© K.-H. Kupfer
Die soziale Gerechtigkeit
Was aber ist sozial Gerecht?
Die generelle Frage
In vielen Diskussionen, bei Tarifverhandlungen, bei der Beratung neuer Gesetze etc. etc. und sogar in Predigten von der Kanzel, immer macht das Wort von der „sozialen Gerechtigkeit“ die Runde. Jeder redet davon, jeder versteht etwas anderes darunter. Und so hat niemand bisher die Frage, was „sozial gerecht“ ist, konkret beantwortet. - Was also ist „sozial gerecht“?
Der Begriff ist stark mit Emotionen besetzt, sodass er grundsätzlich einer Definition bedarf. Gibt es die?
Hier der Versuch, um anhand eines Zahlenwerkes und einer kleinen Geschichte zu zeigen, dass das gar nicht so einfach ist. Was eben noch für den Einzelnen „sozial gerecht“ erscheint, kann sich allein durch eine geschenkte Wohltat in sein Gegenteil verkehren.
Der Versuch einer Klärung ....
.... anhand einer kleinen Geschichte.
Bekannte fanden sich allabendlich zusammen und speisten gemeinsam in einer angesehenen Gaststätte. Nach einiger Zeit machte ihnen der Wirt das Angebot, ihre Zeche pauschal mit einem Tarif von 200,- EURO pro Abend zu berechnen. Das fanden sie gut, konnten sie doch von nun an speisen und trinken nach Herzenslust. Und weil nicht alle gleich viel Geld besaßen, beschlossen sie, die Bezahlung entsprechend den finanziellen Verhältnissen jedes Einzelnen, also nach ihrer Meinung „sozial gerecht“ aufzuteilen.
Die 3 Ärmsten zahlten nichts,
der 4. zahlte 1 EURO
der 5. 6 "
der 6. 10 "
der 7. 15 "
der 8. 21 "
der 9. 28 "
der 10. 119 "
Alle waren zufrieden.
Dann machte der Wirt eines Tages das Angebot, den verabredeten Festpreis für die allabendliche Zeche um 30,- EURO auf nunmehr 170,- EURO zu senken. Man regelte die Zahlung neu, genau so wie bei der früheren Übereinkunft, also nach Meinung aller „sozial gerecht.“
Nun war auch Nr. 4. von der Zahlung befreit,
der 5. zahlte nur noch 5 EURO
der 6. 8 EURO
der 7. 12 "
der 8. 17 "
der 9. 23 "
der 10. 105 "
- Bei Nr. 4. war die Freude groß, brauchte er doch nun nichts mehr zu zahlen.
Auch die anderen schienen zunächst mit der Aufteilung zufrieden. Doch dieser Friede zerbrach sehr schnell, weil man meinte, dass die „soziale Gerechtigkeit“ trotz gleicher Berechnung nicht mehr gewahrt und das Geschenk ungerecht aufgeteilt sei.
- So meckerte der Teilnehmer Nr. 5, weil er von den 30,- EURO nur 1,- EURO bekam. Die Nr. 10 hingegen bekäme 14,- EURO. Das könne doch wohl nicht gerecht sein, wo doch Nr. 10 ehedem genügend Geld hat.
- Der Teilnehmer Nr. 6 fand es ungerecht, weil er nur 2,- EURO von den 30,- EURO bekam.
- Nr. 7 bemängelte, nur 3,- EURO bekommen zu haben.
- Und der Teilnehmer Nr. 1 war unzufrieden, weil er von den 30,- EURO gar nichts abbekommen habe. Offensichtlich hatte er vergessen, dass er doch sowieso nichts zahlt.
Der „soziale Frieden“ schien nicht mehr gewahrt. Man beschimpfte sich. Eines Abends geriet der Streit auf dem Heimweg außer Kontrolle. Alle schlugen auf den Teilnehmer Nr. 10 ein und verletzten ihn so sehr, dass er nicht mehr an der allabendlichen Runde teilnehmen konnte.
Die übrigen 9 trafen sich wie gewohnt auch am nächsten Abend, aßen und tranken wie immer. Schließlich präsentierte ihnen der Wirt die übliche Rechnung mit dem vereinbarten Festbetrag von 170,- EURO. Jeder legte wie üblich seinen Betrag auf den Tisch.
Doch nun war das Erstaunen groß, denn ohne den finanziellen Beitrag von Nr. 10 reichte das Geld nicht einmal aus, die halbe Rechnung zu begleichen. Es reichte nicht einmal mehr, jeden zweiten Tag ein Essen einnehmen zu können. Es ging ihnen also allen schlechter als zuvor.
Man überlegte erneut: Was ist „sozial gerecht“?
Einer kam auf die Idee, wenn wir z. B. das Geld der Nr. 10 auf uns alle aufteilen, dann müsste es doch gerecht sein. Halt sagten Nr. 1 bis Nr. 4, geht nicht, dann müssten wir ja zahlen, wo wir doch bisher nichts bezahlt haben.
Die Teilnehmer Nr. 5 bis Nr. 9 bemerkten, dass sie dann einen höheren Betrag zahlen müssten als bisher. Sie waren also auch nicht zufrieden.
Zusammen überlegten sie, wenn sie das Geld der Nr. 10 auf alle umverteilen würden, dass dann zwar jeder mehr hätte, aber die Nr. 10 wesentlich weniger zahlen müsste, was doch auch wieder nicht gerecht wäre.
Schließlich bemerkte einer aus der Gruppe, was denn mit den Arbeitsplätzen würde, die Nr. 10 geschaffen hat, wenn er dann kein Geld mehr für den Erhalt und den Ausbau der von ihm geschaffenen Arbeitsplätze hat.
Es wurde still in der Runde und alle überlegten: Was wohl ist „sozial gerecht?“
Und genau an dieser Stelle endet die kleine Geschichte, die sehr deutlich zeigt, dass eine - wie auch immer geartete - soziale Gerechtigkeit stets nur mit irgendwelchen vermeintlichen Ungerechtigkeiten gegenüber anderen einhergeht.
Auch hat mir bisher niemand diese Frage emotionsfrei und anhand von Fakten klar nachvollziehbar beantwortet, nicht seitens der Politik, nicht seitens der Gewerkschaften und auch nicht seitens kirchlicher oder anderer Institutionen. Und jeder versteht darunter etwas anderes.
Offensichtlich lässt sich aber mit diesem, auf die Gefühle der Menschen abgestellten Wortkonstrukt gerade wegen seiner Unbestimmtheit (Beliebigkeit) bei fast allen Bevölkerungsschichten gut Stimmung machen, obwohl das Thema viel zu ernst ist, um derart missbraucht zu werden. Es kommt scheinbar immer darauf an, auf welcher Seite man sich befindet. Eine Seite findet es immer ungerecht.
Realer Fakt in der Bundesrepublik ist, dass im Jahre 1980 die Sozialausgaben des Staates 16 % betrugen. Im Jahre 2010 hingegen lagen sie etwas über 50 %. Damit dürfte die soziale Gerechtigkeit an sich gewahrt sein, oder? Denn schließlich steht es 50:50 zwischen Gebern inkl. Gewerbe und den Nehmern. Oder welcher Prozentsatz wäre sonst als sozial gerecht anzusehen?
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Wie leicht zu erkennen, endet auch dieser Versuch einer Erklärung mit einer offenen Frage, obwohl die kleine, hier erzählte Geschichte einen Teil der Problematik aufzeigt, weshalb eine Beantwortung der Frage gar nicht so einfach ist. Und so ist es schon sehr bemerkenswert, wie von vielen leichtfertig mit dem Begriff von einer sozialen Gerechtigkeit umgegangen wird.
Tag der Veröffentlichung: 05.02.2011
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