Und er wird jede Träne von ihren Augen abwischen,
und der Tod wird nicht mehr sein,
noch wird Trauer, noch Geschrei,
noch Schmerz mehr sein.
Die früheren Dinge sind vergangen.
(Die Bibel, Offenbarung 21:4)
Er sieht müde aus. Schrecklich müde.
Der normalerweise an den Beinen enganliegende Elastikbund seiner Jogginghose schlenkert lose um seine mageren Fußknöchel. Der dicke Pullover verheimlicht das ganze Ausmaß seines Martyriums, man kann nur erahnen wie ausgemergelt sein ganzer Körper ist. Das Gesicht ist eingefallen, die Wangenknochen stechen hervor, seine Haut ist bleich und die Augen haben ihren Glanz verloren.
Stumpf blicken sie aus den tiefen Augenhöhlen, scheinen nicht mehr alles wahr zu nehmen. Das liegt wohl an den Medikamenten, die seine Schmerzen lindern sollen.
Ich sitze auf dem Sofa gleich neben ihm, erzähle ihm banale, unwichtige Dinge, nur um die unerträgliche Stille zu übertönen, um nicht seinen schweren Atem und das leise pfeifen des Sauerstoffgerätes hören zu müssen.
Mein Mann sitzt neben mir, stellt den Fernseher an und schaut das Skirennen an. Er mochte diesen Sport, hat sich die Rennen oft angesehen und ich danke im Stillen meinem Mann für die ungezwungenen Worte, die Banalität eines Männergespräches über IHREN Sport.
Seine Frau kommt nach Hause von der Arbeit, bittet mich zu ihr in die Küche.
In eine Kur zur Erholung, irgendwo in den Bergen wollen sie hingehen, man würde ihn dort gerne aufnehmen, sagt sie. Wann denn, frage ich. In zwei Wochen, dann könne er sich von den Strapazen der Chemotherapie erholen, meint sie.
Aha.
Was ich davon halte, will sie wissen. Ich spüre genau wie sie sich nach Zustimmung und ermunternden Worten sehnt, dass ihr jemand sagt, dass alles gut wird.
Hört sich gut an, sage ich nur und innerlich schreie ich: Bis dahin ist es zu spät! Siehst du das nicht? Er wird sterben!
Doch was sagt man einer liebenden Ehefrau, dessen Mann mit nur sechzig Jahren im Begriff ist zu sterben? Man sagt nicht die Wahrheit. Man lässt die Hoffnung leben, bis zum bitteren Ende.
Will er denn dorthin, frage ich sie. Er will noch die Testergebnisse der letzten Chemotherapie abwarten, sagt sie.
Und in diesem Moment durchfährt mich die Gewissheit, dass er es weiß. Er weiß, dass er sterben wird. Er versucht sie nur noch etwas hinzuhalten, er weiß, dass er diese Kur niemals antreten wird.
Wir sprechen über belanglose Dinge, lachen und scherzen gemeinsam, bis es soweit ist sich zu verabschieden.
Er hat sich vom Sofa aufgesetzt, was ihm viel Kraft gekostet hat, man sieht ihm die Anstrengung an.
Ich umarme seinen ausgemergelten, so furchtbar zerbrechlich wirkenden Körper und sage ihm, wie gerne ich ihn habe und wie wichtig er mir ist. Ich gebe ihm drei Küsse und verharre dabei jeweils etwas länger als gewöhnlich an seinen Wangen. Ich koste jede Sekunde die sich mir bietet aus, denn ich verabschiede mich für immer.
Ich löse mich von ihm und lasse auch meinen Mann sich von ihm verabschieden.
Noch nie zuvor habe ich so etwas gefühlt, doch es erfasst mich das Gefühl der absoluten Gewissheit, dass ich ihn das letze Mal gesehen habe. Ich bin mir so sicher wie noch nie bei etwas und doch will ich es nicht wahr haben, schiebe dieses Gefühl weit von mir.
Doch ich sollte Recht behalten.
Es ist Sonntag, ein schöner, kalter Januartag. Wir fahren in die Berge. Vorsichztig rollen wir auf den großen, vereisten Parkplatz, welcher noch halb leer ist. Wir sind früh dran. Gerade wollen wir aussteigen, als das Handy klingelt. Sofort gehe ich ran, obwohl ich die Nummer auf dem Display nicht kenne.
Es ist seine Tochter. Ich höre das Scheppern im Kofferraum, als mein Mann unsere Skiausrüstung ausräume, fühle mich wie vom Laster überfahren und der Knoten in meine Brust lässt mich nicht mehr frei atmen.
Er sei am frühen Morgen verstorben, sagt sie. Sie wollte, dass ich es von ihr erfahre, nicht von Fremden. Ich bedanke mich, muss unweigerlich aufgrund ihrer Worte lächeln. Ich sei ihm wichtig gewesen, sagt sie. Und dann kann ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich bedanke mich nochmals und wünsche ihr viel Kraft. Dann lege ich auf.
Wir gehen Skifahren, jetzt wo wir schon hier sind, es wäre schade um den schönen Tag. Ich habe neue Skier, bin unsicherer auf den Brettern als sonst, denn ich liebe die Geschwindigkeit, das Geräusch des Eises und knirschenden Neuschnees unter den Kufen. Doch plötzlich ist alles anders. Ich fühle mich unsicher und unwohl.
Das ist das letzte Mal, dass ich diese Skis anschnalle.
Ich schiebe es auf die neuen Skier, ein Fehlkauf. Doch heute weiß ich es besser.
Skifahren bedeutet schlechte Nachrichten. Skifahren bedeutet Tod. Also geh ich den Weg des geringsten Widerstandes und entsage ganz einfach diesem einstigen Hobby.
Tun wir das nicht unser ganzes Leben lang? Unangenehmen Dingen geht man lieber aus dem Weg, statt sich damit auseinanderzusetzen.
Würde man sich mit den Problemen Beschäftigen, könnte man vielleicht eines Tages damit abschließen, doch es ist mit Unannehmlichkeiten und meist ungeliebten Gefühlen verbunden. Also wählt man die Verdrängungstaktik. Sie funktioniert! Man vergisst ganz einfach all das Unschöne, lebt in einer Illusion weiter.
Doch egal wie lange man diese Illusion aufrecht halten kann: Irgendwann holt sie jeden ein. Auch wenn es vielleicht Jahre dauert.
Heute macht jeder schon als Kind seine Bekanntschaft mit dem Tod. Sei es der Opa, die Uroma, ein alter Nachbar, bei welchem plötzlich von Fremden die Wohnung ausgeräumt wird, oder gar Schulkammeraden, welche durch Unfall oder Krankheit viel zu jung sterben.
Meine Frühste Erinnerung an den Tod geht zurück als ich sieben oder acht Jahre alt war. Mein Uropa hatte Krebs. Ich erinnere mich an ein freundliches, helles Krankenzimmer mit einem großen Bett, auf welchem mein Uropa lag. Ich schenkte ihm eine Zeichnung mit viel Glitzer und furchtbar bunten Farben. Es waren Regenbogenfische. Er freut sich, bedankt sich und gibt mir einen Kuss.
Tage später hieß es, er sei verstorben. Ich wusste was das bedeutet, waren in meinem Umfeld doch schon viele ältere Menschen verstorben, doch noch nie jemanden, den ich so geliebt habe. Ich weinte viel und oft.
An die Beerdigung durfte ich nicht mit, doch ich erhielt eine weiße Arbeitsmappe, darin das Zirkular und meine Regenbogenfische.
Noch heute, zwanzig Jahre später, sehe ich beim Anblick solcher schlichten Arbeitsmappen die Regenbogenfische vor meinem Inneren Auge und ich denke an meinen Uropa.
Was genau aber "Krebs" bedeutet, verstand ich damals noch nicht.
Sechs Jahre später sollte ich es nur zu gut wissen.
-.-.-.-
Es ist bereits Abend, wir haben gerade zu Ende gegessen, als das Telefon klingelt. Mama räumt den Tisch ab, Papa füttert die Katze, also laufe ich zum Telefon und nehme ab und melde mich mit meinem Namen.
Kurz ist es still am anderen Ende und ich frage mich bereits, ob sich jemand verwählt hat. Dann meldet sich doch noch eine unsichere Stimme. Irgend eine Frau Doktor sowieso, aus irgend einem Krankenhaus. Ob meine Mutter da sei, fragt die freundliche Stimme bedrückt, irgendwie komisch.
Natürlich, sage ich und reiche den Hörer weiter. Für dich. Irgend so eine Ärztin.
Mama nimmt das Telefon, setzt sich an den Esstisch, Papa tut es ihr gleich. Ich stehe noch immer am Türrahmen angelehnt, verstehe nicht wieso eine Ärztin um diese Zeit noch bei uns zu Hause anruft. Mama nickt immer wieder und kurze, abgehackte Jas und Neins kommen über ihre Lippen. Sie hat einen riesigen Kloß im Hals, man hört es ihrer Stimme an.
Plötzlich höre ich nur noch das Wort „Chemotherapie“ und es trifft mich wie ein Schlag.
Ich renne in mein Zimmer, verbarrikadiere die Tür und weine. Weine, bis keine Tränen mehr kommen.
Am nächsten Tag muss ich zu Schule. Ich bin meistens ein fröhlicher, umgänglicher Mensch, doch heute fragen mich meine Freundinnen was mit mir los sei. Das schlechte Gewissen packt mich, ich lasse meine Innere Wut an ihnen aus, das sollte ich nicht tun.
Sie lassen nicht locker, fragen mich immer und immer wieder aus, bis ich zusammenbreche.
Jemandem das erste Mal zu sagen „Meine Mom hat Krebs“, prägen das ganze Leben.
-.-.-.-
Ich schrieb Briefe voller Hass und Selbstmittleid, welche ich dann verbrannte weil ich mich für meine Gefühle schämte. Niemand sollte diese Worte jemals zu Gesicht bekommen. Erst Jahre später erzählte mir meine Mom, dass sie einen solchen Brief, halb verbrannt draußen unter dem Fenster meines Zimmer gefunden hatte. Ich schämte mich so sehr.
Worte wie „Ich werde keine Mutter mehr haben“ kamen mir in den Sinn. Die Angst, meine Mom könnt sterben, machte mich wütend.
Ich erinnere mich noch, wie die Leute oft zu mir sagten, ich sollte mein heiteres, sonniges Gemüt unbedingt beibehalten, dies sein ein Segen und eine Seltenheit in der heutigen Welt.
Doch diese Sonnenstrahlen wurden bald immer mehr von düsteren Wolken überschattet.
Der Weg des geringsten Widerstandes bedeutete in diesem Fall: Vergessen.
Ich weiß kaum noch etwas über die Zeit der Chemos und Bestrahlungen. Nur einzelne Fetzten blieben haften.
Ich stehe vor einem Berg Wäsche, bringe diese blöde Maschine nicht zum Laufen und denke, so schwierig kann das doch nicht sein! Innerlich beherrscht mich das Gefühl, ich bin es meiner Mom schuldig den Haushalt zu übernehmen. Sie hat das ja schließlich auch Jahrelang getan, dann bin ich jetzt mal an der Reihe. Doch es überfordert mich. Und statt mich mal auf eines zu konzentrieren und wenigstens einen Teil zu erledigen, verkrieche ich mich, lasse meinen Vater alles erledigen und schließe mit dem Kapitel Haushalt endgültig ab. Und doch nagt das schlechte Gewissen unentwegt an mir weiter.
Dann die Bilder meiner kraftlosen, bleichen Mom auf dem Sofa. Ihr war so oft schlecht, doch ich half ihr nicht. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich mich zu ihr setzte, ihr Mut zusprach, oder auch nur fragte wie es ihr geht. Der Krebs war eine unüberwindbare Mauer zwischen uns.
Sie steht in ihrem Schlafzimmer vor dem großen, mannshohen Spiegel. Um ihren Kahlen Schädel ein buntes Tuch gewickelt, in ihrer Hand die dunkle, kurze Perücke. Ob ich es sehen will, fragt sie. Ich weiß, sie meint nicht die Perücke. Nein.
Nein! Schreit es in meinem Inneren. Denn wenn ich ihren Kahlen Schädel sehe, gibt es keine Verdrängung mehr. Dann begreift auch der letzte Teil in mir, wie Krank sie wirklich ist.
Ich wende mich ab und laufe davon. Schon wieder.
Die Chemotherapie war eine Tortur. Ich erinnere mich an mindestens drei Durchläufe. Das erste Mal blieb sie Zuhause. Die anderen Male ging sie für jeweils ein paar Tage im Krankenhaus. Ich habe sie nur ein einziges Mal besucht. Oder zumindest kann ich mich nur noch an diesen Besuch erinnern. Und das reichte auch vollkommen. Ihren dünnen, geschwächten Körper in diesem weißen, sterilen Bett zu sehen, war zu viel gewesen. Ich war so gefangen in meinen Ängsten, dass ich ihr kaum Hallo und Aufwiedersehen gesagt habe.
Der erste Eintrag in mein Tagebuch vom 23.12.2004 gibt meine damalige Gefühlslage glaube ich ganz gut wieder.
Ich hasse mein Leben.
Meine Mutter hat Krebs und wer weiß, wie lange sie noch lebt. Sie muss bald mit der Chemotherapie anfangen. Sie weiß, dass sie alle Haare verlieren wird. Wenn das bei mir so wäre, wäre dies mein Untergang. Ich liebe meine Haare und würde alles dafür tun sie behalten zu können. Sie sucht nächste Woche nach einer Perücke.
Während der Chemo werde ich keine Mutter mehr haben. Auf jeden Fall nicht mehr dieselbe. Sie wird nicht mehr der gleiche Mensch sein. Davor habe ich Angst. Sehr große Angst.
Weshalb gerade ihr?
Diese Frage stelle ich mir immer wieder. Und doch finde ich keine Antwort.
„Jeder Tag hat seine einen Sorgen. Sorge dich nicht um den nächsten Tag.“
Dieser Text hilft mir das alles durchzustehen. Aber Angst habe ich trotzdem. Angst vor dem was mich erwarten wird.
Heute staune ich über die Doppeldeutigkeit dieser Worte. Man hört deutlich die Naivität und Ichbezogenheit einer heranwachsenden vierzehnjährigen heraus. Und doch ist da so viel mehr. Angst, Trauer, Verzweiflung.
Ich sage mir: Du warst ja noch beinahe ein Kind, was erwartest du?
Und doch zweifle ich an meinem Charakter, bin ich wirklich so Egoistisch? Als wären ausfallende Haare das schlimmste, was einem im Leben passieren kann.
Doch wenn ich es recht überlege, ist es einfacher sich mit ausfallenden Haaren zu beschäftigen als mit dem Tod. Es ist der Weg des geringsten Widerstandes. Also gehe ich ihn.
Nach diesem Tagebucheintrag schrieb ich beinahe ein Jahr nichts mehr.
Der nächste Eintrag ist datiert auf den 05.10.2005.
Es ist so schön, dass meine Mutter die Chemo überstanden hat. Es geht ihr wieder richtig gut, sie geht sogar wieder arbeiten. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, es gehe ihr jetzt besser als je zuvor.
Ja, sie hat sich etwas verändert: Sie genießt ihr Leben. Ich glaube, sie ist auch etwas ruhiger geworden. Wir alle sind froh, dass es ihr wieder gut geht und hoffen, dass so etwas nie wieder vorkommt. Ein Leben ohne sie wäre unvorstellbar gewesen.
Ja wo ist denn der Egoismus plötzlich hin? Sind das die Worte einer Fünfzehnjährigen?
Die ICH-Perspektive wechselt ins WIR. Mir war damals schon klar, dass es für meinen Vater auch eine sehr schwierige Zeit war, auch wenn er sich davon nie auch nur das Geringste hatte anmerken lassen.
-.-.-.-
SEINE beiden Enkel waren damals noch klein, gingen noch nicht zur Schule. Vielleicht war es auch eine Flucht von zu Hause, aber ich verbrachte damals viel Zeit bei ihnen, besonders währen den Ferien. Es war eine „heile Welt“, in die ich mich flüchten konnte. Hier gab es keinen Krebs, hier gab es Leben. Es war ein Mehrgenerationenhaus, ER und seine Frau wohnten im Dachgeschoss, die Tochter mit Mann und Kindern im Erdgeschoss und die 80 jährige Uroma der Kinder in einer kleinen Souterrain-Wohnung.
Das Zusammenleben der Parteien schien mehrheitlich harmonisch, abgesehen von kleinen Meinungsverschiedenheiten, doch das schien mir völlig normal.
Ich passte ab und zu am Wochenende auf die Kleinen auf, während die Eltern sich eine Auszeit gönnten und feiern gingen. Ich mochte diese Zeit sehr, es erfüllte mich mit Stolz, dass sie mir dieses Vertrauen entgegenbrachten und ich liebte die Zeit alleine vor dem Fernseher, wenn die Kleinen bereits friedlich schliefen.
Es wurde spät und so ging ich ins Zimmer der Kleinen, wo ich meine Luftmatratze hatte und legte mich hin, die Zimmertür ließ ich offen. Beinahe wäre ich eingeschlafen, als ich den Schlüssen an der Tür hörte. Die Eltern kamen nach Hause, sie Kicherten und Lachten, unternahmen erfolglose Versuche sich gegenseitig mit einem langen und eindringlichen „Psst“ zum Schweigen zu bringen. Wieder Kichern. Sie erreichten anscheinend das Schlafzimmer, ich stellte mich schlafend, traute mich nicht mich zu erkennen zu geben, ich wollte die traute Zweisamkeit schließlich nicht stören.
Ich vernahm Küsse aus dem angrenzenden Schlafzimmer, immer durchzogen vom verliebten Gekicher zweier frisch verliebter.
Ich drehte mich auf meiner Matratze um und schlief mit einem Lächeln auf den Lippen ein. Irgendwann einmal möchte ich auch eine solche Familie haben, dachte ich mir. Einen Menschen an meiner Seite haben, den ich über alles liebe und mit dem ich eine Familie aufbauen kann. Eine Familie genau wie diese.
Mir war schon damals klar, dass es wohl auch am Alkoholkonsum gelegen hat, doch für mich machte diese ganze Situation den Anschein einer beinahe perfekten Ehe, in einem perfekten Umfeld.
Ich verspürte nie so etwas wie Neid, es war pure Bewunderung.
Was kommt dir in den Sinn, wenn du an Rosen denkst?
Ich denke an den Rosengarten im sanften Licht der Abendsonne und mit der herrlichen Aussicht über die ganze Stadt.
Bei Rosen denke ich auch an seine Beisetzung. Seine Frau, die beiden Töchter, der Schwiegersohn und die beiden Enkelkinder, in der zweiten und dritten Klasse, legten jeweils eine Rose ins Grab.
Und ich denke unweigerlich an wunderschöne Rosensträuße, die ER ihr immer geschenkt hatte. Jede Woche hatte er ihr einen wunderschönen Blumenstrauß geschenkt.
Das muss Liebe sein, dachte ich damals.
Und ich denke an meinen wunderschönen Brautstrauß aus weißen Rosen.
Bei unserer Hochzeit sprach ER das Tischgebet. Ich dachte, was könnte passender sein, wenn nicht jemand mit einer so wunderbaren Ehe und einer perfekten Familie, für unsere Ehe den Segen ausspricht? Seine Worte rührten mich damals zu Tränen, er berührte zutiefst mein Herz.
Und wenn ich heute daran zurück denke, überkommt mich Zorn. Ich bin wütend, möchte ihn anschreien: „Wie kannst du nur so ein Heuchler sein!“
Rosen legten sie in SEIN Grab. Beim besten Willen kann ich mich nicht mehr an das Wetter erinnern. Ich erinnere mich weder an Sonnenschein, noch an Regen. Alles woran ich mich erinnere, ist Leere. Eine tiefe innere Leere überkam mich. Und als seine Frau, die Kinder und Enkel alle eine Rose ins Grab legten, drohte mich diese Leere zu verschlingen. Es war eine schöne Abdankungsrede, mit viel Gefühl und Charme. Er und sein Leben wurde so dargestellt, wie ich ihn damals kannte. Als den liebevollen Familienvater und Geschäftsmann, der für jedermann ein offenes Herz und Ohr hatte.
Aber die Welt, in der wir leben, ist nicht perfekt. Jeder hat seine Fehler und dunklen Schatten. Nur das seine damals noch im Verborgenen lagen.
Doch alles war eine einzige Lüge.
Sie fand Briefe. Briefe von IHM, an seine Geliebte. Seine Sekretärin. Der Frau, welche sie immer wieder am Telefon hatte, wenn sie ins Büro anrief, um zu fragen wann er denn nach Hause komme.
Wenn er noch leben würde, wäre es so viel einfacher. Man könnte ihn anschreien, ihm ins Gesicht sagen, was man von seinem Fehltritt hält.
Doch es bleibt nur die Stille.
Er kann sich nicht mehr rechtfertigen, Stellung beziehen, geschweige denn Reue zeigen. Er kann sie nicht in die Arme nehmen und sagen: „Es tut mir leid, bitte verzeih mir.“
Ich benötigte ganze Vier Jahre, um den Mut zu finden, sie auf dieses Gerücht über ihn anzusprechen. Vier Jahre, in denen mich das Ungewisse schier zur Verzweiflung trieb.
Als ich dann den Mut endlich zusammengekratzt hatte, war die Antwort ernüchternd. „Du weißt ja, wie schnell Gerüchte entstehen.“
Schweigen.
Kein dementieren, kein Bestätigen. Mit anderen Worten: Ich war gleich weit wie zuvor.
Ein kurzer Moment lang flackerte in mir auch ihr gegenüber wo etwas wie Wut auf, doch diese verging so schnell wie er gekommen war. Es stand mir nicht zu, zu jammern. Sie war diejenige, die alles verloren hatte.
Innerhalb von zwei Jahren, hatte sich ihr Leben so drastisch verändert, wie es ein Mensch kaum ertragen kann. Genauso gut könnte man einen Eiswürfel in die brütende Mittagssonne setzten: Es zerrinnt dir zwischen den Fingern und du kannst absolut nichts dagegen tun. Du kannst das geschmolzenen Wasser nicht einsammeln und erneut gefrieren. Probier es ruhig aus! Melde mir danach bitte das Ergebnis.
Das schlimmste ist der ewige Zweifel, der ständig an dir nagt, wie ein Holzwurm ganz allmählich das Gebälk zerfrisst, bis das Haus schlussendlich in sich zusammenfällt.
Es ist der Zweifel an der eigenen Menschenkenntnis. Kann ein Mensch, den man so sehr geliebt hat, wirklich zu solch einer Tat fähig sein? Warum hat man nichts davon bemerkt? Macht Liebe wirklich so blind?
Was also bleibt uns, wenn wir kein Vertrauen mehr in unsere Mitmenschen setzen können?
Es bleibt die Gewissheit, dass nichts mehr von Bestand, von Zuverlässigkeit ist. Es bleibt das Misstrauen.
Doch wie soll das Zusammenleben zweier Menschen funktionieren, wenn nur Misstrauen die Beziehung prägt? Streit und Frustration sind vorprogrammiert. Welchen Ausweg, welche Lösung gibt es für dieses Dilemma?
Ich frage mich unweigerlich, was ist besser: Naiv und blind durchs Leben zu schreiten und jedem zu vertrauen, nur das Beste von den Menschen annehmend, oder sich zurück zu ziehen, sich zu verschließen und keinen mehr an sich heran zu lassen, aus Angst vor Enttäuschungen?
Eine schützende Mauer um sich aufzurichten ist einfach. Doch diese aufrecht zu erhalten bedeutet Anstrengung.
Ich ging den Weg des Geringsten Widerstandes: Ignorieren. Vergessen. Einfach weitermachen.
Tag der Veröffentlichung: 26.10.2014
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