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Er war gesprungen!
Einfach so, ohne ein Wort des Abschieds hatte er sich hinuntergestürzt.
Entsetzt sah ich dem reißenden Fluss hinterher, der den kleinen Körper mit sich forttrug.
Ich hatte das erst gestern im Fernsehen gesehen. Da war auch ein Mann von der Brücke gesprungen. Meine Mama hatte mir erklärt, dass der Mann ganz traurig gewesen wäre. Und alle im Fernsehen hatten geweint.
So wie ich jetzt.
Ich schluchzte.
Ich schniefte.
Aber es half nichts. Der Fluss gab ihn mir nicht zurück. Ich würde meinen besten Freund nie wieder sehen.
Vielleicht war er auch traurig gewesen. Ich war nicht immer nett zu ihm gewesen, ganz und gar nicht. Erst gestern hatte ich die Teestunde mit ihm vergessen, weil meine Mama mit mir Eis essen war. Und ich glaube die Nachrichten haben ihm immer sehr zu schaffen gemacht, das ganze Gerede von Krieg und Hunger. Ich wollte ihn auch gar nicht mitgucken lassen, aber er hat so gebettelt. Und abends habe ich ihn manchmal bei Mama auf der Couch gelassen, damit sie Gesellschaft hatte. Wer weiß, was Mama im Fernsehen schaute, wenn ich im Bett war. Sicher nur noch mehr Nachrichten.
Mein armer Max!
Ich schluchzte nur noch mehr. Bestimmt war Max auch traurig gewesen. Meine Mama hatte einen Begriff dafür. Dekre. . .Depee . . . .Depressiv. Ja, Max war depressiv gewesen und ich hatte es nicht gemerkt. Ich war eine schreckliche Freundin. Ich überlegte Max hinterher zu springen. Aber das Wasser war so weit weg und so ganz ohne Schwimmärmel traute ich mich nicht so richtig. Trotzdem blieb ich noch lange am Geländer stehen und schaute in das graue Wasser. Aber er tauchte nicht wieder auf. Ich beugte mich weit über das Geländer und suchte mit den Augen den Fluss ab. Vielleicht war er auch in die andere Richtung getrieben. Ich erinnerte mich an dem Bach hinter unserem Haus. Der floss auch immer in dieselbe Richtung. Doch woher sollte ich wissen, ob der Fluss ihn nun in meine Blickrichtung oder in die entgegengesetzte getrieben hatte?

Schließlich machte ich mich auf den Heimweg. Ob Max wohl im Himmel bei Omi war?
Mama würde bestimmt auch schimpfen, weil ich nicht aufgepasst hatte. Ich weinte noch immer, als ich die Treppen am Brückenende hinunter stieg, um den Mörder meines besten Freundes zu meinem Zuhause zu folgen.
„Hey, kleine Miss.“, hörte ich plötzlich eine raue Stimme.
Erschrocken drehte ich mich um. Am Brückenpfeiler stand ein fremder Mann mit zerlumpten Sachen. Sein Gesicht war unrasiert und über seine Wange zog sich ein tiefer Schnitt. Er trug eine ausgeblichene braune Jacke und zerrissene Jeans.
Schnell drehte ich mich wieder um, um weiter zu kommen. Meine Mama hatte mir verboten mit Fremden zu reden.
„Hey kleine Miss, ist dir da oben was von der Brücke gefallen?“
Ich wandte mich wieder zu dem Mann um. Eigentlich hatte sie mir nur verboten, bei Fremden ins Auto zu steigen oder Schokolade von ihnen anzunehmen. Aber ich konnte weit und breit kein Auto sehen und Schokolade hatte er mir ja auch noch nicht angeboten. Ich nickte unter Tränen.
„Ich habe deinen kleinen Freund gefunden.“
Schnell wischte ich mir die Tränen weg und starrte ihn aus großen Augen an. Sein Finger deutete auf eine zerschlissene Decke auf dem Boden. „Dort liegt er.“
Ohne zu zögern rannte ich zu dem dunkelblauen, schmutzigen Stück Stoff. Und tatsächlich, da lag er und starrte mich aus seinen schwarzen Knopfaugen vorwurfsvoll an.
„Max!“, rief ich überglücklich und schloss den kleinen Bären in die Arme. Pitschnass war er, ich spürte die Feuchtigkeit durch mein blaues Sommerkleid. Erst jetzt bemerkte ich, dass auch der fremde Mann tropfte wie mein Pudel, wenn ich ihn gebadet hatte. Dabei lachte die Sonne vom Himmel. Verträumt legte ich meine Hände auf meine Brust. „Sie haben meinen Bären gerettet.“ Ich hatte die Szene genau vor Augen. Mein kleiner kuscheliger Bär bereute seine Entscheidung, weil er mich hatte weinen hören und paddelte um sein Leben. Und dann kam dieser Unbekannte, sprang ohne zu zögern in das kalte Wasser und rettete Max das Leben. Vor Rührung kamen mir schon wieder die Tränen. Doch ich versuchte sie hinunterzuschlucken, denn ich wollte jetzt stark wirken. Immerhin hatte ich einen Helden vor mir, einen Mann wie Spiderman, oder Superman oder Batman, nur mit einem weniger coolen Kostüm und einem etwas seltsamen Geruch. Oder er hatte es nicht mehr geschafft in sein Heldenkostüm zu schlüpfen und ich war nun die Einzige, die seine wahre Identität kannte, und wir würden uns ineinander verlieben und heiraten. Ich versuchte ihn mit den Augen einer Ehefrau anzusehen. Durch sein schwarzes Haar zogen sich graue Strähnen. Meine Mama färbte die immer, vielleicht konnte er das auch machen. Nur seine Schuhe machten mir Sorgen. Meine Mama würde mich mit solchen dreckigen Schuhen gar nicht ins Haus lassen und schimpfen würde sie. Musste ich dann auch mit ihm schimpfen? Wahrscheinlich schon. Bei den Schuhen würde er nämlich nie ein Nikolausgeschenk bekommen. Stolz schaute ich kurz auf meine neuen, silbernen Sandalen. Schade, dass der Nikolaus erst in einen halben Jahr kam, denn so sauber wie die waren, würde ich dafür eine Extraportion Schokolade bekommen.
Sein Gesicht wirkte aber freundlich. Ob er wohl ein Außerirdischer war, so wie Superman? „Wo kommst du her?“, sprach ich die Frage gleich laut aus.
„Von der Straße.“, murmelte er. Die Antwort schien ihm peinlich.
Sofort kam mir eine neue Frage in den Sinn: „Kennst du meinen Papa?“ Ich fand das sehr wahrscheinlich. Immerhin sagte Mama immer, sie habe Papa auf die Straße gejagt und dieser Mann sagte, er käme von der Straße. Selbst eine 6jährige würde den Zusammenhang sehen. Und ich war immerhin sieben!
Der Mann runzelte die Stirn: „Mag sein. Ich kenne viele Menschen. Wie heißt er denn?“
Mein Herz machte einen Freudensprung. Mama hatte es eigentlich nicht gern, wenn ich über Papa redete, doch meine Freunde erzählten mir ständig von all den tollen Sachen, die sie mit ihren Vätern unternahmen. Außerdem schickte mir Papa zum Geburtstag jedes Jahr tolle Sachen. Sowie Max, den er mir zu meinen 5.ten Geburtstag geschenkt hatte. Deswegen wollte ich unbedingt meinen Papa wieder finden. Doch ich musste ganz schön angestrengt nachdenken, bevor ich antworten konnte. Für mich war er schließlich einfach nur Papa, aber ich war ja nicht blöd, natürlich wusste ich, dass er auch einen anderen Namen hatte, so wie ich Lea Krell hieß. „Tobias.“, erinnerte ich mich schließlich zum Teil. Meine Mami hatte ihn ja nicht geheiratet, also musste sein Nachname ja anders sein.
„Und wie sieht er aus?“
„Oh.“, kam es nur aus meinen Mund. Ich wollte nicht zugeben, dass ich keine Ahnung hatte, dass ich es vergessen hatte. Es war schon so lange her. Seit meinem dritten Lebensjahr hatte ich meinen Papa nicht mehr gesehen. Meine Mama hätte ich hingegen sofort beschreiben können. Sie hatte langes, schwarzes Haar über das sie immer schimpfte, weil es unartig war. Und sie war schlank, fand ich, auch wenn ich das wohl falsch beurteilte, denn Mama sagte immer, sie wäre zu dick. Auf jeden Fall hatte sich Mama in den letzten Jahren kaum verändert. Sie sah immer noch aus wie auf den Urlaubsbildern, wo Papa mit drauf ist. Eine schwache Erinnerung regte sich in mir. „Er hat kurzes Haar“, glaube ich zu wissen.
Der Fremde beugte sich plötzlich zu mir runter. Seine Hand lag schwer auf meiner Schulter. Er klang so mitleidig wie Mama, nachdem ich mir die Knie bei einem Sturz aufgeschlagen hatte: „Tut mir Leid, Kleine, . . .“
„Lea.“, ermahnte ich ihn. Warum die Erwachsene einen so oft mit Kleine ansprechen mussten?! Ich sagte doch auch nicht „Hey Großer“.
„Lea.“, korrigierte er sich sogleich, „ich kann dir nicht weiterhelfen.“
Plötzlich hörte ich ein lautes Knurren. Überrascht schaute ich auf meinen Teddy. Doch der hing schweigend in meiner Hand. Dafür lachte jetzt der Fremde und hielt sich den Magen: „Tut mir Leid, meine letzte Mahlzeit ist ein wenig her.“
„Hatten sie denn kein Mittag?“, wollte ich verwundert wissen.
„Ich habe nicht genug erbettelt.“, erklärte er mir, während er auf einen großen Stein Platz nahm. Mitfühlend tätschelte ich ihm die Hand: „Das kenne ich. Ich habe meine Mama auch um ein Stück Schokolade angebettelt, aber sie wollte mir nichts geben.“
Wieder lächelte er, dann begann er plötzlich in einem Beutel zu wühlen. Es klapperte und klirrte eine Weile stark. Schließlich zog er seine Hand wieder heraus und hielt mir einen riegelförmigen Gegenstand hin. Meine Augen begannen vor Freude zu glänzen, als meine Hände das braune Papier berührten und die Schokolade darunter spürten. Ein Snickers! Freudig begann ich an dem Papier zu zerren, da fiel mir ein, dass ich etwas Wichtiges vergessen hatte. „DANKE:“, rief ich laut. Im nächsten Moment schluckte ich den ersten Bissen hinunter. Unterdessen hatte er sich meinen Bären geschnappt. „Ich muss ihn noch verarzten, nicht dass er heute Nacht nicht schlafen kann vor Schmerzen.“ Mit diesen Worten legte er das Kuscheltier auf seine Knie und wickelte ein dreckiges Taschentuch um den dünnen Arm.
Schweigend beobachtete ich ihn dabei. Auf einmal begann er zu erzählen, völlig nebenbei, als ob er nicht gerade operieren würde: „Und kennst du die Geschichte von der Prinzessin aus München . . .“

Mit meinen kleinen, rosa Lilifee-Rucksack auf dem Rücken schlenderte ich den Fluss entlang. Der Kopf von Bello schaute wachsam aus dem Rucksack. Der schwarz-weiße Hund war der Ersatz für Max. Den hatte ich heute im Bett gelassen, damit er sich ausruhen konnte. Bello passte auf die Leckerein auf, die sich in meinem Rucksack verbargen und die ich dem Teddydoktor heute als Dankeschön mitbringen wollte. Ich hoffte ihn unter der Brücke zu finden, weil er mir doch erzählt hatte, dass er dort lebte. Doch zu meiner riesengroßen, beinahe tränenreichen Enttäuschung war er nicht da. Dafür zwei andere Besucher.. Für einen Moment überlegte ich umzukehren, aber eigentlich hatte er ja genug Platz. Allerdings hoffte ich, dass seine Freunde keinen Hunger hatten, denn so viel hatte ich nicht mit.
Schritt für Schritt näherte ich mich der kleinen Gruppe und stellte nun erfreut fest: Seine Freunde waren auch meine Freunde. Sie waren von jedermann die Freunde. Die Polizisten schienen auch auf meinen Freund zu warten. Mit leicht schiefgelegten Kopf stellte ich mich scheu an den Pfeiler.
„Es gibt nur einen Zeugen, der diesen Penner belastet Tobias Kleefeld umgebracht zu haben. Und dafür dürfen wir jetzt die halbe Stadt durchsuchen.“, murrte einer.
Er sah aus und klang wie meine Mama, wenn sie Kopfschmerzen hatte
„Richard!“, unterbrach ihn der andere plötzlich scharf. Er warf seinem Freund einen strengen Blick zu.
Dann tippte er seinem ziemlich breiten Kollegen auf die Schulter und ich hörte so was wie „eine kleine Zuschauerin“.
Ich lächelte ihm höflich entgegen, als er sich zu mir herunterbeugte: „Na, kann ich dir irgendwie helfen?“
Ich schüttelte den Kopf, dann nickte ich: „Was wollen sie von dem Mann, der hier lebt.“
„Der Mann war gestern sehr unartig.“ sagte er bloß zu mir. Ich verstand überhaupt nicht, wie die Polizisten auf so einen Unsinn kamen. Erst wollte ich ihnen erzählen, dass er, auch wenn er schlecht gekleidet war und unangenehm roch, auf ihrer Seite stand, aber das hätte er mir vielleicht übel genommen, denn irgendwie waren Superhelden etwas komisch, wenn man ihr Geheimnis verriet. Ja ich hätte ihnen sogar eine weitere Heldentat erzählen können. Denn die wirklich spannende Geschichte, die er mir gestern erzählt hatte, ich war mir sicher, die war wahr, nur das er seinen Namen nicht verwenden wollte.
„Das kann ja gar nicht sein! Er hat ja gestern Nachmittag Max das Leben gerettet.“, widersprach ich dennoch.
„Du kennst ihn also. Weißt du, wo er ist?“, fragte mich einer der Männer in der grünen Uniform freundlich. Suchend blickte ich mich um. Ich rechnete nicht damit ihn zu sehen, nicht wie bei Ostern, wo man suchte und auch fand. Deswegen war ich umso überraschter, als ich unter den großen Müllcontainer in einiger Entfernung seine breite Gestalt flach auf dem Boden gedrückt erblickte. Dichte Grashalme hätten ihn beinahe vor mir verborgen. Aus meiner Höhe konnte ich ihn gerade so sehen, die Polizisten waren dafür viel zu groß.
Dennoch schüttelte ich auf die Frage des Polizisten entschlossen den Kopf. Das war geflunkert, das wusste ich und ich hoffe, der Weihnachtsmann würde mir das nicht übel nehmen, aber die Wahrheit durfte ich ja nicht erzählen.
Mami meinte zwar man sollte, niemals lügen, auch nicht aus der Not heraus, aber sie war auch nicht immer ehrlich.
Zum Beispiel sagte sie, dass nur liebe Kinder Geschenke vom Weihnachtsmann bekamen, aber der Fritz aus meiner Klasse war ein ganz böses Kind, der schlug immer und solche Sachen und trotzdem bekam der vom Weihnachtsmann die tollsten Dinge.
Und wenn ich nicht aufesse wird schlechtes Wetter. Das war auch gelogen, weil den Spinat gestern hatte ich nicht angerührt, aber die Sonne schien heut trotzdem.
Mama log also manchmal.
Schon wenn sie sagte, dass zuviel Schokolade Bauchschmerzen verursachte. Dabei war sie es, die eine ganze Tafel alleine verdrücken konnte.
Ich glaube, sie log, wenn sie mir helfen wollte.
Deswegen war meine Lüge für den Superhelden nichts Schlimmes
„Vielleicht ist er wieder in den Fluss gesprungen und rettet Leben.“, schwindelte ich.
„Kannst du mir das genauer erklären.“, fragte der freundliche Polizist
„Na, er hat den Max aus dem Fluss gezogen, weil der Max war ganz traurig, und da ist er von der Brücke gesprungen.“ Der Mann vor mir richtete sein Augenmerk auf den Fluss, der unschuldig an uns vorbeifloss, dabei war er doch ein Mörder und wenn überhaupt, dann müssten sie den Fluss einsperren. Dann schaute er zu seinen Kollegen. Dabei fand ich, dass er sehr nachdenklich wirkte: „Und können wir mal mit dem Max reden?“ Diesmal schüttelte ich energisch den Kopf: „Nein, der Max ist zu schüchtern, sonst springt der nur wieder.“
Der Polizist erhob sich und trat zu seinen Kameraden in Grün. Sie redeten ziemlich heftig miteinander und ich wartete schweigend. Als kleines Mädchen sollte man schweigen, wenn die Erwachsenen sich unterhielten.
„Klingt nicht nach einen Mörder.“, hörte ich sie reden.
„Wir suchen trotzdem weiter. Wenn er unschuldig ist, können wir ihm nachher noch zu seiner Heldentat gratulieren.“
Darüber freute ich mich unglaublich. Sobald sie den wahren Täter gefunden hatten, würde mein Held und zukünftiger Ehemann wenigstens dann ein bisschen bekommen, was er verdiente.
Nachdem die Polizisten verschwunden waren, kam er zu mir: „Vielen Dank.“ Ich errötete. „Bitte.“, nuschelte ich verlegen und überglücklich. Und dann erzählte er mir noch so eine tolle Geschichte, bevor er sich von mir verabschiedete, für immer, wie er sagte, weil er die Stadt verlassen wollte. Schade, aber die Welt brauchte eben Männer wie ihn.

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Tag der Veröffentlichung: 06.09.2011

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