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Zuckersüß

Ich blicke auf das Foto vor mir auf dem Tisch. Das kleine Mädchen mit dem Pagenschnitt sitzt auf dem Schoss seines Vaters, den Mund weit geöffnet und hält ein Kuchenstück in der Hand. Das Gesicht und die Hände des kleinen Kindes sind über und über mit Schokolade verschmiert. Der Vater blickt amüsiert auf seine kleine Tochter hinunter, ein zufriedener Ausdruck ziert sein Gesicht. Sie wirken glücklich.

Ich blättere weiter in dem alten Fotoalbum und stelle amüsiert fest, dass ich schon immer eine Schwäche für Süßes hatte. Ich mit einem Eis. Ich mit einem Schokokuss. Ein anderes Foto zeigt mich in der Küche mit meiner Mutter am Plätzchen backen. Ein weiteres Bild: Ich schlecke genüsslich die Schokolade von meinem Finger. Hmm… ich kann die süße Schokolade beinahe auf meiner Zunge schmecken.

Zufrieden nehme ich einen Schluck des dampfenden Kaffees vor mir. Ich blicke auf die Uhr an der Wand, es ist Zeit, ich sollte nicht zu spät mit meiner Arbeit beginnen. Rasch leere ich die Tasse in einem Zug, erhebe mich von meinem Platz und gehe in die Küche, wo mich meine geliebte Küchenmaschine sehnsüchtig erwartet.

Voller Vorfreude beginne ich damit die Eier zu trennen, lasse das Eigelb und den Zucker so lange aufschlagen bis es wunderbar schaumig ist, lasse die Schokolade im heißen Wasserbad schmelzen und genieße das herrliche Aroma, welches sich allmählich in der ganzen Wohnung ausbreitet.

Völlig in meinem Element, lasse ich meine Gedanken schweifen und gelange an einen Tag vor über zwanzig Jahren.

 

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Gemeinsam mit meinen Eltern sitze ich in der Küche, ich bin noch sehr klein, sitze auf einem luftigen Kissen, da ich kaum über die Tischkante sehen kann.  Vor mir auf dem Tisch befindet sich ein Zuckersüßer Kuchen, bestreut mit einer Menge Puderzucker und ich schaue meine Eltern fragend an. „Iss und genieß es, Kleines. Es wird für lange Zeit der Letzte Kuchen sein“, meint meine Mutter mit einem komischen Ton in der Stimmt. Mein Vater schweigt, wie meistens, sieht mich nur aufmunternd an. Ich verstehe zwar ihre Worte, begreife jedoch deren Bedeutung nicht. Wieso sollte es plötzlich keinen Kuchen mehr geben? Der Bäcker ist doch gleich um die Ecke, dort gibt es doch genug Kuchen.

Ich beschließe mir darüber ein anderes Mal Gedanken zu machen und nehme den ersten Bissen des herrlich duftenden Kuchens. Der süße Geschmack breitete sich auf meiner Zunge aus und ich bekomme Lust auf noch mehr.

Meine Eltern wechseln verstohlene Blicke, ich bemerke dass etwas nicht stimmt, doch sie lächeln mir nur zu und mein Vater streicht mir liebevoll übers Haar.  So schlimm wird es also schon nicht sein und ich esse meinen Kuchen bis auf den letzten Krümel auf.

 

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Es ist dunkel. Ich habe ein komisches Gefühl in meinem Magen, mir ist übel und ich habe Angst. „Mama“, rufe ich mit weinerlicher Stimme. Doch keine Antwort ist zu vernehmen. Nochmals rufe ich in die Dunkelheit. Doch wieder ist nichts zu hören. Mama ist nicht da, erinnere ich mich und eine plötzliche Panik überkommt mich. Sie ist zu Hause. Ich will auch nach Hause. Hecktisch greife ich nach oben, suche verzweifelt nach diesem komischen Knopf, irgendwo da oben muss er doch sein! Ich spüre wie sich die Nadel und die Schläuche in meinem Arm bewegen, bei dem Versuch mich aufzurichten und weit über mich zu greifen. Endlich habe ich es geschafft! Das Gefühl des Erfolgs überkommt mich und rasch drücke ich den seltsamen Knopf. Wie gebannt starre ich in die dunkle Ecke, in der ich die Tür vermute. Es dauert viel zu lange, bis diese sich endlich öffnet.

Eine fremde Frau steht in der Tür. Sie trägt ein weißes Kleid und sie ist jung. „Was ist denn?“, fragt sie mich. Ich weiß es nicht! Ich schweige. Erneut fragt sie mich. Immer noch bekomme ich keinen Ton heraus. „Willst du etwas zu Trinken?“, fragt sie mich. Ich nicke nur zaghaft, doch meine Lippen bleiben eisern verschlossen.

Ich bekomme mein Wasser und danach bin ich wieder alleine. Erneut nimmt die Panik von mir Besitz ich beginne zu schwitzten und zu zittern. Sofort greife ich erneut nach dem Knopf. Es scheint mir als würden Stunden vergehen, doch diesmal kommt niemand. Wieder drücke ich. Nochmal und nochmal, bis sich die Tür endlich öffnet und mein Herz einen Sprung vor Freude macht. Doch die Freude währt nicht lange. Böse schaut mich die fremde Frau an. „Jetzt reicht es!“, blafft sie mich wütend an. „Du musst jetzt schlafen, ich habe keine Zeit ständig zu dir zu kommen!“

Da bricht es aus mir heraus und ich beginne bitterlich zu weinen. „Mama“, sage ich nur unter Tränen. Doch die Frau zeigt kein Erbarmen. Ich sehe wie sie genervt die Augen verdreht und sagt: „Deine Mama schläft jetzt, sie kommt morgen wieder.“ Und mit diesen Worten verlässt sie das Zimmer und lässt mich in der Dunkelheit zurück.

 

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Heftig schüttle ich diese Erinnerung von mir. Was für ein Trost war das bitteschön für ein Vierjähriges Kind, welches das erste Mal in seinem Leben getrennt von seiner Mutter schläft und das an einem Fremden, kalten und furchteinflößenden Ort? Noch heute überkommt mich das Grauen, wenn ich ein Krankenhaus betrete, das Desinfektions- und Putzmittel auf den Fluren rieche.

Ich erinnere mich noch gut an die Worte meiner Mutter, weshalb ich für so lange Zeit ins Krankenhaus musste.

„Du weißt doch noch, mein Schatz, wie dir der Arzt Blut genommen hat?“ Natürlich erinnerte ich mich, hauptsächlich erinnerte ich mich an das Spielzeug, welches ich danach erhielt, an Schmerzen erinnerte ich mich komischerweise nicht. „Dein Blut, Kleines, ist etwas anders als das von Mami und Papi“, fuhr meine Mutter fort. „Dein Blut ist so zuckersüß wie der Kuchen, den du gerade gegessen hast.“ Ich fand das toll, denn Kuchen ist einfach etwas wunderbares! „Nein, Kleines. Leider ist das nicht so toll. Dein zuckersüßes Blut macht dich krank. Es macht dich Müde. Darum magst du nicht mehr mit deinen Freunden draußen spielen. Aber das möchtest du doch wieder, nicht wahr? Und darum musst du leider für einige Zeit ins Krankenhaus. Bis dein Blut wieder normal ist. Wie das von Mama und Papa.“

Ich glaube, ich war ein tapferes Kind. Auch wenn ich mich in jener ersten Nacht, ohne Mama auf dem Feldbett neben mir, in den Schlaf geweint hatte, habe ich mich nie beklagt. Das ewige wechseln der Infusionen und stechen der Nadeln ließ ich tapfer über mich ergehen, ich weinte kein einziges Mal und das waren immer beachtlich große und dicke Nadeln.

Doch am Letzten Tag vor der Entlassung weinte und schrie ich, als würde es um mein Leben gehen. Es war das erste Mal, als man mir das Insulin mit einer herkömmlichen Nadel und nicht mehr via Infusionen verabreichte. Ich begriff in diesem Moment, dass es mit dem Krankenhausaufenthalt nicht erledigt war. Ich begriff, dass mir diese Krankheit wie eine Narbe das ganze Leben lang anhaften würde.

 

Es hat viele Jahre gedauert, bis ich mich mit dieser Tatsache abfinden konnte.

 

 

 

Mein Teig ist endlich fertig und ich lasse die homogene Masse in meine Springform fließen. Vorsichtig schiebe ich das Blech in den Ofen und stelle meinen Wecker, nicht dass ich plötzlich die Zeit vergesse.

Zufrieden trete ich aus der Küche, setze mich erneut an den Esstisch und betrachte den silbernen Kugelschreiber vor mir. Ich ergreife ihn und hebe die Verschlusskappe ab. Nun wird erkennbar, dass es sich nicht um einen Schreiber handelt. Vorsichtig ziehe ich die kleine weiße kappe ab und die feine, dünne Nadel kommt zum Vorschein. Kurz überlege ich, wie viel Insulin ich wohl für das Frühstück benötige, schaue auf das Vollkornbrötchen vor mir und drehe am kleinen Rad am Ende des Pens.

Bevor ich den Pullover hochschiebe und die Nadel in meinem Bauch verschwinden lasse, halte ich inne.

 

Betrachtete ich dieses kleine Ding früher als Feind, so wurde es mir mittlerweile zum Freund. Hätte ich ihn nicht, würde dies meinen Tod bedeuten. Denn mein zuckersüßes Blut, hätte mich vergiftet, Stück für Stück, Jahr um Jahr.

Also lasse ich die Nadel mit etwas Druck in meinem Bauch verschwinden, drücke den Knopf und lasse das Insulin mein zuckersüßes Blut neutralisieren.

 

Der Wecker klingelt und ich freue mich, wie damals als kleines Kind, auf meinen zuckersüßen Kuchen. Denn dank meinem kleinen silbernen Freund werde ich diesen, mit Freude und ohne Angst vor späteren Folgen, genüsslich verspeisen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 01.12.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle Diabetiker, die es geschafft haben sich mit ihrer Krankheit abzufinden und ihr Leben zu meistern gelernt haben.

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