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Sein Unglück
ausatmen können
tief ausatmen
so dass man wieder
einatmen kann

Und vielleicht auch sein Unglück
sagen können
in Worten
in wirklichen Worten
die zusammenhängen
und Sinn haben
und die man selbst noch
verstehen kann
und die vielleicht sogar
irgendwer sonst versteht
oder verstehen könnte

Und weinen können

Das wäre schon
fast wieder
Glück




Vorwort


Es ist nicht einfach über etwas zu schreiben, was man selbst nicht hat oder mit dem man vorher noch nie persönlich in Berührung kam. Noch schwerer ist es über etwas zu schreiben, ohne irgendwem nahe treten zu wollen. Wenn wir einen Artikel lesen, bleibt er kurz in unserem Gedächtnis. Wir machen uns Gedanken darüber, beginnen aber zugleich mit einem ganz neuen, anderen Kapitel. Wir haben uns lange mit der Aufgabe „Die Geschichte einer Aidskranken“ auseinander gesetzt. Wir haben uns überlegt wie man die Menschen berühren kann, ohne dass wir von einer wahren Geschichte erzählen. Wie wir es am besten schaffen, dass es in den Köpfen der Menschen bleibt, ohne dass es schnell in Vergessenheit gerät. Zuerst haben wir uns überlegt einen Film zu drehen, aber wir waren nicht davon überzeugt die Emotionen einer wirklichen Aidskranken nachzuspielen. Schließlich entschlossen wir uns das Tagebuch einer Aidskranken einfach zu schreiben. Wir wollten das ausdrücken, was nicht gesagt werden kann und worüber es unmöglich ist zu schweigen.


Auf den Straßen sehen wir täglich Menschen, die ihren Körper verhüllen, um sich vor der Kälte zu schützen. Wirklich ein einfacher Gedanke: Was ich schätze, bin ich auch bereit zu schützen. Wenn ich mich in meinem Körper wohlfühle, dann schütze ich ihn auch. Warum schützen sich aber nur wenige vor HIV, wenn wir doch genau wissen, dass das Virus tödlich ist? Diese Frage stelle ich mir sehr oft, aber ich finde keine passende Antwort.

Wenn ich früher in der Bravo laß, dass sich wieder jemand mit dem HIV Virus angesteckt hatte, dann blieb das kurz in meinem Gedächtnis. Ich machte mir Gedanken darüber, wie die Person jetzt leben wird. Wie sie vorher gelebt hat. Was die Unterschiede sind.
Es waren Gedanken, die mir sehr nahe gingen, aber sie blieben nur kurz. Es waren kleine Kapitel in meinem Leben. Kleine Gedankensfetzen, Abschnitte, mit denen ich mich erst dann wieder näher beschäftigte, wenn ich den nächsten Artikel über Aids laß.

Die Zeit rinnt durch unsere Hände. Wir können sie nicht aufhalten, nicht ans Ende der Welt laufen um uns gegen sie zu stemmen. Wir haben nicht die Kraft oder die Macht dazu, Zeit aufzuhalten. Wir können nicht bestimmen, wann was passiert. Warum und wie was passiert. Darüber haben wir keine Kontrolle. Wir können lediglich die klitzekleinen Glücksmomente unseres Lebens genießen. Jedes einzelne Ticken der Uhr, jedes Pochen unseres Herzens.
Wenn wir erfahren, dass wir Krebs haben, dann können wir das nicht ändern. Krebs kommt einfach. Warum auch immer. Aber irgendwann ist es bei irgendwem da. Wir lassen uns dann vom Arzt behandeln und hoffen, dass wir wieder gesund werden. Jedes Ticken der Uhr, jeder Herzschlag bedeutet für uns Hoffnung.
Wenn wir erfahren, dass wir Aids haben, dann können wir das nicht ändern. Nicht mehr. Wir hatten die Chance NEIN zu Aids zu sagen, unseren Körper zu schützen. Unser Leben wird zu einer tickenden Zeitbombe. Jede Sekunde bedeutet eine Sekunde weniger Leben. Jeder Herzschlag bedeutet ein Herzschlag weniger. Ein Schritt näher am Tot.

Wenn ich heute ein Lebensbericht einer Aidskranken in der Zeitung lese, sind es keine Gedankenfetzen mehr, keine Abschnitte, die nur kurz in meinem Gedächtnis verweilen. Nein, diesmal bleiben sie länger. Machen mich nachdenklich, traurig. Sie begleiten mich in den Tag hinein. Verfolgen mich bis in meine Träume. Und bleiben für immer.

Drei Monate musste ich warten, um wirklich ein sicheren Test machen zu können. Drei Monate der Unsicherheit um mir dann ironischer Weise anhören zu müssen, dass ich HIV „positiv“ bin. Mein Gedächtnis ist wie ein Verdrängungsmechanismus, darum kann ich nicht viel von diesem Tag erzählen. Ich kann nur erzählen was danach war - und wie es immer noch ist.
Die erste Woche danach lebte ich sehr zurück gezogen. Ich musste für mich selber erst einmal alles verarbeiten. Mein Leben neu ordnen.
Ich war damit beschäftigt ein neues, aber normales Leben zu führen, kämpfte und stritt die Therapie ab. Für mich gab es nämlich „nur“ drei Stufen in Bezug auf HIV: 1. Infektion, 2. Therapie, 3. Tod. Und da kam mir Stufe 2 eindeutig zu schnell, dafür war ich noch nicht bereit. Meinen Eltern erzählte ich nicht, dass ich „positiv“ bin und ich glaube, das war auch besser so. Es hat nichts damit zu tun, dass sie dann nichts mehr mit mir zu haben wollten oder mich verstoßen würden, aber ich glaube, dass sie schlechter damit zu recht kämen als ich. Dass sie nicht die Kraft aufweisen würden, so wie ich es mittlerweile konnte. In Gedanken lächele ich meinem Eltern zu und entschuldige mich. Ich kann ihr Lächeln sehen – und ich hoffe, dass mich insgeheim verstehen. Dass sie lächeln, wenn sie mich sehen und mir verzeihen.
Manchmal, wenn alles still war und ich in meinem Bett lag, dann konnte ich leise das Ticken meiner Uhr hören. Es machte mich wahnsinnig zu hören wie jede Sekunde an mir vorbei zieht und ich wollte sie am liebsten aufhalten. Aber sie rannte weiter durch meine Hände.
An meinem 18. Geburtstag nahm ich dann aber meinen ganzen Mut zusammen und erzählte es einigen mehr oder weniger guten Freunden, dass ich HIV-positiv bin. Natürlich stellten sie mir viele Fragen, vor allem drehten sich diese um das woher, aber ich antworte nur sehr ungern auf diese Frage, weil es dann auch um die Schuldfrage ging. Ich war geschockt und überrascht zugleich, dass ich bei so vielen gegen eine Mauer aus Unverständnis prallte. Verlor viele die mir wichtig waren und fühlte mich ganz furchtbar und vollkommen verloren in den Weiten dieser unerträglichen Welt. Ich lernte, dass sprechen urteilen bedeutet und schweigen, geurteilt haben.
Ich suchte halt, aber fand ihn nicht und zerfiel in große Depressionen. Gleichzeitig teilten sie mir meine neuen Werte mit: Helferzahl 500, Viruslast 52.000. Das Ergebnis gab mir Kraft und ich war wieder bereit zu kämpfen. Ich sagte dem Virus den Kampf an. „Du willst Krieg? Dann kriegst du Krieg, du scheiß Virus“ dachte ich und war stark genug, mein Leben zu leben. Ich lernte, dass ein Lächeln kostbarer ist als ein Diamant und insgesamt sah ich zugegeben, Aids nicht nur als schlecht an: Ich genoss mein Leben wie niemals zuvor und ich konnte mich zu einer der wenigen Menschen zählen, die Fort an nicht mehr existierten, sondern anfingen zu leben.

Mittlerweile ist ein Jahr vergangen. Meine Helferzahl ist auf 200 gefallen und meine Viruslast hat sich auf 65.000 erhöht. Für mich ist die Zeit gekommen die Therapie zu beginnen. Ich fühle mich bereit in Stufe 2 einzutreten. In meiner Schublade liegen neben Socken jetzt auch ein Stapel Tablettenpackungen: Viramune, Truwada, Doxepin, Ibuprofen, Fluoxetin heißen die Medikamente, die mein HIV-Virus in Zaum halten, Entzündungen hemmen, Schmerzen lindern und meine Psyche stützen sollen. Ich habe den Beipackzettel mit großem Interesse durchgelesen und natürlich habe ich auch die Nebenwirkungen zur Kenntnis genommen. Aber ich habe keine Angst vor ihnen. Ich werde sie hinnehmen, so wie ich meine Krankheit hingenommen habe. Es ist ein Teil von mir, auf den ich mich eingestellt habe. Ich komme gut damit klar obwohl ich im Unterbewusstsein weiß, dass ich früher sterben werde als die anderen in meinem Alter.
Es wird mir sehr schwer fallen zu gehen, aber man sagt ja, jedes Atom in unserem Körper war einmal ein Teil eines Sterns. Vielleicht gehe ich dann nicht weg. Vielleicht gehe ich nach Hause.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 20.05.2010

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