Cover

Vorwort




Die Idee zu diesem Buch kam mir, als ich meinen Familienstammbaum nachverfolgte und ich schließlich eine angeheiratete Vorfahrin mit Namen Rosina Plessel, geboren 1654, fand. Durch ein paar Hintergrundinformationen erfuhr ich, dass ihre zwölfjährige Schwester, dessen Namen man nicht weiß, von einem Wolf getötet sein worden soll. Doch dieser Fall wurde anscheinend nie geklärt. Zu der Zeit glaubte man noch an Wölfe, die Menschen anfielen und töteten, doch dieser Glaube endete ungefähr gegen Ende des 17. Jahrhunderts.
Das Buch spielt in Kacerov (deutsch: Katscher) im Adlergebirge in Böhmen, wo auch die echte Rosina Plessel bevor sie heiratete gelebt hat, ehe sie vermutlich mit ihrer Hochzeit nach Kuncina Ves (deutsch: Kunzendorf) kam, das circa 2,2 Kilometer entfernt liegt.
Die Namen, sowie das Wesen, das Sein ihrer Eltern und ihres Bruders, die durch meine Spekulationen entstanden, da sie unbekannt sind (man weiß nichts über Rosina Plessels Familie), beziehe ich aus Namen von Rosinas Kindern, da - wie mir bei dem Erstellen meines Stammbaumes auffiel - die meisten Namen von Vätern Söhnen, sowie von Müttern Töchtern "vererbt" wurden, wahrscheinlich damit der Name in der Familie bleibt.
Der spätere Ehemann von Rosina Plessel spielt in dieser Geschichte eine entscheidende Rolle, jedoch habe ich ihn um mehrere Jahre jünger gemacht, (sodass er nur noch vier Jahre älter als Rosina ist) da er zu der Zeit, in der das Buch spielt, bereits neununddreißig Jahre alt war. Mir kam das etwas zu alt vor..
Als ich nun diese Tatsache mit dem mysteriösen Tod der Schwester vor mir liegen hatte, kam mir eine zentrale Frage in den Sinn: Könnte es vielleicht sein, dass die Schwester von Rosina unter doch ganz anderen Gründen getötet wurde? War es vielleicht Mord? Um meine Gedanken aufschreiben zu können, beschloss ich nun ein Buch darüber zu schreiben.
Das Buch ist nur durch meine persönlichen Gedanken entstanden und durch meine Fantasie, doch der kleine Teil des Hintergrundes, der eben genannt wurde, basiert auf der Wahrheit, bzw. auf den Grundlagen meiner Recherchen.
Ich hoffe, dass euch meine Sicht der Dinge gefällt und ihr es lesen werdet. Und wer weiß? Vielleicht lasse ich das Buch grausamer gestalten, als ich anfangs vor hatte, vielleicht auch nicht. Doch Fakt ist: Der Fall wird gelöst werden und die Wahrheit wird mir, und vermutlich auch euch, nicht gefallen.


Viel Spaß beim Lesen, Linnéa


Prolog




Sie musste sich beeilen, denn sie war spät dran. Ihre Intuition sagte ihr, dass sie fünfzehn Minuten zu spät war. Würde er auf sie warten, oder war er schon fort? Schließlich wollten die beiden Kinder heute ein Geheimnis aufdecken. Vielleicht hatte er es nicht ausgehalten, so lange auf sie zu warten. Und sie fürchtete sich, immerhin ging es heute Nacht in den Wald und was würde sie dort erwarten?
Der Mond schien auf die ausgestorbene Seitenstraße, an denen sich Häuschen mit dunklen Fenstern schmiegten. Sie rannte auf leisen Sohlen über das Pflasterstein, das unter der dicken Erdschicht kaum noch zu erkennen war. Sollte sie nicht lieber doch umkehren? Es wäre klüger, das wusste sie. Aber sie konnte ihn nicht im Stich lassen, denn sie liebte ihn und würde sich hassen, falls ihm etwas zustoßen würde. Sie würde sich sogar schon dafür hassen, ihn aufgrund ihrer Angst zu versetzen.
Also lief sie weiter, dem Rand des Dorfes immer näher kommend. Am liebsten würde sie zu ihm gehen, ihm sagen, dass ihr das alles zu viel wurde, dass es ihren Horizont an Courage übersprang - und zwar um das Tausendfache - und dass sie es lieber anderen überlassen sollten. Ihrem Bruder vielleicht, oder Rosina.
Sie war überzeugt davon, dass Rosina alles schaffen würde, denn sie war ihre Heldin und ihr Schutzpatron. In ihrer Gegenwart konnte niemand ihr etwas anhaben. Daher war es dem Mädchen auch schwer gefallen, das Haus überhaupt zu verlassen und sich auf den Weg zu machen. Niemand schien etwas bemerkt zu haben, als sie durch das Küchenfenster auf die Straße gesprungen war, um das Quietschen der Tür zu vermeiden. Ohne ihren Schutzpatron war sie völlig aufgeschmissen. Und während sie rannte, zerfloss ihr Mut wie Milch durch ein Loch im Boden eines der Krüge, die sie jeden Morgen holen musste.
Jetzt erst registrierte sie, dass sie bereits an der letzten Hütte der kleinen Straße angelangt war und dass sie sich nun nach Norden wenden musste, um dann nach gut fünfzig Metern durch die kleine Lücke im hohen Zaun durch zu schlüpfen. Die nächste Minute verbrachte ihr Gehirn im teilnahmslosen Zustand, bis sie schließlich durch das kleine Loch schlüpfte und ihn erblickte.
"S-Susanna! Nein, hau ab, zurück!", quiekte ihr bester Freund unter Panik, die größer geworden zu sein schien, sobald er sie gesehen hatte.
"Was ist los? Was ist passiert? Warum soll ich abhauen, was hast du nur??" Sie verstand nicht. Susanna war verwirrt. Perplex.
Und dann spürte sie eine Hand. Eine Hand, die sich auf ihre Lippen legte und einen Arm, der sich sanft um ihre Taille schlang. Susanna bekam Panik und strampelte mit ihren Gliedmaßen, schrie, obwohl sie wusste, dass es nichts nützen würde. Sie konnte nicht sehen, was ihr Freund unternahm, um sie zu retten, sie sah nur Schwärze, die sich langsam über sie legte, über ihr Herz. Susanna war gefühllos von dem Schock und vielleicht war das auch nur gut so. Was wollte man von ihr? Hatten sie

sie entdeckt, bevor sie überhaupt auf die Suche nach ihrem

Geheimnis aufgebrochen waren? Wie war das alles möglich? Hatte ihr Freund geredet? Unbewusst? Wie sollte sie hier wieder herauskommen? Sie wusste, wenn es ihr nicht gelang zu fliehen, würde sie tot sein. Sie wusste zu viel über sie

. Was würde mit den beiden Kindern geschehen? Würde sie ihre Schwester je wiedersehen? Ihr war egal, ob sie starb, wenn ihr Freund überlebte würde es ihr auch im Tod gut gehen, wenn sie ins Paradies kam. Gab es überhaupt so etwas wie das Leben nach dem Tod? Und warum dachte sie jetzt an so etwas? Warum kam Rosina nicht und rettete sie? Wo war ihre Beschützerin?
Doch dann schien ihr Schädel im nächsten Augenblick zu bersten, als explodierte er. Der Schmerz übertönte ihre Sinne, übertönte alles, löschte alles aus.

Wolfsgeheul




Es hatte keinen Sinn. Rosina Plessel ließ den Eimer mit dem wenigen Inhalt an Wasser fallen. Er kippte um und das Wasser ergoss sich in vielen, kleinen Bächen über den staubigen Hof. Die junge Frau hatte das Gefühl, dass in dem Brunnen kein Grundwasser mehr vorhanden war, was nicht sein konnte. Mit leichtem Zweifel beugte sie sich über das Gestein und blickte den runden Schacht hinunter, doch ihr kam nur bodenlose Schwärze entgegen. Rosina ließ den Eimer abermals an der Kurbel hinunter und wartete darauf, dass er an ein Hindernis stieß oder eine Oberfläche durchbrechen würde. Nichts. War der Schacht über Nacht tiefer geworden oder hatte sie jetzt Halluzinationen von der sengenden Mittagssonne, die so ungewöhnlich warm zu dieser Jahreszeit auf die sonst erkaltete Erde prallte? Oder war es eines dieser höchst mysteriösen Zeichen, die sich in letzter Zeit gehäuft hatten? Der Pfarrer hatte ein Unglück angekündigt, als eines der Kälber am Vortag verschwunden war. Diese letzte halbe Woche war mehr als verkorkst gewesen. Doch Rosina glaubte nicht an den Aberglauben der Kirche, allerdings trug sie es nicht offen zur Schau. Man wusste ja nie, was die Dörfler daraus schließen würden.
Sie könnte als Anhängerin des Satans beseitigt, bestraft werden. Aber was war daran schlimm, wenn man an nichts glaubte, außer an das, was einem vor die Augen trat? Gab es diese zwei Möglichkeiten des Glaubens? Wenn man nicht christlichen Glaubens war, gehörte man direkt zu Satans Gefolge? Was für ein Blödsinn!
Rosina war klug, dünn, groß und schön, genauso schön wie ihre Schwester. Susanna. Wo war Susanna eigentlich den ganzen Vormittag gewesen? Sie hatte sie an diesem Morgen noch gar nicht gesehen! Und dabei hätte das zwölfjährige Mädchen ihr beim Putzen helfen sollen, jedoch war Susanna nicht aufgetaucht. Ihre große Schwester hatte angenommen, Susanna habe eine andere Aufgabe von der Mutter erhalten und sei deswegen nicht in der Lage gewesen, ihr zu helfen. Doch langsam machte sie sich Sorgen.
„Rosina! Rosina, komm her!“, rief der Vater aus der Küche.
Das Mädchen ließ alles stehen und liegen und rannte in das kleine Haus.
Als sie schließlich die kleine Küche betrat, die vollgestopft war mit allerlei Töpfen, Pfannen und Schüsseln zwischen denen nur vereinzelt wenig Geschirr zu erkennen war (ihre Mutter war anscheinend gerade dabei gewesen, den Abwasch zu machen), sah das Mädchen ihre Familie, die dort versammelt auf sie gewartet hatte, erwartungsvoll an.
„Was ist denn geschehen?“, fragte Rosina schnell und alarmiert, denn sie bemerkte, dass nur Susanna fehlte. Ihr Bruder Franz stand neben dem alten Stuhl, auf dem die Mutter Platz genommen hatte, ebenso ihr Vater.
Ihr Vater ergriff das Wort: „Susanna ist verschwunden. Jedenfalls hat sie heute noch niemand aus der Familie gesehen. Sie war heute morgen nicht bei dir? Ihr Bett sieht unbenutzt aus. Hast du sie gesehen oder weißt du, wo sie ist??“
Sie schüttelte den Kopf und ihr brach vor Schreck der Schweiß aus, während ihr heiß und kalt zugleich wurde, jedoch bemerkte sie es kaum, zu groß war der Schock.
„Ver-verschwunden? Aber, wieso sollte sie? Wie könnte sie?“, stammelte Rosina.
„Woher sollten wir das wissen? Also, hast du sie gesehen? War sie bei dir? Hat sie vielleicht gesagt, wo sie hin wollte?“ Ihr Vater wirkte ungeduldig, als sei diese Prozedur äußerst lästig und Zeit verschwendend.
Rosina verstand nicht, wieso es ihrem Vater im Grunde genommen so kalt lassen konnte.
Rosina seufzte.
„Nein, sie war nicht bei mir. Den ganzen Morgen nicht, um mir bei der Hausarbeit zu helfen.. Außerdem dachte ich, sie sei schon aufgestanden, um Mutter bei einer anderen Aufgabe zu helfen, das Vieh füttern vielleicht..“, antwortete sie schließlich etwas zerstreut und mit zitternder Stimme.
Susanna war fort. Aber wo sollte sie hingegangen sein? Sie kannte so gut wie niemanden näher im Dorf außer ihre Familie. Sie tat so gut wie nichts ohne Rosina, denn Rosina war wie ein schützender Kokon, der sich sanft um Susannas Schultern legte, um ihr Geborgenheit und Sicherheit zu geben.
Susanna kam nicht oft aus dem Haus, außer wenn sie sich um die Kühe kümmerte. Wo sollte sie schon hingegangen sein??
Rosinas Mutter legte ihr Gesicht in die Hände und unterdrückte ihr Schluchzen.
„Wir dachten, dass wenigstens du

weißt, wo sie steckt. Schließlich macht ihr doch so gut wie alles zusammen und ihr schlaft in einer Kammer“, hörte man ihre Stimme verzweifelt und gedämpft durch ihre Hände und es klang so, als hätte sie einen schweren Schnupfen. „Sie tut nichts, ohne vorher mit dir darüber gesprochen zu haben und ihr erzählt euch jedes Geheimnis. Ist dir wirklich nichts an ihrem Verhalten oder an irgendetwas anderes aufgefallen? Hat sie dir irgendetwas erzählt? Über einen Plan? Vielleicht einen, den du für nicht umsetzbar beurteilt hast?“
„..War sie vielleicht schon gestern Abend nicht da, oder verließ sie in der Nacht das Bett, das Haus?“, fragte Rosinas älterer Bruder.
Rosina wusste nicht warum, aber die Miene ihres Vaters bereitete ihr Unbehagen. In seinem Blick blitzte hin und wieder irgendetwas auf. Etwas Bösartiges. Sie wusste, dass ihre Schwester und ihr Vater sich nicht gut verstanden. War er im Grunde seines Herzens froh, dass Susanna nun fort war? Trotz der eingetrichterten Disziplin und der Regeln ihres Vaters war Susanna schon immer rebellisch und dickköpfig gewesen, wollte immer so leben, wie ihr es gerade passte.
Rosina realisierte immer noch nicht ganz, dass ihre Schwester nun vermisst wurde. Wie hatte so etwas passieren können? Wo war Susanna? Aber nicht allein nur sie stellte sich diese Frage immer und immer wieder. Auch ihre Mutter suchte verzweifelt irgendeine Erklärung, einen harmlosen Grund, warum ihre Tochter verschwunden war. Und auch Rosina war hilflos. Wohin, bei Gott, sollte Susanna mitten in der Nacht gegangen sein?
Sie riss sich zusammen und antwortete so knapp wie möglich, da sie glaubte, ihre Stimme würde ihr mitten im Satz entgleiten, ließ sich fast nur zu einem Kopfschütteln herab, doch durch die Angst vor ihrem Vater sagte sie mehr als nur ein Nein.
„Nein, .. Bemerkt habe ich nichts. Mein Schlaf ist tief und ich bin überzeugt: Das wusste sie..“
Ihre Mutter nickte zerstreut. Die Tränen waren ihr schon lange vor Sorge um ihr jüngstes Kind die Wangen herunter geflossen. Doch Rosina selbst war zu aufgelöst und in Gedanken versunken, um sie trösten zu können, geschweige denn um Weinen zu können, was sie sowieso immer versuchte zu unterdrücken.
„Vater, ich gehe und suche sie. Ich halte es nicht aus, zu Hause zu sitzen und nichts zu machen!“, sagte Franz entschlossen.
Sein Vater nickte.
„Gehen wir, mein Sohn.“
„Aber, was ist mit mir? I-Ich möchte auch mit!!“, rief Rosina empört, drehte sich um und starrte die beiden Männer an, die beide schon fast aus der Tür waren.
Anton Plessel gluckste verächtlich und seine Augen blitzten erneut auf. Rosina wusste jetzt schon, sie hatte keine Chance.
„Nein. Du bleibst hier. Du bist meine

Tochter und ich sagte dir, dass du hier bleibst und dich um deine Mutter kümmerst und die Hausarbeit erledigst. Du bist ein Mädchen. Was bist du schon für eine Hilfe, Fräulein??“
Der Hass in seiner Stimme traf Rosina wie ein Schlag in die Magengrube. Wo kam diese plötzliche Ablehnung her? Was hatte sie falsch gemacht? Oder was hatte Susanna falsch gemacht?
„Außerdem, musst du die Kühe pflegen, da deine reizende Schwester ja Flügge werden wollte!“, fügte ihr Vater noch verächtlich hinzu.
„Vater..! .. Lass uns gehen. .. Bitte!“, sagte Franz beunruhigt und erschrocken, denn auch er verstand diese Veränderung seines Vaters im Ton gegen Rosina nicht.
Als die beiden Männer nun verschwunden waren, brannte die Wut in Rosina erst richtig durch. Was dachte ihr Vater sich eigentlich? Was war mit ihm passiert? Über Nacht war er ein widerlicher Frauenhasser geworden! Am liebsten hätte sie ihrem Vater eine verpasst für eine solche Frechheit, doch das würde sie niemals wagen.
Sie konnte

ihnen helfen. Sie kannte Susanna am Besten und befand es nicht zufriedenstellend, im Haus zu bleiben, wie eine Gefangene. So, wie ihre Mutter es tat.
Diese schien jedoch diese Auseinandersetzung gar nicht richtig wahrgenommen zu haben, denn sie saß immer noch so da, wie am Anfang des "Gesprächs". Rosina ließ sich auf den nächsten Stuhl neben dem Feuer sinken, plötzlich ganz schwach.
„Mutter“, flüsterte sie mit zittriger Stimme. „Was ist, wenn sie..?“
Das Zimmer wirkte jetzt trostlos, dunkel. Und an der Wand tanzte gruseliges Licht, das das Feuer vom Kamin auf sie warf. Der Boden war aus abgenutzten, grau gewordenen Fliesen und die Wände sahen aus, als wären sie schon seit Äonen dort, ebenso abgenutzt und schmutzig. Ihre Mutter reagierte immer noch nicht auf ihre Umwelt und starrte einfach auf den Boden, ohne sich zu bewegen.
Was sollte das Mädchen nur tun? Ein Teil von ihr sagte ihr, sie solle endlich auf eigene Faust etwas unternehmen, doch der andere schrie: Halt dich da bloß raus!

und sie nahm diese Warnung sehr ernst.
Rosina spielte nervös an ihrer angegrauten Schürze, die sie über ihrem hellblauem Kleid trug. Sie konnte nicht mehr herum sitzen und warten. Sie konnte nicht! Was dachte sich ihr Vater eigentlich? Sie war kein kleines Mädchen mehr und dumm war sie auch nicht! Und das Argument, sie sei eine Frau und gehöre damit automatisch in die Küche, machte sie so fuchsteufelswild, dass sie aufsprang und aus dem Haus rannte, ohne dass ihre Mutter nur versuchte, sie irgendwie davon abzuhalten.
Sie hielt es in diesem kleinen Dorf nicht mehr aus! War es ihrer Schwester vielleicht ähnlich ergangen? War sie deshalb verschwunden? Ausgerissen? Rosina befand dies jedoch als unwahrscheinlich, hatte Susanna ihr noch zwei Tage zuvor von dem Bruder von Elisabetha, Karl, erzählt, der ihr beim Tragen der Milchkrüge geholfen hatte und es um sie geschehen war. Oder waren sie vielleicht beide fort? Wollten sie woanders eine Zukunft aufbauen?
Aber nein, das hätte sie nicht getan

, dachte Rosina sich, sie hätte es mir erzählt. Sie hätte gewollt, dass ich ihr half und dass ich mitkomme. Oder etwa nicht?


Sie wusste einfach nicht mehr, was sie tun sollte! Sie wollte rennen, rennen und niemals zurück kommen, sich von der Spitze eines Berges stürzen und sterben oder in den Wald rennen und dort von einem Bären zerfleischt werden. Doch was würde es ihr, Rosina sowie auch Susanna, helfen? Nichts, denn das würde ihre Schwester auch nicht zurück bringen und Rosina stand unbewegt vor der Haustür und starrte in die Ferne, ohne irgendeinen Gedanken daran zu verschwenden, sich in Bewegung zu setzen.
Sie gab sich einen Ruck und rannte instinktiv nach rechts, in Richtung der Kuhweide. Vielleicht gab es ja wirklich eine harmlose Erklärung. Vielleicht war Susanna heute morgen früh aufgestanden, um zu den Kühen, die sie unheimlich liebte, zu gehen und war dann dort eingeschlafen und deshalb bis jetzt noch nicht wieder zu Hause aufgetaucht.
Doch als sie dort ankam, war Susanna nirgends zu sehen und auch die Kühe waren nicht da. Waren sie im Stall? Rosina lief wieder los, diesmal zum Stall, der nur einige hundert Meter entfernt lag, doch bevor sie nur zehn Meter vor dem Stall zum Stehen kam, um zu horchen, ertönte ein heftiger Knall und der Stall explodierte in tausend Stücke. Holz- und Glassplitter flogen durch die Luft und das Mädchen konnte sich gerade noch in den staubigen Boden fallen lassen und die Hände schützend über ihren Kopf reißen, während sie vor Schreck laut aufschrie.
Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis sich das Getöse legte und es einem knisterndem Geräusch wich. Rosina blickte auf und was sie sah, ließ sie erschaudern. Der Stall stand meterhoch in Flammen, die sich gierig gen Himmel streckten. Wäre der Stall nur wenige Momente später explodiert, gäb es Rosina nicht mehr. Was ging hier vor? Und wieso war der Stall überhaupt explodiert?
Rufe hallten und wurden immer lauter. Bis man den Stall erreichte war dieser schon halbwegs in sich zusammengefallen und eine Kilometer hohe Rauchfahne stieg empor, der Himmel färbte sich grau.
„Rosina! Komm, steh auf und hilf uns! Das Feuer zerstört noch unser ganzes Dorf!“, schrie Jemand, wie aus weiter Ferne und rüttelte an ihr.
Verschwommen erblickte sie eine dunkle Gestalt, die sich zu ihr hinunterbeugte. Ihre Umrisse wurden abwechselnd schärfer und verschwammen dann erneut.
„Rosina?!“, fragte die Gestalt besorgt. „Rosina!“
Sie konnte nicht mehr denken. Sie konnte nicht mehr sehen. Sie konnte nicht mehr fühlen. Alles, was sie noch bemerkte war, dass sie in einen schweren Schlaf fiel. Tiefer. Tiefer, bis nur noch die sanfte Dunkelheit sie umgab. So wollte sie in alle Ewigkeit bleiben. Gefühllos, sorglos.
Das Erwachen kam urplötzlich, als würde Jemand sie mit einem kräftigen Ruck aus einem tiefen Schacht hervorziehen. So ruckartig, dass Rosina erst vollkommen belämmert drein sah. Abermals war ihr Blick getrübt und dann wieder scharf, doch dieses Mal schien es sich zu bessern, je länger sie wach war, als würde sich ein milchiger Film von ihren Augäpfeln los lösen.
„Rosina?“, fragte die selbe Stimme, wie zuvor. „Rosina..!“
„F-Franz?“, hauchte sie schwach und äußerst verwirrt. „Wo bin i-ich?“
„Zu Hause. Du bist ohnmächtig geworden, als das Feuer ausbrach. Zum Glück konnten wir verhindern, dass es auf die anderen Häuser übersprang. Hast du es gesehen?“
„Was gesehen?“
„Na, wie das Feuer ausbrach!“
„Das reicht!“, zischte eine neue, fuchsteufelswild und streng klingende Stimme durch die Kammer. Ihr Vater. „Franz, lass mich und Rosina allein! Ich möchte mich in Ruhe mit ihr unterhalten.“
Rosina schluckte krampfhaft, als Franz sich verzog. Das gab Ärger.
„So“, fing ihr Vater an. „Du hast also gedacht, du könntest dich gegen mich auflehnen, indem du doch das Haus verlässt, obwohl ich dir gesagt habe, du sollst es nicht?!“ Mit jeder Silbe wurde seine Stimme lauter.
„J-ja?“, murmelte sie verängstigt.
„Du hast also geglaubt, deine Schwester auf eigene Faust zu finden?“
„Ja..“
„Und dafür hast du meine Anweisungen nicht befolgt, rennst schnurstracks auf einen explodierenden Stall zu und wirst in aller Öffentlichkeit ohnmächtig??“ Nun grenzte sein Fragen schon an Schreien.
„Ja..!“, sagte Rosina tapfer und trotzig.
Klatsch!


Der Knall der Ohrfeige hallte im Zimmer wieder und auf ihrer Wange bildete sich ein feuerroter Handabdruck. Die Tränen flossen ihr fast unbemerkt und unaufhaltsam die Wangen hinunter.
„Was soll ich bloß mit dir anfangen, hm? Du bist so nutzlos wie deine Schwester!!“, brüllte ihr Vater und verpasste dem Mädchen gleich noch eine, sodass es wimmernd in sein Kissen weinte.
Ihr Vater stand auf und verließ das Zimmer mit einem Türknallen.
Nun weinte Rosina bitterlich, und trotzdem stumm. Sie hasste es zu weinen und versteckte es so gut es ging. Niemand sollte sie weinen sehen, denn sie wollte niemals schwach sein.
Nach einer Weile war ihr komplettes Kissen nass geweint und sie beruhigte sich allmählich. Ihre Wangen pochten noch immer von den Schlägen. Ihr Vater war nicht mehr er selbst! Was hatte ihn nur zu diesem Menschen gemacht? Rosina verstand die Welt nicht mehr. Ihr Vater hatte sie geliebt! Jedenfalls hatte er sie so behandelt. Und ihre Schwester war spurlos verschollen, was ihren Vater ausnahmslos kalt ließ.
Die Tür öffnete sich langsam und hektisch wischte sich das Mädchen das Gesicht mit den Ärmeln ab. Es war Franz.
„Rosina, was ist denn nur passiert? Warum ist Vater nur so wütend?“, fragte er im ängstlichen Flüsterton.
Ihr zwei Jahre älterer Bruder setzte sich an den Bettrand und starrte sie fassungslos an.
„Was hat er mit deinem Gesicht gemacht?“, keuchte er voller Schrecken, als er sie so genau ansah.
„Schläge. Was soll es denn auch anderes gewesen sein?“, erwiderte sie tonlos.
„Aber.. Warum?“
„Ich bin doch aus dem Haus! Und das trotz des Verbots. Immerhin hast du mich doch vor dem Stall gefunden, oder? Und du und Vater waren die ganze Zeit im Wald?“
„Ja, das stimmt. Wir waren sehr tief drin. Fast in Kunzendorf, doch ich habe Vater allein dort gelassen, weil ich eine Fackel holen wollte, sofern wir am Abend noch nicht zurück gewesen sein sollten und war rechtzeitig da. Ich sah schon lange die Rauchschwade, als der Wald sich lichtete. Und was hast du eigentlich am Stall gemacht?“
„Ist das jetzt ein Verhör?“, fragte Rosina angenervt und distanziert. Sie wollte einfach nur allein sein.
„Nein, ich will es ja nur wissen!“ Entschuldigend hob er die Hände.
Rosina seufzte. „Ich dachte, Susanna wäre vielleicht im Stall und als ich dann.. Als ich dann kurz davor stand und inne hielt, brach plötzlich Feuer aus. Dann gab es eine Explosion und ich.. Ich..“
Franz nahm seine Schwester beschützerisch in die Arme, doch er konnte nicht wissen, an was sie gerade dachte.
Woher hatte ihr Vater gewusst, dass der Stall explodiert war, wenn er doch die ganze Zeit zusammen mit Franz (bis auf eine gewisse Zeit) im Wald gesucht hatte und Rosina die einzige Zeugin war, die ihm noch nichts Genaueres von dem Ereignis erzählt haben konnte, da sie bewusstlos wurde. Folglich wusste er mehr, als er vorgab zu wissen und war womöglich auch in die Sache verstrickt.
War dies im Falle von Susanna genauso?
Rosina konnte jedoch nicht weiter darüber nachdenken, denn jetzt betrat ihr Vater erneut die Kammer und beendete abrupt ihren Gedankengang.
„Franz, sag deiner Schwester sie soll sich um das Vieh kümmern. Und du kommst mit mir in die Werkstatt. Ich muss etwas mit dir besprechen!“, sagte er drohend, tat so, als sei Rosina überhaupt nicht da.
Wut schäumte in ihr auf. Wenn er wollte konnte er wütend auf sie sein – aus einem Grund, den sie nicht kannte – aber sie so auszugrenzen, als sei sie eine Aussätzige, das hatte sie beim besten Willen nicht verdient! Sie war ja nicht bei Nacht und Nebel „abgehauen“. Die Intuition sagte ihr, dass etwas furchtbar schief ging. Selbst ihr Magen, der sie zu Unternehmungen zu zwingen schien, schmerzte oft stark, sodass sie zusammenzuckte.
Franz sah Rosina verständnislos an.
„Aber.. Rosina ist doch hier!“, sagte er. „Wieso sagst du es ihr nicht selbst? Ich verstehe das nicht!“
„Das musst du auch nicht verstehen, mein Sohn!“ Wieder schlich sich eine leise Drohung in seinen Tonfall und Rosina sah ihren Bruder kaum merklich erschaudern.
Er folgte seinem Vater hinaus, ohne sie auch nur noch einmal anzusehen.
Sie seufzte erneut. Was war nur geschehen? Seit Susanna vermisst wurde, hatte sich so viel verändert als seien Jahre vergangen. Und dabei war Susanna nicht einmal vierundzwanzig Stunden verschwunden.
Um irgendetwas zu tun zu haben, richtete sie sich langsam auf und erhob sich vom Bett. Das Haus erschien ihr wie ausgestorben, selbst ihre Mutter verursachte kein Geräusch. Saß sie immer noch unverändert in der Küche? Hoffentlich besserte sich ihr derzeitiger Zustand, sonst hätte das Mädchen Angst um sie. Angst, dass sie wahnsinnig wurde. Angst, dass sie sich etwas antat. Rosina hatte ohnehin schon immer Angst um ihre Mutter gehabt, die schon immer so sanftmütig, emotional und sensibel, wenn nicht auch schwach gewesen war.
Sie konnte sich nicht erklären: Wieso Susanna? Wieso nicht Elisabetha oder Daphne? Erschrocken über ihre eigene Grausamkeit, schlug sie sich diesen Gedanken hastig aus dem Kopf. So durfte sie nicht denken. Was konnten Daphne oder Elisabetha schon dafür? Es wäre nicht gerechter, wenn sie an Susanna statt entführt, verschwunden wären. Sie hatten auch Geschwister, sie hatten Eltern und Freunde und es würde immer Jemanden geben, der sich um sie sorgte, der um sie trauerte. Und doch, Rosina erschien es äußerst ungerecht. Sie wollte nicht einsehen, dass es selbst ihr geschehen sein könnte. Dass sie verschwunden war, gegen ihren Willen. Denn sie wusste ganz genau: Susanna hätte ihr etwas erzählt, sich von ihr verabschiedet, wenn Rosina sie nicht hatte abbringen können, falls sie aus freien Stücken gegangen war. Doch das hatte sie nicht und das hieß für die Sechzehnjährige, dass ihre Schwester sich niemals hätte von ihr verabschieden können, weil sie nicht vorbereitet gewesen war und das Schicksal gegen ihr Leben lief. Doch Rosina wollte sich mit dieser Tatsache nicht abfinden, sie wollte nicht glauben, dass Susanna nicht mehr fähig sein würde, zurückzukommen, selbst wenn sie noch lebte. Doch für wie lange?
Rosina hatte ihre Schwester nicht beschützen können, dabei hatte sie es sich geschworen, als ein tollwütiger Ochse ihre Schwester fast überrannt hatte und sie dem Tod nur knapp entrinnen konnte. Sie hatte sich geschworen, dass – egal wer oder was es war – man zuerst an ihr vorbeikommen musste, bevor sie Susanna bekamen. Das junge Mädchen mit den Reh braunen Augen und den rötlich braunen Haaren war im Dorf sehr beliebt gewesen und Rosina konnte sich einfach nicht vorstellen, wer ihr etwas hätte antun wollen.
Ihre Schritte machten gedämpfte Geräusche auf dem erdigen Steinboden der abgenutzten Hauptstraße, die durch das gesamte Adlergebirge verlief.
Die Glashüttensiedlung schien in der ungewöhnlich für diese Jahreszeit hoch am Himmel stehenden, heißen Sonne zu schwitzen.Das Gras auf den Hängen spross trotz der Hitze tief grün in die Höhe und gab einen Kontrast zu den bunten Blüten, die vereinzelt durch die vielen grünen Halme hindurch stachen. Die Natur, die Umgebung dieses Dorfes war so wunderschön und tat so unschuldig und dabei versteckte es das ganze Leid hinter einer fröhlichen, bunten Fassade.
Nicht weinen!

, dachte sich Rosina verzweifelt. Würde sie je über das Verschwinden ihrer Schwester hinwegkommen? Über die Ungewissheit, was mit ihr geschehen war?
Sie erreichte die Weide, auf der die Kühe grasten. Sie wirkten so gleichgültig und kalt, wie sie ihrem Alltag nachgingen, ohne die Veränderung zu bemerken, dass das Mädchen, das sich jahrelang um sie gekümmert hatte, sich nie wieder um sie kümmern würde oder kümmern konnte.
Aber was sagte Rosina eigentlich dieser Gedanke? Der Gedanke klang so, als hätte sie sich bereits damit abgefunden, dass Susanna nie wiederkommen würde, nie wieder mit ihr lachen, mit ihr sprechen, gar sie ansehen würde können. Aber vielleicht würde sie wiederkommen, hatte sich im Wald verirrt (auch wenn das unwahrscheinlich war; wieso sollte sie Abends in den Wald gehen?) und hatte dann zum Kloster Grulich gefunden. Vielleicht kam sie wieder.
Denk nicht darüber nach. Das hilft dir nicht weiter. Selbst wenn etwas ganz Schlimmer passiert ist, Susanna hätte gewollt, dass du stark bleibst und sie so in Erinnerung behältst, wie sie war!

, sagte eine ehrliche Stimme in ihr.
Rosina seufzte erneut. Es half nichts. So kalt es auch klingen mochte, das Leben musste weitergehen, sonst zog es an ihr vorbei. Aber gleichzeitig wusste sie; mit Susanna war auch ein großer Teil ihrer Selbst verschwunden und hatte eine klaffende, riesige Wunde in ihr zurückgelassen, ohne Aussicht auf Heilung.
Rosina stieß gedankenversunken das Zauntor zur Weide auf. Die Kühe blickten nicht einmal auf, als sie mit einem schweren, bis fast zum Rand gefüllten Eimer voll Wasser auf sie zukam. Der Wassertrog wurde von mehreren Kühen versperrt. Rosina versuchte die Kolosse wegzuschieben, zu drängen, doch sie gaben nicht um Haaresbreite nach. Das Mädchen kannte sich nicht gut mit den Kühen aus, denn Susanna hatte sich tagtäglich um sie gekümmert, während Rosina im Haushalt half und diverse Einkäufe erledigte. Ihnen einen Klaps auf ihr Hinterteil zu geben traute sie sich nicht. Was, wenn sie austraten? Was, wenn sie wie der wütende Ochse sie vor Schreck über trampelten?
Es nützte nichts, sie hatte keine Chance.
„Na dann.. Ihr dummen, dummen Kühe! Wenn ihr kein Wasser wollt, dann verdurstet doch! Kann mir egal sein!“, knurrte sie genervt.
Ohne Susanna stand ihre Welt Kopf. Sie hatte nur noch wenig Kraft.
„Kann ich Euch behilflich sein, junge Dame?“, fragte eine männliche, unbekannte Stimme dicht hinter ihr.
Ihr Herz setzte für einen Moment aus, dann fasste sie sich jedoch wieder und drehte sich um. Ein junger Mann, ein paar Jahre älter als sie, blickte sie freundlich an. Seine Augen waren blau wie das Meer, von dem sie bis jetzt nur Malereien gesehen hatte, und seine Haare glichen der Fellfarbe eines Hirsches. Seine Gesichtszüge wirkten maskulin und doch nicht zu kantig. Wie konnte man nur so gut aussehen?
„W-wer seid Ihr?“, fragte Rosina beschämt. Sie kam sich plötzlich furchtbar hässlich vor.
Der Mann lächelte, weiße Zähne kamen hervor. Wie perfekt konnte man bitteschön aussehen?
„Ich heiße Martin Mach, erfreut Euch kennenzulernen! Und Ihr seid?“, sagte er mit einer kleinen Verbeugung. Der neue Prinz Charming?
„Ich .. heiße Rosina Plessel. Was bringt Euch in unsere Siedlung?“
Und zu mir?

, fügte sie in Gedanken hinzu.
„Ich bin auf Reisen. Mein Vater sagt, ich solle für ihn das Adlergebirge entdecken. Seine Sagen, Legenden und Mythen und so weiter. Er sagt, er sei schon zu alt dafür..“ Er blickte zu Boden, doch im nächsten Moment blickte er Rosina erwartungsvoll an. „Also, kann ich Euch nun helfen oder nicht?“
„Ich komme schon allein zurecht.. Danke..“, flüsterte sie.
Seine spöttische Miene ließ sie jedoch sagen: „Aber ich komme nicht an den Trog. Die Kühe sind im Weg und ich traue mich nicht wirklich, näher an sie heranzugehen. Eigentlich kümmere ich mich nämlich nicht um sie..“
Sie wurde rot. Diese Worte klangen so schwach und ängstlich. Hatte es mit Martin zu tun?
Dieser lachte.
„Ach, deswegen seht Ihr so niedergeschlagen aus?“
Tat sie das? Sie musste an ihrem Pokerface arbeiten. Und konnte sie es ihm überhaupt erzählen? Nein, das durfte sie nicht. Wenn ihr Vater davon erfuhr, dass sie es einem Fremden verraten hatte, würde er sie prügeln bis ihr Gesicht zur Unkenntlichkeit entstellt war.
Dennoch schüttelte sie den Kopf. Sie konnte immer noch sagen, dass sie darüber nicht sprechen durfte, was schließlich auch der Wahrheit entsprach.
„Was ist es dann?“, bohrte er.
„Darf nicht darüber reden..“
Irgendwie war er ihr zu freundlich, zu besorgt. Und irgendetwas war fürchterlich künstlich.
Er seufzte. „Verstehe. Ich helfe Euch mit den Kühen und dann gehe ich wieder meiner Wege und lasse Euch in Ruhe griesgrämig sein..“ Sein Ton veränderte sich schlagartig.
„Tut mir leid, dass ich Euch denken lasse, Ihr würdet mich stören! Es liegt nicht an Euch. Es ist einfach.. Ich muss einfach einmal alleine sein..“, stammelte sie hastig.
„Schon gut, schon gut..“, murmelte Martin.
Als das Wasser kurze Zeit später im Trog schwamm, drehte sich Martin weg.
„Auf Wiedersehen..“
Sein Verhalten war abweisend. War das sein wahrer Charakter? Ein Frauenheld, der zuerst gegenüber einer Frau äußerst nett ist, höflich und ihr schmeichelt und sobald er merkt, dass bei ihr nichts zu holen ist, er am Besten sofort verschwinden will und sich nicht mehr bemüht, betont freundlich zu sein?
„Danke“, sagte sie knapp und halbherzig. Hoffentlich sah sie ihn nie wieder.
So ein unberechenbarer, unhöflicher Weiberheld!

, schimpfte sie in Gedanken, bei mir ist nichts für dich übrig. Ich hoffe, du kommst nie wieder!


Sie drehte sich wieder zu den Kühen um, um ihm nicht nachzusehen.
Wäre Susanna jetzt hier gewesen

, flüsterte ein Teil von ihr ihr zu, hätte sie gekichert und neckend geflüstert: „Du magst ihn! Du magst ihn, gib es zu!“


Rosina lief wieder rot an. Das tat sie auf gar keinen Fall! Nicht in einer Million Jahren!
Nur, weil er gut aussah hieß das nicht, dass ich direkt Sympathien für ihn entwickle! Er ist ein großkotziger Idiot!

, dachte sie trotzig. Doch ihre Gefühle sprachen eine andere Sprache.
„So ein Mist!!“, zischte sie, wütend auf sich selbst.
„Rosina!“, schrie Jemand.
Wieder wandte sie sich um, rechnete wieder mit Martin Mach, der sich hoffentlich entschuldigen wollte. Doch es war Franz.
„Was ist los?“, fragte sie perplex, als sie sah, wie ihr Bruder auf sie zu gestürmt kam.
Dann war er bei ihr.
„Sie haben Susanna gefunden.. K-komm mit!“
Sein Tonfall verhieß nichts Gutes und ein ungewohnt taubes Gefühl machte sich in ihr breit. Ihr Kopf war leer und ihr Füße, ihre Arme wirkten wie aus Blei. Erst als Franz merkte, dass sie ihm nicht folgte, zerrte er sie mit sich.
Sie rannten durch die Siedlung und mit jedem Meter, den sie zurücklegten, wurde das Rauschen in Rosinas Ohren lauter, das eingesetzt hatte, sobald sie von der Weide gerannt waren.
Auf der anderen Seite der Siedlung am Rande des Waldes verlangsamte Franz sein Tempo und ging nun schnell auf einen bestimmten Punkt zu, um den sich bereits das halbe Dorf zusammengefunden hatte.
Als sie bemerkten, dass die beiden sich näherten, wichen sie auseinander und bildeten einen Pfad, durch den Franz Rosina führte. Er packte ihre Hand fester.
Auch ihre Mutter stand dort, in der Mitte der Menschenmenge, wo sie sich zu einem Kreis geformt um eine Gestalt herum versammelt waren. Ihr Gesicht war nass und in ihren Händen hielt sie ein ebenso durchnässtes Taschentuch. Ihr Körper zuckte unter dem vielen Schluchzen immer und immer wieder.
„Franz-z, Rosina-a-a-ha!“, hauchte sie mit schwacher, zitternder Stimme und streckte Hilfe suchend die Hand mit dem nassen Taschentuch nach ihnen aus. Wo war ihr Vater?
Rosina traute sich nicht auf den Boden zu sehen, auf die Gestalt, die dort lag. Sie wollte nicht wissen, was mit ihrer Schwester passiert war, wie sie aussah. Und alleine der Anblick ihrer Mutter und die Gewissheit, dass Susanna tot sein musste, ließ sie zu Boden sinken und weinen. Ihr war dieses Mal egal, wer sie sah und wie sie aussah, in diesem Moment saugte etwas sie von innen her auf und ließ nur eine ewig existierende, große Leere zurück, undurchdringlich, schwarz wie die Nacht.
Franz kniete sich neben sie und legte einen Arm um ihre Schultern. Auch er weinte, doch ohne einen Laut von sich zu geben. Sie dagegen weinte ohne Hemmungen.
Ein Dreiviertel ihres Lebens, ihrer Selbst, das was sie identifizierte war nun endgültig von ihr gegangen und auch der letzte Teil von ihr musste nun einsehen, dass Susanna nie wieder da sein würde. Dass sie nie wieder mit ihr streiten, lachen und sprechen würde können. Nun musste sie ein für alle Mal verstehen, dass Susanna gegangen war.
„Wieso? Wieso??“, stammelte sie, fast unverständlich.
„Wolf..“, flüsterte Franz. Auch seine Stimme klang flatterhaft.
Ein Wolf?

, dachte sie. Warum ein Wolf?


Rosina konnte nicht anders. Sie musste sich einfach vergewissern, dass ihre Schwester wirklich tot vor ihr lag.
Doch sie prallte entsetzt zurück, kaum hatte sie ihre Schwester angesehen.
Die Haare waren kreuz und quer und strähnig auf dem Boden verteilt, getränkt von Blut. Ihr Kleid hatte sich von der blütenweißen Farbe in scharlachrot verwandelt und glich nur noch groben Fetzen. Ihre Brust wirkte merkwürdig entstellt, aufgerissen, zerfleischt und offen, doch das was sie am meisten erschreckte, das was sie am meisten verstörte, war ihr Gesicht. Ihre Augen waren weit aufgerissen und leer, starrten in den höhnisch schönen, blauen Himmel und ihre Züge waren zu einer merkwürdig entsetzten, gequälten und überraschten Grimasse verzerrt. Blutspritzer ihres eigenen Blutes zogen sich wie Narben über ihr komplettes Gesicht und die Haut.
Kaum hatte Rosina ihrer Schwester in die Augen geblickt, sprang sie auf und rannte, rannte davon. Ihr war egal wohin, doch eins wusste sie; sie musste hier weg! Raus hier! Sie konnte nicht mehr, sie war mit ihrer Kraft endgültig am Ende.
Als sie erschöpft stehen blieb, erbrach sie sich schaudernd. Dann lief sie weiter. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Um sie herum war nur der Wald.
Ein Wolf. Wie konnte das sein? Woher hatte Franz das gewusst?

Ist es die Wahrheit?




Als Rosina erwachte, empfing sie ein erdrückendes Halbdunkel, eine unheimliche Stille. Ihr Blick war noch zu verschwommen, um etwas zu erkennen, ihre Gliedmaßen zu schwach, um sich groß bewegen zu können.
Wo bin ich?

, dachte sie verwirrt und noch etwas benommen.
Unter ihren Fingern spürte sie weiches, feuchtes Moos und Erde. Ihr Gesicht hatte auf ihrem linken Arm gelegen und eine Wurzel hatte dort, wo ihr Gewicht am stärksten auf den Boden eingedrückt hatte, tiefe Abdrücke hinterlassen, die schmerzten als hätte sie schon tagelang so dort herumgelegen.
Rosina blinzelte sehr schnell, um rasch wieder normal sehen zu können, wacher und sich so ihrer Lage bewusst zu werden. Um sie herum standen hohe Bäume, einer sah aus wie der andere. Nebel umgab sie gespenstisch und das Mädchen fühlte sich allein. Furchtbar allein. Wie war sie hierhin gekommen? Etwas in ihr hinderte sie daran, sich zu erinnern, schien sie zu warnen, sich nicht erinnern zu wollen

.
Ein Scharren ertönte von rechts, dann von links, hinten, vorne. Etwas kam auf sie zu, doch wusste sie, dass das Etwas aus mehreren Wesen bestand. Es schien sie einzukreisen, von überall her zu kommen und Rosina konnte nicht einordnen was es war. Ein Schleifen folgte auf trampelnde Schritte, doch ob es Tiere oder Menschen waren, blieb ihr ungewiss. Welches Wesen konnte bloß solche Geräusche verursachen?
Abrupt richtete sie sich auf, gepackt von aufflammender, kreischender Panik. Was war dort? Was kam auf sie zu? Woher? Ein Knacken, ein Rascheln und dann wieder Stille.
Und plötzlich waren sie da. Silhouetten, Gestalten standen um sie herum, ihre Blicke spürte Rosina überall auf ihrem Körper, auch wenn ihre Augen volkommen im Dunkel ihrer Kapuzenumhänge lag. Es war äußerst unangenehm.
"W-wer seid ihr?", fragte sie zitternd.
Keine Antwort.
"Wer seid ihr?", fragte sie nun mutiger.
Die Gestalt, die direkt vor ihr stand, machte eine blitzschnelle Bewegung, so unerwartet, als hätte sie sie geschlagen. Ein Sirren, ein peitschender Luftzug und dann ein dumpfer Aufprall knapp über ihrem Kopf.
Rosina schrie vor Schreck auf. Jemand lachte. Sie blickte hoch und zuckte zurück, sobald sie die Wurfaxt sah, dessen Klinge nur Zentimeter über ihrem Haaranatz im schwachen Mondlicht schimmerte. Sie konnte sich im Spiegelbild der Klinge zwar kaum sehen, doch der Ausdruck von Angst und Panik, der auf ihrem Gesicht eingemeißelt zu sein schien, war so glasklar zu erkennen, als hätte Rosina eine Lupe darauf gehalten, um es genauer zu sehen. Doch eins war ihr sofort sonnenklar gewesen; dass das, was jetzt kam, bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen würde, dass es ihr Leben prägen würde und von größter Wichtigkeit war, in Bezug auf Susannas Tod. Sie spitzte die Ohren, als der Mann, der die Wurfaxt auf sie geworfen hatte, seine Stimme erhob.
"Es ist nicht wichtig, wer wir sind. Also, Göre, du hast hier zu verschwinden und nie wieder zu kommen, es sei denn, du willst sterben! Und ich sage dir, der Wolf ist nicht gnädig. Vor allem nicht mit dir. Steck deine Nase nirgendwo hinein, sonst bleibt sie irgendwann stecken! Und wehe, wir bekommen dich hier noch einmal zu sehen!", sprach eine männliche Stimme ruhig, doch eine Woge von Kälte und Bedrohung überkam Rosina, während der Mann redete.
Die Anderen lachten.
Alles Männer

, dachte Rosina benommen. Sie hätte schwören können, dass sie einige davon kannte, allein der Stimmen wegen, doch genau zuordnen war jetzt nicht möglich.
Was wollen sie von mir? Ich weiß nicht einmal, wie ich hierher gekommen bin.. Ich weiß nur, dass ich auf der Kuhweide war und einen jungen Mann getroffen habe.. Sonst weiß ich nichts mehr!


Das war komisch. Was war dazwischen passiert? Sie musste handeln, sie musste hier weg! Und sie brauchte Ruhe zum Nachdenken.
"Okay, wenn ich überhaupt wüsste, wo ich bin, würde ich schwören können, dass ich verschwinden und auch nie wieder hier auftauchen werde. Doch dazu fehlt mir das Wissen über meinen Standort!", sagte sie mit fester Stimme, verbarg ihre Angst.
Der Mann, der die Axt geworfen hatte, lachte spöttisch.
"Ach, nein. Frauen und ihr Orientierungssinn! Dass du so verstört warst, als du deine Schwester gesehen hast, verstehen wir alle ja, aber dass du dadurch einen Gedächtnisschwund erleidest, hätten wir jetzt nicht wirklich erwartet. Wie schwach ihr doch seid, ihr Frauen!"
Rosina sprang auf. Eine plötzliche, aggressive Wut hatte von ihr Besitz ergriffen, wirkte so, als hätte sie schon seit Tagen in ihr gekocht, immer kurz vor dem Siedepunkt, doch jetzt war dieser überschritten. So etwas ließ sie sich nicht gefallen. Nicht sie! So etwas hatte sie sich noch nie gefallen lassen und das hatte jeder nur zu gut gewusst. Die Spötteleien ihres Vaters gegen sie und ihre Schwester hatte sie schon zu Genüge gehört. Niemand würde sie noch einmal so kleinmachen können. Niemand, vor allem kein Fremder und schon gar nicht Jemand, der eine Axt nach ihr warf!
Sie packte den Griff der Wurfaxt neben ihr im Baum, unter dem sie geschlafen hatte. Und hatte für einen Moment den Wunsch, den Drang sie gegen den Werfer zu schleudern, jedoch besann sie sich im nächsten Augenblick wieder sich zu beherrschen und versuchte stattdessen, verbal etwas zu erreichen.
"Ihr glaubt also, dass Frauen schlechter sind, als Männer? Ihr glaubt, ihr seid Götter, die über uns Frauen herrschen? Und soll ich euch auch einmal eins sagen? Wenn es uns Frauen nicht gäbe, würdet ihr heute leben? Würde es euch je gegeben haben, oder je an euch gedacht worden sein? Neein, sicherlich nicht! Wie wollt ihr euch bitteschön fortpflanzen! Mickrige, dumme Muskelprotze. Ihr habt doch kein Hirn, nur Muskeln! Was seid ihr schon besser als Frauen? Ihr seid keinen Deut besser! Schon allein eure Arroganz zeugt doch schon von eurer Dummheit! Wieso sollte dieser Auftritt von vorhin mir Angst machen? Ihr seid Abschaum, wer immer ihr auch seid! Ich habe keine Angst vor euch!", schrie sie vor Zorn, zog die Axt aus dem Holz, ließ sich ihre Schwierigkeiten dabei aber nicht anmerken.
Der Mann schnaubte.
"Und doch spricht die bodenlose Angst aus deinen Augen und deinen Worten! Nun sage ich

dir mal was: Stell dich darauf ein: Deine Einstellung bedeutet in dieser Welt nichts! Wer bist denn du schon? Wie willst du

es je erreichen, dass Frauen nicht der Abschaum der Gesellschaft sind? Und stell dich auf noch etwas ein: Nämlich, dass du von heute an nirgendwo mehr sicher sein wirst. Du wirst niemals mehr alleine sein! Und dir wird auch niemand mehr trauen, glaube mir das mal! Und sollten wir merken, dass du irgendetwas gegen uns unternimmst, wirst du dafür tausendfach bezahlen!", sagte er lauernd.
"Na, dann verratet mir den Namen eurer Sekte, damit ich mich in Zukunft total

vor euch fürchten kann!", sagte die junge Frau höhnisch, die Ironie in ihrer Stimme war greifbar und sie ließ die Axt in ihren Händen kreiseln, spielte mit dem Gedanken sie doch noch gegen einen der Männer zu benutzen.
Der Mann, der vor ihr stand und sicherlich der Anführer sein musste, sprang auf sie zu, packte sie an der Gurgel und zischte: "Jetzt gehst du zu weit, du vorlautes Miststück! Niemand kommt mir so, und schon gar nicht so kleine Mädchen wie du! Und nur damit du's weißt: Wir nennen uns den "Lupus-Orden". Merk dir das, denn er wird dein

Untergang sein!"
Der Mann riss dem Mädchen die Axt aus den Händen und im nächsten Augenblick keuchte Rosina erschocken auf, denn sie spürte einen stechenden Schmerz auf ihrer Haut. Sie betastete verängstigt ihre Wange und ertastete einen feuchten Schnitt, hielt sich die Hand vor die Augen, um den Blutstropfen zu sehen. Ohne, dass sie es wirklich wahrnahm war Rosina wieder allein. Die Männer waren verschwunden und es herrschte eine drückende Stille, die Kälte drang nun durch ihr Kleid, hatte sie den Frost bislang noch nicht bemerkt. Sie umschlang ihre Schultern und weinte leise, während das Blut aus der Wunde und das Tränenwasser sich vermischte und auf den Waldboden tropfte.
So hilflos wie jetzt hatte sie sich noch nie gefühlt.

Nachdem die Männer fort waren, verstrichen die Stunden tatenlos. Rosina saß wieder unter der alten Eiche, die sich aus dem Dickicht der Baumkronen in den Himmel erhob und starrte geradeaus ins Nichts.
Sie hatte sich nicht getraut zu verschwinden, wie es ihr die Männer geraten hatten. Was, wenn sie sich noch weiter in den Wald hinein verlief? Wie sollte sie je wieder nach Katscher zurückkommen, wenn doch jeder Baum und jeder Strauch gleich aussah und sie keine Ahnung hatte, in welche Richtung sie gehen sollte? Aber, wollte sie überhaupt jemals nach Katscher zurück? Was hielt sie schon noch dort?
Dieses dumpfe Gefühl von Leere, das sie seit Susanna gefunden worden war, erfüllte, war nach dem Ausbruch des Zorns, der nun immer noch schwach in ihrem Unterbwewusstsein brodelte, zurückgekehrt. Die Gleichgültigkeit hatte gesiegt, zumindest vorerst. Wenn sie starb, so war sie doch immerhin wieder mit ihrer Schwester zusammen und was konnte man daran schon negativ sehen?
"Was machst du denn hier? "
Rosina schrie vor Schreck auf, als die bekannte Stimme nur wenige Meter von ihr entfernt ertönte. Was machte Martin Mach denn nun schon wieder hier? Sie sah zu, wie er weiter auf sie zu, weiter in die Mitte der Lichtung trat und sie mit verwirrtem Blick anstarrte.
Seit wann duzen wir uns denn?

, fragte sie sich verwundert.
"Und was macht Ihr

hier?", fragte sie kühl und verschränkte die Arme und Beine abweisend.
Er schnaubte.
"Meine Reise fortführen, was sonst? Und was ist das für ein Schnitt auf deiner Wange?", sagte er ebenso kühl und halbherzig besorgt. Warum musste sie ihm ständig begegnen? Wieso trafen sie sich immer zu den unerwartesten Zeitpunkten, an den unerwartesten Orten und in den Situationen, in denen sich Rosina immer so schwach fühlte? Und warum fiel ihr das immer wieder auf?
"Also, was machst du hier?", wiederholte er seine Frage etwas genervt.
"Hab mich verlaufen..", murmelte sie, als ob es ihn nichts anginge, was sie tat oder wie es ihr ging, ignorierte die Frage über den Schnitt in ihrer Wange und drehte sich um, um sich das Gesicht zu trocknen.
Martin schnaubte erneut.
"Was?!

" Nun drehte sie sich wieder voller Zorn zu ihm um, nagelte ihn mit einem Blick fest, der ihn innerlich erdolchen sollte.
Er machte sie einfach nur krank und so wütend! So ein Volltrottel!
"Meine Güte, du scheinst ja Ärger wie magisch anzuziehen, stimmt's?", lachte er.
Er sah sie kurz an.
"Komm, ich bringe dich zurück."
Er streckte eine Hand nach ihr aus und wartete darauf, dass sie sie nahm, doch sie blickte ihn nur hochmütig und kalt an und stand auf, die Arme unverändert verschränkt, missachtete unmissverständlich klar die Hand, als wäre sie gar nicht da.
Kein Blickkontakt, keinen Hautkontakt! Du weißt nicht, ob du rot wirst!

, dachte sie. Und vor ihm und auch noch wegen ihm rot zu werden, dafür war sie sich entschieden zu schade. Hasste sie ihn nicht? Wieso sollte sie denn bitteschön wegen ihm rot werden? Sie verstand ihre eigenen Gedanken nicht mehr!
Eisige Stille legte sich über die Beiden und keiner schien sich zu trauen, sie zu brechen. Keiner schien es zu wollen, sich dazu zu erniedrigen.
Es dauerte fast eine Stunde, bis der Wald sich allmählich lichtete. Und immer noch machte niemand Anstalten, seine Stimme zu erheben.
Die Dächer des Dorfes kamen in Sicht, dunkel verfärbt durch den Ruß der Kamine, der durch die Schornsteine nach Außen drang und die Wäsche hing an Leinen aus den oberen Fenstern, mit einer solchen verwaschenen Farbe, dass es so wirkte, als seien die Kleider gar nicht gefärbt worden oder nur mit wenig Mühe. Vereinzelt stieg Rauch aus den Kaminen, in der Ferne konnte man die Kühe muhen hören. Doch das Dorf erschien trotz allem wie ausgestorben.
"So, dann sage ich einmal lebe wohl

..", sagte Martin distanziert.
Rosina nickte nur. Sie wusste nicht, warum es in ihr schrie, sobald der Abschied nahte, sie verstand es nicht. Sie hasste ihn doch!
Offenbar konnte man ihre Gedanken am Gesicht ablesen, denn Martin fragte wieder besorgt: "Was ist denn mit dir? Und sag mir nicht schon wieder, dass du darüber nicht sprechen darfst oder dass nichts ist!"
Seine Stimme wurde mit jeder Silbe ein Stück verärgerter.
"Seit wann duzen wir uns eigentlich?", fragte Rosina nun schnippisch und wollte sich im nächsten Moment wieder ohrfeigen wegen ihrer Unfreundlichkeit.
Wieso konnte sie nicht einmal freundlich zu ihm sein? Wieso musste sie ihn so behandeln? Was hatter er ihr getan? Musste sie ihren Hass so offen zur Schau tragen?
Hasst du ihn überhaupt?

, flüsterte eine Stimme in ihr und für einen Atemzug lang blieb ihr Herz stehen. Sie wusste es nicht, doch eins war ihr jetzt klar: Hass war es nicht.
"Seit.. Ich es beschlossen habe?"
Er grinste schelmisch.
Ein leises Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht.
"Aha! Die Dame kann also auch lächeln?"
"Ja, kann ich. Ich tu es nur nicht so oft. Nicht mehr, seit meine Schwester..." Ihre Stimme brach kläglich.
Na toll, sag ihm gleich noch alles andere, Rosina! Als ob er dein bester Freund wäre! Dein Bruder!

, höhnte nun eine böse Stimme in ihrem Kopf. Eine andere, als zuvor.
Die Stille glich nun einer unerträglichen, unwohlen Ewigkeit.
"Ich.. Habe davon gehört.. Es tut mir wirklich sehr, sehr leid", sagte Martin schließlich merkwürdig schüchtern, zögerlich.
Bei diesen Worten schäumte die Trauer wieder hoch, durchbrachen den Schild der Beherrschung, der ihre Gefühle unterdrückt hatte und jetzt zu bersten schien, das Schloss der Gleichgültigkeit wie ein Schlüssel öffneten. Tränen schossen ihr in die Augen und sie versuchte vergeblich sie zu unterdrücken, indem sie den Kopf leicht erhoben zur Seite drehte und stark blinzelte. Er sollte ihre Tränen nicht sehen. Sie wollte nicht schwacher vor ihm wirken, als sie ohnehin schon tat, was nicht zu ihr passte. Die Verzweiflung, die sie innerlich vor der Außenwelt versteckt hatte und sie von Innen heraus verpestet hatte, brach nun hervor.
Stumm und vorsichtig legte Martin einen Arm um sie. Er schien sich sehr unsicher zu sein.
Da das Mädchen nicht anders konnte und sich an Martin klammern wollte, als sei es ein Rettungsring in tosenden Fluten, warf sie sich in seine Arme und weinte bitterlich, gab ihre Beherrschung vollends auf.
"Sch, sch. Ist ja schon gut. Ich bin doch da!"
Martin strich ihr behutsam über das Haar, schlang die Arme etwas fester und doch noch sanft um sie, sprach diese Worte immer wieder, als seien sie ein Heilmittel, ein Zauberspruch, bis Rosina sich beruhigte.
Sie machte sich langsam und umsichtig von ihm los und sah ihm in seine blauen Augen, die in der Mittagssonne glitzerten und sein Gesicht erstrahlen ließen.
"Jetzt hab ich dich ganz nass gemacht!", schniefte sie und wischte sich peinlich berührt übers Gesicht.
Er lachte wieder und es klang wie Musik in ihren Ohren, während auf seinen makellosen Zähnen das Licht tanzte.
"Macht doch nichts!", erwiderte er.
Das Mädchen versuchte den Blick von seinen Augen abzuwenden, doch es gelang ihr nicht. Etwas an ihm zog sie in einen Bann, der sie nicht mehr freigab. Er berührte gedankenverloren ihre Wange, zeichnete behutsam die Linie an ihrer Wange entlang, ohne den Blick von ihr zu wenden, und genau dort, wo er ihre Haut berührte fühlte sie eine angenehme Gänsehaut.
Sein Gesicht näherte sich dem ihren und für einen Moment war sie gewillt es zuzulassen. Doch dann stand sie auf und floh, nachdem sie sich aus dem Trance befreit hatte.
Es ging nicht, sie durfte es nicht.
Was ist wenn der Lupus-Orden ihn benutzt, um mich einzuschüchtern? Ich darf das nicht geschehen lassen! Er soll aus der Sache heraus bleiben! Lieber sterbe ich, als dass er es muss!

, dachte sie verzweifelt, während sie in Richtung Dorf rannte und ihr die Tränen abermals unaufhaltsam die Wangen herunter kullerten. Sie hatte sich nicht einmal zu ihm umgeblickt. Würde sie ihn je wiedersehen? Sie verstand sich selbst nicht mehr.
Als die junge Frau das erste Haus von Katscher erreichte blieb sie stehen, versuchte sich zu sammeln. Sie begegnete auf ihrem Weg durch das Dorf keiner Menschenseele und langsam beunruhigte es sie. Wo waren alle hin verschwunden? Es war ungewöhnlich, diese Stille, die sich wie ein Mantel über das Dorf gelegt zu haben schien, jegliche Lautstärke im Keim erstickte. Etwas musste geschehen sein, sonst würde auf den Straßen wie an jedem Tag ein geschäftiges Treiben herrschen. Dann hörte sie gedämpfte Rufe, unverständliches Schimpfen und eine fremde Stimme die besänftigend auf die Schimpfenden einredete. Rosina zögerte nicht lange und ging in Richtung des Tumults, jede Entwicklung in dieser Siedlung war wichtig. Alles konnte ein Indiz sein und jeder konnte ihre Schwester ermordet haben, im Orden sein. Wurde sie nun verrückt? Litt sie an Verfolgungswahn? Oder war das, was ununterbrochen in ihr schrie und sie zu größter Aufmerksamkeit und Tatendrang anstachelte, nur ihr menschliches Verlangen zu überleben und Rache an denjenigen zu verüben, die ihr das Glück geraubt hatten?
Sie bog um eine Häuserecke und blieb überrascht stehen. In der Mitte des kleinen Vorhofes vor dem Haus der Plessels stand ein Mann in einer dunklen Kutte und Tonsur, die Arme gen Himmel gestreckt, in versöhnlicher Haltung gegen die Menge, die ihm Sachen entgegen schrie. Und es schienen hastige Warnungen zu sein, aber auch vereinzelt Forderungen an den Abt des naheliegenden Klosters.
"Tu es nicht, Ignatius, das Mädchen ist labil!", rief eine Frau verständnislos und fuchtelte mit den Armen, um den Mönch auf sich aufmerksam zu machen.
"Wann bekomme ich endlich den Sold für meine Dienste? Ich habe eine Familie zu ernähren, wieso erhalte ich nicht das, was mir zusteht? Der Abt ist doch sonst immer so gutmütig!"
"Sie kann gefährlich werden, sie leidet unter Verfolgungswahn!", schrie ein Mann.
"Bleib von diesem Haus fern, wer weiß, was sie in ihrer Verrücktheit mit dir macht! Sie könnte denken, du seist der Mörder!"
Rosina stand da wie erstarrt. Ihr war sofort klar gewesen, von wem die Dörfler dort sprachen, aber wieso sprachen sie so über sie? Labil? Gefährlich?

Was sollte das? Was wussten sie schon über sie? Was reimten sie sich da zusammen? Oder hatte der Orden etwas damit zutun?
Der Mönch sprach währenddessen mit sanfter, weicher Stimme zu der aufgebrachten Menge: "Ich verstehe schon, ich verstehe schon! Trotzdem habe ich die Aufgabe vom Abt erhalten, mit dem Mädchen zu sprechen, ich bin der Infirmarius."
Wieder riefen die Leute aufgebracht, doch Rosina wollte es nicht hören. Sie wollte verschwinden, denn kein Einziger Dörfler schien zu glauben, sie sei normal und unschuldig. Warum hielten sie sie alle für so verrückt? Was hatte das zu bedeuten? Ihr war unbegreiflich, wie schnell der Orden seine Drohungen wahr gemacht hatte. Das war unmöglich! Wieso sollten die Dörlfer ihnen glauben schenken? Man konnte doch nicht so schnell so viele Menschen auf seine Seite ziehen, ihnen Flausen in den Kopf setzen und ihre Gedanken gegen Jemanden verpesten! Oder doch? Was sollte das hier denn auch anderes sein? Weswegen sonst sollte man sie für labil erklären? Alles war noch schlimmer geworden, als sie es sich ausgemalt hatte.
Sie drückte sich an die Häuserwand und blieb stumm. Eine Frau fuchtelte mit ihren Armen zu dem Mönch hin, schrie ihm etwas in ihrer Unverständlichkeit vor des Mönches Worten entgegen. Wieso ging Rosinas Leben nur so schief? Es hatte doch so schön gewirkt, zusammen mit ihrer Schwester, ihrem Bruder. Und mit einem Vater, der sie noch geliebt hatte. Und einer Mutter, die noch lachen konnte. Sie war sich sicher: Im Moment war ihre Mutter gefährlicher, als sie selbst. Schließlich schien sie nicht mehr sie selbst zu sein und das

war gefährlicher als jeder Verdacht. Doch es gab auch keine anderen Anhaltspunkte, außer dem Lupus-Orden. Er hielt die Fäden in der Hand.
Das hatte sie sofort gemerkt, als man die Axt nach ihr warf, als man derartig mit ihr gesprochen hatte. Sie würde dieses Begegnung im Wald niemals wieder vergessen können. Und doch würde sie schnell handeln müssen. Je schneller sie den Orden entlarvte und entmachten konnte, desto schneller hatte sie wieder Ruhe, konnte vielleicht auch ihre Schwester loslassen. Doch dafür durfte sie Niemandem trauen.
Und dazu war großer Mut nötig, der ihr im Moment nur hin und wieder zu Hilfe kam, eine Stimme jedoch sagte ihr, dass er kommen würde, sobald sie ihn brauchte und in diesem Moment kam er erneut.
Sie löste sich aus dem Schatten der Häuserwand, atmete tief durch und schritt geradewegs auf die Menge zu, die verstumme und sich zu ihr umdrehte, in einer einzigen Bewegung und sie anstarrte, doch sie beachtete sie nicht, und wandte sich dem Mönch zu, der ihr neugierig entgegenblickte.
"Ihr habt nach mir gesucht? Nun hier bin ich. Was wollt Ihr von mir?", fragte sie mit fester Stimme.
Die Menge zischte nun, als wollte sie sie zwingen zu schweigen, als sei es ihr nicht erlaubt zu sprechen. Rosina würdigte diesen rückgradlosen Menschen keines Blickes und erwartete die Antwort des Mönches, der nun lächelte.
"Ja, man hat mich zu dir geschickt, da man von deinem Schicksal hörte. Armes Kind, wirklich. Es tut mir leid. Nun, ich bin hier, um dir zu helfen, denn man wird Untersuchungen einleiten, um den Fall aufzuklären. Der Abt ist sehr interessiert an dem Vorfall. So etwas ist schließlich noch nie in dieser Gegend passiert. Anscheinend war es ein Wolf, doch mir ist zu Ohren gekommen, dass du etwas Anderes, oder jemand Anderes - besser gesagt -, dahinter vermutest. Willst du mir deine Gedanken anvertrauen? Wir müssen es nicht hier bereden, zu viele Zeugen, doch in eurem Häuschen wäre es doch besser, oder nicht?"
Er sprach mit ihr wie ein Kleinkind. Was dachte dieser Mönch sich eigentlich dabei? Dachte er, er sei besser als die Anderen, die ihm rieten, sie sofort einzukerkern, zum Schutz der Übrigen? Der Zorn war wiedergekehrt, und diesesmal schien er anzudauern. Sie ballte die Fäuste, doch unterdrückte sie das Zittern ihrer Stimme. Es hatte keinen Sinn vor den Dörflern auszurasten, sonst würde man sie mit Sicherheit eigenhändig irgendwo anketten, wie einen Hund und am Besten noch mit einem Maulkorb.
Sie hielt das Schnauben zurück, beherrschte sich angestrengt.
"Sicher doch. Warum nicht. Kommt doch rein. Dann erzähl ich es Euch." Die Abgehaktheit der Sätze war ihr egal, hauptsache ihre Stimme blieb normal.
In der Küche war es still und leer. Wo ihre Mutter hingegangen war, war ihr unerklärlich, doch es gab Dringenderes zu besprechen. Wenigtsens einem konnte sie etwas sagen. Doch gewiss nicht alles. Und vielleicht auch nicht diesem Mönch. Er hielt sie auch für labil, aber er zeigte es nicht so offen, wie jeder Andere hier.
Er erfüllt nur seine Pflicht als Infirmarius. Er muss die gefährdeten Kranken begutachten, versorgen. Und nun auch mich. Dass er wegen der Aufklärung des Falls hier ist, das glaube ich ihm nicht. Er ist nur zu Begutachtung hier, ob ich nun wirklich geistig krank bin oder nicht. So etwas kann mich nicht mehr erschrecken, nicht nach dem, was gerade passiert.


"Nun gut", begann der Infirmarius und ließ sich ohne Aufforderung auf einen Stuhl fallen, der unter seinem Gewicht ächzte, "dann erzähl mir doch bitte, mein Kind, was glaubst du, wieso ich hier bin?"
"Ich schätze, sie sind hier, um zu prüfen, ob man mich einbuchten sollte oder nicht, richtig? Ich kenne Leute wie sie. Sie haben es doch gesehen. Seitdem ich meine Schwester tot gesehen habe, glauben diese Deppen vom Dienst, ich sei labil, dabei ist die Hälfte dieser Leute nicht mal richtig hell im Kopf, um zu bemerken, was hier vor sich geht. Was mit ihnen gemacht wird. Sie sind Marionetten in einem teuflischen Spiel, und merken es nicht einmal! Und dann behaupten sie, ich litte unter Verfolgungswahn! Dabei sollten sie einfach nur die Augen aufmachen und ihren Verstand einsetzen! Dann merken die, was hier vor sich geht. Es ist ja nicht zu übersehen."
Der Infirmarius nickte, und strich sich über seinen dicken Bauch, der unter seinem Gewand hervortrat.
"Nun, Kind, du glaubst, in diesem Dorf ginge es nicht mit rechten Dingen zu?", fragte er.
Sie nickte.
"Und dass Jemand deine Schwester auf dem Gewissen hat?"
Sie nickte erneut.
"Und wer ist das deiner Meinung nach?" Er beugte sich interessiert vor und blickte sie aus seinen Schweinsäuglein begierig an.
"Nun, es erfreut Euch sicherlich nicht, wenn ich Euch das sage, aber das kann, beziehungsweise darf ich Euch nicht erzählen. Man würde mich umbringen und das will ich nicht, so leid es mir für Euch tut, da Ihr nun nicht weiter in Euren Ermittlungen

weiterkommt", sie verdeutlichte dieses Wort mit Gänsefüßchen, die sie ihn mit dem Fingern zeigte, "ohne meine Vermutungen, die Ihr doch eh für Humbuk bezeichnet, habe ich nicht Recht?"
Der Mönch erstarrte ertappt.
"Was, wie meinst-?"
"Ihr wisst genau, was ich meine. Als Infirmarius kümmert Ihr Euch um die Kranken und Hilfsbedürftigen. Wegen dieser Aufgabe seid Ihr doch bei mir, nicht wahr? Weil man Euch erzählt hat, ich sei verrückt und geisitg krank. Dies liegt offen auf der Hand. Man kann es in Eurem Gesicht lesen. Tut nicht so, als tätet Ihr es nicht. Mir ist es egal, ob man mich für labil hält. Solange ich weiß, dass ich es nicht bin, kann man mich auch nicht kleinmachen. Nur damit Ihr es wisst; ich handle aus einem bestimmten Grund; weil ich Beweise finden will für den Tod meiner Schwester wegen eines Wolfs und im Moment ergeben sich dafür keine Beweise. Jedenfalls nicht für einen echten Wolf. Sofern das Euch nicht genügt, muss ich Euch leider enttäuschen, denn ich habe Besseres zu tun, als mit Jemandem zu reden, der mich für verrückt hält. Ich wünsche Euch noch einen schönen Tag und weiter schöne Tage ohne meine Anwesenheit in einem Eurer Krankenbetten. Ich muss mich jetzt um meine Mutter kümmern. Ich denke Ihr findet die Tür." Sie stand auf und ging einfach hinaus in Richtung des kleinen Gartens, in dem Gemüsebeete angelegt waren. Dahinter sah man die Gläserwerkstatt der Familie, in der das Haupteinkommen der Familie bestand. Ihre Mutter konnte nur dort sein.
Als sie das eiserne Tor der Werkstatt öffnete, überkam sie ein mulmiges Gefühl und Etwas wandt sich in ihr und wollte sie zwingen, das Tor geschlossen zu halten, einfach fortzulaufen. Doch sie widerstand dem Drang, dem zu folgen. Sie erhob den Kopf und starrte voller Schreck und Grauen auf eine Gestalt, die an einem Strick über dem Boden baumelte. Leblos. Daneben lag ein umgestoßener Stuhl.

Der totale Zusammenbruch




Es war..
"Mutter!", schrie Rosina voller Panik und rannte auf den leblosen Körper zu.
"Nein, nicht auch noch du!", hauchte sie.
Rosina stellte den Stuhl wieder auf und kletterte hinauf, schüttelte die Schultern ihrer Mutter, doch sie rührte sich nicht. Verzweiflung durchströmte sie, setzte sich in jede Faser ihres Körpers und heftete sich dort fest. Das Mädchen stieß ein Schluchzen aus und weinte, immer noch die Schultern der Mutter festhaltend. Dann blickte sie sich um.
"Muss doch irgendwo.. Hier.. Irgendwo muss doch was sein..!", stammelte sie ohne Sinn.
Dann sah sie ein Messer auf dem Arbeitstisch ihres Vaters liegen, sprang herunter, packte es und im nächsten Moment stand sie wieder auf dem Stuhl und schnitt den Strick durch.
Ohne es aufhalten zu können, fiel ihre Mutter nun hart auf den Boden, doch spüren würde sie es sowieso nicht mehr. Erneutes Schluchzen durchfuhr die Stille und Rosina hockte sich neben ihrer Mutter auf den erdigen Boden, das Messer immer noch in der Hand und weinte nun, ohne die Gestalt zu bemerken, die sich von hinten an sie heranschlich.
Diese packte mit den Händen zu, nachdem sie sie, unbemerkt von Rosina, um ihren Hals platziert hatte. Rosina stieß vor Schreck einen Schrei aus, der nur als Gurgeln zu hören war, ihre Augen schienen aus ihren Höhlen zu springen. Sie wand sich hin und her und versuchte mit den Fingern die Hände von ihrer Kehle zu lösen, doch sie waren zu stark. Verzweifelt und panisch versuchte sie sich zu befreien, doch es ging nicht. Das Mädchen spürte schon, wie sich ihre Augäpfel langsam nach oben zu rollen begannen, doch sie wollte es nicht zulassen. So schnell sollte es nicht zu Ende gehen.
Da bemerkte sie das scharfe, schwere Eisen in ihrer rechten Hand, als wäre es ihr erst kurz zuvor dort hinein gelegt worden. Sie stieß es zurück, hinter sich und die Klinge durchschnitt ein Hindernis.
Ein Röcheln und Keuchen ertönte, die Hände lockerten sich leicht und Rosina schüttelte ihren Gegner ab. Sie drehte sich um und erstarrte, fixierte geschockt das Gesicht das zu ihr aufblickte.
"Franz?!"
"Rosina, es..", brachte Franz hervor.
Sie hockte sich vor seinem Gesicht hin und sah ihm immer noch voller Schrecken in die Augen, beachtete nicht einmal das Messer in seinem Bauch, um dessen Einstich sich jetzt eine Blutlache ausbreitete.
"Tut mir leid... Vater.."
"Warum?", flüsterte Rosina verständnislos und ihr Gesicht war abermals plitschnass.
"Vater..", wiederholte Franz und schloss die Augen. Rosina spürte, wie das Leben aus ihm herausfloss.
"Was ist mit ihm?!", fragte sie laut und drängend, doch Franz schien Dringenderes sagen zu wollen.
"Mach.. Der Wolf.. Macht ergreifen.. Mach", hauchte er belanglos in die Stille hinein und dann sackte sein Körper zusammen.
Sie verstand es nicht. Wieso ihr eigener Bruder? Er hatte sie umbringen wollen, verdammt! Was ging hier nur vor sich? Rosina fasste sich an den Hals und spürte bereits Würgemale. Wohin führte dieser Weg, den sie eingeschlagen hatte? Was hatte Franz nur gemeint? Wie weit hatte er in der Sache gesteckt? Und wie weit steckte ihr Vater drin? War ihr Vater der Wolf? Was meinte Franz mit seinen letzten Worten?
Das Mädchen fasste sich an den Kopf, versuchte ihn zum Schweigen zu bringen, zu verwirrend waren diese Fragen, um klar denken zu können. Schwankend stand sie auf, klopfte sich den Dreck vom Kleid und ging hinaus. Sie musste jetzt stark sein, das wusste sie.
Als sie aus dem Haus trat, war die Menschenmenge verschwunden. Erleichtert atmete Rosina auf. Wenigstens musste sie die nicht noch ertragen. Mit ihren gaffenden, verängstigten Blicken, als könnte sie sich jeden Moment auf sie stürzen, um mit Fangzähnen anzugreifen, als sei sie ein Tier, als sei sie ein Wolf. Nun kamen ihr Franz' letzte Worte wieder in den Sinn: Mach.. Der Wolf.. Macht ergreifen.. Mach.


Was hatte ihr Bruder ihr sagen wollen? Sie konnte es sich nur so erklären, dass der Oberwolf

des Lupus-Orden, der Stammesvater, das Sektenoberhaupt sich zum Ziel gesetzt hatte das Adlergebirge, ganz Böhmen, die ganze Welt unter seine Gefolgschaft zu bringen, damit sie sich seinen wahnsinnigen Theorien anpassten und nach ihnen handelten. Das hieß für Rosina nur; die Frauen auszugrenzen, sie zu benutzen, als seien sie Tiere, sie vergewaltigen und verwahrlosen in Anstalten für Frauen

stecken, sortiert nach Altersgruppen, sie versklaven. Ihr wurde übel bei diesem Gedanken. Wie konnte man nur so krank sein?
Rosina hatte gar nicht bemerkt wo sie hinlief, denn plötzlich befand sie sich in irgendeiner Gasse zwischen zwei Häusern, im Schatten eines Hauseinganges und spähte nach vorn. Dort standen Martin und ihr Vater, vertieft in ein vertrautes Gespräch. Jetzt lachte Martin sogar und Anton Plessel stimmte mit ein. Rosina wusste nicht, ob sie kotzen oder ausrasten sollte. Selbst weinen schien angebracht, aber das war ihr im Moment doch zu viel wert. Wie konnte Martin sie nur so hintergehen? Wieso stellten sich alle Menschen, denen sie vertraute, gegen sie?
Ihr Vater gab Martin einen Klaps auf die Schulter und verschwand in Richtung des Lärms, der von der Hauptstraße her kommen musste, während Martin auf das Mädchen zu kam. Rosina wartete, bis der Rücken ihres Vaters um eine Ecke gebogen und Martin fast gleichauf mit ihrem Versteck war. Dann sprang sie hervor, genau vor Martin, stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihn an.
"Du Heuchler!", zischte sie fuchsteufelswild.
"Was?!", fragte dieser verdattert. "Was machst du denn hier?"
"Das wollte ich dich grade fragen! Seit wann kennst du meinen Vater so gut, hm?", fragte sie und hatte große Lust ihm eine überzugeben.
"Das war dein Vater? Er hat sich als Erik Schmied ausgegeben! Woher sollte ich wissen, dass..?", fing er an. Sie konnte ihm nicht glauben und wurde noch wütender.
"Achso, deswegen wart ihr ja auch so vertraut mit einander, zwei Seelen, die sich gefunden haben, stimmt's?", erwiderte sie und der Sarkasmus schien nur so von den Hauswänden zu tröpfeln.
Nun schien er wütend zu werden. Er baute sich vor ihr auf.
"Was soll ich eigentlich tun, damit du mir vertraust? Ich weiß nicht, was zwischen dir und deinem Vater los ist, es geht mich auch nichts an, aber dass du dieses Verhalten auf mich abtragen lässt, verstehe ich wirklich nicht! Wenn du mir so sehr misstraust, warum fragst du mich nicht einfach oder lässt mich verdammt nochmal in Ruhe?"
Das hatte gesessen. Bei jedem Wort schien Rosinas Wut zu schwinden und sie stand nun nur noch da, ausdruckslos und leer, mit Trauer als bodenloses schwarzes Loch in ihrem Herzen.
"Es tut mir leid.. Es ist nur, man will mich mundtot machen. Und ich denke dass mein Vater dahinter steckt. Alle halten mich für verrückt, weil meine Schwester gestorben ist und ich mich nicht bemühe, meine Trauer nicht nach außen hin zu zeigen. Man glaubt, ich sähe Gespenster an jeder Ecke, den Mörder an jeder Ecke. Und nun habe ich niemanden mehr, der mich innerhalb dieser Mauern, die ich nicht mehr zu Hause nennen kann, schützt. Ich glaube, mein Vater hat was mit Susannas Tod zutun, sonst würde er mich nicht so fertig machen. Er hasst mich richtig."
"Ist das jetzt endlich alles, was du so hinter deinem schönen Gesicht verbirgst oder kann ich auf noch etwas warten?", fragte er nun beruhigt, doch auch eine gewisse Sorge spielte in seiner Stimme mit.
Sie schmunzelte.
"Kann ich dir vertrauen?", fragte sie nun unsicher. Sie wollte ihn nicht schon wieder so verärgern.
Er starrte sie kurz an, dann seufzte er und scheinbar geistesabwesend nahm er eine Haarsträhne des Mädchens zwischen seine Finger. Dann sah er ihr ernst in die Augen und fasste an ihre Wange.
"Ich sagte doch bereits, einem Martin Mach kannst du vertrauen!", sagte er, doch im nächsten Moment sah er sie wieder besorgt an. "Rosina, was ist denn nun mit dir? Was hast du plötzlich wieder?"
"Mach.. der Wolf.. Macht ergreifen.. Mach..", hauchte sie und starrte ihn entsetzt an.
Das kann doch nicht wahr sein! Es soll nicht wahr sein!

, schrie es in ihr. Doch wie sollten die Worte anders gemeint sein?
"Was guckst du mich jetzt so an? Hab ich was falsch gemacht? Was flüsterst du denn da?", fragte er total verunsichert.
Rosina versuchte sich zu beruhigen und stellte die Frage ungewohnt ruhig: "Kennst du dich mit Wölfen aus?"
Er sah sie an, als würde sie ihn auf den Arm nehmen wollen.
"Wie bitte?"
"Ob du dich mit den Wölfen auskennst!"
"Was für Wölfe?!"
Sie seufzte.
"Ich muss gehen. Es tut mir leid, aber es wäre besser wenn wir uns nicht mehr sehen."
Rosina wandte sich um und ging einfach, ohne sich noch einmal umzusehen. Es war zu gefährlich. Woher wusste sie denn schon, ob Martin nur versuchte, sie in seine Falle zu locken? Sie war sich sicher, dass er tief in der Sache mit drin steckte und deshalb musste sie aufhören, an ihn zu denken. Sie durfte sich nicht mehr von ihm beeinflussen lassen. Er war zu gefährlich für sie. Und sie nahm ihm seine Überraschung über ihre Frage nicht ab. Woher sollte sie bitteschön wissen, ob das Gespräch zwischen Martin und ihrem Vater nicht um etwas streng Vertrauliches gegangen war? Schließlich hatten sie sich in einer dunklen Gasse getroffen und so vertraut geplaudert, als würden sie sich schon ewig kennen.
Eins stand fest: Hier war etwas oberfaul. Und zwar nicht nur in diesem Dorf. Denn, wenn Martin etwas damit zutun hatte, dann lag es auf der Hand, dass die Bewegung der Wölfe sich schon über das ganze Adlergebirge erstreckte und vielleicht sogar auch über ganz Böhmen. Wo sollte das alles hinführen?
Rosina lief weiter, auf den Wald zu. Sie wusste, im Dorf konnte sie unmöglich bleiben. Zum Kloster wollte sie ebenfalls nicht, da würde dieser Ignatius sie sofort in ein Krankengewand werfen und ihr Beruhigungstees oder ähnliches geben. Doch sie hatte trotzdem Angst. Was, wenn die Wölfe sie abermals erwischten? Es wäre ihr sicherer Tod. Also lief sie nur am Waldrand entlang, in Richtung Kuhweide. Susanna hatte dort auch öfters die Nacht verbracht, selbst wenn es gefährlich war, sich daußen und auch noch nachts aufzuhalten. Rosina wusste, dass ihre Schwester es nur deshalb getan hatte, um den Befehlen und der Tyrannei ihres Vaters zu entfliehen, denn nur Susanna hatte das andere Gesicht ihres Vaters gekannt, bevor sie starb. Sollte Rosina die Nächste sein? Dass Franz sterben würde, war ja nicht vorhersehbar gewesen, schließlich hatte man ihn geschickt, um sie zu töten. Vielleicht hielt man Rosina ja schon längst für tot? Dann wäre sie vielleicht sicher. Für den Moment.

Liebe ist Vertrauen




Wenn das so wäre, hätte sie dennoch genug Zeit, um nachzudenken. Schließlich würde ihr Vater doch sicherlich etwas brauchen, um zu bemerken, dass sein Sohn gescheitert war. Und ihr war klar, dass der Tod seines einzigen Sohnes ihn aus der Bahn werfen würde. Andererseits würde es sie selbst noch mehr in Gefahr bringen, denn jetzt würde er sich an ihr rächen wollen, dass ihm sie seinen einzig wertvollen Nachkommen genommen hatte. Also schied der Wald auf jeden Fall aus, denn der war Wolfsgebiet.
Bevor Rosina die Kuhweide erreichte, kam ihr ein Gedanke, der sie selbst in ihrem Traum nicht mehr los ließ: Wieso lasse ich es nicht einfach zu, das mit Martin? Wenn ich sterbe, dann soll es so sein. Doch vielleicht sterbe ich ja gar nicht!


Sie wusste nicht, was sie von diesem Gedanken halten sollte. Einerseits war sie wirklich gewillt es zuzulassen, denn dann würde sie von demjenigen getötet, den sie liebte, und nicht von irgendeinem Anderen. Doch es machte ihr Angst, furchtbare Angst und sie sah, dass sie noch nicht bereit dafür war.
Sie kam mitten auf der Kuhweide zum Stehen und suchte nach einem geeigneten Platz zum Schlafen. Doch da war nichts, außer Gras und Blumen und Kühe, nichts, in dem man sich verstecken, unter dem man Schutz suchen konnte. Ratlos blickte sie sich zu den Kühen um, die um den Wassertrog verteilt herumlagen. Sie ging an ihnen vorbei und vereinzelt blickte sich eine Kuh kurz zu ihr um, um sich danach wieder ihrem Wiederkäuen zu widmen.
Rosina hätte gerne mit ihnen getauscht. So unbeschwert konnten sie leben, auf einem Paradies von Wiese grasen und den ganzen Tag gelangweilt sein, ohne die Angst, jeden Moment in eine Falle zu tappen oder ermordet zu werden.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass kein Wasser mehr im Trog vorhanden war, schwang sie sich hinein. Gegen ihre Erwartungen passte sie komplett in den Trog hinein, dessen Holz unter ihr drückte.
Sie sah zum Himmel hinauf, wo die Sterne aufmunternd zwinkerten und blinzelten. Sie hatte überhaupt nicht gewusst, wie müde sie eigentlich war, da war sie auch schon halb im Schlaf und die Augen fielen ihr zu.


Im Traum saß sie auf einer bunten, weiten, sonnenüberfluteten Blumenwiese und sah zu, wie ein dunkelhaariger, kleiner Junge mit seinem erwachsenem Ebenbild fangen spielte. Er kam ihr ungeheurlich vertraut vor, jedoch wusste sie nicht woher. Neben ihr saß ein Mädchen, schon fast im Damenalter, versunken in ein dickes Buch, murmelte etwas auf Latein vor sich hin und schien alles um sich herum auszublenden. Sie könnte Susanna sein, mit ihren langen, leicht gelockten Haaren, die ihr um den zarten Körper fielen, und der blassen Haut. Der Mann, der mit dem Jungen spielte, hielt unvermittelt inne und blickte zu Rosina auf. Kaum hatte er sie angesehen, breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus, das ihr eine Woge von Wärme in den Körper fluten ließ. Auf einmal wusste sie, wer der Mann war. Martin! Sie erstarrte und versteifte sich ruckartig, bis zu den Haarspitzen.
Martin schien es bemerkt zu haben, nahm den kleinen Jungen bei der Hand und kam zu ihnen herüber, während der Kleine rief: "Ich habe gewonnen! Ich habe gewonnen, Vater!"
Sein Vater lächelte ihm kurz zu und sagte: "Du warst aber auch echt unschlagbar!", dann wandte er sich wieder ihr zu mit besorgtem Blick. "Rosina, was ist mit dir, Liebling?"
Er blickte ihr in die Augen, die glitzerten, wie der Tau in der Morgensonne, während er sich vor sie kniete, die Hand des Kleinen losließ und ihre Hände in seine nahm.
Total überrascht erwiderte sie: "Es ist nichts, Liebling."
Beruhigt dadurch lächelte er und sie lächelte zurück. Seine meeresblauen Augen blickten tief in ihre und funkelten glücklich.
Doch mit einem Schlag schien die Welt sich von einer Sekunde zur Nächsten zu verändern. Sie hörte ein Surren und einen dumpfen Aufprall. Das Mädchen neben ihr schrie vor Schreck und Grauen auf und der kleine Junge stolperte zurück, fing an zu weinen. Martin keuchte unterdessen und Rosina merkte, wie er langsam vornüberfiel. Er kippte an ihre Brust und gab ihr die Sicht auf seinen Rücken frei.
Ein Pfeil steckte dort in seinem Kreuz und um ihn herum breitete sich nach und nach ein roter Fleck aus, der nicht aufhören wollte, größer zu werden.
"Was? NEIIN!", schrie sie voller Entsetzen und richtete Martin auf, um ihm in die Augen schauen zu können.
Dieser packte sie an der Schulter, als sei sie ein Rettungsring, der ihn vor den tosenden Fluten des Meeres bewahrte. Mit Tränen in den Augen beugte er sich zu ihr vor und küsste sie mit all seiner Leidenschaft, indess sie spürte, wie das Leben aus ihm hinausflutete, ohne Erbarmen, ihm noch ein wenig Zeit zu geben. Sturzbäche von Tranen flossen Rosinas Gesicht hinunter, sie wusste nicht was sie tun sollte, außer den Kuss zu erwidern.
Nun sackte sein Körper endgültig zusammen, fiel zur Seite, doch Rosina bettete Martins Kopf in ihrem Schoß. Sie presste die Augen zu, wollte die leeren Augen nicht sehen, in denen ihr geliebtes Glitzern fehlte und für immer erloschen war.
"Wieso?", schrie es in ihr und sie schluchzte hilflos.
Jäh ertönte eine gänzlich unbekannte Stimme, so nah, dass Rosina glaubte, sie sei aus ihrem Unterbewusstsein an die Oberfläche getreten, wo sie sich jeher verborgen hatte: "Schließ es.. Ja, so ist's gut! .. Dir ist doch wohl klar, dass das schon eher hätte passieren müssen, oder? Du hast sie zu lange machen lassen, was sie will. Und dann tötet sie auch noch deinen einzigen Sohn, ihren Bruder! Aber das, was mich am meisten erschreckt, ist, dass Martin sich ausgerechnet mit Sowas wie deiner Tochter einlassen konnte! .. Das wird ein Nachspiel haben. Und zuerst wird sie

dafür büßen!" Jemand lachte schallend, jemand Anderes kicherte.


Verwirrt öffnete Rosina die Augen und fand sich umgeben von Dunkelheit. Stickiger Dunkelheit. Konnte der Himmel überhaupt so dunkel sein, dass man überhaupt nichts sah? Nur im Wald gab es diese Dunkelheit, doch sie wusste, dass sie noch in dem Trog lag, dessen hartes, etwas feuchtes Holz sie nach wie vor unter ihrem Körper spüren konnte. Unsicher tastete sie vor sich, dem Nachthimmel entgegen und stieß gegen ein Hindernis.
Panik breitete sich in ihr aus und ließ das Blut in ihren Adern aufkochen. Der Schweiß brach ihr aus. War sie eingeschlossen? Wie konnte das geschehen, wenn sie doch in einem normalen Wassertrog lag? Sie drückte mit den Fingern gegen das Material, was sich anfühlte wie Holz. Nun kämpfte sie mit aller Kraft gegen das Holz an und nahm ihre Knie zu hilfe, da ihre Beine nun keine Freiheit mehr hatten, sich großartig zu bewegen, aber das Holz gab nicht um Haaresbreite nach.
Nun hämmerte sie verzweifelt gegen den Deckel, schrie aus Leibeskräften nach Hilfe, während sie merkte, wie der Sauerstoff immer weniger wurde. War das das Ende?
Hier konnte sie sowieso nicht gefunden werden. Sie war sich sicher, dass dies das Werk der Wölfe war. Die Dörfler würden ihr auch nicht helfen, schließlich war sie eine Verrückte und wenn sie weg war, dann war es umso besser.
Allmählich schwanden ihre Kräfte, immer lahmer waren ihre Schläge gegen das Holz, starrte sie schon geradeaus in die Ferne, nichtssehend. Ihr Herz schlug atemberaubend schnell, als wolle es in der kurzen Zeit noch die Herzschläge eines ganzen Lebens vollführen, während ihre Lungen wie wahnsinnig nach einem Rest Sauerstoff suchten. Sie machte sich bereit zu sterben. Ihr Kopf war leer und großartig Kraft für Gefühle hatte ihr Herz nicht mehr.
Sie fühlte sich wie lebendig begraben, in einem Sarg, der ein Leben spendender Trog zu sein pflegte und nun ihr Grab sein würde, neben muhenden Kühen.
Doch just in diesem Moment wurde der Deckel weggerissen und Jemand zerrte sie hinaus. Ehe sie jedoch sehen konnte, wer ihr Retter war, wurde es endgültig dunkel.

Impressum

Texte: Die von mir entwickelten Ideen dieses Buches gehören allein mir und dürfen nicht zu kommerziellen Zwecken und nur nach Nachfrage bei mir genutzt werden!
Bildmaterialien: www.allmystery.de
Tag der Veröffentlichung: 15.04.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
**** Jeder Mensch ist ein Mond und besitzt eine dunkle Seite, die er niemals Jemandem zeigt. - Mark Twain ****

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