja genau so. Wenn Sie auswerfen, lassen Sie die Schnur los und kippen den Hebel hier nach vorn. Versuchen Sie’s mal.„

Ellie versuchte sich zu erinnern, wie er zuvor die Angel ausgeworfen hatte. Sie holte aus, warf die Rute mit Schwung nach vorn und pfefferte den Schwimmer mit lautem Platschen auf die Wasseroberfläche.

„Sie müssen die Fische nicht gleich erschlagen“, foppte er sie lachend.

Ihre bösen Blicke missachtend, trat er hinter sie und umfasste ihre Hände mit seinen. „Sie müssen die Schnur schon loslassen“, neckte er und sie hörte das Grinsen in seiner Stimme. Sein Atem kitzelte sie im Nacken und sie fühlte seine Muskelkraft, die ihre Bewegungen lenkte. Eine merkwürdige Unruhe erfasste Ellies Körper. Sie war sich nicht sicher, ob sie Seine Nähe mochte, oder nicht.

Aleksander führte ihre Arme nach hinten. „Loslassen“, sagte er und sie gehorchte. Der Schwimmer flog hoch in die Luft und schlug mit einem sanften Plätschern weit aussen auf der Wasseroberfläche auf. Aleksander kippte den Hebel, der die Schnur an Ort und Stelle hielt, nach vorn und liess ihre Hände los. Er trat einen Schritt zurück und forderte sie auf, die Schnur anzuspannen. Seiner Nähe und Wärme beraubt, fühlte Ellie sich plötzlich seltsam unwohl. Verwirrt über ihre Gefühle, schüttelte sie kaum merklich den Kopf. Langsam drehte sie an der Wurfrolle und beobachtete die Schnur, die sich spannte.

„Und jetzt schauen sie immer gut auf den Schwimmern. Wenn er sich bewegt, ist es ein Fisch!“

Beide starrten schweigend auf das Wasser und warteten. Es war kein unangenehmes Schweigen. Sie hingen einfach nur ihren Gedanken nach und genossen die Ruhe der Natur.

Plötzlich fühlte Ellie einen Ruck an der Schnur und sie riss ungläubig die Augen auf, als der Schwimmer gänzlich unter Wasser verschwand.

„Kurbeln!“ rief Aleksander. „Da hat einer angebissen!“

Wie verrückt drehte Elie an der Kurbel und fühlte deutlich den Widerstand. Ein Kribbeln erfasste sie und ihr wurde ganz heiss vor Aufregung.

„Langsamer“, dirigierte sie Aleksander und drückte die Spitze der Rute nach unten. Plötzlich sprang der Fisch aus dem Wasser und kämpfte wie wild um seine Freiheit. Elie gab einen überraschten Aufschrei von sich. Sie kurbelte weiter, doch im nächsten Moment ging ein Ruck durch die Rute und Elie wäre fast rücklings hingefallen.

„Schade!“, rief Aleksander enttäusch aus. "Sie hatten einen Hecht an der Angel!"

Er machte Anstalten ihr die Angel abzunehmen, doch Elie Schüttelte den Kopf. "Lassen Sie es mich nochmal versuchen."

Er sah sie überrascht an. Dann nickte er und lächelte zufrieden. 

"Ich denke, wir sind über den Punkt der Höflichkeit hinaus. Ich bin Aleksander." Er hielt ihr die Hand hin.

"Elie", entgegnete sie grinsend und sie schüttelten sich die Hand.

 

***

 

Sie lagen im Schatten der Bäume im hohen Gras und starrten in den blauen Mittagshimmel. Die Angelrute hatten sie am Ufer befestigt und sich eine Pause gegönnt. Aleksander nippte an seinem Bier und seufzte zufrieden.

„Wer hat dir das Fischen beigebracht?“, fragte Elie und nahm ebenfalls einen Schluck des milden Bieres, das ihr wirklich gut schmeckte.

Tiefe Furchen bildeten sich auf Aleksanders Stirn. „Mein Vater“, brummte er.

"Verstehst du dich nicht mit deinem Vater?", fragte Sie überrascht. Als sie in Aleksanders Gesicht blickte, wusste sie, dass dies die falsche Frage gewesen war. Sein zuvor entspannter Gesichtsausdruck war verschwunden und sein Kiefer mahlte angestrengt. Elie fühlte sich plötzlich unwohl, sie hätte ihm nicht so eine persönliche Frage stellen dürfen.

"Es war nicht immer einfach mit ihm", seufzte er. Er setzte sich auf und blickte über den See. "Ich war noch ein Kind, als meine Eltern, ich und mein Grossvater gemeinsam auf dem Hof lebten. Meine Mutter starb früh, das warf meinen Vater aus der Bahn. Ich studierte dann in England und mein Vater lebte weiter mit meinem Grossvater hier. Dann wurde er krank und ich kam um zu helfen. Er starb vor einem Jahr."

Elie sog die Luft ein. "Das tut mir leid."

Er sah sie an und zwang sich zu einem Lächeln. "Das muss es nicht", meinte er tonlos. "Es ist gut so, wie es ist."

Elie kaute unruhig auf ihrer Unterlippe. Seine Worte erinnerten sie schmerzhaft an Jan. Es war ihre erste gemeinsame Nacht gewesen und sie erinnerte sich nur zu gut an den nächsten Morgen ...

 

Das Dämmerlicht des frühen Morgens drang durch die Fenster seiner Wohnung und fiel auf die zerwühlten Lacken. Den Kopf auf die Hand gestützt, zeichnete Elie kleine Muster auf seinen Bauch, während sie seit Stunden über alles Mögliche redeten.

„Und deine Eltern?“, fragte sie ihn.

Jan rümpfte die Nase und drückte mit dem Zeigefinger seine Brille gerade. „Was soll mit ihnen sein?“

„Leben sie in Polen, oder hier in Deutschland?“

Sein Blick wurde apathisch und in seiner Stimme schwang ein verärgerter Ton mit, als er sagte: „Weder noch. Sie sind tot.“

Elie starrte ihn betroffen an. „Es tut mir leid“, hauchte sie und fuhr ihm versöhnlich über die Wange. Sein Blick klärte sich und er wandte den Kopf, sah ihr in die Augen. „Ist schon gut. Das ist lange her.“ Er lächelte sie an und seine Grübchen kamen zum Vorschein.

„Was ist passiert?“, wisperte Elie, die ihm den Schmerz nur zu gerne abgenommen hätte.

Er holte tief Luft, setze sich auf und zog sie in seine Arme. „Ich war neun“, begann er zu erzählen und Elie lauschte gebannt. „Wir fuhren von Stettin, wo meine Grosseltern wohnten, nach Berlin. Es waren Sommerferien und die verbrachte ich wie jedes Jahr in Polen. Meine Eltern holten mich ab, es war schon spät, aber die Fahrt dauert ja nur zwei Stunden.“ Er schluckte hart, ehe er fortfuhr. „Es war auf der Autobahn, kurz vor Berlin. Ich erinnere mich nur noch an den Krankenwagen und den Regen.“

„Ein Unfall?“, hauchte Elie den Tränen nahe.

Er nickte. „Sekundenschlaf“, sagte er tonlos und drückte sie enger an seine Brust. „Sie starben beide noch an der Unfallstelle.“

Elie schmiegte sich an ihn, sie fühlte seinen Schmerz, als wäre es der ihrige. „Und was war mit dir?“ Das Bild eines kleinen verängstigten Jungen mit Hornbrille wollte ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen.

„Mir ging es gut. Nur ein paar Kratzer und Schrammen.“

Elie schüttelte fassungslos den Kopf. „Wer hat sich dann um dich gekümmert?“

Jan fuhr ihr sanft übers Haar und streichelte ihren Arm. „Ich kam zu meinen Grosseltern. Sie haben sich gut um mich gekümmert, ich hätte keine bessere Kindheit haben können.“

Elie richtete sich auf, hielt sich an seinen Schultern fest und küsste ihn inniglich. „Ich liebe dich“, flüsterte sie gegen seine Lippen.

 

„Ellie? Geht es dir gut?“

Ellie blinzelte die Erinnerungen beiseite. „J-ja“, stotterte sie und kämpfte gegen die Tränen.

„Es tut mir leid, wenn ich etwas gesagt habe, was dich verletzt.“

Ellie sah ihn prüfend an. Sie wurde einfach nicht schlau aus ihm. Seine Gefühlsachterbahnen brachten sie aus dem Konzept.

„Es ist alles in Ordnung“, log sie und schluckte den Kloss herunter. „Mein Vater hatte vor ein paar Jahren einen Schlaganfall.“ Sie sah ihm in die Augen und er nickte verstehend. „Seither hat er die Wohnung nicht mehr verlassen. Er spricht auch mit niemandem. Ausser vielleicht wenn sein Bier mal alle ist.“ Sie lachte ironisch auf.

„Es ist schmerzhaft einem geliebten Menschen beim Zerfall zuzusehen.“

Sie nickte gedankenverloren. „Und dein Vater? Was hatte er?“

„ALS“, sagte er trocken. „Eine Muskelschwäche. Der Körper versteift immer mehr, bis das Herz stillsteht.“

Ellie schwieg. Und er auch.

Der Tag zerrann in müssigkeit und jeder liess den anderen in Frieden.

„Ich denke, wir sollten so langsam zurückfahren, wenn wir die Fische noch bei Tageslicht ausnehmen wollen“, meinte Aleksander als die Sonne sich bereits dem Horizont neigte und die Wälder und das Ufer in goldenes Licht tauchte.

Ellie verzog angewidert den Mund bei der Vorstellung den Fisch auseinandernehmen zu müssen, was ihn zum Lachen brachte.

„Keine Sorge, Dziadek ist ein Meister darin, er wird dir alles zeigen.“

„Mir?“, entfuhr es ihr entsetzt.

Aleksander lachte laut und half ihr beim aufstehen. „Wem den sonst?“, feixte er. „Du bist doch schliesslich der Lehrling hier.“

Ellie seufzte ergeben. „Meinetwegen. Aber ich fasse keine Organe an, damit das klar ist!“

Aleksander packte die Angelruten zusammen und warf ihr einen frechen Blick zu. „Könnte schwierig werden, aber wir werden ja dann sehen.“

Als sie zurück zum Pickup liefen, blickte Ellie wehmütig über ihre Schulter. Sie würde diesen Ort vermissen.

Aleksander öffnete ihr die Beifahrertür und musterte sie eingehend.

„Wenn du willst, kommen wir nächsten Sonntag wieder hierher.“

„Das wäre wirklich schön“, sagte sie und seine Anwesenheit an diesem magischen Ort störte sie mit einem Mal gar nicht mehr.

Als sie über die Schotterstrasse zurück zur Hauptstrasse fuhren, nahm Ellie ihr Notizbuch hervor.

 

Fischen lernen

 

, las sie.

Lächelnd setzte sie den Hacken hinter die Zeile und verstaute das Büchlein wieder. Sie fühlte Aleksanders neugierige Blicke auf sich ruhen. Doch er sagte nichts und fragte sie auch nicht danach. Ellie sollte es recht sein und so fuhren sie schweigend zurück zum Hof.

Pilze sammeln

Ellie legte die Fischfilets in die brutzelnde Pfanne und dachte grinsend an das Ausnehmens der Fische und das Entschuppen. Wojtek hatte ein wahres Schauspiel daraus gemacht und ihr die aufgeblähte Schwimmblase präsentiert und sie kichernd zerplatzen lassen.

Aleksander hatte ihn ein kleines Kind gescholten, doch Ellie fand gerade das so sympathisch an Wojtek.

„Ellie!“, rief der in dem Moment Händeringen aus. „Das riecht fantastisch! Świetnie!“„Dziękuję!“, übte sie ihr Polnsich und lächelte ihn zufrieden an. Kurz darauf trat auch Aleksander in die Wohnküche, wischte sich den Schweiss von der Stirn und klopfte sich die letzten Strohreste aus dem karierten Hemd.

Wenn sie ihn so betrachtete, in seiner zerschlissenen Jeans, die Haare wild vom Kopf stehend, hatte er nicht mehr viel gemein mit dem Armanianzugträger von vor zwei Wochen.

„Ellie“, riss Wojtek sie aus ihrer Musterung. „Aleksander muss morgen in die Stadt, einige Besorgungen machen. Wärst du so lieb, und würdest mich in den Wald begleiten? Die Kurki sind jetzt reif. Wenn wir uns nicht beeilen, schnappt sie uns noch wer anders von der Nase weg!“

Ellie sah ihn verwirrt an.

„Kurki sind Pfifferlinge“, kam ihr Aleksander zu Hilfe und liess sich mit einem Seufzer auf die Sitzbank fallen.

„Pilze?“ Ellie hob überrasch die Augenbraue.

„Ja natürlich!“ Wojtek nickte bekräftigend. „Anfang Juni ist die beste Zeit!“

„Tu ihm den Gefallen!“, stöhnte Aleksander. „Er gibt ja sonst doch keine Ruhe!“

„Du hast ja nie Zeit für mich!“ Wojtek funkelte seinen Enkel mit verschränkten Armen an.

„Lass uns endlich essen“, wechselte er das Thema und winkte seinen Grossvater versöhnlich zu sich.

Ellie servierte den Fisch mit Kartoffeln und Dill und wünschte den Männern einen guten Appetit.

Ellie dachte an das gelb Buch und Jans Geschichten aus seiner Kindheit, wie er mit seinem Grossvater stundenlang durch den Wald pirschte, auf der Suche nach den grössten und schönsten Pilzen.

„Ich komme morgen sehr gerne mit“, verkündete sie ihre Entscheidung. Wojtek grinste mit vollem Mund und gab seine Zufriedenheit gestikulierend zum Ausdruck.

Aleksander rollte Kopfschüttelnd die Augen. „Aber übertreib es nicht wie letztes Jahr! Ich habe keine Lust nur noch Pilze zu essen.“ Er kaute demonstrativ auf seinem Fisch herum und hielt plötzlich inne. „Das ist gut“, sagte er überrascht. „Sogar sehr gut.“

Ellie lächelte und warf ihm einen selbstbewussten Blick zu. „Ich weiss“, sagte sie und mit halbvollem Mund fügte sie hinzu: „Ich habe ihn ja schliesslich auch selber gefangen und ausgenommen!“

 

***


Wojtek führte Ellie an einem kleinen Wasserlauf entlang in den Wald. „Letztes Jahr waren sie hier doch noch… hm?“
Er verschwand in einem dichten Gehölz aus kleinen Tannen. Ellie beeilte sich ihn nicht zu verlieren und achtete dabei penibel auf die vielen Spinnennetze die zwischen den Bäumen hingen. Nur zu oft saß darin eine fette Kreuzspinne und eine solche Begegnung wollte Ellie um jeden Preis verhindern.

Ellie kroch Wojtek hinterher und plötzlich standen sie vor einer Steinpilz-Familie. Auf einer Fläche von vielleicht drei Quadratmetern wuchsen fünf Schönheiten. Ellie ging ein paar Schritte weiter und auf einmal waren sie überall: Knubbelige, feste, köstliche Champagnerkorken, die verführerisch dufteten.

Wojtek blickte Ellie zufrieden an: „Sag ich doch, das ist der Himmel für Pilzsammler.“ Der große geflochtene Korb war im Nu voll.

Die quietschenden Bremsen eines Fahrrads ließen sie aufblicken.

„Dzień dobry!“, begrüßte sie ein alter knorriger Mann. Er stellte klapprigen Drahtesel an einen Baum und kam winkend auf sie zu.

„Dzień dobry Piotr!“ Wojtek trat auf den Mann zu, klopfte ihm auf die Schulter und küsste ihn überschwänglich auf die Wangen.

Ellie horchte fasziniert dem Gespräch der beiden und ab und zu erfasste sie sogar ein Wort, das sie verstand. Aber sie konnte sich noch immer nicht vorstellen diese Sprache jemals zu beherrschen.

Der knorrige Alte führte seinen Freund zu den prallgefüllten Eimern, die jeweils an den Griffen seines klapprigen Fahrrads baumelten.

„Świetnie!”, rief Wojtek und winkte Ellie aufgeregt zu sich. Świetnie, das wusste Ellie bereits, hiess so viel wie „Toll”.

„Sieh dir diese Vielfalt an!“, schwärmte Wojtek und deutete in den Eimer. Ellie deutete neugierig auf etwas was wie ein Badeschwamm aussah. „Das kann man essen?“, fragte sie mit hochgezogenen Brauen.

„Das ist der beste überhaupt!“, bestätigte Wojtek und nahm den Schwamm beschwingt in Augenschein. „Das ist eine Delikatesse! Aber leider ist er sehr schwer zu reinigen. Zu viele Löcher.“

Stolz zeigte der Alte auch kleine Schwämmchen.

„Die legt seine Frau sauer ein.“ Übersetzte Wojtek.

„Und was machen wir aus unseren Pilzen?“

Wojtek überlegte. „Bigos!“, entschied er und sein Freund nickte bestätigend und hob den Daumen nach oben.

„Was ist Bigos?“

Die beiden Männer starrten sie fassungslos an und Wojtek schlug bestürzt die Hände über den Kopf.

„Boże mój! Kann es denn sein, dass du noch nie Bigos gegessen hast? Du armes Kind!“

Ellie lachte. „Lass mich raten. Heute Abend gibt es Bigos.“

„Bez dyskusji!”

Wojtek klopfte dem Alten auf die Schulter und sie verabschiedeten sich genauso überschwänglich wie sie sich begrüßt hatten.

„Do widzenia Piotr!”
„Do zobaczenia!“, erwiderte dieser, küsste Ellie die Hand und holperte mit seinem Drahtesel durchs Dickicht.

Ellie blickte dem Mann kopfschüttelnd nach.

„Lass uns zurückgehen, Ellie. Sonst wird das nichts mehr mit dem Bigos.“ Er zwinkerte ihr zu.

Gemächlich wanderten sie durch den dichten Mischwald mit Fichten, Tannen und Buchen und horchten dem Gesang der Vögel.

Plötzlich standen sie auf einer Lichtung, mitten auf einem Teppich aus hellgrünem Moos, Flechten kletterten an den alten Kiefern empor.

„Riechst du das?“

Ellie schnupperte gegen den Wind, roch das Moos und etwas würziges, animalisches.

„Ein Hirsch“, klärte sie Wojtek auf und deute zwischen zwei hohe Fichten.

Und tatsächlich, dort stand er, scheuerte mit seinem Geweih die Rinde vom Baum und gab ein dumpfes Röhren von sich.

Ellie hauchte ergriffen und beobachtete das schöne Tier.

„Er sucht ein Weibchen. So verteilt er überall seinen Geruch.“

„Wojtek“, flüsterte sie. „Woher weißt du das alles?“

Er gab einen eigentümlichen Laut von sich und schenkte ihr ein schiefes Lächeln. „Wenn man genug lange hier lebt, lernt man so manches was einem in der Stadt verwehrt bleibt.“

„Hast du schon immer hier gelebt? Mir scheint du kennst jeden Stein und jeden Baum in diesem Wald.“

Er lächelte sie wohlwollend an. „Die letzten Jahrzehnte habe ich hier gelebt, das stimmt. Aber das war nicht immer so.“

Ellie musterte ihn interessiert.

„Komm, lass uns weitergehen“, beschied er und hackte sich bei Ellie unter.

Nach einer Weile begann er zu erzählen, von seiner Kindheit weiter im Süden, an der Ukrainischen Grenze, und vom Krieg.

„Ich war vier oder fünf Jahre alt, als die Russen kamen.“ Er seufzte tief und hielt sich fester an Ellie fest. „Ich weiss noch wie meine Mutter unsere knappen Vorräte im Wald vergraben hat. Sie wusste, was auf uns zukommen würde. Obwohl sie sagten von den Polen würden sie sich nichts nehmen. Sie waren ja schließlich da zum Helfen.“

Sie hatten den Waldrand erreicht und Wojtek blickte schmerzlich über die gelben Felder hinweg. „Und dann als sie da waren, nahmen sie sich alles was nicht Niet und Nagelfest war. Die Hühner, Diesel, Motoren, Essen. Frauen. Unseren Hund haben sie erschossen, das Gekläffe hat sie genervt.“

Er deutete auf eine hölzerne Bank und sie setzten sich. Ellie blickte besorgt in sein bekümmertes Gesicht. Schweiß trat auf seine Stirn.

„Meine Mutter war eine Herzensgute Frau“, fuhr er fort und stieß seufzend den Atem aus. „Sie wollte jedem helfen und so hat sie eine deutsche Familie auf unserem Dachboden versteckt.“

Ellie griff nach seiner Hand und drückte sie fest. Er schenkte ihr ein dankbares Lächeln.
„Ein Mädchen war dabei, vielleicht zwölf Jahre, oder auch weniger, ich weiss es nicht mehr so genau. Als die Russen die Familie fanden, schickte mich meine Mutter fort, aber die Schreie hallten bis in den Wald zu meinem Versteck. Als ich mich in der Nacht aus meinem Versteck wagte und nachhause gekrochen kam, war der Vater der Familie weg. Das Mädchen blieb von da an Stumm und die Russen brachten regelmäßig deutsche Frauen in unser Haus. Und immer schickte mich meine Mutter fort und ich wusste bereits, dass dann das Geschrei von neuem beginnt.“

Ellie drückte seine Hand fester. Er nahm ein Stofftaschentuch aus der Tasche und schnäuzte sich.

„Verzeih mir, Ellie. Ich bin ein alter seniler Narr. Manchmal überkommen mich einfach die Erinnerungen.“

Ellie schüttelte hastig den Kopf. „Danke, dass du mir davon erzählst.“

Er verstaute das Taschentuch und tätschelte ihre im Schoss gefalteten Hände.

„Lass uns Bigos kochen“, wechselte er das Thema und stand stöhnend auf.

Ellie hackte sich bei ihm unter und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

Er lächelte sie dankbar an. „Du hast ein gutes Herz, Ellie.“

Vielleicht, dachte Ellie. Aber auch ein krankes, kaputtes.

 

***

 

„Oh, kurcze!“, fluchte Wojtek und rieb sich den Kopf, den er am Küchenschrank angeschlagen hatte.

Ellie setzte das Häkchen hinter Pilze sammeln und schob das Buch in die Bauchtasche ihres Pullis.

„Kann ich helfen?“ Sie nahm ihm die gusseiserne Pfanne aus der Hand, die er soeben aus der Hintersten Ritze des Küchenschrankes hervorgezaubert hatte.

„Zwiebeln schneiden“, murmelte er und hob zwei Finger in die Luft.

Während Wojtek sich mit dem Gasherd abmühte, der ein Eigenleben zu führen schien, kämpfe Ellie gegen die Tränen beim zwiebelschneiden.

„Kurcze!“, entfuhr es ihm erneut. „Aleksander! Komm und reparier endlich dieses Ding!“

„Was ist denn?“, hallte es von oben und Wojtek fluchte weiter vor sich her.

Aleksander trat frisch geduscht in die Wohnküche, nickte Ellie einen knappen Gruß zu und musterte Wojtek in seinen Bemühungen die Flamme am Leben zu erhalten amüsiert.

Kopfschüttelnd gab er es auf und überließ Aleksander seinen Platz. „Hast du alles bekommen in der Stadt?“

Aleksander nickte und machte sich an irgendwelchen Kabeln zu schaffen. „Die Preise sind wieder gestiegen.“

Wojtek fuhr sich unruhig über die Stirn. Er wechselte ins Polnische und ein fast ängstlicher Ausdruck trat in seine grauen Augen. „Hat das Geld gereicht?“

Er nickte und brachte in dem Moment das Gas zum laufen. Die Flammen tanzten und Wojtek stellte die Pfanne aufs Feuer. Er gab schweigend Speck und anderes undefinierbares Fleisch dazu und forderte Ellie auf ihre kleingeschnittenen Zwiebeln hineinzuwerfen.

„Eine schöne Auswahl“, lobte Aleksander ihre Pilzjagd und deutete auf den gefüllten Korb.

„Ellie ist ein wahres Naturtalent.“ Er zwinkerte ihr zu und versuchte stöhnend ein Einmachglas zu öffnen.

Aleksander deutete ihm kopfnickend das Glas zu geben. Mit einem Poppen öffnete sich der Deckel und ein säuerlicher Geruch entströmte dem Glas.

„Aufgepasst Ellie“, mahnte Wojtek sie und schüttete den Inhalt in die Pfanne. Zischend vermengte sich das Sauerkraut mit der Fleischmasse.

„Und jetzt noch Salz, Pfeffer, Chili, Paprika und das hier.“ Er präsentierte ein getrocknetes Lorbeerblatt.

„Nur eins?“

Er verzog tadelnd den Mund. „Naja, vielleicht zwei, aber auf keinen Fall mehr!“

„Und die Pilze?“

„Kurcze!“, fluchte er ungehalten und schlug die Hände vor dem Kopf zusammen. „Die hätte ich fast vergessen!“

Aleksander lachte und Ellie kämpfte gegen das wohlige Gefühl, das sein dunkles Lachen in ihr auslöste.

 

Wenig später saßen sie alle am Tisch und genossen Bigos mit Brot und einem Glas Wodka.

„So isst man das hier“, hatte Wojtek sie aufgeklärt und die klare Flüssigkeit in ein überdimensioniertes Schnapsglas gegossen.

„Na zdrowie!“

„Na zdrowie“, tat es Ellie den beiden gleich und hob ihr Glas an die Lippen. Der Wodka brannte wie Feuer in ihren Eingeweiden und sie hustete heftig.

Wojtek klopfte ihr auf den Rücken und grinste. „Keine Sorge, Ellie. In ein paar Jahren hast du dich auch daran gewöhnt.“

Ellie lachte. „In ein paar Jahren?“

„Naja“, schmunzelte er, „Zwei Wochen hast du schon überstanden, da sind doch zwei Jahre ein Klacks!“

Ellie nahm einen weiteren Bissen des würzigen Bigos und fixierte Aleksander, der bisher stumm ihrem Gespräch gefolgt war.

Er sah ihr direkt in die Augen, aufrichtig, ohne Häme oder Spott. „Du machst deine Sache gut“, sagte er.

Sein Lob traf sie unerwartet. Stolz wallte in ihr auf. Sie fühlte sich respektiert und akzeptiert. Und Selbstbewusst. Vielleicht das erste Mal in ihrem Leben fühlte sie sich richtig gebraucht und nicht fehl am Platz.

„Gefällt es dir denn hier bei uns, Ellie?“ Forschend musterte Wojtek sie.

„Ja. Sehr sogar.“

Die beiden Männer tauschten einen vielsagenden Blick.

Aleksander räusperte sich. „Dann wirst du bei uns bleiben?“

Ellie biss sich auf die Lippe. Sie dachte an die schöne Zeit auf dem Hof und mit Wojtek. Daran, dass sie hier seit dem Zusammenbruch in Aleksanders Auto keine einzige Panikattacke mehr gehabt hatte.

Sie griff in die Tasche ihres Pullovers und fühlte kaltes Leder.

Sie blickte auf und begegnete Aleksanders forschendem Blick. „Ich würde sehr gerne bleiben.“

Wojtek hob lachend sein Glas. „Darauf trinken wir!“

„Und deine Familie?“

Wojtek warf seinem Enkel einen abfälligen Blick zu.

„Was?“, verteidigte sich Aleksander mit einer Abwehrenden Geste. „Ihre Familie muss doch Bescheid wissen!“

Er fuhr sich über den Bart und sah Ellie mit bedauern an. „Hast du denn deiner Familie nichts gesagt?“

Ellie Schluckte. Die röte trat ihr ins Gesicht, als sie zögerlich den Kopf schüttelte. „Es ist gerade nicht so einfach, mit meiner Familie.“

Wojtek gab ein Schnauben von sich. „Wann ist Familie schon einfach!“ Er warf einen Seitenblick auf seinen Enkel. „Aber wir haben nur diese eine Familie. Darum lohnt es sich zu kämpfen.“

Ellie beobachtete den Blickaustausch zwischen Großvater und Enkel. Es war mehr als deutlich, dass es Spannungen gab zwischen den beiden, doch mehr als alles andere fühlte Ellie die Liebe, die sie verband.

Sie dachte an Lauras verzweifelte Stimme, als sie ihr vor einer Woche mitgeteilt hatte ihre Reise auf unbestimmte Dauer zu verlängern.

„Mama treibt jeden zur Verzweiflung mit ihrer Sorge um dich!“

„Ich kann jetzt noch nicht nachhause kommen. Ich muss noch ein paar Dinge erledigen.“

„Weglaufen bringt doch nichts, Ellie! komm endlich nach Hause, dann wird sich schon alles regeln.“

„Was wird sich regeln, Laura?“

Es blieb Still am anderen Ende.

„Jan hätte das nicht gewollt, Ellie“

Die Wut erreichte ihren Siedepunkt und Ellie konnte nicht mehr an sich halten.

„Du hast keine Ahnung, was Jan wollte und was nicht!“ Ihre Hände zitterten vor Zorn. „Er ist weg! Und außer ihn hat es noch nie jemanden interessiert wie es in mir aussieht. Für euch bin und bleibe ich die Versagerin, die nichts auf die Reihe bekommt!“

Cholerisch pfefferte sie das Handy gegen die Wohnwagenwand. Die Splitter des Displays verteilten sich auf ihrem Kopfkissen.

 

Das schlechte Gewissen setzte Ellie zu. Sie hatte versucht das Display zusammenzukleben, jedoch erfolglos. Also hatte sie im Moment kein Handy und konnte ihre Familie auch nicht informieren. Das ist keine Ausrede, brachte sie die Kritikerin in sich zum Schweigen. Ich werde mich darum kümmern. Schon bald.

 

Unter freiem Himmel übernachten

„Kurcze!“

Ellie verzog grinsend das Gesicht. Im vergangenen Monat hatte sie dieses Wort definitiv am häufigsten gehört.

„Die Achse ist hin“, knurrte Aleksander und kickte gegen den Gummireifen des verrosteten Anhängers.

„Dann werden wir nicht zum Viehmarkt fahren?“

Aleksander wischte sich den Schweiss von der Stirn. „Wir müssen. Wir brauchen das Geld für die Kälber.“

Er fuhr sich durchs viel zu lange Haar und starrte frustriert auf den Anhänger.

„Dziadek!“, rief er seinen Grossvater herbei, der aus dem Kuhstall trat.

„Die Achse ist futsch. Da ist nichts mehr zu machen.“

Wojtek hob gleichgültig die Schultern. „Dann machen wir’s halt auf die altmodische Art.“

Aleksander hob die Augenbraue. „Soll heissen?“

„Mit den Pferden. Wir treiben sie mit den Pferden an.“

„Ein Viehtrieb?“, entfuhr es ihm entgeistert. „Das dauert doch ewig!“

Wojtek überlegte stirnrunzelnd. „Zwei Tage. Mehr nicht.“

Aleksander seufzte laut. Er massierte sich den schmerzenden Nacken und schüttelte frustriert den Kopf. „Zwei Tage!“

„Hast du eine andere Lösung?“

„Nein“, murmelte er. „Die Miete für den Viehtransport können wir uns nicht leisten.“

„Dann zieht euch um! Ich mache euch etwas zu Essen parat.“

Aleksander riss die Augen auf. „Du schickst uns alleine dort hin?“

„Ich bin alt, Olek. Solche Sperenzchen machen meine Knochen nicht mehr mit.“

„Und das aus deinem Mund“, feixte er und schüttelte fassungslos den Kopf. „Du hast ihn gehört, Ellie.“ Er zuckte mit den Schultern und deutete ihr ihm zu folgen. „Wir brauchen gute Schuhe und warme Kleidung. Es wird kalt in der Nacht.“

Ellie packte ihn am Ärmel seines hochgekrempelten Hemdes. „Heisst das, wir werden draussen übernachten?“ Eine tiefe Aufregung erfasste sie.

Er sah ihr prüfend ins Gesicht und nickte. „Das scheint dich ja eher zu freuen, als zu beunruhigen?“

Sie zuckte schüchtern mit den Schultern. „Ich stelle mir das nur sehr abenteuerlich vor.“

Er lachte und sah ihr dabei kopfschüttelnd ins Gesicht. „Was ist nur mit der grauen Maus geschehen?“ Er zwinkerte ihr zu und schob sie mit leichtem Druck im Rücken die Treppe nach oben. „Ich gebe dir einen Rucksack und eine warme Jacke von mir.“ Er trat in ein Zimmer und deutete Ellie zu folgen. Sie liess ihren Blick fasziniert über die Altholz-Einrichtung gleiten. Rotkarierte Bettwäsche und Leinen-Vorhänge rundeten das Bild einer Alpenhütte ab. Erneut verwirrte Ellie dieser Kontrast, der so gar nicht zum Armani-Rolex-Träger passte.

Er drückte ihr die besagten Dinge in die Hände und schielte auf den Altmodischen Wecker auf dem Nachttisch. „Sagen wir in einer Stunde reisebereit bei den Pferden?“

Ellie zögerte. „Ich ... ich bin mir nicht sicher ob ich das schaffe.“

„Dann halt in anderthalb Stunden.“

Sie legte den Kopf schief und rollte mit den Augen. „Du weißt dass ich nicht das meine.“

Er sah sie mit diesem durchdringenden Blick an und am liebsten wäre sie ihm ausgewichen, doch sie hielt stand.

„Du kannst das, Ellie. Azura ist eine geduldige Stute, sie wird dir keine Probleme bereiten.“

Sie nickte zustimmend. „Aber ich weiss gar nicht was ich tun soll, ich werde dir keine Hilfe sein, ich ...“

„Das wird schon.“ Er fasste sie bei den Schultern. „Ich weiss auch nicht so recht was uns erwarten wird, ich mache das auch zum ersten Mal.“

Ellie verlor sich im Blau seiner Augen. „Hast du gar keine Angst?“

Er biss sich auf die Innenseite seiner Wange. „Das Leben hat mich gelehrt keine Angst vor neuen Dingen zu haben. Sonst würde man in ständiger Angst leben.“

Sie atmete tief ein. „Ich wünschte ich könnte dasselbe behaupten.“

Er lachte. „Wir sehen uns in einer Stunde.“

Damit schob er sie aus dem Zimmer und überliess sie ihren Ängsten.

Ellie lies sich Zeit. Und als sie über den Hof bis zu ihrem neuen Zuhause schlenderte, dachte sie wie so oft, das dies der faszinierendste Ort war, den sie je gesehen hatte.

Im Camper angekommen kramte sie nach ihren Sachen und stopfte diese mit nervösem Magen in den Rucksack. „Kleopatra!“, schimpfte sie lachend, als die Katzenmama ihren Kopf neugierig in den Rucksack steckte. „Da ist nichts für dich! Keine Wurst, kein Fisch und auch keine Leckerlis!“

Kleopatra gab ein missmutiges Miauen von sich, als Ellie sie zurück auf den Boden setzte.

„Kleopatra? Ernsthaft?“

Ellie drehte sich erschrocken um und fasste sich ans pochende Herz. Sie hatte ihn nicht kommen hören.

Mit verschränkten Armen lehnte Aleksander an der Türzarge und beobachtete sie schmunzelnd.

„Ich fand den Namen passend, sie benimmt sich als gehöre ihr die Welt.“

„Sehr einfallsreich.“ Er legte den Kopf schief und deutete ihr vorwärtszumachen.

„Pinsel scheint dich zu mögen.“

Er runzelte die Stirn und folgte ihrem Blick zu seinem Hosenbein. Ein Schwarzes Kätzchen mit weisser Schwanzspitze hatte seine Schnürsenkel für sich entdeckt. Eifrig kaute es an den Schnüren und machte wilde Purzelbäume beim Versuch diese zu stibitzen.

Aleksanders amüsierter Gesichtsausdruck zauberte ein Lächeln auf Ellies Lippen.

Er hob das Wollknäuel hoch und kraulte dessen Fell. Ein sanfter Ausdruck lag in seinen Augen.

Etwas regte sich in Ellie. Sie glaubte einen anderen Mensch vor sich zu haben. „Hätte nie geglaubt dich mal mit einer Katze im Arm zu sehen.“

Er lächelte, ohne den Blick von Pinsel zu lösen. „Ich auch nicht. Aber man sollte ja schliesslich immer offen für neues sein.“ Jetzt sah er ihr in die Augen. „Sonst könnte einem womöglich etwas entgehen und man würde es später irgendwann bereuen.“

 

***

 

Azura hatte einen angenehmen Schritt und trotte praktisch von allein hinter der Herde her. Aleksander ritt ihnen voraus, Jupiter und Aurora flankierten die Kälber mit den Mutterkühen und verhinderten das Ausscheren der Tiere.

Aleksander führte sie zielsicher über Feldwege zwischen rotem Mohn und grünem Weizen. Sie überquerten kleine Bäche und zogen durch dunkle Wälder, stets begleitet vom einheitlichen Muhen der Kälber.

Ellie hatte viel Zeit ihren Gedanken und Erinnerungen nachzuhängen und sie dachte an Jan und seine Vorliebe für Abenteuer. Das hätte dir gefallen, dachte sie.

„Wir machen hier eine Pause, die Felder liegen brach und es wird den Bauer nicht stören, wenn wir die Kälber hier weiden lassen.“

Ellie, froh um eine Pause für ihren Hintern, stieg vom Pferd und band die Zügel um einen der jungen Bäume.

Aleksander tat es ihr gleich und liess sich ins hohe Gras fallen.

„Irgendwie finde ich es gar nicht mehr so schlimm, das der Anhänger kaputt ist.“ Er grinste sie an.

Ellie schlang die Arme um die Beine und blickte über die in der Nachmittagssonne glühenden Mohnblumen. „Finde ich auch“, seufzte sie selig.

Mit einem Blick auf seine Rolex meinte er: „In vier Stunden geht die Sonne unter. Ich schlage vor wir reiten noch zwei Stunden und suchen uns dann einen Platz zum übernachten.

Ellie nickte. „Ist die eigentlich echt?“ Sie deutete auf seine Armbanduhr.

Er runzelte die Stirn. „Ja, warum?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Nur so. Sie passt irgendwie nicht zu dir.“

Er gab ein Schnauben von sich. „Ein Überbleibsel aus vergangenen Zeiten. Hättest du mich früher gekannt, würdest du so etwas nicht sagen.“

„Mir ist schon klar, das ein einfacher Landwirt keine Armanianzüge und Rolexuhren trägt“, verteidigte sie sich reserviert. „Warst du ein Banker?“, feixte sie.

„Versenkt“, bestätigte er.

Sie hob überrascht eine Augenbraue.

„Aber nicht hier. In London.“

„London?“, entfuhr es ihr. „Wie ist es dort?“

„Laut.“

Sie boxte ihn spielirisch in die Seite. „Komm schon! Lass mich nicht nach Informationen betteln!“

Er lachte. „Na gut. Es ist laut, voll und stickig. Aber auch spannend und bunt.“

„Wie lange warst du dort?“

„Ich habe mein Studium in London abgeschlossen und danach acht Jahre dort gearbeitet und gelebt.“

„Acht Jahre ist eine lange Zeit“, sinnierte sie und dachte dabei an die acht Jahre Ehe mit Jan. Unbewusst liess sie den Goldring um ihren Finger kreisen.

„Vermisst dich dein Mann nicht, wenn du so lange wegbleibst?“

Eine eiserne Klaue legte sich um Ellies Herz. Die Frage war wie ein Schlag ins Gesicht.

Sie fühle seinen analysierenden Blick und ihr wurde schlecht. Ihr Atem stolperte.

„Nein“, sagte sie bitter. „Er ist tot.“

Sie hörte wie er die Luft anhielt. „Entschuldige. Das war unsensibel von mir.“

Sie kuschelte sich tiefer in Jans Pulli. Suchte seine Nähe.

„Wir sollten jetzt weiter gehen“, liess er sie wissen und klopfte sich das Gras von der Jeans.

Ellie nickte und kämpfte den Kloss hinunter.

 

Ihr Weg führte an kleinen Dörfern vorbei und immer mehr Ruinen und leerstehende Rohbauten standen vereinsamt in der Landschaft.

„Warum stehen die Häuser alle leer?“, fragte sie ihn, als sie im Schutz einer alten Backsteinmauer ihr Lager für die Nacht aufbauten.

„Das ist die hässliche Seite der Migration.“

Als er ihren Fragenden Blick registrierte, holte er tief Luft und steckte den schmerzenden Rücken. „Die Wirtschaft treibt die Menschen ins Ausland, wo es Arbeit und gute Löhne gibt. Zurück bleiben die leeren Häuser und wenn der Besitzer sein Glück im Ausland gefunden hat, kommt er nicht mehr zurück und die Häuser zerfallen.“

„Irgendwie traurig“, murmelte sie nachdenklich.

„Solange die Wirtschaftslage gleichbleibt, wird sich nichts daran ändern.“

Er wandte wirsch den Blick ab und deutete in einen kleinen Wald abseits des Feldes. „Ich gehe Feuerholz suchen. Du bleibst hier und passt auf die Herde auf.“

Ellie blickte ihm nach, folgte seinen breiten Schultern und dem fast schulterlangen wippenden Haar. In seinem karierten Hemd sah er aus wie ein Holzfäller aus alter Zeit. Gar nichts an diesem Menschen erinnerte an den Londoner-Businessmann.

Als er schwer beladen mit Feuerholz zurück zu ihrem Lager kam, glühten die Wolken am gelben Himmel orange und die untergehende Sonne tauchte die Felder in kupfernes Licht. Als die letzten Sonnenstrahlen am Horizont verschwanden, fröstelte Ellie.

„Ich mache gleich Feuer, dann wird es besser.“ Er reichte ihr seine Lederjacke.

„Danke“, sagte sie überrascht über seine Aufmerksamkeit.

Kurze Zeit später sassen sie mit ihren Sandwiches am Feuer und tranken Bier aus der Büchse.

Ellie lauschte dem Grasen und leisen Muhen der Kälber, dem bellen der Hunde in irgendwo auf einem Hof in der Nähe und Aleksanders Atem.

„Es ist so friedlich hier. Ich kann mir kaum vorstellen, dass hier einmal Krieg war.“

Aleksander lehnte sich entspannt nach hinten und nahm mit einem zufriedenen Seufzen einen Schluck Bier.

„Berlin war doch genauso zerbombt.“

„Schon“, sinnierte Ellie und verzog den Mund. „Aber Berlin ist ... halt Berlin.“

„Magst du die Stadt nicht?“

Ellie schüttelte den Kopf. „Ich wollte nie dort leben, aber Jan ... Er hatte dort Arbeit und konnte nicht weg.“

„Jan? Dein Mann?“

Ihr Atem stolperte erneut. „Ja“, hauchte sie und zog Aleksanders Jacke enger um ihre Schultern.

„Ellie?“

„Hm?“ Sie hob den Kopf und entgegnete seinem eindringlichen Blick.

„Wirst du mir eines Tages erzählen was passiert ist?“

Sie schluckte hart. „Vielleicht. Eines Tages.“

Sie schwiegen doch nach einer Weile hielt sie diese Stille nicht mehr aus. „Was heisst eigentlich Mohnblume auf Polnisch?“

„Mak.“

„Mak?“ Sie taxierte ihn konsterniert. „Wie kann so etwas schönes wie eine Blume Mak heissen?“

Er lachte und Ellies Bauch vibrierte.

„Ich habe die Sprache nicht erfunden!“ Er hob beschwichtigend die Hände.

„Mak“, wiederholte sie widerstrebend und schüttelte den Kopf.

 

***

 

Mitten in der Nacht wachte Ellie auf. Es waren nicht die fremdartigen Geräusche, die sie aus dem Schlaf rissen, sondern der einfallende Regen.

„Kurcze!“, fluchte Aleksander und rappelte sich auf.

Jupiter, der in der Nacht Ellies Gesellschaft gesucht hatte, befreite sich aus ihrer Umarmung und schüttelte sich die Tropfen aus dem Fell. „Jupiter!“, quietschte sie.

„Pack deine Sachen zusammen“, wies Aleksanders sie griesgrämig an. „Dort drüben gibt es eine Jägerhütte.“ Er deutete auf das kleine Wäldchen und packte fahrig die Schlafsäcke zusammen.

Der Regen fiel jetzt in Strömen auf ihre Köpfe hernieder, das Feuer war längst erloschen und Aleksander trieb sie zur Eile an. „Hier“, sagte er und drückte ihr die Zügel der beiden Pferde in die Hand. „Du nimmst die Pferde, ich hole die Mutterkühe und die Kälber werden uns von ganz allein folgen.“

Ellie nickte und lief los. Der Wald wirkte düster und bedrohlich. Ein Blitz schlug in der Nähe ein und beleuchtete für einen kurzen Moment den dunklen Schlund. Sofort entdeckte Ellie die Holzhütte.

Mit eingezogenem Kopf rannte sie los und zog sie die Pferde hinter den Holzverschlag. Sie band die beiden fest und trug die schweren Sättel einen nach dem anderen keuchend in die baufällige Hütte. Es war stockdunkel und es roch modrig, nach feuchtem Stroh und Tier. Ellie holte mit vor Kälte zitternden Fingern die kleine Taschenlampe aus der Satteltasche hervor und leuchtete in den kargen Raum. Eine grosse Feuerstelle mit Kamin, ein Holztisch mit zwei Stühlen, und ein verrostetes Bettgestell. Der Boden war mit einer dünnen Schicht Stroh bedeckt und der Regen tropfte an manchen Stellen durch das undichte Dach.

Ellie hörte durch das Trommeln des Regens das Muhen der Kälber und Auroras Gekläffe.

Aleksander trat ein und schüttelte sich den Regen von den Schultern. Das Wasser tropfte über seine langen Haare auf seine durchnässte Kleidung. Ellie leuchtete in sein Gesicht er hielt mit einem Murren schützend die Hand vor die Augen.

„Sorry“, nuschelte sie und deutete mit dem Lichtstrahl auf den Kamin. „Vielleicht sollten wir ein Feuer machen?“

„Gute Idee“, brummte er und rieb sich fröstelnd die Hände. Er zog sich die vor Matsch triefenden Schuhe aus.

„Hier ist Holz!“, rief sie erfreut aus, als sie den Stapel neben dem Kamin entdeckte. „Und es ist trocken!“

„Hm.“, murrte er und streckte ihr ein Feuerzeug entgegen.

Sie musterte ihn kritisch.

„Macht nicht normalerweise der Mann Feuer?“

Er gab einen missbilligenden Ton von sich, als er den Pulli über den Kopf zog. „Wo bleibt da die Emanzipation?“

Ellie seufzte und griff nach den Holzscheiten. Sie stapelte sie zu einem Tipi und klaubte etwas von dem Stroh auf dem Boden zusammen.

„Das sieht ja richtig professionell aus“, feixte Aleksander und wrang seine Kleidung aus.

Das Stroh fing sofort Feuer und die flackernden Flammen frassen sich in die Holzscheite.

Stolz auf ihre Leistung, drehte sie sich um und stand Aleksanders nacktem Oberköper gegenüber. Ihr Herz setzte einen kurzen Moment aus. „Willst du dir den Tod holen?“, schimpfte sie und überreichte ihm seine Lederjacke, die sie grösstenteils vom Regen geschützt hatte.

Er zog sie an und schloss den Reissverschluss, versperrte die Sicht auf seine Muskulöse Brust.

„Die Sachen sind nass und ich habe keine Lust auf eine Erkältung.“

Er hing sein Hemd und den Pullover über den Kamin und wärmte sich reibend die Hände am Feuer.

„Das Bett hat keine Materatze“, stellte Ellie fest.

„Wir können die Sättel als Kissen nutzen und hier am Feuer schlafen.“

Er breitete die Wolldecke auf dem Boden aus, platzierte die Sättel und deutete ihr sich hinzusetzten. Er nahm die Schlafsäcke hervor und deckte Ellie fürsorglich zu, zog ihr die Schuhe aus und wickelte den Stoff um ihre Beine.

„Danke“, hauchte sie und vergrub sich tiefer in den Kokon.

Er lehnte sich an den anderen Sattel und streckte die Füsse gegen das knisternde Feuer.

„Deine Socken sind nass“, stellte Ellie fest.

„Die trocknen“, murmelte er und zog den Schlafsack um seine Schultern.

Ellie grinste. „Hast du so etwas verrücktes schon einmal erlebt?“

Er gab ein Schnauben von sich. „Nein. Ganz sicher nicht.“

Sie hörte die Frustration aus seiner Stimme. „Ich hätte schon viel früher den Anhänger reparieren sollen.“

„Ich bin froh, hast du es nicht gemacht.“

Sie lächelte ihn an und seine Stirn glättete sich. Er sah sie mit einer Mischung aus Neugier und Unglauben an.

„Nächste Woche ist Sommersonnenwende“, wechselte er brüsk das Thema. „Das wird bei uns im Dorf immer gross gefeiert.“

Es schien Ellie, als würde er etwas in ihrem Blick suchen, sie war jedoch nicht sicher, ob er es gefunden hatte. „Würdest du mit mir zu dem Fest gehen?“

Ellie riss überrascht die Augen auf. „Mit mir? Als Begleitung?“

„Ich würde ja jemand anderes Fragen, aber die Sache ist kompliziert.“

Ellie ging nicht auf diese Aussage ein. „Ich habe nichts anzuziehen.“

Er warf ihr einen amüsierten Blick zu. „Das Problem lässt sich lösen.“

„Und ich kann nicht tanzen.“

„Aber ich kann es.“

Ellie wandte ihm den Kopf zu. „Kannst du es mir beibringen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Wenn du willst.“

Ellie nickte bekräftigend. „Wenn du mir das Tanzen beibringst, dann komme ich mit.“

„Gut“, sagte er und lächelte.

Ellie rieb sich die Kalten Hände und lächelte zurück.

Er sah sie besorgt an. „Ist dir kalt?“

Sie hauchte bestätigend gegen ihre kalten Knöchel.

Er griff nach ihren Fingern und zog sie an seine Seite. Ihre Hände verschwanden in seinen warmen Pranken. Die Plötzliche Nähe zu ihm verunsicherte Ellie und sie wollte Abstand zwischen sie bringen, doch er hielt sie fest, zog sie an seine Brust und deckte sie mit seinem Schlafsack zu.

Das Feuer knisterte, der Regen trommelte auf dem Dach und Ellies Herz pochte laut. Doch Aleksanders gleichmässiger Atem beruhigte ihr Innerstes und nach einer Weile erlaubte sie es sich zu entspannen. Sie horchte seinem Puls und genoss seine Körperwärme. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief sie ein.

 

 

  (Fortsetzung folgt)

Impressum

Texte: Mia Mazur
Tag der Veröffentlichung: 19.10.2016

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle Glückssucher und Sorgenfresser

Nächste Seite
Seite 1 /