Cover

Kapitel 1

„Sapperlot!“, fluchte er.

Den Blick über die unendliche Weite der saftig grünen Hügel schweifend, suchte er vergeblich nach dem ausgemachten Treffpunkt.

Er tupfte sich mit einem spitzenbesetzten Taschentuch den Schweiß von der Stirn, als sich wie auf Kommando eine Wolke vor die Sonne schob, und die sengende Mittagshitze einer angenehmen Kühle wich.

 

Beim fünften Hügel, am Ufer des Tok’s, unter dem blühenden Kirschbaum, hatte der Zwerg gesagt.

Seit gefühlten Stunden lief er nun am Flussufer entlang, doch einen Kirschbaum, hatte er bisher nirgends ausfindig machen können. Zwerge waren wohl nicht so solide und zuverlässig wie Krete, stellte er ernüchternd fest.

 

„Heda!“, hörte er unvermittelt eine dunkle Stimme aus der Ferne rufen, gerade als er sich dazu entschieden hatte, den Rückweg anzutreten. Das Glück schien ihm nicht hold zu sein. Er stieß hörbar die Luft aus den Lungen, als er den Zwerg auf einer kleinen Anhöhe entdeckte.

„Seid Ihr der Herr Inventus von Felsenfeld unter dem Felsen?

„Der bin ich“, meinte er und hielt sich schützend die Hand vor die Augen. Unerbittlich brannte die Sonne wieder auf die Erde nieder und brachte ihn erneut zum Schwitzen. Er war sich so viel Licht einfach nicht gewohnt, er sehnte sich nach seiner dunklen Werkstatt unter dem Felsen bei Felsenfeld, wo er in Ruhe und bei angenehm kühlem Klima seinen Erfindungen Leben einhauchen konnte. Frische Luft wurde definitiv überbewertet, entschied er.

„Mein lieber Herr Inventus!“, meinte der Zwerg mit weit ausgestreckten Armen, als er endlich vor ihm stand.

Er hatte bereits von der überschwänglichen Herzlichkeit der Zwerge gehört, doch dieses Verhalten befremdete ihn und er konnte sich nicht dazu überwinden, in die Umarmung einzuwilligen. Stattdessen entschied er sich zu einem knappen „Zwerg Robak“, und erwiderte die Begrüßung mit distanzierter Höflichkeit. Ein falsches Lächeln musste genügen.

Doch der Zwerg dachte gar nicht daran, sich damit zu begnügen. „Nicht so schüchtern!“, meinte er, und zog den verdatterten Herrn Inventus in seine starken Arme. In die viel zu starken Arme! Obschon der Zwerg ihm nur bis zur Brust reichte, japste der Kret panisch nach Luft und versuchte sich aus der ungewollten Umarmung zu winden.

Genauso überschwänglich wie ihn der Zwerg in seine Arme gezogen hatte, schob er ihn nun auch wieder von sich.

Ilja Inventus griff sich an den Hals, als hätte ihn ein Riese mit seinen Pranken erwürgt und rückte die schiefsitzende Brille auf seiner Nase zurecht. Seiner Empörung verlieh er durch eine verzerrte Grimasse Ausdruck, doch der Zwerg schien sich daran nicht zu stören. Munter plauderte er drauflos und ließ ihn nicht mehr zu Wort kommen.

„Mein lieber Herr Inventus, hatten wir uns nicht unter dem Kirschbaum verabredet? Naja, ist ja auch egal, aber lassen Sie uns nun zum Geschäftlichen übergehen. Kommen Sie, setzen wir uns in den Schatten dort drüben“, sprach er und unterstrich jedes seiner Worte wild gestikulierend.

Der Kret verschwieg es dem Zwerge, dass er den Kirschbaum für einen Apfelbaum gehalten hatte. Baum war einfach Baum, entschied er. Grün, braun, voller Ungeziefer und alle Jahre im Herbst viel Arbeit machend. Überflüssig. Bäume waren einfach überflüssig, entschied er.

 

Der Zwerg hatte eine ganze Weile ohne Punkt und Komma vor sich hin geplappert, als er ihn zu sich unter den Kirschbaum zog. Ilja versuchte seinen Ekel vor den Krabbeltieren unter und über ihnen nicht zu zeigen, denn dies hätte ihm garantiert die Häme des Zwerges eingetragen und dies hätte ihn in seinem Stolz verletzt. Also setzte er sich tapfer auf das grüne Gras und genoss den Schatten.

„Wir müssen also bis in den nördlichsten Norden wandern und uns dieses Ringes bemächtigen“, endete der Zwerg schließlich und machte eine Pause. Endlich! Diese Ruhe war eine Wohltat für Iljas geschundene Ohren. Er war es nicht gewohnt, jemanden so viel reden zu hören. Krete waren stille, in sich gekehrte Leute. Gesprochen wurde nur das erforderlichste, was an Informationen eben nötig war. Stattdessen konzentrierten sie sich eher auf ihr Schaffen, konnten stundenlang über ihre  Baupläne grübeln und an ihren Erfindungen tüfteln, bis sie der Perfektion nahe kamen.

„Also?“, fragte Robak und fuhr sich andächtig über den kunstvoll geflochtenen Bart. „können wir auf Euch zählen?“

Die Worte des Zwerges wollten sein Gehirn nicht erreichen. Die Information einer Reise in den Norden und die Erwähnung seiner Selbst, wollte nicht zusammenpassen.

„Wie meinen?“, fragte er konsterniert.

„Na ob wir auf Euch zählen können. Werdet Ihr uns in den Norden begleiten, damit wir den Ring der Erkenntnis finden und uns seine Macht aneignen können?“

 

Er stutzte. Ring der Erkenntnis? Hätte er dem Zwerg womöglich doch besser zuhören sollen?

Wissen war für Krete wie Gold für die Zwerge. Es war das höchste Gut der Dinge.

Gleichzeitig bedachte er aber auch die mit einer solchen Reise verbundenen Gefahren.

„Ihr meint ganz in den nördlichen Norden?“, fragte er verunsichert. „Durch das Gebiet in den Andalen? Wo rabiate Werwürmer und raubgierige Drachen hausen?“ Seine Stimme nahm etwas hysterisches an.

„Kennt Ihr noch einen anderen Norden?“, fragte Robak belustigt. „Natürlich in den nördlichen Norden! Wir zählen auf Euch und Euren Erfinderreichtum. So ein paar Würmer und Feuerspeier werden Euch doch nicht etwa erschrecken?“ Ein wissendes Glitzern spiegelte sich in den dunklen Augen des Zwerges.

Ilja schluckte. Die Vorstellung, bei lebendigem Leib flambiert oder gefressen zu werden, behagte ihm ganz und gar nicht, und er verfluchte sich insgeheim, diesem Treffen überhaupt zugestimmt zu haben. Doch es war der Wunsch des Kret-Rates gewesen, dass er, der Beste Erfinder in ihrer Sippe, sich das Anliegen der Zwerge anhörte.

„Ring der Erkenntnis, sagtet Ihr“, murmelte er nachdenklich. „Was sagtet Ihr, erzählt man sich über diesen Ring?“ Er hatte bereits vieles über die unzähligen Ringe mit ihren jeweiligen Mächten und Wirkungen gehört, welche laut den Legenden im ganzen Reich verteilt waren und nur darauf warteten, von ihrem rechtmäßigen Besitzer gefunden zu werden.

Robak zog eine lange Pfeife aus seiner Jackentasche, riss einen Büschel Gras neben sich aus und stopfte das Grün in die dafür vorgesehene Öffnung. Ohne die Pfeife anzuzünden, zog er eifrig am Mundstück und sog genüsslich den Imaginären Rauch in seine Lungen. Mit geheimnisvoller Stimme begann der Zwerg von der Legende des Ringes der Erkenntnis zu erzählen.

 

„Es war einmal, in längst vergangenen Zeiten, ein Schmied. Er war kein gewöhnlicher Schmied. Er war der Sohn des berühmten Tobil Twandelin, einem mutigen Krieger der Menschen. Viele Schlachten hatte der wagemutige Tobil geschlagen, hatte raubgierige Drachen aus Burgen und Schlössern vertrieben und hatte Reichtum und Gold an seine rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben.

Doch die Rachsucht und Selbstsucht der Menschen führe bald zu viel schlimmerem Leid. Krieg herrschte bald im gesamten Reich der Vierwindevölker.

 

Die Elfen, im nördlichen Norden des Reiches (getrieben durch ihre Eifersucht) bekriegten die Krete mit ihren unerschöpflichen Vorräten an Silber, welches für die Elfen begehrenswert erschien zum Schmieden allerlei Schönem.

 

Die Krete, im östlichen Osten des Reiches, (getrieben durch ihren Hochmut, der ihnen glauben machte, alles sei möglich) bekriegten die Zwerge mit ihren unzähligen Eisenmienen. Denn Eisen war für die Krete wie das Gold für die Zwerge, denn mit Eisen ließ es sich viel besser Bauen als mit Silber.

 

Die Zwerge wiederum, welche im südlichen Süden unter dem Berge hausten, bekriegten die Menschen. Denn das Gold, welches in den Flüssen im Westen gefunden wurde, ließ die Habgier der Zwerge aufflammen wie ein loderndes Feuer.

 

Tobil Twandelin hatte die ganze Welt gesehen. Ja, er hatte die erhabene Schönheit der Eisberge im Norden gesehen, stets behütet von den Sylvani, den Luftgeistern. Die Eleganz der Seelandschaft im Osten, wo die Undine, die Wassergeister hausten, hatte ihn verzaubert. Die Berg- und Waldlandschaft im Süden, wo die Dryaden, die Baumgeister lebten, war ihm ein Zuhause geworden.

Doch überall wo das Schöne war, dort gab es auch das Schlechte.

Tobil Twandelin reiste nach Jahren zurück in seine Heimat in den Westen, ins Reich der Menschen, wo die Feuergeister, die Ogieni lebten. Sein Sohn, den er über ein Jahrzehnt nicht mehr gesehen hatte, war inzwischen zu einem jungen Mann herangewachsen. Tobias Twandelin war ein Friedfertiger Mensch, Langmütig und Gütig. Man kann sagen, ein äußerst rares Exemplar seiner Gattung.

Wie auch immer, Tobias entging die Verbitterung seines Vaters nicht. Ihm wurde klar, die Eifersucht, Selbstsucht, Habgier und der Hochmut waren das Gift in dieser Welt. Sie zerstörten alles war Gut war, alles was Keusch und Rein zu sein schien. Ihm wurde klar, wenn nicht etwas oder jemand diesem Irrsinn Einhalt gebot, dann würden sich die Vierwindevölker gegenseitig zerstören und nichts als Vernichtung zurücklassen.

 

Den Mut hatte Tobias von seinem Vater geerbt, und so entschied er sich, dem Elend nicht tatenlos zuzusehen, sondern zu handeln.

Tobias Twandelin schmiedete 9 goldene Ringe von schlichter Schönheit. Mit einer gehörigen Portion Abenteuerlust und Mut im Gepäck, verließ auch er, wie sein Vater einst, seine Heimat und zog in die weite Welt. Getrieben von der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, suchte er die Geister der Vierwinde auf und vereinbarte mit ihnen einen Geheimen Treffpunkt.

So kam es zum ersten Zusammentreffen der Dryade, Undine, Ogieni und Sylvani. Tobias nahm die 9 Ringe hervor und zeigte sie den Geistern.

‚Liebe, Freude, Frieden, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Glauben, Milde. Dies sind sind die Pfeiler für eine bessere Zukunft‘, verkündete er stolz. ‚Verleiht den Ringen ihre Gaben und verteilt sie in die Welt. Ihre Rechtmäßigen Besitzer werden Gutes wirken.‘

Ein gespanntes Raunen ging durch die Menge, als sich einer der Luftgeister zu Wort meldete. ‚Aber das sind nur 8 Gaben. Wofür ist der neunte Ring?‘, wollte er wissen.

Tobias antwortete: ‚Der neunte, ist der Ring der Erkenntnis.‘

Die Geister verstanden. Die Erkenntnis von Gut und Böse, von Richtig und Falsch, bedeutete ungeheure Macht. Nicht jeder konnte damit umgehen, Macht verdarb oftmals den Charakter. Und so vereinten die Geister ihre Kräfte und auferlegten dem neunten Ring einen Bann. Nur ein Wesen welches gütig, demütig und voller Liebe zum Guten war, würde den Ring und seine Macht benutzen können.

 

Tobias begab sich, mit den Ringen im Gepäck, auf den Weg zu den Vierwindevölkern.

Den Elfen überreichte er die Ringe der Langmut und der Güte. Die Krete erhielten die Ringe der Freundlichkeit und Milde. Die Zwerge Freude und Frieden. Und die Menschen erhielten die Ringe der Liebe und des Glaubens.

Den neunten aber, den Ring der Erkenntnis, versteckte Tobias Twandelin, wohlwissend, dass die Vierwindevölker noch nicht bereit waren, für diese Macht …“

 

„Woher wollt Ihr dann wissen wo der Ring ist?“, platze Ilja in die Ausführungen des Zwerges.

Dieser beäugte ihn mit hochgezogener Augenbraue kritisch. Es schien ihm nicht zu gefallen, bei seinen Erzählungen unterbrochen zu werden.

„Tobias Twandelin verteilte Hinweise über den Verbleib des Ringes“, meinte er.

Nun war es an Ilja, Robak kritisch zu mustern. Er hatte zwar von der Legende der neun Ringe bereits gehört, doch so ein Ring war ihm noch nie unter die Augen gekommen, und von Hinweisen hatte er schon gar nichts gehört. Dabei wusste das Volk der Krete so gut wie alles.

„Hier“, meinte der Zwerg und holte eine vergilbte Karte aus seiner Jackentasche.

Ilja starrte gespannt auf das alte Stück Leder, mit allmählich verblassten Linien und Mustern. Doch noch immer erkannte man ganz klar die Grenzen der Vierwindevölker. Die Eisberge im Norden, die Seen im Osten, die Bäume im Norden und die Hügellandschaft im Westen.

„Seht Ihr diese Runen?“, fragte der Zwerg und deutete auf den Rand der Karte, welche mit merkwürdigen Zeichen verziert war.

Ilja nickte und versuchte die Schrift vergeblich zu entziffern. Er konnte nicht einmal sagen um welche Sprache es sich handelte. Es wurmte ihn, in seinem Wissen zu versagen.

„Es hat lange gedauert, bis wir einen fähigen Übersetzer fanden, doch schlussendlich konnte uns ein alter Druide weiterhelfen. Es sind keltische Runen, eine längst in Vergessenheit geratene Sprache der Urvölker. Der Druide konnte uns, mithilfe eines alten Buches, die Runen übersetzen. Hier“, meinte er und streckte ihm einen zerknüllten Fetzten hin. „Lest selbst.“

Ilja faltete nasenrümpfend das Papier auseinander und begann zu lesen.

 

Im Osten, Milde gepaart mit Freundlichkeit, wirst finden Geschicklichkeit.

Im Süden, wo herrscht Freude und Friede, Kraft verhilft zum Siege.

Im Westen, wo es noch gibt Liebe und Glauben, der Mut wird dich antreiben.

Im Norden vereint mit Verstand, wirst du halten den Neunten in deiner Hand.

 

Er verstand. Sie mussten zusammenarbeiten. Die Stärken jedes Volkes der Vierwinde würde sie zum Erfolg führen. Aber wie um alles in der Welt sollte das funktionieren? Wo doch alle Völker miteinander verfehdet waren und nur der kleinste Tropfen das Fass zum Überlaufen bringen konnte, und ein erneuter Krieg ausbrechen würde.

„Warum wollt Ihr dieses Wissen und warum gerade jetzt?“, wollte er wissen.

Robak legte die Pfeife neben sich ins Gras und sah ihn entgeistert an. „Ist das nicht offensichtlich?“

Ilja begann sich über den Zwerg zu ärgern. Hielt er ihn für Dumm? Er war nicht dumm! Er war schließlich der beste Erfinder und Tüftler unter den Kreten beim Felsen! „Nein“, murrte er, „ist es nicht.“

„Leicht erregbar, das Kerlchen“, murmelte Robak kaum hörbar in seinen buschigen Bart.

„Wie meinen?“, fragte Ilja mit hochrotem Kopf.

Der Zwerg tätschelte versöhnlich seine Schulter, was ihn noch mehr das Gesicht verziehen ließ. Was hatten diese Zwerge bloß mit Nähe und Körperkontakt?!

„Die Elemente sind aus dem Gleichgewicht“, meinte Robak plötzlich nachdenklich, insichgekehrt. „Bei den Elfen häufen sich die Berichte über Stürme, Hurrikane. Die Menschen hatten schon immer mit Feuer zu kämpfen, aufgrund der Drachen, welche bei der verdorrten Heide brüten. Aber die Dürre nimmt ein nie gekanntes Ausmaß an, sie droht alles Leben in sich aufzusaugen und hinterlässt nichts als Tod.“ Der Zwerg hielt kurz inne und blickte in den blauen Himmel, an welchem sich vereinzelte weiße Wölkchen abzeichneten. „Meine Heimat war einst wunderschön. Wir hatten wunderschöne Berge, Seen und Bäume, welche nur bei uns so groß und kräftig wuchsen. Die Felsen sind heute kahl, die Seen sind Sümpfe und die Bäume sind krank. Sie sterben, Herr Inventus, sie sterben. Es ist ein grauenvoller Anblick.“

Ilja wusste wovon der Zwerg sprach. Im Osten sah es nicht anders aus. Die Seen waren einst ein Ort der Ruhe und Entspannung gewesen. Und wenngleich Krete nicht sonderlich Tagaktiv waren, so hatten sie sich dennoch jede Nacht am Schauspiel des schimmernden Mondes auf der Wasseroberfläche ergötzt. Doch heute hatte das Wasser nichts Schönes mehr für die Krete. Es gab Überschwemmungen, manchmal so schlimm, dass sie Leben forderten. Es entstanden stinkende Moore, welche Pixies anzogen, wie das Licht eine Motte. Ilja hasste diese kleinen Koboldartigen Biester. Sie schlichen sich des Nachts in ihre Werkstätten und sabotierten ihre Arbeiten. Nein, Ilja konnte diese Viecher nicht ausstehen.

„Die Vorkommnis von Irrwische, Drachen und Werwürmern häufen sich, und so wie ich gehört habe, sieht es bei euch auch nicht anders aus“, meinte der Zwerg niedergeschlagen.

Ilja nickte. „Wir müssen etwas dagegen unternehmen!“, schlussfolgerte er.

„Ihr habt Recht, Herr Inventus. Aber genau da kommt der Hacken: Was sollen wir tun?“

Schweigen. Ilja zerbrach sich den Kopf, suchte in jeder Schublade in seinem akkurat geordneten Gehirn nach der Lösung. Er fand sie nicht. Schulterzuckend sah er sein Gegenüber an.

Robak lachte dunkel auf. „Wenn nicht einmal der schlauste Kret unter den Kreten eine Antwort weiß, wer soll es dann wissen?“, fragte er schmunzelnd.

„Der Ring der Erkenntnis“, murmelte Ilja mit weit aufgerissenen Augen, mehr zu sich selbst.

„Ihr habt es erfasst!“, meinte der Zwerg und erhob sich stöhnend von seinem Platz.

„Ich bin der Stärkste meines Volkes. Ihr seid der geschickteste eurer Gattung. Nun fehlt uns noch der mutigste Mensch und der Elf mit dem größten Verstand.“

Ilja fiel es wie Schuppen von den Augen. „Ihr wollt, dass ich euch in den Westen begleite? Zu den Drachen?“, frage er entgeistert.

„Mein lieber Herr Inventus, habt ihr das Orakel nicht gelesen? Unsere Fähigkeiten werden vereint. Mit meiner Kraft, eurem Geschick und dem Mut der Menschen, kann uns nichts passieren!“

Oh wenn er doch den Mut der Menschen bereits in sich hätte, dachte Ilja. Die Vorstellung seine Heimat zu verlassen ängstigte ihn. Der Höflichkeit willen wollte er dem Zwerg jedoch nicht sofort eine Absage erteilen. Schließlich hatte dieser eine lange Reise hinter sich und viele Strapazen auf sich genommen.

So lud er den Zwerg in sein Heim ein und gab ihm reichlich zu Essen. Denn obwohl für die Krete soziale Kontakte nicht so wichtig waren, so genossen sie umso mehr ein gutes Mahl. Ilja gestand sich ein, dass er die Freude, welche der Zwerg versprühte, insgeheim genoss. Freude war etwas Schönes, sie verlieh ihm inneren Frieden. Nichtsdestotrotz hatte er sich entschieden, auf dieses Abenteuer zu verzichten. Der Zwerg musste sich irren, er konnte nicht der Richtige für diese Aufgabe sein.

 

Es wurde spät und so lud er Robak ein, bei ihm im Hause zu nächtigen.

Das Sonnenlicht hatte ihn müde gemacht, und so schlief Ilja sofort ein. Doch sein Schlaf sollte alles andere als erholsam sein.

 

„Ilja!“, ertönte eine sanfte weibliche Stimme von weit her. Er sah sich verwundert um. Er stand am Waldrand, vor sich die brachen Felder, durch welchen sich der Tok schlängelte. Es war Nacht, das Mondlicht spiegelte sich im Flusslauf und Ilja lief wie in Trance auf das Ufer zu. „Ilja!“, hörte er erneut die wunderschöne Stimme. „Komm zu mir ins Wasser“, forderte sie ihn auf.

Er gehorchte. Das Wasser war kalt. Doch er lief weiter in das Wasser, die Strömung unterspülte seine nackten Füße, riss und zog an ihm. Plötzlich konnte er sich nicht mehr halten und er wurde von den gewaltigen Wassermassen mitgerissen. Panisch versuchte er an die Wasseroberfläche zu gelangen, doch er hatte keine Chance. Verzweifelt versuchte er die Luft anzuhalten, strampelte und kämpfte um sein Leben.

Plötzlich fühlte er etwas Warmes um seine Mitte. „Keine Angst, Ilja, wir sind bei dir“, flüsterte ihm etwas ins Ohr.

Ruhe kam über ihn. Die Angst wich Frieden. Er konnte das Wesen, welches ihn umklammer hielt, nicht sehen, doch er war sich sicher, es war eine Undine, ein Wassergeist.

„Ja, das bin ich“, antwortete sie auf seine unausgesprochene Feststellung. „Ilja, wovor hast du Angst? Vertraust du uns nicht?“

Ilja getraute nicht zu sprechen, er befand sich noch immer unter Wasser, würde er dann nicht ertrinken?

„Du bist nicht allein! Wir werden dich beschützen. Doch wenn du dich nicht mit den Vierwindevölkern vereinst, werden auch wir sterben. Lass das nicht zu!“, flehte die liebliche Stimme.

Ilja wurde mit einem mal ganz anders. Das Wasser um ihn schien sich zu verflüchtigen und mit einem Mal konnte er wieder atmen. Gierig sog er den Sauerstoff in sich auf, als er sich plötzlich bewusst wurde, dass er schwebte. Er schwebte hoch oben in der Luft! Wie ein Adler schwang er durch die Lüfte und erkannte unter sich winzig kleine Dörfer, Berge, Seen und Täler. Es war atemberaubend schön.

„Die Luft ist mir dir, Ilja“, hörte er eine dunkle Stimme von oben. Nur mit Mühe schaffte er es, einen Blick auf das fast durchsichtige Wesen zu erhaschen, welches ihn festhielt und seinen Absturz verhinderte. Wie Diamanten glitzerte sein Antlitz im Schein der Abendsonne. Ein Sylvani, dachte Ilja ehrfürchtig.

Plötzlich lockerte der Luftgeist seinen Griff und Ilja wollte gerade „Nein!“, rufen, als er bereits fiel. Ilja schrie. Er schrie wie noch nie in seinem Leben. Panisch stellte er fest, dass der Boden immer näher kam, stetig und unerbittlich näherte er sich dem Tod. Verzweifelt schloss er die Augen und wartete auf sein Ende.

Doch dies kam nicht. Er hörte das Rauschen von Blätterwerk um sich herum, fühlte wie sich kleine Äste in seine Haut bohrten und überall Kratzer hinterließen. Er öffnete die Augen und blickte in den blauen Himmel, welcher immer kleiner wurde. Der Aufprall war schmerzhaft, aber er lebte. Irritiert blickte er an sich herunter, was er sofort bereute. Er saß auf einem Ast auf einem Baum, unter ihm ging es weit in die Tiefe, so weit, dass er keinen Boden erkennen konnte.

„Wir passen auf dich auf, Ilja“, hörte er eine Kindliche Stimme direkt an seinem Ohr. Erschrocken wandte er sich um und sah geradewegs in das hübsche Gesicht eines kleinen Mädchens. Aus seinen Haaren Wuchsen Blätter. Ein Baumgeist, die Geister der Erde, dachte er. Das kindliche Wesen des Geistes zauberte ihm ein Lächeln auf die Lippen.

Das Kind packte ihn bei der Hand. „Komm!“, meinte sie und zog ihn mit sich. Geschickt balancierte sie über die Äste der Bäume, hüpfte federleicht von einem zum nächsten, bis sie schließlich elegant den Waldboden erreichten. Ilja war erstaunt, die eleganten, geschmeidigen Bewegungen des Baumgeistes hatten sich auf ihn übertragen, es war wie ein Wunder.

„Komm mit!“, rief das Mädchen vergnügt und deutete ihm ihr zu folgen.

Er folgte dem Geist durch das Dickicht des Waldes, bis sie den Waldrand erreichten. Doch ihnen war keine Verschnaufpause gegönnt. Hüpfend und singend lief das Mädchen in ein Kornfeld. Sein blondes Haar verschmolz mit den reifen Ähren, welche sachte ihm Wind wehten.

Ilja beeilte sich dem Kind zu folgen, doch als er die Mitte des Feldes erreicht hatte, was der Geist auf einmal verschwunden. Erschrocken sah sich Ilja um, doch er konnte sie nirgends ausmachen. Stattdessen erkannte er ein Feuer in der Ferne. Es kam immer näher, er wollte wegrennen, sich in Sicherheit bringen, doch etwas hielt ihn auf. Er blieb stehen und beobachtete fasziniert die Flammen, welche immer näher kamen und ihn schließlich umzingelten. Er fühlte die Wärme, welche von ihm ausging, und eigentlich hätte er sich schon verbrennen müssen, so nah war ihm das Feuer. Schmerzen fühlte er allerdings keine, ihm Gegenteil, er fühlte die gleiche innere Ruhe wie unter Wasser.

„Ilja!“, hörte er eine weibliche Stimme, welche von Liebe und Zuversicht kündete. Mit einem Mal löste sich eine Gestalt aus den Flammen, kam auf ihn zu und umarmte ihn. Im ersten Moment wollte Ilja die Gestalt von sich schieben, doch dann ließ er die Nähe zu. Sie gefiel ihm, diese wärme, dieses Gefühl der Geborgenheit.

„Ilja, die Liebe befähigt zu Taten der Gerechtigkeit“, hörte er die Ogieni in sein Ohr flüstern. Der Feuergeist löste sich von ihm, sah im fest in die Augen und sprach: „Wir sind mit dir. Setzte Glauben in uns, und rette die Welt!“

 

Ilja zitterte. Sein ganzer Körper bebte und der Schweiß klebte an ihm wie eine zweite Haut. Angewidert von sich selbst, hüpfte er aus dem Bett. Entschlossen trat er ans runde Fenster und blickte in den klaren Nachthimmel. Er hatte eine Entscheidung zu treffen. Es musste gehandelt werden!

 

-.-.-.-.-

 

Robak saß mit seiner Pfeife in der Hand auf einem Stein vor dem Felsen, unter welchem der Kret hauste. Er war sichtlich niedergeschlagen und enttäuscht, dass seine Reise für die Würmer gewesen war.

„Robak! Warum seid Ihr noch nicht reisefertig?“

Robak fuhr erschrocken zusammen und starrte Ilja ungläubig an. Beladen mit Sack und Pack, einem Sonnenhut, einem Koffer mit merkwürdigen Rollen und einem ganzen Arsenal von merkwürdig aussehen Gerätschaften, stand der Kret vor ihm und schien nur auf seinen Befehl zum Abmarsch zu warten.

„Herr Inventus! Ihr habt euch doch nicht etwa umentschieden?“, grinste der Zwerg erfreut und steckte seine Pfeife zurück in seine Manteltasche.

„Die Welt braucht uns“, meinte er mit einem freundlichen Lächeln. „Und außerdem, sind wir nicht alleine“, fügte er geheimnisvoll hinzu.

Der Zwerg lächelte wissend zurück. „Dann lasst uns aufbrechen, es gilt keine Zeit zu verlieren.“

Mit seinen Kräftigen Pranken backte er zwei der Koffer und schritt eilig voran, freudig ein Liedchen trillernd.

 

„Im Osten, Milde gepaart mit Freundlichkeit, wirst finden Geschicklichkeit.

Im Süden, wo herrscht Freude und Friede, Kraft verhilft zum Siege.

Im Westen, wo es noch gibt Liebe und Glauben, der Mut wird dich antreiben.

Im Norden vereint mit Verstand, wirst du halten den Neunten in deiner Hand.“

 

 

Voller Elan, gepaart mit Freude, machten sich die Beiden auf den Weg in das größte Abenteuer ihres Lebens.

Keiner von ihnen hatte auch nur den Hauch einer Ahnung, was dabei alles auf sie zukommen würde.

 

Die Frage war nur: War die Welt schon bereit, für die Erkenntnis von Gut und Böse?

Impressum

Texte: Mia Mazur
Bildmaterialien: Cover Designed by Mia Mazur
Tag der Veröffentlichung: 27.05.2015

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /