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Sie fühlte sich leer, ausgelaugt.
Kraftlos.
Energielos wäre die korrekteste aller Bezeichnungen.
Dabei lag ein Berg von Hausaufgaben vor ihr. Aber ihr Akku kratzte bereits am Restvorrat ihrer Reserven wie ein Löffel an den letzten Schokoladenrückstand aus einem leeren Nutellaglas.
Es gab nur eine Lösung für Probleme dieser Kategorie. Man musste den Vorrat auffrischen. Das Licht der großen Lampe wies ihr den Weg, zeigte ihr die Rettung und Hilfe und gleichzeitig ihre Pflicht. So müde wie sie sich fühlte, war der Weg dorthin eine Strapaze, aber eine notwendige.
Sonnenhell erleuchtete die Glühbirne das weite Feld. Dicke Kabel durchstießen den vertrockneten Boden und zerrten aus Anschlüssen und der Energie des Lebens unter der Erde den Treibstoff für die Humanoiden.
Die große Lampe war wie eh und je gut besucht. Schon von klein auf lernte man den Umgang mit dem Energielieferanten. Eine junge, völlig geschafft aussehende Mutter legte ihre Hand auf das leuchtende Monstrum. Neben ihr verharrte ein alter Mann bereits mehrere Minuten in dieser Pose. Plötzlich strafften sich seine Schultern. Der schlurfende Schritt von seiner Ankunft war einem ausladenden Gang gewichen.
Langsam und behutsam löste auch Mirija die oberste künstliche Hautschicht von der Handinnenseite. Ein Gebilde aus Schaltkreisen und Mikrochips komplexer als das Leben selber kam zum Vorschein. Nur zögerlich legte sie die Hand auf die warme, glatte Fläche. Ein leichtes Kribbeln durchfuhr den zarten Kinderkörper.
Wie sie diese Prozedur hasste!
Selbst das eklig grüne Brokkoli war ein geringes Übel im Vergleich zu diesem befremdlichen Gefühl. Eine Folge kleiner Stromschläge jagte durch ihren Körper, belebte den müden Geist und weckte schlafende Zellen. Viel zu früh zog sie die Hand zurück. Ihr interner Speicher war kaum zur Hälfte aufgeladen, aber sie fürchtete sich zu sehr. Mochten ihre Mitschüler auch über sie lachen, wenn sie langsamer als die anderen zehnjährigen den 5-km-Lauf hinter sich brachte. Sollten sie spotten, wenn sie schlechtere Noten schrieb. Kein Spott, kein Hohn, kein Scham und auch keine Beleidigung der Welt konnte sie dazu bewegen, ihre Hand länger auf der großen Lampe ruhen zu lassen.
Zu sehr plagten sie düstere Erinnerungen, verfolgten sie wie ein Schatten seinen Besitzer.
Sicher, sobald man fest auf zwei Beinen stand, lernte man den Umgang mit der Lampe. Aber auch Erfahrung war ein Lehrmeister, der seine Spuren hinterließ - im Gedächtnis eines Erwachsenen ebenso wie in der noch simplen Gedankenwelt eines kleinen Mädchens.
Die leuchtende Glühlampe war der heilige Gral der Menschheit, zumindest behauptete die Menschheit das. Die Technik im Körper und in der Lampe war perfekt synchronisiert. Eine einfache Berührung und die inneren Motoren wurden metaphorisch mit neuem Treibstoff versorgt.
Vergessen waren Nächte gefangen im Schlaf, Nachmittage, in denen man sich auf der Couch der Müdigkeit hingab.
Das war Vergangenheit.
Geschichte.
Denn das Aufladen ersparte der Menschheit den Schlaf. Wer müde oder geschafft war, kam einfach zu der städtischen Ladestation, der leuchtenden Glühlampe. Das Ergebnis war ein produktiverer, leistungsfähiger Mensch.
Nur der Himmel kannte noch den Unterschied zwischen Tag und Nacht, setzte Dunkelheit und Licht als Grenze, aber Sterne und Sonne spielten keine Rolle mehr in der Tagesplanung. Der Begriff Schlaf war aus dem Wortschatz der Menschen gestrichen. Ebenso wie das Wort „Öffnungszeiten“. Denn jeder arbeitete, so viel er konnte, so oft er konnte, jetzt wo die menschlichen Grenzen überwunden waren.
Mirija blieb noch lange vor der Glühlampe stehen. Wie gerne wäre sie wieder so energiegeladen wie früher. Ein munteres, fröhliches Kind. Doch die Angst war ein starker Löwe, der sie mit einem Knurren davon abhielt.
Die Geburtsstunde dieses Löwen war eng verknüpft mit dem Untergang eines Lebewesens: ihrem Vater. Er war stets ein vor Ehrgeiz strotzendes Individuum gewesen.
Wie heiß die Sonne doch an diesem Tag vor fünf Jahren brannte. Schwitzend und staunend hatte sie neben ihm gestanden. Mit großen Augen hatte sie beobachtet, wie er seine Hand länger und immer länger auf der Glühlampe ließ.
„Ich lade mich richtig auf und dann zeige ich es ihnen. Schau, was dein Papa alles leisten kann“ Seine Stimme war voller Vorfreude gewesen. Danach war ihre Erinnerung in ein Nebel aus Trauer getaucht. Nur der Geruch von verbranntem Fleisch war ihr im Gedächtnis haften geblieben.
„Seine Zellen sind explodiert. Er hat sie überladen.“ Die Diagnose dröhnte ihr Tag für Tag aus Neue warnend in den Ohren.
Seitdem fürchtete sie diesen so natürlichen Vorgang. In einer Leistungsgesellschaft war das ein großer Makel. . .

Mirija saß vor ihren erledigten Aufgaben und beobachte die schwarze Katze. Vor wenigen Minuten noch war sie wild tollend durch die Wohnung gestürmt, nun lag sie beinahe bewegungslos auf den kalten Fließen.
Hinter ihr klapperte das Geschirr. Mirija wandte sich zu ihrer Mami um.
„Was macht Twix eigentlich immer, wenn er da so liegt?“
„Schlafen“
„Das will ich auch können.“
Die Mutter polierte weiter die Gläser. Sie konzentrierte sich nur begrenzt auf das Gesagte. Ein Gespräch mit einem Kind forderte weniger Aufmerksamkeit als die perfekte Reinigung dieser durchsichtigen Fläche.
„Wozu? Du bist doch keine Katze. Oder möchtest du auch Mäuse fangen?“
Mirija verzog das Gesicht. Mit einen kindlichen Lächeln ging sie vor Twix in die Knie und fuhr sanft durch das zartherbschokofarbene Fell: „Ich hab Twix noch nie eine Maus fangen sehen.“
„Er ist ja auch ein fauler, fetter Kater“, murmelte ihre Mami.
Mirija presste schnell ihre kleinen Hände auf die weichen Ohren des Tieres: „Mami, du sollst das nicht vor ihm sagen“, beschwerte sie sich lautstark. Unter ihren Fingern war keine Bewegung zu spüren. Wie tot lag das Tier da. Nur der Brustkorb hob und senkte sich im Rhythmus seiner Atmung Der Anblick des schlafenden Tieres hatte etwas ungemein friedliches an sich. Von einer fremden Sehnsucht getrieben legte das kleine Mädchen sich neben der Katze auf die kalten Fließen. Das Geschirr klapperte, der Zeiger tickte, doch sonst spürte sie keine Veränderung.
„Mami schlafe ich schon?“, fragte Mirija vorsichtig, leise, um sich selber nicht zu wecken, falls sie bereits sanft eingeschlummert war. Ein Lachen drang an sie heran. Die geschlossenen Augen nahmen ihr nur das Sehen nicht das Hören.
„Dann könntest du das nicht fragen“
Verärgert zog das Kind die Lippen weit nach vorne, formte eine perfekte Schnute, den optimalen Ausdruck für ihr Innenleben. In der Hoffnung das Rätsel um den fremden Prozess des Einschlafens zu lösen, öffnete sie ihre Augen. Minutenlang studierte sie die Katze wie andere Physik. Dann rollte sie sich ganz eng zusammen, versuchte die Position ihres Haustieres zu kopieren. Ganz ruhig war ihr Atem. Ob sie jetzt schlief? Plötzlich zuckte sie zusammen. Mit aufgerissenen Augen sprang sie auf und starrte auf das schwarze Fellbündel. Gar merkwürdig erzitterte der Körper des Tieres, die Beine bewegten sich unkontrolliert. „Mami! Mit Twix stimmt was nicht!“, rief sie panisch, voller Sorge um ihren geliebten Stubentiger.
„Er träumt nur.“, diagnostizierte die Erwachsene schnell, dann warf sie sich einen Mantel über: „Ich gehe jetzt arbeiten. Kommst du alleine klar?“
Nur schwerlich löste Mirija ihre Augen von Twix. „Ja klar, ich geh dann 20.00 Uhr mit ein paar Freunden spielen.“
An Freunden mangelte es den wenigsten. Schon in der ersten Klasse bekam man den Algorithmus für Freundschaft gelehrt. Ob man seltsam war oder nicht spielte keine Rolle. Da sich jeder an die Schrittfolge hielt, waren freundschaftliche Beziehungen so berechenbar wie ein Programm. Ihre Mutter nickte zufrieden und verließ das Haus. Dank der Glühlampe war es auch in der Nacht hell genug, um sich nicht von der Dunkelheit des Himmelszeltes beeinflussen zu lassen.

Google war das mächtigste, allwissenste Wesen, das Mirija bekannt war, wenn man von ihrem Deutschlehrer absah. Nur Zukunftsfragen waren Google fremd. Dafür war Google ein Kenner der Gegenwart und ein Experte der Vergangenheit. Selbst mit Fachwörtern aus kompliziertesten Teilgebieten kannte es sich aus. Eben so ein fremdartiger und exotischer Begriff füllte das Suchfeld aus
„Träume“
Über eine Million Seiten überforderten den Durchschnittsmenschen. Doch mit etwas Glück findet man, was man braucht.
Mirija fand, aber sie verstand nicht. Selbst ein Märchen erschien ihr realistischer als die vorliegende Definition von „Traum“.
Die Kategorie Tagträume ignorierte sie vollkommen. Das war zu unerforschtes Land. Wer nachts nicht träumte, dem fiel es auch schwer am Tag sich den imaginären Bildern seines Bewusstseins so bedingungslos hinzugeben. Am Ende einer langen Suche war ihr nur eines gewiss, ein Wunsch, ein Ziel. Sie wollte träumen.

Es war wieder soweit!
Sie fühlte sich leer, ausgelaugt.
Kraftlos.
Energielos wäre die korrekteste aller Bezeichnungen
Dabei lag ein Berg von Hausaufgaben vor ihr. Aber ihr Akku kratzte bereits am Restvorrat ihrer Reserven wie ein Löffel an den letzten Schokoladenrückstand aus einem leeren Nutellaglas.
Es gab nur eine Lösung für Probleme dieser Kategorie. Man musste den Vorrat auffrischen.
Doch Mirija wollte nicht, sie weigerte sich tief in ihrem Inneren. Zum ersten Mal durchbrach Mirija diesen Trott, wich vom Weg ab wie Rotkäppchen auf der Suche nach Blumen, die ihr Leben bunter gestalten sollten. Ihre Gedanken wurden langsam, schleppend. Der Zustand irritierte sie und ängstigte sie. Fest presste sie die Augen zusammen.
Was, wenn sie nicht schlafen konnte?
Was, wenn zwar ihr Verstand Schlaf definieren konnte, aber ihr Körper nicht. Vielleicht waren ihre Körper zu sehr auf Leistung getrimmt und nicht mehr fähig zu schlafen.
Würde sie dann sterben? Ein Kälteschauer durchfuhr sie. Sie wälzte sich träge auf dem weichen Teppich. Betten gab es nicht. Wozu auch? Doch die Schwäche war unangenehmer als geglaubt. Kurz blickte sie auf. In weiter Ferne erkannte sie ein Licht. Sie wollte zur Glühlampe, doch sie war soweit weg.

Das helle Licht der Glühlampe strahlte durch das große Fenster in das Kinderzimmer. Twix kratzte miauend an ihrer Herrin.
Die Tür wurde schwungvoll aufgestoßen. Die Frau trat in das Zimmer, nicht wissend, was sie erwartete.
. „Mirija!“ Entsetzt schrie die Mutter auf. Das Herz der Erwachsenen erstarrte, ihr Körper wurde für einen Moment von der undurchdringbaren Lähmung der Angst ergriffen. Erst der Sieg ihres Verstandes gab ihr die Kontrolle zurück. Schnell stürzte sie zu dem leblosen Leib auf dem meerblauen Teppich. Sie nahm ihre Tochter in den Arm und rüttelte verzweifelt an ihr.
Die Lider des Kinders flatterten. „Nur noch ein paar Minuten.“, murmelte sie.
„Was ist mit dir?“ Die Mutter blickte voller Sorge auf das Mädchen.
Plötzlich war Mirija hellwach. Im ersten Moment saß sie da, den Kopf voller Bilder von Einhörnern, Melodien von Feen und Welten ohne Grenzen. Sie erinnerte sich an alles. Doch der Blick ihrer Mutter holte sie schnell aus dieser fremden Welt.
„Es ist alles gut.“, lächelte das Kind und fiel ihrer Mutti in den Arm. Tränen der Freude brannten in ihren Augen. Ihr Wunsch war erfüllt worden. Umsonst waren die Todesängste gewesen, lohnenswert dafür der Kampf.
So viel neue Energie durchströmten sie. Sie fühlte sich stärker als je zuvor. So gerne wollte sie zurück in die Traumwelt. Doch noch viel lieber wollte sie diese Erfahrung teilen. Laut dem Algorithmus der Freundschaft teilte man eine leckere Schokolade. Das war viel köstlicher.
Traum!
Was für ein einfaches Wort für ein Erlebnis, das so unbegrenzt war und so unendlich. Sie freute sich auf die Schule morgen. Denn sie hatte so viel zu erzählen. Und sie wusste ein lustiges Spiel für sie ihre Freunde.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 12.11.2011

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