Hinweis der Autorin:
ACHTUNG !!!
TRIGGERGEFAHR !!!
Ein ganz normaler Tag
Er streichelt mir sanft mit seinen Fingerspitzen über die Wange. Während er mir tief in die Augen schaut und mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht streicht, beginnt mein Magen zu kribbeln, bis ich das Gefühl habe, er würde jeden Moment platzen. Gleich, gleich würde er mich küssen. Schon so lange habe ich auf diesen Moment gewartet. Würde er mein Geheimnis bemerken? Langsam beugt er sich zu mir herüber, seine Lippen streichen zärtlich über meine Wange auf der Suche nach meinen Lippen. Ich schließe die Augen und konzentriere mich ganz auf das sanfte Gefühl seiner Lippen auf meiner Haut. Sein Mund tastet sich zu meinen Lippen und er drückt mir einen gefühlvollen Kuss auf. Erst verhalten und vorsichtig, doch dann werden seine Lippen fordender. Mit der linken Hand umfasst er meine Wange, fährt mir durch die Haare und zieht mein Gesicht noch dichter an seines. Die Gefühle in meinem Bauch explodieren, ein warmes Feuer breitet sich über meine ganze Haut aus. Dort wo er mich berührt, scheint meine Haut zu verglühen. Doch dann beginnt das Feuer mich zu verbrennen, heiße Nadeln stechen in meine Haut, als er mir sanft über den Arm streicht. Sofort ziehe ich mich zurück in mein Schneckenhaus, entziehe mich ihm. Er versteht es nicht, wie könnte er auch. Wie sollte ich es ihm erklären?
Neun Uhr. Einer neuer Morgen. Ein neuer Tag. Schwerfällig drehe ich mich in meinem Bett noch einmal um, ziehe mir die Decke über den Kopf. Ich will noch nicht aufstehen. Ich kann nicht. Mein Handy piepst – schon wieder. Wie so oft in den letzten zwei Tagen. Zahlreiche Anrufe, Mailbox-Nachrichten, SMS... alle von ihm. Ich habe ihm nicht geantwortet. Was hätte ich ihm schreiben sollen? Er wird aufgeben. Alle haben aufgegeben.
Zehn Uhr. Als ich in den Spiegel schaue sehe ich traurige Augen. Ich lächle und mein Gesicht erwärmt sich. Nur meine Augen, die bleiben kalt. Meine Haare hängen wie nasse Spaghetti von meinem Kopf. Warum können sie nicht einmal so sitzen, wie ich sie gerne hätte? Und überhaupt, wieso sehe ich nur so unglaublich langweilig aus? Ich hasse mein Spiegelbild. In meinem Magen wird es warm, unangenehm warm. Meine Fingerspitzen kribbeln. Warum? Warum sehe ich nur so aus? Wie von selbst schließen sich meine Finger zur Faust. Meine Fingernägel drücken ins Fleisch, ziehen feine Risse, doch ich merke aus nicht. Die Wut in meinem Inneren ist so allmächtig, so allgegenwärtig, dass ich keinen Ausweg sehe. Mit einem kurzen, kräfitgen Hieb schlage ich gegen den Spiegel. Er zerbricht in tausend Scherben, die geräuschvoll auf den Boden fallen. Feine Bluttropfen bahnen sich einen Weg von meinen Fingerknöcheln zum Handgelenk, doch ich merke es nicht. Jetzt geht es mir besser.
Elf Uhr. Unentschlossen stehe ich vor meinem Schrank. Was soll ich nur anziehen? Missmutig ziehe ich einen roten Pullover aus dem untersten Fach, halte ihn hoch. Nein, zu grell. Der Pullover landet in der Ecke. Ich ziehe einen schlichten, schwarzen Rollkragenpullover aus dem Fach daneben und streife ihn mir über. Als ich vor den großen Wandspiegel trete ziehe ich missmutig die Nase in Falten. Ich mag diesen Pulli, aber es ist kein Kleidungsstück für so einen Tag. So würde es jeder sofort sehen, da war ich mir sicher. Auch dieser Pullover landet in der Ecke. Ein neuer Versuch. Ich ziehe ein weißes, etwas tiefer ausgeschnittenes Top an und dazu meine dunkelblaue, lange Strickjacke. Als ich erneut vor den Spiegel trete, bin ich zufrieden. Die Ärmel sind schön lang und verstecken meine kaputten Fingerknöchel ein wenig. Auch ansonsten verdeckt er alles gut. Niemand würde unangenehme Fragen stellen.
Dreizehn Uhr. Nachdem ich noch eine Weile auf dem Sofa verbracht habe, kann ich mich endlich aufraffen einkaufen zu gehen. Auf meinem Handy sind weitere neue Anrufe von ihm. Wieso lässt er mich nicht einfach in Ruhe? Ich schlendere durch die Regale im Einkaufsladen. In meinem Einkaufswagen liegen bereits ein paar Nudeln und ein paar Kräuter, die werde ich später im Wasser aufkochen, so hat es etwas mehr Geschmack. Ah, endlich, das Regal mit den Hygieneartiklen. Duschgel, Shampoo, Deo, Cremes,... verdammt. Seit wann sind Rasierer und Rasierklingen in einem Schrank eingesperrt? Missmutig stehe ich vor dem Glasschrank und überlege ob ich nach einem Verkäufer klingeln soll. Würden sie es merken? Würde man es mir ansehen? Ich drücke auf den Knopf und einen kurzen Moment später hallt eine Lautsprecheransage quer durch den Laden. Ich spüre wie meine Wangen rot werden. Warum machen sie nicht gleich einen öffentlichen Aushang? Nach kurzer Zeit erscheint ein gut gelaunter Verkäufer, nicht sehr viel älter als ich. Und er sieht gut aus. Als er vor mit steht schaue ich ihn nur dumm an. Ich bin mir sicher, dass er mich bereits durchschaut hat. Er schließt den Schrank auf und schaut mich fragen an. "Rasierklingen", antworte ich kleinlaut. Er fragt mich, welchen Rasierer ich habe. Rasierer? Was für einen Rasierer? Hilflos zucke ich mit den Schultern. Er schaut ins Regal mit den einzeln abgepackten Rasierklingen. "Diese dort brauche ich, glaube ich", antworte ich verlegen und deute auf die Packung unten rechts. Er greift hinein und gibt mir die Packung ohne weitere Fragen zu stellen. Ich bedanke mich schnell und verschwinde mit meinen Sachen im nächsten Gang. Die erste Hürde wäre genommen.
Als ich an der Kasse stehe, werden meine Wangen schon wieder warm. Ich bin mir sicher, dass sie dunkelrot angelaufen sind. Als ich meine Sachen auf das Fließband lege, bin ich mir sicher, dass mich alle anschauen. Sie wissen es. Sie haben es gesehen. Nachdem ich bezahlt habe, verlasse ich fluchtartig den Laden und renne nach Hause.
Halb zwei. Mit keuchendem Atem sitze ich auf meiner Couch. Ich bin völlig fertig. Mein Magen knurrt. Zeit für´s Frühstück. Aber ich habe keine Lust. Ich will nichts essen, aber ich muss. Ich habe es meiner Therapeutin versprochen. Also gehe ich schwerfällig in die Küche und setze einen großen Topf Wasser für die Nudeln auf. Während das Wasser beginnt zu Kochen mache ich einen zweiten, kleineren Topf für die Soße fertig. Ich befülle ihn zur Hälfte mit Wasser und tue dann ein paar der Kräuter dazu, die ich vorhin gekauft habe. Nur nicht zu viele, es soll ja nur für den Geschmack sein.
Zwei Uhr. Ich sitze am Tisch. Vor mir ein Teller mit Nudeln, übergossen mit ein wenig Kräuter-Wasser. Lustlos stochere ich mit meiner Gabel im Teller herum. Schiebe mir eine Nudeln in den Mund, kaue sehr lange an ihr herum, bis ich sie schließlich herunterschlucke. Sofort habe ich das Gefühl, zu spühren wie sie schwer in meinem Magen landet, bei den anderen 13 Nudeln, die ich bisher gegessen habe. Noch immer sind so viele Nudeln auf meinem Teller, ich kann sie riechen. Der Geruch verursacht mir Übelkeit. Ich versuche noch eine Nudel zu essen. Ich habe mir vorgenommen mindestens 15 Stück zu essen. Nur noch eine. Ich habe sie bereits auf meiner Gabel aufgespießt, doch ich kann sie einfach nicht essen. Angeekelt lege ich die Gabel zurück in den Teller und schiebe ihn von mir weg. Nein, mehr geht wirklich nicht.
Drei Uhr. Ein weiteres Mal rauscht die Klospühlung. Es ist so schrecklich laut. Ich bin mir sicher, dass alle Nachbarn es gehört haben. Ob sie es wissen? Die Scherben von heute morgen liegen noch immer auf dem Fußboden. Ich sollte sie wegräumen, aber ich habe keine Lust. Vielleicht später.
Kurz nach drei Uhr. Ich sitze wieder auf der Couch. Das restliche Essen habe ich weggetan. Es hat gestunken. Ich habe mich in meiner Wolldecke eingewickelt und mir ein Buch zum Lesen geholt. Ich bin immer noch auf der ersten Seite. Was habe ich vorhin gelesen? Ich weiß es nicht mehr. Habe ich überhaupt schon etwas gelesen? Ich fange erneut von vorne an.
Fünf Uhr. Hoppla, ich muss eingeschlafen sein. Mein Nacken tut weh, ich hab so schrecklich unbequem gelegen. Ich bin immer noch müde. Ich bin ständig müde. Meine Therapeutin sagt, das kommt von den Medikamenten. Ich habe den ganzen Tag noch nichts gemacht. Ich habe das Gefühl ich habe zugenommen. Ich fühle mich schrecklich dick. Also gehe ich ins Schlafzimmer und suche meine Sportsachen raus. Draussen ist schönes Wetter, also werde ich eine Runde joggen gehen.
Sechs Uhr. Endlich wieder da. Ich bin völlig fertig. Ich glaube ich habe die heute gegessenen Nudeln wieder abtrainiert. Meine Beine und Hände zittern, ich fühle mich fürchterlich schwach. Ich gehe direkt ins Badezimmer und setze mich erst einmal auf den Boden. Während ich darauf warte, dass mein Kreislauf sich wieder stabilisiert, trinke ich den Rest aus meiner 2 Liter Flasche. Das ist gut. Wenn man viel trinkt, dann hat man weniger Hunger. Langsam hört der Himmel auf sich zu drehen. Zeit duschen zu gehen. Nachdem meine Klamotten alle in der Ecke sind, fange ich vorsichtig an, den Verband an meinen Armen abzuwickeln. Vorsichtig, damit die Wunden nicht wieder aufreißen.
Als das warme Wasser meine Haut berührt, breitet sich ein warmes Kribbeln auf meinem Rücken auf. Doch gleichzeitig spühre ich den stechenden Schmerz an meinen Armen und den frischen Wunden an meinen Fingerknöcheln. Doch ich merke es kaum noch. Es ist ja nichts Neues.
Halb sieben. Wieder zurück auf der Couch. Ich habe nur ein Top an, damit die Wunden trocknen können. Im Fernsehen läuft nichts spannendes. Nachrichten. Die Welt ist schrecklich. Überall Krieg und Gewalt, doch dafür habe ich kein Auge. Ich habe selbst genug Probleme, wie soll ich mich da um das Leid der andere kümmern?
Sieben Uhr. Ich stehe unentschlossen vor der Obstschale in meiner Küche. Soll ich einen kleinen Apfel oder lieber eine halbe Banane essen? Bis zum Schlafen gehen ist noch etwas Zeit. Zeit noch ein paar Kalorien zu verbrennen. Ich entscheide mich für den Apfel.
Kurz nach sieben Uhr. Es sind weitere zehn Anrufe auf meinem Handy hinzugekommen. Er ist hartnäckiger als alle anderen. Vielleicht würde er mich doch verstehen? Nein, das Risiko ist zu groß. Ich will keinen Schmerz. In ein paar Tagen wird er mich vergessen haben. Und ich ihn auch.
Halb neun Uhr. Ich sitze auf meiner Bettkante. Der Apfel ist wieder draussen. Ich habe das Gefühl in meinem Magen einfach nicht ausgehalten. 1,2,3...7 Tabletten – in den Mund und mit Wasser nachspühlen. Gleich habe ich auch den fünften Liter ausgetrunken. Danach kann ich beruhigt schlafen gehen. Hoffentlich habe ich heute Nacht nicht so schreckliche Träume.
Tag der Veröffentlichung: 10.10.2010
Alle Rechte vorbehalten