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Die Flasche zersplitterte auf dem steinernen Boden. Das Geräusch hallte gespenstisch in der dunklen Kirche wieder. In den Scherben tanzte das Licht der Kerzen. Dazwischen suchte sich die klare Flüssigkeit ihren Weg in die Rinnen des Fußbodens. Was für den arglosen Betrachter wie Weihwasser anmutete, war ein billiger Tropfen Wodka, der schon so manchen Liebhaber einen fremden Himmel vorgetäuscht hatte. Jemand fluchte ungehalten. Die Kirchenbank wurde hart getreten, begleitet von Wörtern der Wut, des Hasses und des Schmerzes.

Im Pfarrhaus im hinteren Teil der mittelalterlichen Kirche wurde das Licht angeknipst. Der junge Messediener warf sich sein Gewand über und wollte in den Altarraum eilen. Durch die bunten Fenster erkannte er den Schatten einer Person, die sich mitten in der Nacht wie ein Teufel gebar. Mutig wollte er sich dem Eindringling entgegenstellen, als eine schwere Hand auf der Schulter ihn zurückhielt. Der alte Pfarrer Valentinus schüttelte stumm den Kopf und führte den jungen Mann hinfort von dem wüsten Geschrei in die beschauliche altmodische Küche
„Aber Pfarrer Valentinus. Sollten wir nicht die Polizei rufen?“
Aus dem Kirchenraum ertönte ein lauter Knall.
Doch der alte Mann setzte in aller Seelenruhe einen Kaffee auf für sich und seinen Besuch, der die Nacht bei ihm verbrachte. „Das ist nur Ira. Sie tobt gegen Gott, wie jedes Jahr zu ihrem Geburtstag. Lass sie diesen Streit alleine führen.“
Voller Unverständnis sah Immanuel den Pfarrer an: „Aber hört ihr nicht, wie sie randaliert. Das können wir doch nicht zulassen.“
Gabriel Valentinus lächelte sanft: „Das Einzige, was ich höre, ist ihr Schrei. Aber sie schreit leider nicht um Hilfe.“
Kurz blickte er hinaus in die dunkle Nacht. Tiefe Sorgenfalten lagen auf seiner Stirn, wie immer wenn er einen Menschen in Not sah. Natürlich war er nicht so ruhig, wie der warme Kaffee in der Tasse. Aber noch tappte er in einer Finsternis, die ihm hinderte auf Ira zuzugehen. Im Vertrauen, das die Sonne zur rechten Zeit aufging, nahm er die Tasse zur Hand und versuchte nicht nur den Kaffee hinunterzuschlucken.

Weit entfernt, dort wo Himmel und Erde sich küssten, trat eine rote Morgensonne ihre Tagesreise an und tauchte die Welt in warme Pastellfarben.
Bewaffnet mit Schaufel und Besen betrat der Pfarrer den Kirchenraum. Mit einem ergebenen Seufzer beugte er sich hinunter zu den Glasscherben. Höchstens ein leidenschaftlicher Puzzler würde daraus wieder eine Flasche Wodka erzeugen können. Plötzlich sah er es. Wie ein Muster des Leidens verteilten sich auf den Splittern kleine Blutstropfen. Erschrocken sog er die frische Morgenluft ein.
War sie?
Seine nougatfarbenen Iriden schweiften von dem Altar zu der Orgel bis hin zu den Kirchenbänken. Da lag sie.
Blass.
Zerzaust.
Mit geschlossenen Augen.
So schnell es sein Rheuma erlaubte, erhob er sich und eilte zu der jungen Frau. Im ersten Reflex befühlte er den Puls an ihrem Handgelenk. Sanft und beharrlich trommelte das Leben gegen die Haut. Sie war nicht tot. Den ersten Schreck überwindend, stellte Pfarrer Valentinus fest, dass es auch zu wenig Blut gewesen wäre und die paar Blutstropfen möglicherweise eine Ameise, aber keinen Menschen aus dem Diesseits katapultieren konnte. Während er noch damit beschäftigt war, sein Herz von Formel 1 auf Stadtverkehr zu beruhigen, flatterten ihre Augenlider. Mit zittrigen Händen stütze sie sich benommen auf der hölzernen Bank hinter ihr ab. Dabei fielen die blonden Haare wie ein Vorhang zur Seite und offenbarten ein blaues Veilchen an ihrem rechten Auge. Pfarrer Valentinus half der jungen Frau sich aufzusetzen. Er fragte nicht erst nach dem blauen Auge. Inzwischen kannte er das breite Repertorium ihrer Ausreden auswendig.
Ein Baseball, eine Kastanie, ein Schneeball.
Nur ihr Mann fand nie Erwähnung. Mit einem Seufzer ließ er die Frau mit dem leeren Blick in dem gequälten Gesicht sitzen und begann die Scherben aufzulesen. Durch die farbigen Fenster drang das rötliche Licht der aufgehenden Morgensonne. Im Schimmer des Tagessterns glühten die Scherben der zerbrochenen Wodkaflasche rot.
Rot wie Blut.
Rot wie Wut.
Rot wie die Liebe.
Möglicherweise war er all die Jahre zu feige gewesen. Vielleicht war er nun zu spät. Er sollte es nicht weiter aufschieben.
„Na Ira, einen schönen Geburtstag gehabt?“, fragte er laut in das Schweigen hinein.
Sie saß noch immer unbeteiligt auf der Bank und beobachtete ihn mit einem gewissen Trotz, der mehr an eine Achtjährige, als an eine 26-Jährige erinnerte.
„Du brauchst gar nicht erst einen auf Seelsorger machen. Ich bin nicht hier, weil ich an Gott glaube. Hab einfach nur nen ruhigen Platz gebraucht.“
Gabriel hob eine Augenbraue. Das klang in der Nacht aber ganz anders. Und wenn sie nicht mit dem Geist der Kirchenglocken gewettert hatte, oder schizophren war, dann . . . Er widersprach ihr nicht.
„Warum sollte ich auch? Hat Gott mir jemals was zum Geburtstag geschenkt.“
Triumphierend hielt sie ihr Smartphone in die Höhe: „Meine neue Religion heißt Facebook. Facebook kennt mich. Facebook glaubt an mich und 100 Freunde haben mir gestern gratuliert. Im Gegensatz zu gewissen Pfarrern.“ Der eben Kritisierte wischte sich die Hände an seiner Jacke ab. Es klebte ein Tropfen Blut daran. Dann setzte er sich neben sie auf die harte Kirchenbank. „So, so“, sagte er nur.
Sie beide schwiegen eine ganze Weile, bevor die Ungeduld sie zum Reden zwang.
„Was heißt denn hier so, so.“
„Ach ich habe mich nur gerade gefragt, wie viele auf Facebook wissen, dass du gestern traurig warst. Wie viele wissen, dass die Partybilder nur ein Auszug eines Lebens sind und wie viele eigentlich wissen, was sie speziell dir zum Geburtstag wünschen sollen.“
„Wenigstens denken sie daran.“
„Erwartest du, dass Gott dir was schenkt“
Ein paar missmutig gemurmelte Worte verließen ihren Mund, aber sie waren zu leise, um das Trommelfell in seinem Ohr zum Schwingen zu bringen. Unwirsch rückte Ira auf der Bank hin und her.
„Hast du dir denn was gewünscht?“, fragte der Pfarrer und musterte sie durchdringend mit seinen warmen schokofarbenen Augen.
Sofort wurde sie spöttisch, fühlte sich verarscht und missverstanden und ging deswegen auf kontra: „Das neue Barbie-Traumhaus.“ Es klang bissig wie eine wütende Löwin.
Kaum merklich schüttelte Valentinus den Kopf, bevor er milde entgegnete: „In meiner Familie haben wir uns jedes Jahr zum Geburtstag einen Spruch herausgesucht, wie wir uns das neue Jahr vorstellen.“
„Einen Bibelspruch!?“
„Ja, aber das ist nicht wichtig. Es kann auch ein Zitat von Goethe oder eine Weisheit von Aristoteles sein. Es geht darum, sich Gedanken zu machen, was man für konkrete Vorstellungen hat. Wie soll man auf was hinarbeiten, wenn man kein Ziel hat?“
„Tzz.“, war ihre Antwort, was wohl so viel hieß, wie „Ich weiß nicht, wie ich widersprechen soll.“
Plötzlich erhob Gabriel sich so schwungvoll, dass sein Rücken ihn knirschend an sein Alter erinnerte: „Komm mit, ich werde deinen Finger behandeln.“
Ira hielt den Finger mit der Schnittwunde in die Höhe. Getrocknetes Blut klebte auf der blassen Haut. „Der Schnitt ist nicht tief.“
„Aber manchmal ist es besser, etwas zu behandeln, solange es noch unproblematisch ist, sonst fühlt man sich schlecht, wenn es doch mal eitert und üble Folgen hat.“ Kurz sah er sie an, entschuldigend, dann ging er voraus, wissend, sie würde ihm folgen.
Ira sprang auf. Ihr war übel und in ihrem Kopf wütete ein Presslufthammer. Obwohl sie auf das Pflästerchen verzichten konnte, war sie heiß auf den Kaffee, den er ihr sicher anbieten würde. Nur deswegen folgte sie ihm.
„Ich glaube nicht an Gott und zu deiner Gemeinde gehöre ich auch nicht“, erinnerte sie ihn. Valentinus öffnete ihr die Tür und führte sie in seine kleine Wohnung an der Kirche: „Warum kommst du dann jedes Jahr zu deinem Geburtstag und wetterst gegen ihn.“
Er bat sie Platz zu nehmen, setzte einen Kaffee an und holte Desinfektionszeug und ein Pflaster aus seinem Bad.
„Mein Kopf tut weh“, wich sie ihm aus.
„Ich kannte einst eine junge Frau …“
Ira rollte mit den Augen, doch der Pfarrer ignorierte das. Während er die schwarze, belebende Flüssigkeit in zwei Tassen füllte, fuhr er fort. „…die sagte immer und immer wieder, sie würde reich und berühmt werden. Eine Bestseller-Autorin – das war ihr Traum. Und sie betete jeden Tag dafür. Sie las Bücher, wie man reich und berühmt wird, sie besuchte Schreibkurse, und sie kaufte Lehr-DVDs und was weiß ich noch alles.“
„Und?“ Ira schlürfte desinteressiert an dem Kaffee. Ihr entging nicht, dass er versuchte vor ihr zu predigen und das verstimmte sie noch mehr als der Kater.
„Sie hat es nie geschafft. Vielleicht wollte Gott ihr helfen, aber sie hat was Wichtiges vergessen. Sie hat nie ein Buch geschrieben, um ihr Ziel zu erreichen. Hättest du es fair gefunden, wenn sie trotzdem Bestseller-Autorin geworden wäre?“
Die Tasse in seiner Hand drehte eine Runde.
In Ira wuchs deutlich sichtbar ihr Unbehagen. Das war gut. Es war wie das Desinfektionsmittel, das in der Wunde erst brannte, aber schließlich doch seinen Zweck erfüllte.
So ersparte er ihr eine Antwort und wurde nun direkter: „Wenn dein Freund dich schlägt, verlass ihn und bete um Gottes Beistand. Wenn du arbeitslos bist, dann bewirb dich irgendwo und suche Gottes Hilfe. Aber erwarte nicht, dass Gott dir eine Arbeit schenkt, während du Zuhause deinen Wodka leerst. Kennst du den Spruch: ‚Das Gebet ersetzt keine Tat, aber das Gebet ist eine Tat, die durch nichts ersetzt werden kann’“
Sein Tonfall veränderte sich während seiner Rede. Er wurde streng wie ein Vater, der sein Kind mahnt nicht zu viel Süßes zu essen. Ira zuckte unter seinen Worten zusammen, als würde er mit der Peitsche auf sie einschlagen.
„Reden ist Silber, Handeln ist Gold“, fuhr er fort.
Plötzlich weinte sie los. „Ich glaube an keinen Gott“, wiederholte sie wieder und wieder wie ein Mantra, bis eine warme Umarmung sie einhüllte. In dem Moment brachen alle Dämme. Hemmungslos schluchzte sie ihre Perlen der Trauer in die Schulter des Pfarrers.

Ira ließ sich nie wieder in seiner Kirche blicken. Manchmal fragte er sich, ob er zu weit gegangen war, ob er das Küken zu hart angepackt hatte, doch außer Schuldgefühlen brachten ihn diese Gedanken nicht weiter.
Es war auf den Tag genau zehn Jahre später, als des Nachts ein lautes Scheppern aus den Räumen der Kirche erklang. Pfarrer Valentinus zuckte erschrocken zusammen. „Ein Randalierer“, schoss es ihm durch den Kopf. Mutig eilte er hinüber zur Kirche. Die Tür stand weit offen und ein heller Lichtstrahl erleuchtete die Treppen hinein in das Gebäude. Langsam näherte er sich und spähte hinein. Dort stand ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen und sah mit großen Augen auf die zerbrochene Vase. In einiger Entfernung zündete eine Frau eine Kerze an, dann eilte die Frau zu dem Kind und nahm es in die Arme.
„Mama, das wollte ich nicht“, jammerte das Mädchen.
Beruhigend fuhr die Frau ihrer Tochter über den Rücken. „Das ist schon okay. Weißt du es nicht: Scherben bringen Glück.“, sagte sie und blickte auf direkt in das Gesicht des Pfarrers und ein Lächeln zierte das Gesicht von Ira.


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Tag der Veröffentlichung: 19.04.2012

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