Er berührte fast geistesabwesend meine Hand, als er hinter mich trat. Wir hatten uns auf einem der Weizenfelder getroffen, das sehr nah an der Stadt lag, und standen nun direkt in der Mitte davon.
Ein Schmunzeln umspielte sanft meine Lippen.
„Ich habe dich vermisst“, wisperte ich und konnte spüren, dass er lächelte.
„Ich dich auch, Aisha.“ Seine Stimme klang so wohlig und liebevoll, dass ich dahin hätte schmelzen können.
Ich drehte mich zu ihm um und sah ihm in seine dunklen, fast schwarzen Augen. Hamza war sehr hübsch, auch für seine fünfzehn Jahre äußerst reif, körperlich als auch geistig. Seine dunklen Haare fielen ihm cool ins Gesicht. Mit einem verträumten Lächeln spielte er mit einer meiner schwarzen Locken, die sich bis hin zu meinem Bauchnabel hinunter schwangen.
Unsere Liebe war verboten, das wussten wir beide. Seit die Kämpfe begonnen hatten. Der Gedanke trübte meinen Blick und er schien es zu bemerken.
„Was ist los mit dir?“, fragte er besorgt.
„ Mein Vater würde mich für Monate in den Keller sperren, wenn er wüsste, dass ich dich treffe. Nicht weil du ein Junge bist, nein: Du bist einer von den Aufständischen …“
Hamza blickte finster und ich wusste, dass er daran dachte, wie viele seiner Mitstreiter schon unter der Hand der Streitkräfte ermordet worden waren.
„Und er behauptet immer noch, dass er gegen keinen seiner Mitmenschen die Waffe erhoben hat, ja?“ Hitzige Wut klang in seiner Stimme, fast Hass.
Ich versuchte ihn zu beschwichtigen.
„Es ändert nichts … Wer mein Vater ist, ist jetzt egal, Hamza. Lass uns bitte nicht daran denken, okay?“
Er nickte nur widerstrebend. Ich setzte mich auf den warmen Erdboden und schlang die Arme um meine Beine. Ich wollte jetzt nicht an das denken, was bestimmt nur ein paar Straßenblöcke weiter entfernt vor sich ging. Im Moment war es ruhig. Sehr ruhig, im Gegensatz zu manch anderer Stunde.
Ich bemerkte kaum, wie Hamza sich neben mich setzte. Erst, als er seinen Arm um meine Schulter legte, bewegte ich mich wieder und legte meinen Kopf an seine Schulter, starrte in die sich im warmen Wind wölbenden Getreidepflanzen und genoss den Moment mit ihm, einen von bisher sehr wenigen.
„Ich liebe dich, Aisha. Das weißt du?“, bemerkte Hamza plötzlich etwas unsicher und ich spürte, wie er mich musterte.
Ich wandte mein Gesicht seinem zu und meine ungewöhnlich grünen Augen trafen die seinen.
„Ich weiß, ich liebe dich auch, Hamza“, antwortete ich und gab ihm einen zärtlichen Kuss, den er sofort erwiderte. Unsere Liebe würde immer bestehen, egal was oder wer sich dazwischen stellen möge, davon waren wir beide überzeugt. Selbst der Tod würde uns nicht trennen können.
„Fatima, du hast was
?!“, hörte ich die Stimme meines Vaters schon von weitem und bereitete mich auf das schlimmste vor, als ich durch die Tür in den kleinen Eingangsbereich trat.
„Du hast mich schon gehört“, erwiderte meine Mutter hart. So hatte ich sie noch nie zu meinem Vater sprechen gehört.
„Du hast an einer Demonstration teilgenommen?!“, rief mein Vater total in Rage.
Da ich keine Antwort vernahm, nahm ich an, dass meine Mutter nur genickt hatte, denn Papa schrie: „Dann wirst du von nun an nicht mehr das Haus verlassen! Ich bin dein Mann und ich habe hier zu sagen, was gemacht wird und was nicht! Wie konntest du nur, Fatima?“ Papas Wut war bei seinen letzten Worten triefender Enttäuschung gewichen.
Ich hatte von Mamas „Aktivitäten“ gewusst und war deshalb nicht besonders überrascht. Überrascht war ich jedoch, dass sie Papa etwas davon berichtet hatte und dass sie so ruppig mit ihm umging. Oder war es ihr nur zufällig herausgerutscht?
„Ich konnte, weil ich nicht mit ansehen kann, wie unschuldige Menschen verhaftet, gefoltert und ermordet werden, weil sie ein Recht auf Menschenrechte haben und es ihnen nicht gegönnt wird!“, entrüstete sich Mama nun.
Ich hörte ein Klatschen.
„Du wirst ab sofort das Haus nicht mehr verlassen. Du wirst nie wieder an solch einer „Versammlung“ teilnehmen!“, sagte Papa so ruhig, dass es wie eine Drohung klang, dessen Folgen unausgesprochen blieben.
Leise huschte ich in mein kleines Zimmer, das nur aus einem Bett und einer kleinen Truhe bestand. Mein Vater war zwar so etwas wie der Kommandant der hier positionierten Streitkräfte, hatte aber – seinen Erzählungen zufolge – noch keinem Aufständischen ein Haar gekrümmt, außer ihn zu verhaften.
Hamza hatte bei unserer wehmütigen Verabschiedung noch erwähnt, dass morgen eine Demonstration anstand, bei der er vorne mitwirken wollte. Ich machte mir erhebliche Sorgen, denn in letzter Zeit hatte es viele Verletzte gegeben. Unser größtes Problem war jedoch, dass wir wegen dem nahenden Bürgerkrieg auch zwei verfeindeten Familien angehörten. Früher war das nicht so gewesen.
Ich seufzte wehmütig. Genau in diesem Moment ging meine Tür auf und mein sechs Jahre älterer Bruder trat ein. Er war einer der jüngsten Mitglieder der Streitkräfte, seitdem er vor zehn Tagen achtzehn geworden war. Unsere Charaktere waren so verschieden, wie unsere Mütter. Husseins Mutter war gestorben, kurz nachdem er geboren wurde und dann trat Fatima in Papas Leben.
Unter den Jüngsten der Streitkräfte galt Hussein als der dickste Fisch im Netz. Er war vielleicht der Dickste, aber für mich immer noch der, dessen Zahnräder sich verkehrt drehten.
„Du hast also schon gehört, dass ich jetzt der Gefängniswärter deiner Mutter bin, was? Oder weshalb seufzt du hier so unnötig rum?“, blies er sich vor mir auf.
„Hast du nichts Besseres zu tun, als mich zu nerven? Wie wär’s denn mit ein bisschen Bildung?“, entgegnete ich frech, denn ich hatte gerade echt Wichtigeres im Kopf.
„Pass bloß auf, was du sagst, Aisha al-Abu Salama! Mit mir kannst du nicht mehr so umgehen!“
Als er endlich verschwunden war, bemerkte ich erst, wie dunkel es geworden war, also stieg ich ins Bett und mein oberes Betriebssystem schaltete langsam aber sicher auf Standby.
Mich weckte ein lauter Aufschrei, bei dem ich, wie von der Tarantel gestochen, hochschreckte. Was war geschehen?
Wenige Augenblicke später hatte ich gesehen, was geschehen war. Meine Mutter hatte in dem Zimmer in dem sie eingeschlossen wurde von der Decke herabgehangen. Um ihren schlanken Hals hatte sie ein dickes Seil gebunden. Der Stuhl lag umgekippt neben ihr. Nicht einmal ein Abschiedsbrief. Anscheinend hatte sie gedacht, wir wüssten sowieso, weshalb sie sich umbrachte.
Vor Entsetzen wie gelähmt hockte ich mit Wasserfällen aus Salzwasser, die mein Gesicht hinunterflossen, vor ihr und konnte es nicht wirklich fassen. Ich fühlte nur noch eine endlose Leere.
Das taube Gefühl hielt an, als die Tage vergingen. Zu allem Überfluss hatte niemand ein Lebenszeichen von Hamza bemerkt. Selbst seine Familie nicht.
Indes fanden neue Demonstrationen statt; mit noch mehr Teilnehmern und noch mehr Opfern. Mittlerweile war mir klar, dass mein Vater einer derjenigen war, die am meisten mordeten. Ich konnte nicht mehr anders: ich sah in ihm nun nicht länger mehr meinen Vater, sondern einen Wolf, dessen blutrünstiges Alpha-Tier Baschar al-Assad war. Und das Rudel war riesig. Doch auch die Zahl der Aufständischen war riesig. Wie Raubkatzen warfen sie sich den Feinden entgegen und kämpften um ihre Rechte und die Freiheit.
All das schien ich jedoch nur in meinem Hinterkopf registriert zu haben, denn es gab da nur einen Gedanken, der mich den ganzen Monat über beschäftigte: Wo war Hamza?!
Mittlerweile rechnete ich mit dem schlimmsten, doch ich wollte an so etwas nicht denken. Erst meine Mutter dann er? – Niemals durfte das wahr sein.
Ich versuchte mir einzureden, dass Hamza sich versteckt hielt, irgendwo hier in der Stadt, bis der Kampf vorüber war, weil die Streitkräften eine Fahndung nach ihm eingeleitet hatten und er den Klauen der Wölfe unbedingt entgehen musste.
Ich vermisste ihn schrecklich. Seine Berührungen, seine Lippen, seine Stimme und seine Augen. Selbst die Wut auf meinen Vater vermisste ich, die ich nun so gut verstand. Ich wollte, dass er mich wieder umarmte und mir die Angst nahm, was geschehen würde, wenn der Bürgerkrieg eskalierte. Ich wollte wieder mit ihm im Weizenfeld sitzen und über Belangloses reden, hin und wieder einmal eine ernstes Thema anschlagen und mit ihm scherzen. So wenig Zeit hatten wir bis jetzt verbracht. So viel Zeit hätten wir noch vor uns gehabt, wäre der Bürgerkrieg nicht gekommen. Würde ich ihn je wiedersehen? Ich strafte meinen Gedanken damit, dass ich mir selbst zu verstehen gab, dass Hamza al-Khatib immer zu mir zurückkehren würde. Nie würde er Jemandem im Stich lassen, schon gar nicht seine Familie; seine Mutter, seinen Vater, die wie die Verrückten nach ihm suchten.
Ich hatte mich kaum versehen, da hatte mir der Monat schon den Rücken gekehrt und war fortgegangen, auf eine Reise, die er erst in einem Jahr beenden würde. Als ich am 24. Mai die Augen aufschlug, spürte ich ein unsichtbares Seil, das sich fest um meine Brust gezogen hatte und mir versagte, richtig zu atmen. Ich wusste nicht was es war, doch etwas würde auf mich hinzupreschen und mich genau dort treffen, wo ich am verwundbarsten war: In mein Herz, das immer ungeduldiger pochte, als würde es auf das Ereignis warten, das es in sein Verderben stürzen würde. Ich spürte, wie meine persönliche Apokalypse begann.
Als ich das erste Mal seit Wochen wieder auf die Straße trat, hatte sich vieles verändert. Leute gingen umher, wie Hunde mit eingezogenen Schwänzen und blickten sich nach jedem Schritt zweimal um. Es schmerzte zu sehen, wie sich die Stadt verändert hatte. Und das in so kurzer Zeit.
Egal, wo ich hinging, immer trat mir Hamzas Gesicht vor Augen, immer tönte in meinem Kopf sein Gelächter, wenn ich etwas Lustiges gesagt hatte, hörte ich süße Sätze, die er zu mir sagte, wenn wir uns heimlich auf unserem Weizenfeld trafen und immer der Gedanke, wo er nur sein könnte, der mich von innen heraus zerfraß mit jeder Sekunde etwas mehr von mir und nur ein klaffendes Loch hinterließ.
Und immer, wenn ich Jemanden auf der Straße begegnete und reden hörte, konnte ich zwar nur Wortfetzen verstehen, doch es hatte den Anschein, als würde hier jeder über das Gleiche reden.
„Seine Leiche soll … Ist seiner Familie übergeben worden … Armer Junge. Arme Eltern.“
Ich drehte mich nicht um, als ich die Frau hinter mir flüstern hörte, trotzdem noch so laut, dass man es leicht vernehmen konnte, und doch so leise, damit nicht Jeder das Gerücht sofort erfuhr, sondern nachfragen müsste, um den Kontext zu verstehen.
Doch ich fühlte mich wie elektrisiert, unruhig und beklommen. Ich war mit dem Gefühl aufgewacht, dass etwas nicht in Ordnung war, dass heute meine Apokalypse bevorstand. Nur musste ich noch herausfinden, was das zu bedeuten hatte. Doch die dunkle Vorahnung, die sich in meinem Kopf verankert hatte, predigte mir nur Eines und das wollte ich unter keinen Umständen hören.
Als hätten meine Beine ihren eigenen Willen gehabt, stand ich nun vor dem kleinen Häuschen der Familie al-Khatib. Ich hörte Schluchzen und Klagelaute aus dem Haus, die der Wind zu mir hinüberwehte. Ich traute mich nicht, anzuklopfen. Unsere Familien hatten in glücklichen Tagen eine gewisse Brücke zwischen sich gebaut, über einen reißenden Fluss hinweg, die nun morsch und in sich verfallen war.
Eine ältere Frau kam mir auf der Straße entgegen und sah, wie ich zu dem Haus hinstarrte, als sei dort eine Kinoleinwand aufgebaut worden.
„Na, mein Kind. Du hast es also auch schon gehört, nicht wahr?“, erkundigte sie sich freundlich, als würde sie mich schon ewig kennen.
„Was gehört?“, fragte ich sie mit großen Augen, das schlimmste schon erwartend, doch ich wollte es nicht wahrhaben.
„Na, von dem Jungen, den sie ihnen heute früh zurückgebracht haben. Er soll vor seinem Tod schrecklich gefoltert worden sein …“
Bei ihren Worten tat sich ein bodenlos schwarzer Abgrund unter mir hinauf und ich stürzte hinein, ohne Halt und ohne einen Retter. Ich konnte nicht mehr atmen, ich konnte nichts fühlen. Ich konnte nur sehen, wie sich mein Blick vernebelte, die Gestalt der Frau nur noch verschwommen vor meinen Augen leuchtete.
„Mädchen, ist alles in Ordnung mit dir?“, hörte ich die besorgte Stimme der Frau wie aus weiter Ferne, als es um mich herum rasend schnell schwarz wurde und der süße Duft der Bewusstlosigkeit meine Sinne benebelte.
Ich hätte später nicht mehr sagen können, wie ich mich gefühlt hatte. Ich hätte nur von einer Leere sprechen können, die mein Herz erobert hatte und es mit aller Gewalt verteidigte.
Hamza war fort, gewaltsam weggezerrt worden. Aus seinem Leben gerissen. Er war mir weggenommen worden, einfach so, ohne ein Wort. Ohne eine wirkliche Verabschiedung zugelassen zu haben. Skrupellos, ohne Gnade. Es zerriss mich förmlich und ich konnte an nichts mehr denken außer dem Schmerz, der sich nach der Leere in mir ausgebreitet hatte. Schmerz, bodenlose Verzweiflung und Trauer, Trauer um den einzigen Menschen, der mir noch irgendetwas auf dieser Welt bedeutet hatte, mit Ausnahme von meiner Mutter. Doch sie war mir auch genommen worden. Hamza hatte friedlich für sein Recht gekämpft, und nicht nur für seines, sondern für das eines jeden Syriers. Er war als Held gestorben und doch war es zu früh gewesen. Ich hatte nichts, was mich an ihn erinnerte. Nichts, dass ich in die Hand nehmen konnte, was mich mit ihm verband. Uns hatte nur die Liebe verbunden. Für Erinnerungstücke hatten wir zu wenig Zeit gehabt.
Ich wusste nicht, wie ich hierhin gelangt war; keiner hatte mich aufgehalten, keiner hatte mich gewarnt. Ich schlurfte in eine brüllende, aufgehetzte Menschenmenge, die wie ein stolzer, majestätischer Löwe Papierfetzen gen Himmel hielt, als würde sich dadurch das Tor zum Himmel öffnen und ihm Einlass bieten, um die Teufel zu vertreiben.
Ich wurde von dem brüllenden Löwen mitgerissen, nach vorne gedrängt, bis ich nur ungefähr zwei Meter hinter dem Ersten ging, ausdruckslos und fühlte mich umgeben von den Menschen doch so furchtbar allein.
Plötzlich hielt die Bewegung inne. Die Menschenmenge stand plötzlich stockstill, ein Wesen, eine Einheit, bei dem jeder das tat, was der andere neben ihm, vor ihm auch tat. Außer ich natürlich, die in Gedanken verloren tausende Kilometer weit weg überhaupt auf Nichts reagierte, sondern einfach nur lief.
„Stehen bleiben, oder du bist des Todes!“, rief da eine wohlbekannte Stimme, die ich trotz meiner inzwischen gewachsenen Abneigung überall erkannt hatte. Mein Vater.
Es riss mich aus meinen Gedanken und ich blieb als Statue stehen und starrte dem Mann entgegen, der den Lauf seines Gewehres auf die Brust seiner Tochter legte. Erkannte er mich nicht mehr?
Würde er tatsächlich …? Seine eigene Tochter? Doch diese Gedanken drangen nicht durch die Mauern des Schmerzes, die mein Herz von meinem Körper abgetrennt hatten. Ich war nicht einmal fähig, den Mund zu öffnen, das Einzige, wozu ich fähig war, war meinen Erzeuger anzustarren, und das Gewehr. Bäche aus salzigem Wasser flossen zur Mündung meiner Kiefer, hinab zu meinem Kinn und dann in den staubigen Sand.
Etwas traf mich im Rücken und ich stolperte vorwärts, ohne es jedoch zu bemerken. Ein lauter Knall, der mir in den Ohren rauschte und ein gleißend heller, körperlicher Schmerz durchfuhr mich, der jedoch nichts gegen meinen seelischen Schmerz war. Er loderte rechts von der Burg aus Schmerz auf und breitete sich allmählich aus. Mit einem letzten Augenaufschlag blickte ich geradeaus, auf die Reihe aus Menschen, dessen Anführer die Waffe senkte und zu seinem linken Kameraden, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich sah, herumwirbelte. Zu dem, dessen Gewehr auf mich gerichtet war und dessen einzige Kugel nun in meiner Brust steckte.
Hamza, ich komme.
Texte: Die Geschichte basiert allein auf meiner Interpretation.
Tag der Veröffentlichung: 16.09.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich widme diese Kurzgeschichte all denen, die einen geliebten Menschen verloren haben und allen, die im Krieg leben müssen.