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Clara Grosz



Müde sah sie auf, sehr müde und sehr konzentriert. Sie hatte einen langen Weg hinter sich. Es war sein Cello, das sie geliebt hatte, die schweren samtenen wellenartigen Tonböen. Und ein Cello hörte sie jetzt. Als ob er riefe. Da sie nun Mutter wurde. Dennoch dachte sie: ihn weitergeben, uns weitergeben. Sie war sehr entschlossen.
Sie saß auf der Bank und sah in den immer wieder vom Boden hochgeblasenen späten Frühling. Ihr Bauch war sehr schwer geworden, der Rücken tat weh. Doch war das ein guter Schmerz. Es war später Mai, deshalb umschwärmte sie ein Schnee aus loser Watte, der bisweilen die Nase reizte. Sebastian war schon seit Monaten fort. Ich schaffe es nicht, hatte er ihr geschrieben, sie hatte vor lauter Schrecken ganz gleichmütig reagiert. Ich schaffe es nicht, verzeih, hörte sie, hörte seine Stimme, ein wenig rauh, mit dieser Spur Verzweiflung darin, die sich nicht zeigen ließ, sondern wie eine Resonanzsaite mitschwang. Und nun Handlung geworden war. Sie nahm ihm diese Flucht nicht einmal übel, liebte ihn weiter. Die Leute verstanden nicht. Ihn nicht. Sie nicht.
Sie war in die Küche gekommen, verschlafen noch, im Morgenmantel, barfuß. Sebastian hatte Kaffee gekocht, der Duft hatte sie hergelockt, hatte sie endlich aufstehen lassen. Es war eine kleine Frankfurter Wohnung. Küche, Bad, ein kleiner Flur. Das gemeinsame Wohn- und Schlafzimmer. Dazu das Notenzimmer, so nannten sie es. Sebastian hatte Titel von Partituren wunderschön fotokopiert und gerahmt und dahineingehängt: Schönbergs Kammersinfonie, Scelsis Aion, den Anfang des bachschen Ricercare, Birtwistles Theseus Game, Rihms ‚im innersten’ noch und vieles andere mehr. Dazu die Fotografien gemeinsamer Auftritte in Tokyo, in Belfast, in Göteborg, um Stockhausens auf Preßspan gezogenes fehlgedrucktes ‘Hymen’-Plakat pfiffig gruppiert. Es standen vier Stühle um Notenständer herum, ein weiterer Stuhl war gegen die Wand geklappt. Der schöne hüfthohe Kerzenhalter aus der Requisite der Städtischen Bühnen. Das Fenster ging auf einen Garten hinaus, in dem, übten sie, sommers ein solcher Vogellärm herrschte, daß man es schließen mußte. Die Eltern hatten ihnen einen großen Teil des Hausstands geschenkt, es würde mit all den Terminen schwer genug. Sie war in die Küche gekommen, und Sebastian hatte ihren Frühstücksplatz gedeckt, nur ein Gedeck, nicht zwei. Da schon ahnte sie es. Und sah den kleinen Brief, es war kaum mehr als ein Billett. Sebastian war liebevoll bis zum Schluß.
So war eine Entscheidung zu treffen gewesen. Einige rieten hierzu, andere dazu. Was man auch sagte, sie schüttelte fast unsichtbar den Kopf. “So ein Schwein!” War er nicht. “Kerstin, das kannst du doch nicht einfach so mit dir machen lassen!” Sie sah mit roten Augen auf, aber weinte nie in Gegenwart der anderen. Zog sich zurück und nahm sein Instrument, das er, wie um sich selbst zu bestrafen, zurückgelassen hatte. Er hatte sowieso nichts mitgenommen. War einfach weggewesen, hatte im Ensemble nichts gesagt, nichts seinen Eltern, auch den Freunden gegenüber geschwiegen. War nur weg, so wie die Flamme einer Kerze, die jemand ausbläst; was noch als kleiner blasser Rauch momenthaft darüber verweht, war sein Geruch, der Duft seines After Shaves; tagelang schien er sich in der Küche zu halten. Aber das kam ihr sicher nur so vor. Derart verbunden war sie dem jungen Mann.
Es war ganz eigenartig. Trost fand sie, wenn sie sein Cello spielte; sie spielte es nicht so gut wie die Bratsche, aber in dieser Zeit gelangen ihr seltsame Klänge. Sie fragte sich: Was ist das, Trost? Und gab sich die Antwort, als sie Zimmermann spielte. Sebastian hatte dessen Suite zuletzt geübt. Und Dallapiccolas Ciaccona, das eines seiner Lieblingsstücke war. Dabei geriet ihr in die ersten Takte immer ein wenig Wut von sich selbst. Dennoch, dachte sie, spreche so, obwohl er nicht da war, der Vater weiter zu seinem ungeborenen Kind, ganz nah der Klangkörper am Bauch: Du bist nicht verlassen. Sie merkte gar nicht, wie männlich ihr Griff dabei wurde.
Das hatten sie gedacht: Das Mädchen doppelt bergen, im Leib und im Klang. Und während sie spielte und immer wieder etwas mißlang, so daß sie neu und wiederneu ansetzen mußte, merkte sie, daß eine Musik in ihrer Probe entsteht, daß sie da atmet und wächst, daß sie sich aber, erklingt sie perfekt, recht eigentlich entfernt. Immer danach nahm sie die Bratsche. Die Reihenfolge wurde zum Ritual, es war nötig, auch und gerade dann, wenn ihr schlecht war oder als schließlich der Rücken zu schmerzen begann. Die Brüste waren sehr schwer eworden, die außerdem zogen. Kerstin mußte eine ganz neue Sitzhaltung finden. Manchmal wurde ihr das so schwer, daß sie sich in Trance spielte, um den Körper nicht mehr zu spüren.
Sie sah auf, sehr konzentriert. Noch war ein wenig Zeit, die vorbeispazierenden Leute raunten oder lachten oder starrten stumm. Eine Jugendlichengruppe stürmte vorüber, drei Kinder kickten eine Fantadose durchs Samengestöber. Sie dachte immer, gleich ist er wieder da. Morgens, wenn sie aufstand, hörte sie ihn im Bad poltern. Schlief sie ein, hörte sie ihn im Notenzimmer am Instrument. Triphon, dachte sie, und der Traum kam.
Es waren Verpflichtungen in Melbourne und Sidney in dieser Zeit, bis fast ganz zuletzt flog und spielte sie mit; bedenklich hoben die Flugbegleiter ihre Augenbrauen. Doch war sie bei den andren daheim, dagegen ließ sich nichts sagen. Freilich rieten sie ihr, sich zu schonen. “Wenn ich mitkomme”, sagte sie, “schone ich mich.” Aber im April, das war in Rom, gab es diesen Stich. Er war eine Klinge, die wie schräg den Harnleiter hinauf, tatsächlich aber in den Hals der Gebärmutter schnitt. Den ganzen Flug zurück hatte sie Schmerzen. Ihr war furchtbar übel. Sie schwieg darüber, die Reise nach St. Petersburg aber trat sie nicht mehr an. Blieb die drei Tage zuhause, ihre Mutter und auch Sebastians Mutter sahen nach ihr. Ohne daß sie gefragt hätte, schüttelte diese leicht ihren Kopf. Nein, hieß das, ich habe nichts gehört. Man war in Besorgnis um Sebastian, aber sagte ihr das nicht. Kerstin nahm wieder das Cello, sie mußte sich jetzt, wegen des Bauches, weit vorbeugen. So strich sie. Die Ciaccona immer wieder, sogar ein wenig Britten übte sie. Davon ließen die Schmerzen auch jedesmal nach.
Kaum war das Ensemble zurück, erschien sie neuerlich zu den Proben. Am 18. sollten sie ‚Ein Musikalisches Opfer’ geben, in der Ensemblefassung von Kocsis, und vorweg den ‚Canto di Sperenza’. Alte Oper, Mozartsaal. “Ich spiele mit”, sagte sie so entschieden, daß niemand einen Einspruch wagte. Sie war, obwohl deutlich geschwächt, ausgesprochen diszipliniert. Und es kam dieser Klang in die Viola, den sie bislang nur auf Sebastians Cello und nur für sich, in ihrem Notenzimmer, hervorbringen konnte: eine ganz leichte, weniger hör- als fühlbare chromatische Verschiebung, aus der etwas Jenseitiges herüberschwang. Oder etwas von Ankunft. Alle hörten es, auch Netztau, der verwundert aufsah: “What are you doing there? This sounds wonderful!” Kerstin sah ebenso verwundert zurück. Schwieg. Lachte ein wenig geniert. “Do it again”, sagte Netztau, “hold it.” Sie strich den Bogen über die Saiten. Bei jeder neuen Probe gingen Schauer durch den Dachsaal der Hennersburger Philharmonie, wie man die Probesäle nannte. “Sie können nicht mehr spielen”, sagte der Arzt. “Ich bitte Sie.” Es war Pal Ramaswami, der diskret dafür sorgte, daß im Publikum auf jeden Fall ein Arzt und die Hebamme saßen. Er informierte nur noch Netztau, den anderen sagte er nichts, damit nicht versehentlich etwas durchdrang. Kerstin hätte es, fühlte er, als Übergriff empfunden. Wenn es aber nötig wurde, daß sie davon erfuhr, dann wäre es recht.
Der Tag war trüb. Von Mittwoch auf Donnerstag war das Wetter umgeschlagen. Frankfurt lag öde im Nebel, kaltnaß klätschelte der Main an die Brückenpfeiler, schob sich breiig westwärts. Es nieselte. Das Ensemble kam morgens zur Generalprobe zusammen, den Solopart bei Zimmermann spielte Johannes Verhelf. Sebastian hätte ihn spielen müssen, dachte Kerstin sehr kurz und auch jetzt erst; sie wußte eigentlich selbst nicht recht, warum. Sie war viel zu angespannt, zugleich müde, um wirklich etwas denken zu können. Dieses Konzert noch, dachte sie immer. Dieses Konzert. Es gelang ihr morgens der Sehnsuchtston nicht. So hatte man sich schon angewöhnt, ihn zu nennen. Das ganze Ensemble war in ihn gebettet gewesen, beklommen gingen sie zu Mittag, einige aßen etwas, andere wollten ruhen. Die Musiker innerlich wie auf die Harfe gespannt. Imgrunde wußten sie alle Bescheid.
Zur Anspielprobe um sieben kamen sie konzentriert. Sie lächelten, führten Kerstin an ihren Platz, weil es ihr so schwer fiel zu gehen. Der Ton war wieder da, Netztau brach ab, damit sich das Wunder nicht erschöpfte. Man scherzte, Kerstin bat um Wasser, sie mochte nicht unnötig gehen. Ramaswami beobachtete sie, er hatte einen kleinen Ganeesha dabei. Sie wurden auf die Bühne gebeten, nahmen ihre Plätze ein. Um die vierhundert Leute im Publikum, fast ausverkauft. Es wurde ruhig. Dann begannen sie. Erst die Klänge, dann schon, nach dem ersten Stück, es gab keine Pause, nur eine kleine Umbesetzung, die Wehen. Schon im Ricercare, aber das brachten sie noch zum Abschluß. Danach konnte Kerstin ihr Instrument nicht mehr halten. Der Klang indes stand. Unruhe ging durch das Publikum. Ramaswami gab den Helfern den Wink, sie kamen auf die Bühne. Niemand hatte sich abgesprochen, aber das kleine Orchester bildete einen halbrunden Damm um die Geburt. Zu ihr die Rücken und konzentriert auf den Dirigenten geschaut. Das ging insgesamt völlig ohne Aufregung vor sich. Die Musiker sowieso, aber auch die Hörer begriffen. Es setzte sich wieder, wer stand. Man sah nichts, so diskret ging es vor sich, auch so sehr ruhig. Netztau hob seine Hände, gab den Einsatz. Und Johannes übernahm diesen Ton, der war nun aus dem Notenzimmer über die Bratsche zu ihm hinübergeweht. Es war zu spät, um Kerstin hinauszutragen, sie preßte bereits. Hin und wieder hörte man ein Weinen, einen kleinen Schrei, nicht mehr. Das Ensemble deckte schützend sein Melos darüber. Noch vor Ende des Stücks war Clara auf der Welt. Clara, so hatten es sich Kerstin und Sebastian einmal gedacht, sollte es heißen, ihr Kind. Wenn es denn ein Mädchen würde. Für einen Jungen hatten sie an Benjamin gedacht. Während des Applauses brachte man die glückliche, leise weinende Mutter und das Kind zur Untersuchung hinaus, das Publikum, selbst auf der Empore, sah von beiden eigentlich immer noch nichts.
Mit Dallapiccola ging der Abend zu Ende. Als Ramaswami draußen Kerstin - bevor sie, den Säugling ganz nahe an sich, aus der Alten Oper hinausgeführt und in das bereitstehende Auto gesetzt wurde - den Ganeesha für die Kleine mitgab, setzte Johannes an. Er hatte lange, ohne um die andere Bedeutung zu wissen, daran geübt. Und ihm blieb an diesem Abend der Klang.
Mag sein, irgendwo hat ihn der junge, so überforderte Vater gehört. Wo immer er auch war. In Neuseeland, in Brasilien, von wo er dann schließlich doch eine Karte schickte. Mag sein, er hob den Kopf und lauschte. Mag auch sein, er kam dreivier Monate später zurück, voller Reue. Hat sich selbst gefunden, tritt leise ins Treppenhaus, steigt das eine Stockwerk hinauf, seine Schritte sind schwerer geworden. Er klingelt, obwohl er den Schlüssel noch hat. Kerstin öffnet ihm. Das mag alles sein. Aber es spielt keine Rolle.

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Tag der Veröffentlichung: 28.07.2010

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