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Syntaxerror

Es war kalt. Der kahle Raum wirkte trotz seiner enormen Größe beengend. Ein beklemmendes Gefühl machte sich in ihrer Brust breit und sie verfluchte sich dafür, ihre Jacke nicht mitgenommen zu haben. Doch nun war es zu spät.

Sie folgte einem untersetzten Mann in weißem Kittel. Dessen veraltete Hornbrille saß schief auf seiner Nase und seine Frisur konnte nicht als solche benannt werden.

Ihrer beider Schritte hallten unnatürlich laut an den nackten, grauen Wänden wider und erzeugten das Gefühl absoluter Einsamkeit.

 

„Nehmen Sie sich Zeit und wenn sie etwas benötigen, rufen Sie nach mir“, meinte er mit einem mitleidigen Lächeln, als er ihr die schwere Metalltür aufhielt und mir deutete einzutreten.

Mitleid. Wie sehr hasste sie es, dieses in den Augen ihrer Mitmenschen zu entdecken. Zu oft schon hatte sie das Bedauern in ihren Stimmen gehört, zu oft die gutgemeinten Ratschläge gehört und war schlussendlich doch alleine geblieben mit ihren Sorgen und Ängsten.

Sie rümpfte die Nase, als sie der beißende Gestank nach Desinfektionsmittel erreichte und sie jäh in die Gegenwart zurückholte.

Selbstbewusst, zumindest musste es für den Mann so wirken, übertrat sie die Schwelle in einen kleinen sterilen Raum. Das Neonlicht flackerte nervös und erzeugte eine unangenehme Atmosphäre, als ob die Situation nicht schon so schlimm genug gewesen wäre.

 

Ihr Herz pochte schmerzhaft, als wenn es aus der Zelle des Brustkorbes ausbrechen wollte.

So sah also ein Toter aus?

Die bleiche Gestalt auf dem metallisch glänzenden Tisch in der Mitte des Raumes schien ihr unwirklich. Sie schluckte den riesigen Kloss, der sie zu ersticken drohte, tapfer hinunter. „Reiß dich zusammen!“, schallt sie sich selbst. „Er ist tot, er kann dir nichts mehr tun.“

Dennoch schauderte sie bei seinem Anblick und eine Gänsehaut überzog ihre Arme.

Vorsichtig trat sie einen Schritt näher, ihre weichen Knie stoisch ignorierend. Ein Zittern erfasste ihren Körper, doch sie blieb standhaft. Nein, entschied sie, er würde sie nicht auch noch nach seinem Tod tyrannisieren!

Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und presste den Kiefer schmerzhaft zusammen.

„Lebewohl, Matt“, murmelte sie. „Mögest du auf ewig in der Hölle schmoren!“

Ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen wirbelte sie herum und stieß die schwere Tür energisch auf.

Dr. Andrews sah sie besorgt an, schwieg jedoch.

„Er ist es“, identifizierte sie den Leichnam und erledigte somit ihre Aufgabe. „Kann ich jetzt gehen?“, fragte sie den Doktor zwischen zusammengepressten Lippen, sichtlich bemüht ihr inneres Gefühlschaos nicht preiszugeben.

 

Dr. Andrews nickte bedächtig und musterte sie aufmerksam. Ihre Erregung entging ihm nicht, er machte sich sorgen um die junge Frau. Der Tod des Ehepartners konnte verstörende Auswirkungen auf den hinterbliebenen Partner haben. „Haben Sie Familie oder Freunde, welche sich um sie kümmern können?“, fragte er deshalb.

„Ja“, meinte sie kurzangebunden und kaute nervös auf der Innenseite ihrer Wangen. Sie starrte apathisch auf den Boden, ihm war bewusst, dass sie sich sehr unwohl fühlte. „Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?“

„Nein!“, rief sie laut, wurde sich dann ihres Ausbruchs bewusst und meinte leiser, gefasster: „Nein, ich komm schon klar. Ich danke Ihnen.“

Mit einem Kopfnicken wandte sie sich zum Gehen.

Dr. Andrews sah ihr nachdenklich nach. „Ein Jammer“, murmelte er in die bedrückende Leere des Raumes. So jung und schon Witwe. Das Leben ist wie ein Buch, dachte er. Jeden Tag blättert das Schicksal eine Seite um und keiner weiß, was ihn als nächstes erwartet. Gedankenverloren begab er sich zurück zu seinen reglosen und stummen Patienten.

 

-.-.-.-

 

Sie rannte. Sie rannte so schnell und so lange, bis ihre Lunge brannte. Es war ein gutes Gefühl, ein befreiendes.

Die irritierten und brüskierten Blicke der Menschen auf den Straßen der Stadt bemerkte sie nicht.

Ziellos lief sie an den ausladenden Schaufenstern der modernen Gebäudekomplexe entlang. Sie hasste die Stadt. Das tat sie schon immer. Nur ihm zuliebe hatte sie dem Landleben den Rücken gekehrt und war mit ihm in eine kleine, beengte Zweizimmerwohnung gezogen. Hatte den Geruch nach frischem Heu und blühendem Flieder gegen den Gestank und Lärm der Großstadt ausgetauscht. Wie dumm und naiv war sie doch gewesen!

 

Ihr Inneres fühlte sich leer an. Wie paralysiert starrte sie auf die bunten Werbetafeln an den Wolkenkratzern, welche das Blaue vom Himmel versprachen. Es wusste doch jeder, dass dies eine Lüge war, und trotzdem schenkten die Menschen diesen leeren Versprechungen Glauben, ließen sich den Honig ums Maul streichen und stellten nichts in Frage.

So war es doch auch bei ihr gewesen, dachte sie. Warum hätte sie Matts Liebe zu ihr in Frage stellen sollen? Er hatte ihr niemals einen Grund dazu gegeben. Alles war perfekt gewesen, das erste Mal in ihrem Leben hatte sie das Gefühl gehabt, angekommen zu sein.

 

Abrupt blieb sie stehen und wäre beinahe mit einer Frau in elegantem Businesskostüm zusammengestoßen. „Passen Sie doch auf!“, schnauzte sie die Blonde mit ernster, geschäftig wirkender Miene an, ehe sie sich wieder der Gesprächsperson am andern Ende der Leitung widmete und um die Ecke des gläsernen Gebäudes verschwand.

Früher wäre ihr dieser Zwischenfall furchtbar peinlich gewesen und er hätte sie für ihre Tollpatschigkeit garantiert gescholten. Doch das konnte er nicht mehr. Es war vorbei, nie wieder würde er ihr sagen können wie blöd und unfähig sie war. Nie wieder würde er ihr weh tun können. Dafür hatte sie gesorgt.

 

Die tristen Gedanken abschüttelnd, blickte sie auf den Grund ihres Beinahe-Zusammenstoßes.

Aufwühlt und mit heftig klopfendem Herzen starrte sie auf das graue, schlichte Schild über den Auslagen des Geschäfts. Neckisch prangten die Lettern des Mery’s Couture von der Fassade und schien sie verspotten zu wollen.

In diesem Moment löste sich ein Knoten in ihr und es platzte alles aus ihr heraus: Die Tränen, die Verzweiflung, die Angst.

Wie eine Geistesgestörte heulte sie in sich zusammengesunken vor dem Schaufenster des Brautladens und ließ all ihren angestauten Gefühlen freien Lauf.

Sie hatte ihn so sehr geliebt, ihre Hochzeit war der schönste Tag in ihrem Leben gewesen, sie hatte geglaubt der glücklichste Mensch auf Erden zu sein. Welch ein fataler Irrtum!

„Miss, kann ich ihnen irgendwie helfen?“, hörte sie plötzlich eine weibliche Stimme. Sie triefte nur so von Mitleid.

Rasch wischte sie sich die Tränen aus den Augen und erhob sich energisch, sie wollte diese geheuchelte Barmherzigkeit nicht. „Nein, es geht schon“, meinte sie. Mit einem genuschelten „Entschuldigung“, ließ sie die junge, mit viel zu viel Make-up zugekleisterte, Verkäuferin alleine und suchte das Weite.

Sie wollte weg, einfach nur weg. Ihr Kopf schmerzte und in ihrem Hirn überschlugen sich die Erinnerungen und Gedanken der vergangenen fünf Jahre. Ihrer ganz persönlichen Hölle auf Erden.

 

Blind vor Tränen lief sie durch die engen Gassen der Altstadt, durch ein weitaus weniger gut situiertes Quartier. Erst als sie ihr Ziel erreichte, bemerkte sie, dass es zu regnen begonnen hatte. Ihre dunklen Locken hingen ihr in Strähnen ins Gesicht und hinterließen kleine Wasserfälle auf ihrem völlig durchnässten Pullover. Mit zitternden Fingern steckte sie den Schlüssel in das zerkratzte, ramponierte Schloss und betrat den miefenden Eingang des alten Hauses. Es roch nach nassem Hund, Bier, Kohleintopf und Urin. Aus den teilweise kaputten, mit Schmierereien verunstalteten Briefkästen quollen durchnässte Zeitungen und Werbeblätter hervor.

Die leeren Bierflaschen auf dem Boden geflissentlich ignorierend, lief sie die Treppe hoch, betete keinem ihrer aufdringlichen Nachbarn über den Weg zu laufen.

Rasch schloss sie die Tür zu ihrer Wohnung auf und quetschte sich in den engen Gang, ehe sie die Tür hinter sich mit einem Quietschen schloss.

Die Wohnung war schön. Keiner hätte erwartet in dieser Gegend, in diesem Haus, eine kleine Oase in der Tristesse vorzufinden. Es war ihr zufluchtsort gewesen. Und gleichzeitig auch der Ort der Qualen.

Während sie sich den tropfnassen Pullover über den Kopf streifte, betrat sie das Wohnzimmer. Die hohen Decken mit den eleganten Stuckaturen und die ausladenden Sprossenfenster, welche viel Licht hereinließen, verliehen dem Raum einen unvergleichlichen Charme.

Dennoch drehte sich ihr fast der Magen um, wenn sie an all die Demütigungen und Schmerzen zurück dachte. Sie hätte es keinen Augenblick länger ausgehalten, dessen war sie sich bewusst. Sie war vor der Wahl gestanden, entweder SIE oder ER.

Langsam ging sie auf einen altmodischen Sekretär zu. Ihr rechter Mundwinkel zog sich nach oben, als sie auf die Dokumente vor sich blickte.

Sie hätte es fast getan. Mehrmahls. Sie war auf der Brücke gestanden, hatte die Tabletten bereits gekauft, den Abschiedsbrief bereits geschrieben. Doch sie war feige. Anders konnte sie es sich nicht erklären.

Ein Ausdrucksstarkes Schnauben entfuhr ihr. Dabei war die Lösung so denkbar einfach gewesen.

Sie nahm ein bedrucktes Blatt zur Hand und starrte gedankenverloren auf die verwirrenden Zeilen.

 

 

Syntaxfehler (eng. Syntax error) im Allgemeinen sind Verstöße gegen die Satzbauregeln einer Sprache. In der Informatik bezieht sich das Wort in der Regel auf den sogenannten kontextfreien Anteil der syntaktischen Regeln einer Programmiersprache. Programme mit Syntaxfehlern werden von einem Compiler oder Interpreter zurückgewiesen. Ein syntaktisch korrektes Programm kann aber zu Laufzeitfehlern führen, wenn es semantische Fehler enthält.

 

public class Beispiel {

    public static void main(String[] args) {

        System.out.println("Hallo Welt!")

    }

}

 

 

Konnte sie noch so viel schlechtes über ihn berichten, er war ein guter und geduldiger Lehrer gewesen. Sein Wissen über die Informatik war für sie stets ein Anlass zur Bewunderung gewesen.

Ihr Interesse für diese Thematik hatte ihm geschmeichelt und so hatte er ihr alles unermüdlich immer und immer wieder erklärt.

 

Er selbst hatte ihr die Lösung all ihrer Probleme aufgezeigt. Er selbst hatte ihr gesagt, die Informatik ließe sich überall im Leben anwenden.

 

Wie recht er doch hatte.

 

Eine Beziehung ist wie ein Computerprogramm. Wenn der Code korrekt ist, läuft das Programm reibungslos.

Genauso verläuft eine Ehe harmonisch, wenn beide Ehepartner sich korrekt verhalten, einander lieben, ehren und achten.

 

Manchmal schleichen sich jedoch Fehler ein, ein Zeichen zu viel, ein Zeichen zu wenig. Zu viel Eifersucht, zu wenig Vertrauen. Das Programm funktioniert nicht: ERROR

Auch in einer Beziehung kann es zu einem Error kommen. Dies ist der Moment, wo man merkt, dass man einfach nicht zusammenpasst, dass es besser ist, einen Schlussstrich zu ziehen.

 

Was aber, wenn das Programm einen semantischen Fehler hat? Es sind versteckte Fehler, das Programm läuft eine Zeitlang reibungslos, bis es schließlich abstürzt und fluchende, ratlose User zurücklässt.

 

Sie war ein solch konsternierter User. Ihre Beziehung war perfekt gewesen, alles lief reibungslos. Bis der Absturz kam. Das erste Mal hatte er sie in den Flitterwochen geschlagen. Sie hätte mit dem Barkeeper geflirtet, hatte er behauptet. Fünf Jahre lang hatte sie sich mit diesem defekten Programm herumgeschlagen. Bis ihre Energie einfach nicht mehr ausgereicht hatte.

Ein Programmierer würde einfach das fehlende Zeichen Einfügen, den Code reparieren. Das hatte sie versucht, wie oft hatte sie ihn angefleht ihr nichts zu tun, ihr zu vertrauen, seine Eifersucht in den Griff zu bekommen und den Alkoholkonsum einzuschränken. Die Folge war ein blaues Auge und eine gequetschte Rippe gewesen. Von den Seelischen Wunden ganz zu schweigen.

 

Aber was tun, wenn der Code nicht mehr zu retten ist? Man drückt die DELETE Taste.

Und genau das hatte sie getan. Sie hatte dem Grauen ein Ende bereitet.

 

Wut keimte augenblicklich in ihr auf und sie verlor einen kurzen Augenblick die Kontrolle über ihre Gefühle. Wie eine hysterische Furie zerriss sie das Stück Papier und starrte schwer atmend auf die kleinen weißen Fetzen zu ihren Füssen. Plötzlich hatte sie das Gefühl zu ersticken. Sie musste hier raus. Raus aus der Stadt, raus aus ihrem alten Umfeld.

Fahrig strich sie sich das nasse Haar aus der Stirn, rannte in das Schlafzimmer, riss eine Reisetasche aus dem Schrank und schmiss scheinbar wahllos irgendwelche Kleider in die Tasche.

 

-.-.-.-

 

Ratternd und donnernd fuhr der Zug durch die einsame Steppe. Das Land wurde rauer, trockener und unnahbarer. Sie wusste, bald würden sich die ersten Berge am Horizont zeigen. Ein Zeichen, dass sie sich ihrem Ziel stetig näherten. Ihre alte Heimat. Wo es nach Stroh und blühendem Flieder roch. Wo keiner die Nase rümpfte, wenn es nach Dung roch oder Pferdeäpfel auf der Straße lagen.

Ihre Mundwinkel zogen sich nach oben und sie drückte die Reisetasche enger an ihren Körper.

Die Zukunft stand ihr offen, niemand würde jemals erfahren, was mit Matt wirklich passiert war, wer wirklich hinter dem unglücklichen Unfall stand.

Sie würde ein neues Programm schreiben. Eines ohne semantische Fehler und ohne Syntaxerror.

 

 

Impressum

Texte: Mia Mazur
Tag der Veröffentlichung: 05.05.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle, mit nicht erfüllten Erwartungen an das Leben.

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