Cover

Vorwort




Es mag vielleicht komisch klingen, doch dieses Buch habe ich ein ganzes Jahr lang geträumt

, jeden Traum ein Stückchen weiter, als würde ich das Buch bereits lesen! Ich war vielleicht elf, zwölf und mir war schon beim ersten Teil des Traumes klar, ich wollte ein Buch darüber schreiben.
Doch erst als ich gerade vierzehn geworden war, entdeckte ich eine Seite zum publizieren eigener Bücher und es erschien mir nun als eine gute Idee, das Buch online zu stellen und an dem Buch weiterzuschreiben. Denn - ich muss zugeben - die Motivation, die ich brauchte, hatte ich nicht. Vielleicht lag es daran, dass ich mein Buch mit niemandem teilen konnte. Oder vielleicht, dass es mir einfach ein bisschen sinnlos erschien.
Aufgrund dessen, dass ich äußerst kritisch mit mir selbst bin, wenn ich schreibe oder wenn ich zeichne, hatte ich ständig das Gefühl, irgendetwas würde an meinem Buch fehlen und bis heute weiß ich nicht, warum und was es ist.
Doch eventuell, wenn ihr wollt, könnt ihr mir helfen und mir sagen, ob es zu eintönig, zu langweilig oder zu trostlos ist. Was es auch immer ist, dass euch stören könnte. Ich wäre erfeut, euch dieses Gefühl zu nehmen und das Buch besser für euch alle zu machen! (:
Übrigens musste ich den Namen von Ariana O'hara in Katie O'Hara umändern, da ich diesen Vornamen für ein anderes in Aussicht stehendes Buch brauche. (;

Viel Spaß beim Lesen, Annika



Prolog




Mir wurde kalt, als ich sah, was sich in einem Raum mit hohen Fenstern im Parlamentsgebäude abspielte. Der Raum hinter den Fenstern war nur schwach erleuchtet und düster eingerichtet, vielleicht ein Arbeitszimmer. Mein Entsetzen löste die Gestalt aus, die von hier unten auf der Wiese auszumachen war: Martin Connely mit erhobener Pistole in der Hand, schrie jemanden an, den ich durch das Fenster nicht sehen konnte. Doch ich wusste, wer derjenige war.
War ich wirklich zu spät gekommen? War mein Vater verloren? Was sollte ich nur tun?? Wie konnte ich ihn aufhalten?
Wo war Jesse? Und wo war Hannah? Ich wusste dass sie hier war, auch wenn ich sie nur einen kurzen Augenblick zwischen all dem Chaos erkannt hatte. Sie war blitzschnell hinter einer unscheinbar wirkenden Tür verschwunden. Rennend. War sie gekommen, um meinen Vater zu retten? Aber wie sollte sie davon wissen und warum war sie nicht verletzt im Krankenhaus? Wieso war sie hier?
Und Jesse? Den hatte ich auch nicht wirklich gesehen. Doch ich war mir sicher, dass er hier war. Der Verräter. Und ich konnte trotzdem nichts dagegen tun, dass ich ihn liebte. Wenn ihm nun etwas zugestoßen war.. War es möglich, dass ihm überhaupt etwas zustoßen konnte? Immerhin war er stark und schnell. Er würde nicht einfach zu besiegen sein.
In dem Getümmel, was um mich herum stattfand, in dem Chaos, was ausgebrochen war, kaum war ich hier angekommen, konnte ich nicht feststellen, ob Feind oder Freund gerade zu Boden ging. Verschwörer kämpften gegen Ordensmitglieder. Neben mir brüllte James seinen Leuten Befehle zu, um vermutlich das Unvermeintliche zu verhindern. Den Tod meines leiblichen Vaters. Verzweiflung machte sich in mir breit, als ich sah, wie Luis sich an die Brust fasste, das Gesicht zu einer schmerzerfüllten Maske verzogen. Nein! Nicht auch noch Luis! Ich kämpfte gegen die Tränen, die über mein Gesicht rannen. Ich konnte hier doch nicht einfach so dumm herumstehen! Ich musste etwas unternehmen und zwar sofort!
"Katie, geh zurück zum Transporter und versteck dich! Du hast bis vor vier Stunden in einem winzig kleinen, dunklen Raum eingesperrt gesessen, sicherlich bist du erschöpft von der schnellen Fahrt hierher. Und bitte, hör dieses eine Mal auf mich!", brüllte James mir zu, ohrenbetäubend, dabei standen wir nur wenige Zentimeter auseinander und er packte meinen Arm und hielt ihn fest, als glaubte er, ich würde sofort weglaufen.
Doch ich wollte helfen! Ich wollte kein braves Mädchen sein und im Transporter versteckt warten und dabei zusehen, wie die Menschen, die ich liebte vor meinen Augen starben oder gar nicht zu wissen, was gerade mit ihnen geschieht, ob sie noch lebten oder bereits tot waren. Außerdem wollte ich wissen, wie es Jesse ging und was er vorhatte. Ich konnte einfach nicht tatenlos da stehen!
"Lass mich los, James!", rief ich und zerrte an seinem Griff, doch er ließ sich nicht abschütteln.
"Katie, tu es mir zu Liebe! Ich will nicht, dass dir etwas geschieht!"
Ich sah ihm in die Augen und er erwiderte meinen Blick. Tiefe Verzweiflung lag in seinem Blick, genau die gleiche, wie die von Jesse damals, als ich nicht auf ihn hören wollte und naiv wie ich war einfach in einen fremden Ort spazieren wollte, um nach etwas zu Trinken für mich zu gucken und zu vergessen, dass ich auf der Flucht war und überall nach mir gefahndet wurde. Konnte es wirklich sein, dass..? Dass er in so kurzer Zeit..?
"James..!", sagte ich verwundert.
"Katie, bitte, nur dieses eine Mal..", sagte er mit flehendem Blick.
Ich nutzte die Chance, als er seine Hand etwas von meinem Arm lockerte und riss mich los. Der Schwung war etwas zu stark, doch ich schaffte es, nicht nach hinten zu kippen, sondern drehte mich um und rannte, rannte auf die Tür zu, hinter der Hannah bis vor Kurzem noch verschwunden war und die immer noch in meinem Blickfeld gelegen hatte.
Ich wusste, dass es die letzte Möglichkeit war, meinen Vater zu retten. Ich würde mich sogar selbst opfern, was mir komisch vorkam, denn ich hatte meinen leiblichen Vater nie wirklich gekannt. Aber mir war vom ersten Moment klar gewesen, dass ich ihn retten wollte, mit allen Mitteln und wenn es das letzte war, was ich tat. Es ging hier schließlich nicht nur um mich!

Feinde und ihre Eigenarten




Von wegen toller Morgen! Ich starrte Hannah entsetzt an. „Du fandest den Tag also schön?! Er war grauenvoll. Genau das Gegenteil. Jeder Tag an diesem Internat ist der reinste Albtraum!“
„Dann heißt das also, dass ich als deine beste Freundin dir den Tag auch vermiese? Dass ich gar nicht nett zu dir sein brauche, deiner Meinung nach?! Ja, tut mir leid, wenn ich ständig Cradle of Filth höre und wie ein Mitglied eines Gothiczirkels herumlaufe. Tut mir leid! So bin ich nun einmal! Wir sehen uns in Deutsch. Viel Spaß bei Kunst! Vielleicht ist es ja besser, dass ich dir mal aus dem Weg gehe“, entgegnete sie beleidigt.
Ich wollte ihr noch etwas sagen, doch da war sie schon um die Ecke des Ganges verschwunden. Musste sie denn ständig so überreagieren, wenn ich mal etwas sagte, was sich gegen die Schule richtete im Allgemeinen und was sie allein im Grunde nicht verantworten konnte?! Fühlte sie sich ständig so angesprochen? Es gab doch nicht nur sie und mich auf diesem stinkenden Internat! Sie wusste ganz genau was ich meinte!
Ich lehnte mich gegen mein Schließfach. Das kalte Metall kühlte meinen erhitzten Kopf nur wenig, aber es tat gut. Was regte ich mich darüber noch so auf? Hannah beruhigte sich schnell und in der Mittagspause würde sie es schon vergessen haben. Ich nahm meinen Rucksack und ging langsam los. Nick Robb kam in Sicht und ich dachte, er würde wieder einen seiner Sprüche ablassen, doch nichts kam. Ich hatte jedoch ständig das Gefühl, er würde mich pausenlos anstarren. Er, mit seinen blauen Augen, mit seinem silberblonden Haar und seiner bleichen Haut. Er, der der bestaussehende Schüler der Jahrgangsstufe, ja, vielleicht auch der ganzen Schule war. Ich schaute auf den Boden und ging ohne ihm eines Blickes zu würdigen vorbei, den Gang hinunter zu den Kunsträumen. Meine dunkelbraunen Haare verdeckten mein Gesicht, hatte die Augen auf meine Schuhe gerichtet.
Ich bemerkte Stacy, die ebenfalls um die Ecke gebogen war und machte mich schon auf eine neue Mobbingattacke von ihrer Seite gefasst. Doch sie kam ebenfalls nicht. Kaum zu glauben, dass Stacy Thomas diesmal ohne auf mich zu achten an mir vorbei lief und versuchte Nick einzuholen. Sonst war sie immer scharf darauf, mich vor aller Augen zu demütigen. Doch was war an mir denn so schlimm? Nichts. Doch jeder, der mich anscheinend leider kennen musste, fand es abstoßend, wie ich mich kleidete, mit welchen Leuten ich mich abgab und was meine Hobbys waren. Es nervte echt an.
Kaum trat ich ins Klassenzimmer, da drehten sich alle Köpfe einmal in meine Richtung, dann kehrten sie an ihren ursprünglichen Platz zurück. Einige schauten dabei angeekelt auf meine Klamotten, oder meine Haare, in der eine blaue Schleife steckte, andere verzogen einfach nur den Mund zu einem spöttischen Grinsen. Ich verdrehte angenervt die Augen, ließ den Kopf hängen und ging unauffällig zu meinem Platz ganz hinten in der letzten Reihe, wo sonst niemand saß.
Wie so viele Tage auf dem Internat von Gjøvik, einer Kleinstadt im fast unbekannten Nordland, saßen die Schüler vor der Stunde im Kursraum auf den Tischen, während sie auf ihre Fachlehrer warteten und stritten sich über aktuelle Themen oder lästerten über den ein oder anderen Mitschüler oder Lehrer.
Das Hauptlästerthema der Schüler war ich. Ich, die vor zwei Jahren auf das Internat wechselte. Ich, die seit einem Jahr pausenlos und bei bester Gelegenheit gemobbt wurde. Ich, die mit ihrer seltsamen Art jeden abschrecken zu wollen schien. Es war alles so verkorkst. Nichts war wie früher.
Meine alten Freunde hatten sich von mir abgewandt und waren zu Stacy Thomas besten Freunden geworden. Es war manchmal nicht auszuhalten sie ständig bei ihr sitzen zu sehen. Sie hatten mich verraten, doch sie würden es bald bereuen, das spürte ich.
Stacy stürmte herein. Sie hatte wahrscheinlich die Zeit vergessen, als sie unterwürfig, wie ein Hund Nick hinterher getrottet war. Sie ließ sich auf ihren Stuhl plumpsen – was überhaupt nicht cool aussah – und fing direkt an zu quatschen, als ob sie nicht gerade zu spät gekommen war und ihre Freundin Melissa Parks sie verärgert mit ihren grauen, kalten Augen fixierte, da sie nicht auf sie gewartet hatte und direkt zu Nick gerannt war. Anscheinend war sie auch angenervt von Stacys kindischen Verhalten.
Doch Melissa war die Allerschlimmste, jedoch machte sie nicht viel Wirbel um ihren schlechten Charakter. Darum brauchte man ausgeprägte Menschenkenntnis, die man sich mit den Jahren anerkennen konnte, um genau zu erkennen, wie die Leute wirklich tickten.
Mrs. Walsh kam ebenfalls zu spät hereingestürzt, ihre bunten Schals flatterten hinter ihrer dürren Gestalt umher. Ihre Elefantenohrringe, die sie jeden Tag trug genauso wie ihre Schals, baumelten von ihren Ohren hinab. Das blonde, krause Haar hatte sie zu einem Knoten zugebunden und sie lächelte nun gehetzt in die Klasse.
„Guten Tag, Klasse. Entschuldigt meine Verspätung, aber Mr. Morton hatte mich aufgehalten“, verkündete ihre eigenartig krächzende Stimme.
Sie war nicht mehr die Allerjüngste an unserem Internat. Auch wenn sie erst sechsundfünfzig war, wirkte sie irgendwie schon wie ein ausgetrockneter Bonsaibaum.
Stacy flüsterte einer meiner ehemaligen besten Freundinnen hinzu, die neben ihr saß: „Ist doch klar warum. Die sind doch schon ewig ein heimliches Paar. Braucht die nicht um den Brei herumzureden!“
Linda kicherte belustigt und nickte. Durch diesen gut vernehmlichen Kommentar wurde Mrs. Walsh derartig rot, dass man meinen könnte, man habe sie mit roter Acrylfarbe angemalt.
„So, ihr habt nun zwei weitere Stunden Zeit eure Gemälde fertig zustellen. Ab, je mehr Zeit ihr braucht desto schlechter wird eure Note!“
Das war natürlich nur eine leere Drohung. Mrs. Walsh bewertete immer alles nach Ordentlichkeit und Kreativität. Da war es ihr auch einmal egal, ob jemand dafür fünf Wochen oder nur eine Stunde gebraucht hatte.
Ich ging hinter den anderen her in den Aufbewahrungsraum. Dort an er Wand lehnte meine Leinwand. Wir sollten als Wiederholung aus der achten Klasse einen Ausschnitt von einer Comicfigur zeichnen. Da ich nur Manga, eine japanische Comicart, die durch ihre großen Augen annähernd bekannt wurden, zeichnen konnte, hatte ich einen Ausschnitt meiner Lieblingsfigur gemalt. Ich war gerade dabei meinem Gemälde den letzten Schliff zu geben, da trat Mrs. Walsh an meinen Platz.
„Aus welchem Comic ist denn das? Das sieht mir nicht aus wie ein Comic.“
„Das sind Manga. Diese Figur hier ist aus dem Manga „Elfenlied“ und meine Lieblingsfigur.“
Ich war erstaunt, dass sie diese Art Comic nicht kannte.
„Na ja, ich muss zugeben: Es sieht gut aus! Mach weiter so.“ Und sie ging weiter.
Ich dachte mir nur: Hä?

, aber ich machte mir nichts draus und malte einfach weiter, denn eigentlich hasste Mrs. Walsh alles, was sie nicht kannte und verbat alles, was damit zu tun hatte, aus irgendwelchen unbekannten Gründen. Stacy Thomas knallte ihre Leinwand grob auf den Tisch neben mir.
„Mrs. Walsh, muss ich wirklich neben der da malen? Die kleckst bestimmt alles voll und zerstört hinterher vielleicht sogar mein Kunstwerk!“ Mrs. Walsh sah hochmütig drein.
„Ich würde meinen, dass dein Bild annähernd schon so aussieht, wie das, was du mir eben beschrieben hast, Herzchen. Du malst neben Katie, von ihr kannst du noch eine Menge lernen. Kleine Göre!“
Sie wandte sich ab und bewertete Lindas Porträt eines.. - Wie auch immer. Stacy schnaubte bestürzt und beleidigt.
„Wenn ich sehe, dass du mein Bild auch nur anschaust, wirst du gelyncht. Ist das klar?!“, flüsterte sie so kalt, dass die größten Gletscher vor Neid schmelzen könnten und doch klang dies eine Spur zu zittrig, um ernst genommen zu werden.
Ich verdrehte die Augen. Wie erbärmlich. Ich wagte zu behaupten, dass Stacy grade wirklich verunsichert wurde. Mit so etwas hatte sie nicht gerechnet. Vor allem nicht von Mrs. Walsh! Kaum zu fassen, bei Stacys Anblick könnte ich mich auf dem Boden umherrollen und mich vor Lachen nicht mehr einkriegen. Wie sie da so erschrocken und ängstlich, wie ein kleines Kaninchen stand, ohne die geringste Ahnung, wem oder was sie jetzt die Schuld an ihrer Fassungslosigkeit geben konnte.
Doch ich bemühte mich, cool zu bleiben und einfach weiterzumalen. In einer ähnlichen Form, wie ich, jedoch nicht gerade erfolgreich, tat dies auch gerade Nick mit seinen Kumpels neben uns. Ich starrte ihn erstaunt an. Ich dachte Stacy und er wären ein Herz und eine Seele. Wie man sich in Menschen täuschen kann. Das war eine positive Wendung. Das erbärmliche Bündel neben mir folgte meinem Blick und sah Nick erschrocken an. Dieser versuchte vergeblich sich das Lachen zu verkneifen, doch es half nichts. Er prustete los, als sie ihn ansah.
Ich konnte auch nicht an mich halten und schlug mit der Faust auf den Tisch, während ich mich vor Lachen kaum noch einkriegte. Dieses Mädchen war aber auch zu urkomisch! Wie man sein Selbstvertrauen auch bekommen kann, es gibt verschiedene Varianten. Der Eine glaubt einfach an sich, der Andere bemindert seine Mitmenschen, um besser dazustehen. Das Zweite traf auf Stacy zu.
Stacy liefen Tränen übers Gesicht. Dann schluchzte sie, drehte sich um, warf Nick noch kurz einen verletzten Blick zu und stürzte hinaus.
„Hey! Ich sage, wann die Stunde zu Ende ist! Hier geblieben, Fräulein! Das schreibe ich mir auf, dass du einfach schwänzt! Und deine Mutter hört auch noch von mir, merk dir das!“
Ich sah Mrs. Walsh an, lächelte und zeigte ihr den Daumen nach oben. Alle lachten, nur Linda, Melissa und ihre anderen Häschen rund herum sahen etwas geknickt aus. Sie hatten wirklich wenig Selbstvertrauen, wenn man an ihnen nur irgendeine Sache schlecht machte. Es war doch einfach klar, dass die Beliebten manche Personen einfach nur runterziehen, weil sie wissen, dass diese Person vielleicht ansehender sein könnte, als sie selbst. Sie haben Angst davor, selbst ausgelacht zu werden. So etwas war echt ziemlich bescheuert und arm. Mrs. Walsh war also doch nicht so ohne, wie man glauben mochte. Das war wirklich ein Rekord für sie!

Nach den beiden Kunststunden ging ich am Lehrerzimmer vorbei. Stacy war nicht wieder zurückgekehrt und Mrs. Walsh hatte mich nach der Stunde noch mal zurückgerufen und mich nach Stacys Nachnamen, sowie Zimmernummer im Internat gefragt. Ich hatte mir die Notiz angesehen, die Mrs. Walsh an die Schulleiterin geschrieben hatte.
„Bring das bitte sofort zu Mrs. Grant“, hatte sie gesagt und ich hatte es mit Vergnügen angenommen.
Ich ging also hinein in Mrs. Grants Büro und gab es ihr mit den Worten: „Das ist eine Notiz für Sie von Mrs. Walsh.“
Als ich dann wieder hinaus ging sah ich, wie Stacy ohne irgendjemand anderen zu bemerken in das Büro, aus dem ich gerade kam, hineinstürzte und begann die Schulleiterin anzumeckern. Unbemerkt lehnte ich meinen Kopf gegen die angelehnte Tür und hörte neugierig zu.
„Ist dieser Brief von Mrs. Walsh? Wenn Sie ihn schon gelesen haben kann ich ihnen sagen, dass das vollkommender Quatsch ist, was die da schreibt! Sie können doch nicht dulden, dass Mrs. Walsh weiterhin unterrichtet! Sie ist total parteiisch! Merken Sie das denn überhaupt nicht? Sie benachteiligt mich und macht mich vor allen runter! Ist das für Sie fair?“
Mrs. Grant blieb ganz ruhig. So etwas bekam sie jeden Tag zu hören, wie es aussah.
„Miss Thomas, das ist es vielleicht nicht. Aber nachdem ich gerade die kurze Notiz von Mrs. Walsh gelesen habe bin ich eher davon überzeugt, dass Mrs. Walsh einen guten Grund hat, sie einmal in die Schranken zu weisen. Und außerdem haben Sie sich schon einmal Ihre Akte angeschaut? Es ist richtig, dass man Sie etwas härter ran nehmen muss. Glauben Sie, dass Sie sonst noch Ihren Abschluss schaffen? Das ist zu bezweifeln, wenn Sie mich fragen. Wirklich. Ich rate Ihnen, dass sie härter arbeiten. Und eins noch: Man hat Ihnen, verzeihen sie, dass ich das Ihnen jetzt so direkt sage, offenbar ordentlich etwas in den Hintern gestopft, dass Sie sich bei mir beschweren, wegen so etwas! Es ist Mrs. Walshs gutes Recht ihnen zu sagen, wie Sie sich in ihrem Unterricht zu verhalten haben und es ist vollkommen in Ordnung, wenn Mrs. Walsh mir einen weiteren Überblick verschafft, was Sie sich in ihrem Unterricht leisten, denn wie ich höre, ist das nicht das Einzige was im Kunstunterricht durch Sie passiert“, sagte sie daraufhin.
„Ach, das glauben sie. Sie wissen, dass ihre privaten Einnahmen rapide sinken würden, wenn ich dieser Schule verwiesen werden würde? Sie wissen, dass ohne mich kein Nachrichtensender in Nordland ein Sterbenswörtchen über dieses Internat verlieren würde? Wenn ich nicht bei diesem international erfolgreichen Krimi mitgespielt hätte und dafür gesorgt hätte, dass ein paar der Szenen in diesem Internat stattfinden würden, hätte keiner in den USA, keiner in Spanien, in Deutschland, sogar im Süden des Landes etwas von diesem Internat erfahren! Seien Sie sich dem bewusst, Frau Schulleiterin!“, erwiderte Stacy hochnäsig, jedoch auch forschend, drohend.
„Wollen Sie mir etwa drohen, Miss Thomas? Ihnen ist doch wohl klar, dass ich mich nicht bestechen lasse, oder? Ich werde mich nicht auf ihr Niveau herunterlassen und einknicken, nur weil diese Schule einen Hauch an Anerkennung gewonnen hat durch ihr schauspielerisches Talent! Ich bin eine disziplinierte Frau und ich empfinde es als eine Diskriminierung, mich von Ihnen bestechen zu lassen! Zwei Wochen Nachsitzen und kein Zivil! Und damit sie es wissen: Unser Fußballteam ist landesweit als eines der besten bekannt und macht ihren Erfolg lange schon wieder wett. Ich lasse mich nicht von einer neunmalklugen Schülerin erpressen, deren schulische Leistungen stetig ein neues Tief erreichen. Für so etwas habe ich nicht viel Zeit! Und bitte gehen Sie und klären Sie diesen einen Zwischenfall mit Mrs. Walsh. Und.. Ihre Mutter wird nicht als Anwalt für Sie von Nöten sein, glauben Sie mir, Miss Thomas! Guten Tag!“
Erst Mrs. Walsh und dann auch noch Mrs. Grant? Es war zwar wirklich dreist von ihnen, Stacy so hart dran zu nehmen. Aber wenn es die Wahrheit war? Vor ihr konnte man wirklich nicht davon laufen. Es stimmte, dass Stacy schon einigen Mist getrieben hatte, vor allem in den Wochen, wo die Zeugnisse ausgearbeitet wurden. Man sagte ihr, sie würde in fast jedem Hauptfach eine fünf oder schlechter bekommen, so hatte sie jedoch auf dem Zeugnis mindestens eine drei. Natürlich war so etwas sofort aufgeflogen. Acht Wochen Arrest waren es wirklich nicht wert gewesen. Das war klar. Ich ging schnell zur Seite, als ich die aufgebrachte Stacy auf mich zukommen sah. Sie stieß absichtlich leicht mit mir zusammen.
„Hey, was stehst du so im Weg rum? Und übrigens; dir werde ich es ohnehin heimzahlen, Emobacke. Glaubst du wirklich, dass ich das über mich ergehen lasse? Ihr seid alle dran, alle!“
„Hach, ist da jemand sauer? Meine Güte, Kritik verträgst du aber gar nicht. Ist dein Nickilein auch dran, nur weil er gelacht hat? Es war eben lustig und wenn du mich fragst, ist eure Beziehung doch eh für den Müll. Ihr seid doch nur zusammen, weil ihr beide beliebt seid! Mehr Gemeinsamkeiten habt ihr doch gar nicht! Und ehe du mir noch etwas über euch erzählst, halt’ lieber den Rand. Ich möchte nichts über Speichel austauschende Vollidioten wissen! Und nun drehen wir einmal den Spieß um. Glaubst du wirklich, dass Mrs. Grant dir noch ein Wort glaubt, nachdem du zwei mal dein Zeugnis gefälscht hast und dafür acht Wochen Arrest kassiert hast? Glaubst du das wirklich? Sieh es ein, Mädchen. Du bist einfach erbärmlich! Selbst Nick, dein ach so toller Vollidiotenfreund hat über dich gelacht. Das sagt alles.“
Ich wandte mich ab und wusste mal wieder, dass es mir bald ziemlich schlecht gehen sollte.

Es war in der Kantine wie immer rappelvoll. Ich war froh, dass Hannah nach unserer Auseinandersetzung mir einen Platz freigehalten hatte. Nicht, dass sie mich darauf angesprochen hätte, was vor Kunst passiert war. Sie war die Vergebensfroheste unter uns, jedenfalls von denen, die ich kannte und schätzte. Sofern Stacy und ihre Kumpaninnen mich irgendwann einmal in Ruhe lassen sollten, würden sie sicher noch mehr als ohne schon über meine beste Freundin herziehen, doch viel würden ihr die ganzen Mobbingattacken wahrscheinlich nicht ausmachen. Ich wunderte mich darum nicht.
Charlie, das Mathe-Ass war auch schon da. Er hatte seine Hornbrille durch eine Pilotenbrille ersetzt, dabei war es schon November und kaum ein Sonnenstrahl schaffte es durch die Wolken und den Nebel. Außerdem hatte man vergessen ihm zu sagen, dass Sonnenbrillen eh nicht mehr angesagt waren.
„Also, manchmal verstehe ich dich echt nicht, Charlie. Warum hast du diese komische Sonnenbrille im November auf? Was bringt dir das?“
„Tja, Vanessa fand’s toll.“
„Sehr wahrscheinlich lästert sie grade wieder mit Stacy über uns“, sagte Hannah geistesabwesend und gleichgültig und nahm sich ein Stück Pizza.
Ich schnaubte verächtlich. Vanessa Howard war meine ehemalig beste Freundin, bis sie unter Gruppenzwang derartigen Verwirrungen erlag, dass sie mich verriet und zu Stacy überwechselte, dieser arroganten Kuh. Ich hatte ihr diesen Verrat immer noch nicht verziehen und glaubte auch nicht daran es irgendwann zu tun.
„Na, was hat die Alte zu deinem „komischen Comic“ gesagt?“, wandte Hannah ein, die beim Sprechen genüsslich in ein Stück Pizza biss.
Sehr gute Tischmanieren, wirklich. Ich rümpfte die Nase. Sie bemerkte es und bekam direkt große Augen, wie sie es immer tat, wenn sie ihrem eigenen Humor wieder einmal freien Lauf ließ. Er war etwas ironisch und ihre Sprache wurde dadurch meistens etwas altmodisch, wie man schnell bemerkte.
„Ach, verzeih mir, wenn ich wieder mal etwas getan habe, was dir missfällt. Aber sage mir nur eins, liebste Freundin Katie, wie kann ich es wieder gut machen? Ich denk da echt nie dran, nimmst du es mir bitte nicht übel?“, sagte Hannah auf meine Reaktion mit einem zugegeben etwas schrägen und wie immer ironischen Spruch, den sie schon x-mal benutzt hatte, wenn mir irgendwas nicht gefiel und ich daraufhin die Nase rümpfte.
Charlie und ich lachten schallend.
„Na ja, sie kannte diese Art von Comic nicht. Ich wette mit dir, sie wird direkt in der nächsten Pause zum PC gerannt sein und den Begriff in Wikipedia nachgeschaut haben, um zu prüfen, ob es diese Art Comic überhaupt gibt. Warum kennt sie als Kunstlehrerin keine japanische Kunstkultur, sondern nur ich? Sind denn damals alle so steckengeblieben?!“
„Das kommt heute auch häufiger vor, wenn du mich fragst“, sagte Hannah und schielte zum VIP-Tisch hinüber, an dem – wie hätte man es nicht ahnen können – Königin Stacy und König Nick der Forest-Boarding-School mit ihren Untertahnen saßen und sich bedienen ließen.
Ich nickte und fuhr einfach da fort, wo ich aufgehört hatte: „Ach, nicht zum Aushalten, was man alles so erklären muss. Dabei sind es die Lehrer doch, die uns was beibringen sollen! Ach ja, apropos Stacy, ihr werdet nicht glauben, was eben in Kunst los war. Hoho! Das war echt richtig lustig! Wisst ihr, Stacy hat wieder mal einen Spruch über die Beziehung von Mr. Morton und Mrs. Walsh gelästert, aber so laut, dass die das mitbekommen hat. Dann später, als wir schon am malen waren, musste Stacy neben mir malen. Das war ihr ja ebenfalls mal wieder nicht recht und sie hat rumgemeckert, als würde ihr jeder zu Füßen liegen und alles dafür tun, dass sie das bekommt, was sie sich wünscht. Dann meinte Mrs. Walsh was richtig Beleidigendes zu sagen und dann war sie ruhig. Ihr hättet ihr Gesicht sehen sollen. Der Blick war zu göttlich, echt! Nick Robb hat voll gelacht und daraufhin ist die eben richtig sauer und weinerlich raus gerannt. Dann eben beim Lehrerzimmer wurde sie dann auch noch von Mrs. Grant runtergemacht, bei der die sich beschwert hatte. Und nicht nur das. Stacy hat versucht, Mrs. Grant zu erpressen! Hättet ihr das von ihr erwartet? Die wollte sie mit dieser Aufmerksamkeit, die unser Internat durch ihren Film bekommt dazu bringen, sie auf dieser Schule zu lassen. Aber der müsste doch klar sein, dass sie ohnehin schon mit halbem Fuß draußen ist! Und Mrs. Grant hat sie dann voll zurückgewiesen. Das ist zu geil! Der soll man echt mal die Meinung geigen.“
„Haha! Wuhu, die Lehrer zeigen’s den – ..Ach egal, so etwas ist nicht würdig genug, dass ich fluche. Aber von Mrs. Walsh hätte ich so was nie im Leben erwartet!“, sagte Hannah.
„Mega cool!“, brachte Charlie nur heraus.
Als wir uns wieder eingekriegt hatten fragte ich: „Was war bei euch so los?“
„Ach, nicht viel, außer dass Michael sich wegen einem Kuhauge übergeben hat! Haha!“, kicherte die Pizza verschlingende Hannah neben mir.
„Mathe war.. Na ja, o.k. Also, Mr. Oken muss mir ja eh nichts mehr beibringen, aber der hat mich grade in Mathe mit den anderen Typen allein gelassen, weil er ja irgendetwas „vergessen“ hatte und er mir die Aufgabe erteilt hat, dem dummen, pubertären Rest alles noch einmal zu erklären. Ich finde wirklich, dass alle steckengeblieben sind. Ich sage es ja nicht gerne, aber wir sind immerhin sechzehn und sollten langsam mal erwachsen werden, alle zusammen, oder? Ich meine, genauso gut hätte ich aus dem Fenster springen können. Die hätten das doch eh nicht gemerkt!“
Ich prustete los, jedoch wurde ich direkt wieder ernst. „Sie hätten es gemerkt, wenn du aus dem Fenster gesprungen wärst, denn ich glaub denen wäre nichts lieber als dass du’s tust, denk ich.“
Ich genehmigte mir nun auch ein Stück von der Pizza, von der Hannah schon die Hälfte verschwinden hatte lassen. Charlie kaute an seinem Baguettebrötchen herum und sah uns angewidert zu, wie „wir schon am Mittag so viel Pizza verdrücken konnten“! Als ich ihm scherzhaft auch ein Stückchen anbot, schaute er mich mit seinen smaragdgrünen Augen komisch an und schüttelte den Kopf.
„Hm, gleich Deutsch. Igitt, dieser Morton hat heute morgen wirklich Mrs. Walsh aufgehalten. Sonst wäre die nicht so rot geworden, als Stacy diesen Kommentar abgeben hat. Ob die wirklich ein Paar sind? Na ja okay, Stacy und die anderen Vögelchen sind ja davon überzeugt. Aber es könnt schon sein,.. Oder?“
Die beiden nickten nachdenklich. Hannah verzog plötzlich das Gesicht.
„Igitt! Ich stelle mir grade vor, WAS die da gemacht haben könnten! Bah!“
„Warum musst du auch immer an so was denken? Herrgott noch mal! Dich kann man echt nicht mehr retten!“, lachte ich.
Es klingelte.
„Och, nee! Jetzt haben wir Deutsch mit Mr. Morton! Da muss ich mir noch mehr vorstellen was die ständig machen!“, fing Hannah wieder an zu maulen.
„Mann, Hannah! Kannst du auch mal normal und unpervers denken?“, sagte nun auch Charlie angenervt.
Er musste wirklich angenervt sein, denn er nahm die Sonnenbrille ab, schüttelte seine dunklen, kurzen Strähnen, die ihm ständig ins Gesicht fielen, aber nicht länger waren als bis auf die Höhe seines Mundes und legte sein Baguette beiseite. Wie konnten nur Schwule immer so gut aussehen?
„Unpervers? Seit wann gibt es denn dieses Verb?!“
„Hannah.. Das ist ein Adjektiv..“, sagte ich gelangweilt, jedoch belustigt.
„Oh, ja.. Ich verwechsle das mit sechzehn immer noch. Wie peinlich!! Ich bin einfach nicht gut in Deutsch. Wenn man mich fragen würde, was ein Akkusativ ist, würde ich glatt denken, der hat sie nicht mehr alle und will mich verarschen!“
Hannah war wirklich etwas verpeilt und merkwürdig, aber sie war echt die beste Freundin, die man sich nur wünschen konnte. Zwar legte sie viel Wert darauf immer ihre schwarzen Klamotten, unter anderem ihren langen Ledermantel und ihre violetten Kontaktlinsen zu tragen, aber ansonsten war sie „ganz normal“. Wir machten uns auf den Weg zu Deutsch. An der Tür stießen wir auf Nick und Stacy, die sich verzogen, als sie uns drei erblickten. Die beiden schauten ziemlich gereizt.
„Huch, da gibt es wohl richtig dicke Luft. Hoffentlich trennt sich das Traumpaar bald. Nick hat eine bessere verdient.“
„Hannah, meinst du etwa dich? Nick steht eher auf brave Mädchen, die am besten blonde Haare haben. Wir sind da fehl am Platz.“
„Das glaubst auch nur du! Ich reserviere ihn mir. Und wehe, einer schnappt sich ihn vor meiner Nase weg! Ist das klar? Und außerdem: Seit wann ist Stacy bitte brav? Die will ich mal brav erleben! Das ist doch ein Fremdwort für die! Aber Nick gehört mir, okay?!“
„Ja, Mädchen! Ich bin doch nicht schwul!“, warf Charlie energisch ein.
Hannah und ich sahen uns von der Seite her unauffällig an. Also darüber konnte man über Stunden, vielleicht auch Tage diskutieren…

Hannah stupste mich im Unterricht ständig an, doch ich reagierte nicht darauf. Ich wusste ganz genau, dass sie wieder ihre ordinären Vorstellungen ausplaudern wollte, doch nicht jetzt. Außerdem war ich nicht besonders interessiert, diese absurden Vorstellungen nun auch in meinem Kopf zu haben. Mr. Morton leierte seinen üblichen Vortrag herunter. Tatsächlich sah er etwas wie ein Geier aus, wie Charlie hinter mir die ganze Zeit verdruckst kicherte und er froh sein konnte, dass der Deutschlehrer es nicht hörte.
„Ich sage euch eins, liebe Kinder, wenn ihr in Zukunft keine gute Sprache beherrscht und nur „Ey, alter“ ruft, bringt euch das gar nichts. Es muss alles höflicher klingen, sonst könnt ihr jetzt direkt Arbeitsloser werden! Daran wird sich dann auch nichts ändern. Meinen Sie, Joanne K. Rowling oder Stephenie Meyer hätte sonst eine Buchreihe hervorbringen können, die heutzutage weltberühmt und beliebt ist?“
Meine Gedanken schweiften ab. Die Lehrer an diesem Internat waren nicht besonders locker und modern. Sie waren meistens alle alt, manche waren vielleicht dagegen noch jung, aber dann ziemlich unsympathisch und lebten noch bei Mami. Der Unterricht bestand im Grunde nur aus ellenlangem Gelaber über irgendetwas Unwichtiges oder über das Fach selbst, während der Lehrer durch die Klasse ging und jeden einzeln ein paar Sekunden anstarrte.
Bei Mrs. Steinberg gab es zusätzlich noch eine Nagelfeile, die sie während des Sprechens benutzte. Der ganze Nagelstaub lag dann auf dem Pult und man hielt es nachher wie Kreide. Es war einfach scheußlich. Oder Mr. Kruger, der sich während dem Experimentieren von verschiedenen, unwichtigen Stoffen immer wieder die Nase geputzt hatte und das Taschentuch dann auf den Tisch von einem geklatscht hatte, der nicht genug aufpasste und außerdem spuckte er leidenschaftlich gerne, sodass manche es sogar wagten einen Regenschirm aufzuspannen.
Jemand gab mir einen heftigen Stoß von der Seite. Ich kehrte wieder in die Gegenwart zurück und sah, wie der ganze Kurs zu mir herüberblickte.
„Katie Connely, seit wann schreit man bitte mitten im Unterricht „Bah“, wenn gar nichts widerliches in unserem Fach vorkommt? Da musst du schon zu Biologie gehen.“
„Hä? Ich habe nicht bemerkt, dass ich „Bah“ gesagt habe..“
„Ich glaube, du bist heute nicht gut aufgestanden. Ist das so?“
Mr. Morton wirkte, wie erwartet, nicht besonders überzeugt. Ich nickte allerdings tapfer.
„Dann geh mal etwas Kaltes trinken. Vielleicht hilft dir das ja, um wach zu werden!“
Ich stand auf, ging zur Tür und in Richtung Toiletten, nachdem ich beschlossen hatte mir eine Erfrischung vom Waschbecken zu genehmigen. Wie konnte man durch etwas Kaltes trinken wach werden? Das musste mir mal jemand erklären. Eine kalte Dusche, oder eine große, heiße Portion Kaffe wäre da eher vorstellbar gewesen. Nur leider mochte ich nicht besonders gerne Kaffee und für duschen war keine Zeit. Außerdem war ich doch gar nicht müde!
Kopfschüttelnd und augenverdrehend bog ich um eine Ecke und stieß mit irgendetwas zusammen.
„Pass doch mal auf wo du hinrennst! Mein Gott. Brauchst du 'ne Brille?!“ Melissa Parks war zu Boden gegangen.
„Sorry, nicht meine Absicht..“, sagte ich mechanisch und genervt, ohne darauf zu achten, ob sie sich wehgetan hatte und ging weiter.
„Ach, du schwänzt gerade? Warum bist du nicht bei Mr. Morton und schmachtest ihn an? Ich sehe doch, dass du auf ihn stehst! Und was ist mit Mrs. Walsh und Mrs. Grant? Die stehen total hinter dir! Hast du die mit Geld erpresst, dass sie Stacy so fertig machen? Das hat sie gar nicht verdient! Du solltest verbrannt werden! Und zwar bei lebendigem Leibe! Und ziemlich schmerzhaft! Dann weißt du, wie es ist, von dem, dem du so viel Vertrauen schenkst, ausgelacht zu werden! Du weißt ja nicht, wie Stacy sich fühlt!“, rief sie mir nach.
Mir platzte der Geduldsfaden. Ich drehte mich zu ihr um.
„Hach, mein Gott, Stacy wurde ausgelacht, während andere Menschen vielleicht sterben! Oh mein Gott! Die ganze Menschheit guckt gerade zu und hat Mitleid mit der armen Stacy Thomas, wie sie sich mit ihrem tollen Freund streitet. Aber die Sterbenden und Hungernden werden natürlich nicht beachtet, wenn Stacy Thomas sich gerade schlimm betrogen fühlt! Mein Gott, was für eine Tragödie! Aber jetzt mal ehrlich: Habt ihr denn alle einen an der Waffel?! Was interessiert es mich, wie es Stacy, oder dir, oder irgendwem anders aus eurer kranken Gemeinschaft geht?! Meinst du, darum würde ich mich scheren, wenn sie mich nicht die ganze Zeit dumm von der Seite anmachen würde? Ich glaube, selbst dann würde sie mir nicht leid tun. Sie ist ein Stück Dreck, ein Biest, was zu lange gefüttert wurde und dann freigelassen wurde und ihr, ihr seid nur ihre Marionetten, die nach ihrer Pfeife tanzen und versuchen, am meisten Respekt von ihr einzuheimsen! Geht wieder dorthin, von wo ihr gekommen seid!
Und außerdem. Was ist mit dir, hm? Du machst doch mit jedem Lehrer rum, nur um an gute Noten zu kommen. Da sagst du mir, ich würde Lehrer anschmachten? Seit wann, bitte?! Und ich weiß ganz genau, dass du alle davon überzeugt hast, dass Maggie Wonder gekifft und gedealt hätte. Angeblich. Und wie lächerlich das klingt! Maggie und kiffen? Ich bitte dich! Da hättest du dir etwas Glaubwürdigeres einfallen können. Ich dachte nicht, dass du so dumm wärst!
Aber soll ich so was mal zufällig ausplaudern? Was machst du denn hier überhaupt? Solltest du nicht auch in Deutsch sitzen?! Meine Güte aber auch!“ Ich wandte mich ab.
Ihre schneller werdenden Schritte entfernten sich. Sie würde es mir heimzahlen, das wusste ich genau. Doch im Moment kümmerte es mich nicht. Solche Mädchen wie Melissa gingen mir richtig auf den Keks. Keine von ihnen schien ihr Köpfchen darauf zu verwenden gut in der Schule zu sein, oder es für sonstige, sinnvollere Sachen einzusetzen, als Intrigen und anderes zu schmieden. An diesem Internat wurde so viel gelinkt und ein verlogenes Spiel gespielt. Lange hielt ich das nicht mehr aus. Was hatten sich meine Eltern nur gedacht mich auf ein Internat zu stecken? Ich hing hier fest. Zwar war es nur noch ein Nachmittag, bis ich über das Wochenende nach Hause kam, aber es war immerhin noch ein ganzer, langer Nachmittag.
„Hey, Emobacke! Was willst du denn hier so alleine? Dachte, du hättest Deutsch! Na schwup, ab zurück in den Unterricht, Fräulein!“
Die Stimme war überraschend nah. Ich hatte gar nicht gemerkt, wo ich hinlief. Woher wussten denn überhaupt alle, was für ein Fach ich grade hatte? Haben die sich alle meinen Kursplan kopiert oder was??
Ohne den Typen, der mich versuchte einzuschüchtern, zu beachten ging ich weiter. Inzwischen war ich in der Kantine. Dort saßen noch einige Schüler, die jetzt ihre Freistunde genossen und sich gar nicht um die Gegenwart einer unbeliebten Person kümmerten. Sie kauten an ihren Brötchen rum, warfen sich mit Salat ab, oder lernten noch ein bisschen Grammatik vor der nächsten Klausur. Zum Glück war morgen Samstag. Meine Eltern hielten mich eh für Luft und ich hatte meine Ruhe.
Nick Robb hatte anscheinend eine Freistunde. Er saß mit seinen Kumpels aus Kunst am Fenster und lachte über irgendwas oder irgendwen. Als ich ihn ansah, blickte er auf und starrte mich an. Zwar immer noch ein Lächeln im Gesicht, jedoch war es nicht warmherzig, sondern wurde abweisend, einschüchternd, höhnisch und hasserfüllt zugleich. Seine plötzliche Haltung gegen mich war beängstigend. Ich sah zu, dass ich Leine zog.
Auf dem Klo genehmigte ich mir eine Hand voll Wasser, die ich mir ins Gesicht klatschte. Da ich wasserfestes Make up trug, weil ich immer sicher ging, dass ich nachher nicht im Schulpool landete und mit schwarzem Gesicht herumruderte, machte meinem Gesicht so etwas nichts aus. Ich sah in den Spiegel. Meine grünlich braunen Augen, umrahmt von dunklem Kajal, sahen mich an. Die Toiletten im Hintergrund waren voll mit Edding bekritzelt. Ohne meine Brille und mit Kontaktlinsen sah ich eigentlich ganz hübsch aus.
Ich betrachtete den Hintergrund meines Spiegelbildes. Mädchen, die mit jemandem zusammen waren hatten ihren Namen mitsamt dem des Jungens, dem sie verfallen waren dort verewigt. Die weißen Kacheln an den Wänden waren nicht mehr weiß, sondern grau. Dieser Raum hatte dringend eine Renovierung nötig. Manche Toilettentüren waren von meinem Namen verschmutzt worden. Nach ihm folgten üble Verspottungen und Beleidigungen, die ich jedes Mal ignorierte.
In Erinnerungen vertieft, wie diese ganzen Schriftzüge entstanden waren, bemerkte ich nur plötzlich im letzten Moment eine Bewegung hinter mir, nachdem ich aufhorchte, da ich eine Toilettenkabinentür quietschen gehört hatte. War ich doch nicht alleine hier? Ich war gerade dabei herumzufahren, da wurde ich von einem harten Gegenstand aufgehalten, den Jemand gegen meinen Schädel donnerte. Ein heftiger Schlag, ein stechender Schmerz, ein Verschwimmen des Blickes, ein Einknicken der Beine, dann nichts mehr.

Ein Leben, eine Lüge




Mein Kopf pulsierte. Es schmerzte so sehr, dass ich einen leisen Schrei ausstieß. „Bist du wach? Geht’s dir gut?“ Ich öffnete die Augen.
Hannah saß neben mir, starrte mich an. Das Gesicht verziehend fasste ich mir an den Kopf.
„Ich fühl mich, als wäre ich tot, oder gegen eine Wand gekracht, oder so“, entgegnete ich.
Meinen Kopf abtastend fand ich endlich wonach ich suchte. Ein feuchter Verband. Erschrocken sah ich meine Hand voller Blut und mit großen Augen sah ich Hannah an.
„Was?! -“
„Das wollten wir alle eigentlich dich fragen. Du wurdest anscheinend niedergeschlagen oder so. Geht’s dir gut? Tut’s arg weh? Mr. Morton hat sich nach einer Zeit gefragt, wo du bleibst und hat mich geschickt, um dich zu suchen und ich habe dich vor dem Waschbecken rumliegen sehen! Alles voller Blut mit ’ner Wunde am Kopf! Sag mal was hast du gemacht?! Bist du irgendwie ausgerutscht und gegen das Waschbecken geknallt? Ne, warte, ne.. Ne, ne, ne. Warte, …Ne.. Geht gar nicht. Dann wäre das Waschbecken auch voll mit Blut gewesen..“
Ich verzog angewidert das Gesicht, amüsierte mich jedoch immer wieder über die Art, wie Hannah laut dachte.
„Ich habe gar nichts gemacht! Ich habe mir das Gesicht gewaschen und dann habe ich irgendwas hinter mir bemerkt, ne Bewegung oder so und dann wurde alles schwarz. Weiß nicht!“, entgegnete ich.
„Aber.. Wer sollte dich denn niederschlagen, bitte?!“
„Äh, falls du’s vergessen hast: Mindestens ein Dreiviertel des Internats hat kein Problem damit, wenn ich krepiere. Wenn nicht sogar alle, außer Charlie und du!“
Da fiel es mir wieder ein. Hatte ich mich nicht mit Melissa gestritten? Aber wie hätte sie es bitteschön geschafft mir zu folgen und mich niederzuschlagen? So was wäre für eine Melissa Parks unschaffbar. Sie hatte doch bestimmt gerade mal einen IQ von einem Waschlappen, wenn es darum ging, etwas auszubrüten, was etwas schwerer zu bewerkstelligen ist, als eine hinterlistige Mobbingattacke! Und da waren noch Stacy und die anderen, sowie Nick, der plötzlich so hasserfüllt mir gegenüber gewesen war. War es wieder mal eine Gehirnwäsche von Stacy gewesen, dass er mich so taxiert hatte? Wenn ich es mir jedoch genau überlegte, war er schon immer so mir gegenüber gewesen. Sein Verhalten hatte sich nicht geändert. Mich hatte er ja im Kunstraum nicht angelächelt.
„Grüble nicht so viel. Das tut deinem Kopf nicht so gut. Darüber kann man sich später noch Gedanken machen. Wir haben bereits fünf..“
„Fünf Uhr?? Mist! Ich hatte doch heute noch Fußballtraining!! Und morgen ist doch das Spiel gegen die Striking Tigers! Das ist doch das wichtigste Spiel der Saison und ich wollte unbedingt noch einmal den Fallrückzieher üben! Was mach ich denn jetzt?? Ich darf doch morgen nicht zum Spiel kommen mit der Verletzung, oder? Aber ich würde so gerne.. Es ist mir egal, wie verstümmelt ich bin, aber ich muss da unbedingt hin!“, rief ich aus und schnitt dadurch Hannah das Wort ab, die mich daraufhin etwas böse ansah.
„Das ist doch jetzt egal. Scheiß doch einmal auf ein bescheuertes Fußballspiel! Fußball ist nicht das wichtigste auf der Welt!“, erwiderte sie höchst angenervt über meine Verzweiflung.
Nun war ich es die ihr einen bösen Blick zuwarf.
„Du weißt gar nicht, wie wichtig das für mich ist!“, sagte ich gefährlich lauernd. Doch sie ignorierte dies.
„Du solltest langsam mal nach Hause gehen. Heute ist doch Freitag! Deine Eltern sind zwar unterrichtet worden, aber die machen sich bestimmt schon Sorgen.“
„Die und Sorgen?! Die behandeln mich, als wäre ich ein stinkender Haufen verschimmelter Lebensmittel. Ist dir das noch nicht aufgefallen? Na ja, egal. Du hast Recht. Aber das mit Fußball nimmst du zurück!“
Hannah verdrehte nur die Augen und nickte gelangweilt.
„Also, dann werde ich mal gehen, oder? Bis Montag.“
Ich sprang auf, fasste mir an den Kopf, weil diese ruckartige Bewegung ein Stechen auslöste. Meine Freundin kicherte und wir umarmten uns nun wieder versöhnt zum Abschied.

Meine Sachen waren schon gepackt. Praktisch. Ein Taxi war auch schon bestellt, jedoch anscheinend nicht vom Internat bezahlt worden. Dazu fehlte es ihm angeblich mal wieder an Geld. Mit meinem Kopf voller Verband stieg ich ein.
Der Taxifahrer sah mich kurz komisch an und meinte dann: „Bist du beim Karate irgendwie falsch aufgeschlagen, oder was ist mit deinem Kopf passiert?“
Ich war irritiert. Es gab eine Karate AG auf unserem Internat, aber dort waren nur ein paar dieser seltsamen Leute. Leute, die ihre Freizeit im Internet vergeudeten, auf der Suche nach irgendeinem Zubehör für ihre technischen Errungenschaften, die sie dann prahlend vor den Anderen während der Mittagspause in der Cafeteria ausbreiteten und darüber fachsimpelten, wozu der ganze Schrott denn zu gebrauchen war, oder Leute, die ihre freien Nachmittage außerhalb des Internats damit nutzten, sich in Spielehallen zu verdrücken, oder einen Zirkus besuchten, der jedes Wochenende geöffnet hatte.
Um dem seltsam freundlichen Taxifahrer zu antworten erhob ich das Wort, nachdem ich mich geräuspert hatte: „Ist nicht so wichtig. Außerdem ich habe hier kein Karate. Können Sie mich in die Brückenkopftalstraße fahren? Hausnummer dreizehn.“
„Geht klar, Chef!“
Und er legte bereits den zweiten Gang ein, fuhr von dem gepflasterten Platz, der sich vor dem Portal des Internats ausbreitete.
Manche Leute hier in Gjøvik waren wirklich sonderbar. Jedoch hatten sie auch diese sympathische und fröhliche Art an sich, die mich manchmal richtig verzauberte. Mich mental schon auf mein Bett freuend, fuhr der Taxifahrer los. Anscheinend war dieser jedoch etwas schweigsamer, als die, die mich sonst immer zum Internat und wieder zurück fuhren.
Die Landschaft rauschte am Fenster vorbei. Die mit hohen Bäumen besäumte Allee, die zum Internat führte hatte ich längst hinter mir gelassen und die blühenden Büsche an den Straßenrändern rasten an mir vorbei, während der Taxifahrer noch einen Zahn zudrückte.
Die Ländereien des Internats lagen schon weit hinter mir. Es gab einen Rosengarten, der von einer AG gepflegt wurde, einen kilometerweiten Wald voller Lebewesen, die sich jedoch nicht zu nah an die Schule herantrauten, da es viel zu laut war.
Dort zog ich mich sonst immer zurück, da ich nur dort wirklich allein war. Ich genoss es, dieses Vogelzwitschern, diesen Geruch von Gras und diese Stille. Die Tiere, die unbemerkt hier lebten, in dem Wald, der an das Grundstück des Internats grenzte. Hinter den Hügeln, die man von dort aus erkennen konnte, lag das nordländische Meer, die Nordsee. Wie ich mir nur wünschte, frei zu sein, frei auf dem Land zu leben, im Wald, abgeschottet von der Welt. Zwar einsam, aber glücklich. Nichts wäre mir lieber gewesen, als dass ich das alles hier schon überstanden hätte, dass ich diese Stadt verlassen hätte. Dieser Gedanke schmerzte mich zwar, aber auch nur, weil ich diese Stadt so sehr mochte, nicht die Leute, die dort lebten. Charlie kam aus einer anderen Stadt weiter südlich, doch ich hatte vergessen, wie diese hieß. Geografie war nicht so mein Ding. Hannah war die Einzige, die mir in dieser Stadt noch halb vernünftig erschien. Doch was nützte schon träumen, wenn man nie glücklich werden würde? Die Eltern verhielten sich wie Gefängniswärter, die anderen hielten mich für eine Psychopatin und manche taten beides auf einmal.. Nur Charlie und Hannah schienen hinter mir zu stehen. Doch genau deswegen waren sie verspottete Leute, nur weil ich eine Freundin von ihnen war. Ich hatte das alles hier satt. Und ich hatte keine Lust mehr auf die ganze Bagage, die mir Stacy und die Anderen aufbereiteten. Wenn sie vor allem, aber auch ich nicht aufpassten, rastete ich endgültig aus. Und wenn das geschah, sollte man lieber nicht in meiner Umgebung sein.
Nach zwanzig Minuten und einem Zwanziger weniger, stand ich vor meiner Haustür. Ein rotes, geklinkertes, kleines Haus mit Vorgarten, wie jedes in dieser Straße. Richtig spießig. Das alles hier passte nicht zu mir. Meine schwarzen Klamotten waren in dieser Straße ungewöhnlich auffällig. Dazu auch die blauen Schuhe und das blaue T-Shirt mit dem chinesischen Schriftzeichen des Glücks, dass ich unter meiner schwarzen Winterjacke trug, fiel ungewöhnlich auf. Mein Schachgürtel, der locker und schief von meiner Hüfte quer über meine Oberschenkel verlief, ebenfalls.
Mrs. Twain, die Nachbarin von Hausnummer fünfzehn, richtete sich auf und starrte zu mir herüber. Sie war immerzu darauf gespannt mich beim Crack rauchen zu erwischen. Diese alte, verklemmte Tante glaubte wirklich, dass ich so etwas tat! Um sie zu ärgern kramte ich plötzlich mit zitternden Händen in meiner Jackentasche, zog ein Papier heraus und riss es mit Mühe auf, da ich so sehr zitterte, was ich natürlich nur spielte. Dann steckte ich mir den Lutscher in den Mund und grinste sie spöttisch an. Mrs. Twain konnte gerade noch ihre Erschrockenheit überspielen und winkte mit einem gekünstelten Lächeln, wandte sich dann aber hektisch wieder ihrem Rasenschnippeln zu, um einen Vorwand zu haben auf den Boden zu gucken.
Den Haustürschlüssel aus der Tasche ziehend sah ich, dass das Auto meiner Eltern noch nicht da war. Wahrscheinlich musste meine Mum mal wieder shoppen. Als ich in den Flur trat legte ich aus Routine den Schlüssel direkt in den Schlüsselkorb auf dem Brett über der Heizung, streifte die Jacke ab und hängte sie über das Geländer der Treppe, zog die Schuhe aus und stellte sie in den Schrank neben der Badezimmertür, die Tasche mit den Sachen aus dem Internat gleich daneben.
Erschöpft, aber vorsichtig, ließ ich mich aufs Sofa fallen und lag erst mal eine Weile dort rum und dachte an gar nichts, starrte nur die weiße Holzdecke an. Das wenige Sonnenlicht, dass durch die Wolken stach, blendete mich durch die großen Fenster, doch ich ignorierte es, starrte ins Nichts.
Da ich meine Kopfverletzung vergessen hatte sprang ich wieder mal urplötzlich auf und fasste mir abermals an den Kopf.
„Verdammt!“
Nach ein paar Minuten schwankend dastehend, die Augen geschlossen und darauf wartend, dass sich der Schmerz allmählich legte, nahm ich mir wieder die Jacke und die Schuhe, sowie den Schlüssel und ging durch den kleinen Garten hinter dem Haus hinaus auf den Bürgersteig der Kehlmannstraße. Jolie Pattilo, die Tochter meines Spanischlehrers kam gerade auf der anderen Straßenseite aus einer Haustür gestürzt. Wahrscheinlich hatte sie gerade wieder Streit mit ihrem Neuen. Ihr Vater wusste ja nicht, was sie ständig machte, wenn sie angeblich mit ihren Freunden unterwegs war, um danach zu lernen. Ohne mich zu bemerken, rannte sie in Richtung Stadtzentrum. Ich ging in die andere Richtung, zum Wald hin, der sich bis zum Internat hin erstreckte. Kaum war ich unter den ersten Baum getreten, wurde es dunkler. Der Geruch von Laub drang mir in die Nase. Ich liebte diesen Geruch. Er war so befreiend für mich!
Jeden Baum mit den Fingern streifend, die Rillen in der Rinde spürend, ging ich dahin, nahm den Weg zu meinem Lieblingsplatz; einem Baum auf dem man rumklettern konnte, bis in die Wipfel. Dort saß ich meistens stundenlang und überblickte die Stadt und das weiter hinten jedoch kaum zu erkennende Internat. Eichhörnchen besuchten mich hier jeden Tag und kamen neugierig von Tag zu Tag näher. Ein ungewöhnlicher Nachbar von ihnen war Paco, mein Freund, der jeden Tag hier auftauchte und auf mich wartete.
Ich kannte ihn seit drei Jahren. Als ich das erste Mal auf diesen Baum kletterte, hatte ich die kleine Lichtung überblickt und mir gewünscht, es würde etwas Spannendes geschehen, doch natürlich war da nichts gewesen. Jedenfalls solange, bis ich in dieses eine Gebüsch geblickt hatte und neugierig vom Ast gesprungen war. Jedoch war dieser so hoch, dass ich mir den Fuß verstaucht hatte. Ich war zu dem Gebüsch gehumpelt. Schon mehrere Meter bevor ich dieses erreicht hatte, hörte ich ein leises Fiepen.
Als ich dann die Zweige auseinander gebogen hatte, erblickte ich ein Paar großer, brauner Augen. Es war ein Beaglewelpe, der mich verängstigt ansah.
So gerne hätte ich ihn einfach mitgenommen, aber ich wusste, dass das meine Eltern doch merken würden. Seit diesem Tag war ich so oft ich konnte zu diesem Platz gekommen und hatte ihm etwas zu Fressen gegeben. Das klang kitschig, war aber so.
Paco jedoch kam heute nicht. Sonst kam er immer um diese Zeit hier hin. Vielleicht war er diesmal zu weit weg. Doch das war ungewöhnlich, denn sonst kam er bei jeder Distanz. Ich zog meinen Zeichenblock aus der Tasche, die ich mir beim Hinausgehen geschnappt hatte und blätterte durch die Zeichnungen hindurch. Es waren viele Tierzeichnungen enthalten, jedoch zeichnete ich diesmal den Himmel ab, dessen langsam röter werdender Himmel immer schöner wurde. Der Nebel war fast verschwunden. Ich hatte die Kreide und den Zeichenblock wieder in meine Tasche gleiten lassen und stand langsam und mühselig auf. Ich hatte zu lange herumgesessen. Mein Kopf pochte nun andauernd. Doch zum Glück würde es eine klare Nacht werden.

Mein Handy klingelte, als ich aufschreckte. Ich war doch noch eingeschlafen, auch wenn ich mich gerade zum Abstieg fertig gemacht hatte. Mein Handy klingelte dröhnend und auffordernd. Hastig kramte ich in der Tasche und fand es schließlich.
„Hey, bist du nicht zu Hause? Ich wollte dich grade besuchen, aber niemand war da. Wo bist du?“
„Wo bin ich sonst, wenn ich nicht zu Hause bin? Ach, egal. Ich komme. Könnte aber etwas dauern, so zwanzig Minuten. In Ordnung?“
„Ja. Okay. Ich dachte, deine Eltern wären wenigstens da. Aber das Auto war nicht dort.“
„Bis gleich, Hannah,“ sagte ich nur, beendete das Gespräch, steckte es mir in die Jackentasche und schwang das Bein vom Baumstamm, um hinunterzuspringen.

Hannah wartete auf der Bank, die vor unserem Haus stand. Eine braune, langweilige Holzbank.
„Wo warst du nun? Wieder im Wald? Was findest du eigentlich an der Natur? Ist doch voll langweilig!“
„Nein, ist es nicht. Dort hab ich meistens meine Ruhe. Das ist so schön. Aber dir fällt ja nicht auf, wie schön die Natur ist, auch wenn du ein Biofreak bist.“
„Fängst du wieder damit an? Nein, ich hab jetzt keinen Bock mich mit dir zu streiten. Komm, wir gehen rein und gucken einen Film. Ich hab extra Alphabetkiller aus der Videothek ausgeliehen. Sag bloß nicht nein!“
„Ja, aber bitte nicht so arg schnell reden und gehen und mach bitte den Fernseher nicht so laut. Mir ist immer noch schwindelig..“
„Aber dafür kannst du auf Bäume klettern ohne, dass dir schwindelig und schlecht wird, was? Mann, Mann, Mann… Unglaublich!“
Ich schloss die Haustür auf und Hannah ging sofort ins Wohnzimmer. Ahnend, dass einer der spießigen Nachbarn uns wieder aus einem der Zimmer beobachtete, sah ich mich kurz um und sah tatsächlich, wie Mrs. Connery zurückzuckte und hastig eine Kehrschaufelbürste in der Hand hatte und damit – ja wirklich – das Fenster putzte, dann folgte ich Hannah ins Haus.
„So, komm, hier setz dich auf den Stuhl.“
„Hetz mich nicht!“, sagte ich etwas genervt. Hannah grinste.
„Oh, doch!“

Nun saß ich auf meinem Bett. Hannah hatte sich nicht davon abhalten lassen können, mich nach ihrem Geschmack zu stylen. Ich fand es zwar etwas albern – wir sind ja keine zwölf mehr – aber ich hatte trotzdem ihr zuliebe mitgemacht. Jetzt sah ich wirklich wie ein Grufti aus, zwar wie ein hübscher Grufti, musste ich zugeben, aber auch nur mit dem tonnenweise Make up, was mir Hannah ins Gesicht geklatscht hatte. Mein nicht vorhandenes Selbstbewusstsein!, dachte ich deprimiert. Den Film Alphabetkiller fand Hannah dann doch wieder zu langweilig und wir hatten unablässig über den Anschlag auf mich diskutiert.
Nachdem Hannah gegangen war, hatte ich mich endlich müde in mein Zimmer schleppen können. Es war bereits Mitternacht, aber von meinen Eltern immer noch keine Spur. Wo blieben die beiden nur? Waren sie, ohne mir etwas mitzuteilen, bei einen ihrer Freunde eingeladen worden und blieben bis spät in die Nacht? Ach, was sorgte ich mich eigentlich um sie? Sie sorgten sich ja auch nicht um mich. Was soll’s! Ich schmiss die noch offene Tür ungewollt hart und laut zu und zuckte unter dem Krachen zusammen.
„Mann, bin ich ein Dummkopf!“, fluchte ich.
Ich machte meinen klapprigen, alten Rekorder an und suchte mir eine CD. Bullet For My Valentine, das hörte sich gut an. Man möge mich vielleicht verrückt nennen, doch ich schlief mit dieser Musik immer noch am besten ein. Der E-Gitarre und der Stimme lauschend, glitt ich allmählich in den Schlaf.
Doch plötzlich kamen mir einige Gedanken wieder hoch. Wer hatte mich niedergeschlagen?! Denn gewiss hatte ich mir die Bewegung nicht eingebildet! Sicherlich nicht… Oder doch? Immerhin konnte die Luft mir keinen Schlag versetzen! Das war ja nun mal von vorneherein klar. War es wirklich Melissa, oder Stacy, oder vielleicht auch Nick? Mit Melissa hatte ich mich gestritten, Stacy war durch ihre Mobbingattacke auf mich nachher selbst gedemütigt worden und schob es mit Sicherheit auf mich und Nicks Blick heute wieder.. Nein, das war unmöglich. Wie sollte Stacy aus dem Deutschraum gekommen sein, ohne dass jemand es bemerkt hatte? Wie sollte Melissa es fertig kriegen mich niederzuschlagen? Und na ja, welchen besonders großen Grund hatte schon Nick? Mein Hinterkopf ziepte überhitzt.
„Ja, ist schon gut, ich versuche zu schlafen..“, murmelte ich benommen.
Und es klappte tatsächlich. Fünf Minuten später war ich in den Schlaf gesunken.

Ich hatte vom Fliegen geträumt. Vom Freisein. Von den unbekannten Möglichkeiten und dem Glück, dass ich haben könnte. Ich hatte von riesigen Wäldern und Seen geträumt, die sich unter mir erstreckten, wenn ich über sie hinwegflog. Frei zu sein war das Beste auf der Welt. Frei zu sein bedeutete wirklich unabhängig zu sein. Tun, sagen, lassen und auch essen, wie trinken, was man nur wollte. Ich wünschte mir so sehr fliegen zu können. So sehr, dass ich schon fast weinte, weil ich niemals fliegen würde, denn Menschen konnten das einfach nicht.
Als ich aufwachte war meine Musik aus, es war dunkel und still. Was hatte mich geweckt? Die Musik war es anscheinend nicht. Aber was dann? Zwei Uhr morgens, also mitten in der Nacht. Ich hatte nicht lange geschlafen, nur zwei Stunden. Komisch. Aber was soll’s? Ich stand auf und zog meine Pantoffeln an. Sie waren alt und abgetragen und dennoch warm. Aus dem Fenster starrend und nicht wissend, was mich geweckt hatte stand ich nun da, ohne darüber nachzudenken, wie es weitergehen sollte. Die Straßenlaternen erleuchteten die dunkle Straße nur spärlich, jedoch konnte ich ein fremdes Auto, nein, einen fremden Landrover von irrer Größe, in unserer Einfahrt parken sehen. Was machte der dort unten und wem gehörte er? Sicherlich nicht meinen Eltern. Das wäre mir doch aufgefallen!
Plötzlich, rechts von mir, unten im Garten war doch tatsächlich irgendeine Bewegung! War es ein Einbrecher? War dort jemand im Garten, der versuchte ins Haus zu kommen, um mich endgültig zu erledigen, da es heute Mittag nicht geklappt hatte? Nein, ich hatte zu viele Filme gesehen! Oder etwa doch nicht? Ich ging näher an das Fenster heran und kniff angestrengt die Augen zusammen. Dort im Garten standen meine Eltern, Sarah und Martin Connely. Was taten sie da unten zu dieser Zeit? Das sah ihnen garantiert und so was von überhaupt gar nicht ähnlich! Sie waren so spießig, wie die Straße, im Einklang mit jedem anderen Bewohner von ihr, mit Ausnahme von mir.
Zurück zu meinen Eltern. Sie standen auf dem Rasen, halb verdeckt vom Schatten der riesigen Ulme, die vom Nachbarsgarten über den Zaun in unseren Garten wuchs. Konnte es sein, dass sie gerade einen heftigen Streit hatten? Ihre Gestik und Mimik ging demnach ziemlich in die Richtung von Wut, Trotz, aber auch Angst, oder sogar Furcht. Was war denn da nur los?!
So kühn à la Katie, wie ich eben war, beschloss ich, der Sache auf den Grund zu gehen. Ich machte so leise, wie es nur ging die Tür zum Flur auf, ich lebte im zweiten und letztem Stock, in dem es nur mein Zimmer und ein mickriges Badezimmer gab. Meine Eltern wohnten eine Etage tiefer. Sie hätten mich auch in den Keller gesteckt, wenn dort nicht das Atelier meiner Mutter gewesen wäre. Kaum ging ich auf die Treppe zu, die in Wirklichkeit eine Leiter war, stolperte ich natürlich direkt über den abgewetzten, fransigen Teppichläufer im Flur. Ein Hoch auf meine Tollpatschigkeit, fluchte ich in Gedanken und hoffte, dass meine Eltern es nicht mitgekriegt hatten, aber wie auch? Sie waren außerhalb des Hauses. Das hörte man nicht so doll und vor allem nicht, wenn sie stritten. Zum Glück war ich nur kurz vor der Treppe – ich meinte Leiter – auf die Nase geflogen. Diese mit Tränen in den Augen zuhaltend, da sie blutete, versuchte ich nun die Leiter hinunterzusteigen.
Schon auf der Treppe einen Stock tiefer zum Erdgeschoss konnte ich die Stimmen hören. Waren sie denn echt so dumm, sich so derartig laut zu streiten, dass jeder es hörte?
Ich erstarrte. Die Stimme meines Vaters war zu nah, um draußen im Garten zu sein! Oh, oh. Gar nicht gut. Ich sah mich hilfesuchend nach irgendeinem Vorhang um und fand schließlich nur die eine Möglichkeit: Ich musste die Treppe wieder hoch. Noch im letzten Moment nahm ich den Fuß von der letzten Treppenstufe auf den Teppich im ersten Stock, sodass man mich nicht mehr sah, da kam Martin Connely auch schon in den Raum gestürmt.
„Sei ruhig! Sonst wird sie wach!“, flüsterte meine Mutter. Ach, sie sprachen mal über mich! Was ganz neues!
„Ja, ja. Schon gut. Aber lass uns das jetzt gleich erledigen. Sonst ist Katie wieder wach. Die Sachen sind hier nicht sicher und Jordan braucht sie noch bis sechs Uhr! Ich darf ihn nicht zu sehr versetzen, sonst weißt du ja, was er macht. Er verpetzt uns an den du-weißt-schon-wen. Und dann haben wir wirklich ein Problem. Also ab in den Keller.“, fauchte Martin ungeduldig.
Die Gelegenheit ließ mir eine Gänsehaut über die Arme laufen. Das war die Chance in Mamas verbotenes Atelier zu gelangen, um endlich zu sehen, was sie dort alles so malte!
„Warum schaffen wir ihn nicht einfach aus dem Weg, wenn er so ein Risiko darstellt?“, erwiderte meine Mutter.
„Na, weil seine Freunde dann auch noch eine Gefahr für uns sein könnten! Lieber ein Risiko, als gleich ein Dutzend!“
Jemanden aus dem Weg schaffen? Gefahren für meine Eltern? Was bedeutete das alles? Es gab nur noch einen Weg es herauszufinden: Ich musste ihnen folgen. Ich wartete bis die Stimmen meiner Eltern schwächer geworden waren und schlich dann mucksmäuschenstill hinter ihnen her.
Der Keller war dunkel und unheimlich. In so einem Loch arbeitete meine Mutter an ihren Werken, die ich nie zu Gesicht bekam?
„Komm, hier ist die Kiste. Aber pass auf; diese Dinger sind schwer!“
„Ja, ich weiß das schon! Das ist schließlich nicht das erste Mal!“, zischte meine Mutter angenervt und wütend.
Da gab’s anscheinend dicke Luft zwischen den beiden. Doch da ich mir denken konnte, dass meine Mutter gleich mit der ominösen Kiste hier durch kommen musste, schlich ich weiter und kam dann an einen Schrank, ja, an einen Schrank. Ich sah hinein. Er war leer. Aber was sollte dieser Schrank, wenn er doch gar nichts enthielt? Sehr komisch! Was ging hier nur vor sich?!
„Komm, mach schneller. Bei dem Krach, den wir verursacht haben, kann es sein, dass das Gör schon wach ist!“
Das Gör?! Also bitte! Was?! Ich sprang schnell in den Schrank und schloss ihn wieder. Genau im richtigen Moment, denn kaum ein paar Sekunden später kam ein Schatten an den milchigen Gläsern vorbei. Ich kauerte mich zusammen. Hoffentlich musste in diesen Schrank nichts hinein! Wenn er doch leer war…
Ich bemerkte in diesem Moment eine Klappe im Boden des Schrankes. In der Dunkelheit traute ich mich jedoch nicht, sie zu öffnen und ich glaubte nicht, dass es wichtig war zu wissen, was hinter dieser Klappe lag.
„Martin! Wenn du mich noch einmal so herum kommandierst, raste ich aus, verstanden?! Halt endlich die Klappe und pack' mit an, anstatt herumzustehen, mir zuzugucken und herum zu meckern!“, raunte Sarah Connely plötzlich ganz nah.
Ich machte mich steif vor Schreck, hielt die Luft an und versuchte, mich nicht großartig zu bewegen, aber ich zitterte dermaßen, dass es mir noch mehr Angst machte.
Sobald die beiden oben waren würde ich mein Versteck verlassen und mich auf die Suche nach einem neuen und besseren begeben. Ich wollte unbedingt wissen, was hier los war und das ließ meine Angst vor meinen eigenen Eltern verblassen.
„Und meinst du ich bin blöd? Klar bin ich schon drauf gekommen, dass die Kleine da oben wach sein kann und das ist ganz allein deine Schuld! Du und dein bescheuerter Plan, deinen ältesten, größten Feind und Widersacher auszuschalten bringt uns nachher noch wirklich in Schwierigkeiten! Was, wenn die Nachbarn unseren Streit im Garten eben mitgekriegt haben? Ist dir das schon einmal eingefallen? Denk doch mal nach! Ich bin eine Frau, kein Hündchen, dass du an der Leine herumführst und Kunststücke machen lässt!! Ich kann denken, vielleicht besser als du!“, fuhr Mutter fort.
Konnte es sein, dass meine Mutter wirklich gerade über Jemanden gesprochen hatte, den ihr Mann ausschalten wollte? Wer war diese arme Jordan? Ich würde ihm gerne helfen!
Die Schritte entfernten sich rasch und ich schlüpfte aufatmend aus dem Schrank hinaus. Mir war wirklich warm geworden darin. Ohne darüber nachzudenken, ob die zwei zurückkommen könnten, ging ich weiter in Richtung Atelier. Ich wollte wissen, was die beiden denn wegschaffen wollten, sodass niemand etwas davon etwas mitbekommen durfte? Von einem Bild war da bestimmt nicht die Rede! Es musste irgendetwas Geheimnisvolleres, vielleicht auch Gefährlicheres sein. Und wenn ich länger darüber nachdachte, schien es mir schleierhaft, warum ich meiner Mutter glauben konnte, dass wie sie mir gesagt hatte, sie zu schüchtern sei und ihre Werke eh nicht gerade hübsch waren, als dass ich sie zu sehen brauchte.
Mit der Zeit hatten sie mich eh weniger bemerkt, aber dass sie mich eine Göre nennen würden, das hätte ich nicht erwartet! Ich dachte, sie wären zu beschäftigt mit ihrer Arbeit, als dass sie mich sonderlich beachten konnten, doch jetzt wusste ich es besser: Sie hassten mich schon fast. Ich tapste weiter und weiter. Meine Pantoffeln halfen auch nicht viel, denn durch sie drang die Kälte des Bodens von der ich trotz den kalten Wänden in den oberen Stockwerken nicht geglaubt hatte, dass sie in einem so spießigen Haus, wie diesem hier existieren konnte.
Als ich um eine Ecke bog, lief ich fast gegen eine schwere Stahltür. Sie war nur angelehnt. Also schafften meine .. Eltern wirklich etwas aus dem Atelier heraus. Aber inzwischen war ich mir hundertprozentig sicher, dass es nichts mit Kunst zutun haben konnte. Vorsichtig – damit sie nicht knarrte – öffnete ich sie, voller Erwartungen. Mit geschlossenen Augen huschte ich hinein und lehnte sie wieder an. Dann öffnete ich die Augen und mir klappte erschrocken die Kinnlade herunter. Was war denn das?! Ich hatte mir ja denken können, dass mit diesem Atelier keins gemeint war, was mit Werken über Landschaften, Sonnenuntergänge in Verbindung stand, aber das es so etwas verkörpern sollte.. Nein, daran hatte ich nicht gedacht!
Es sah aus wie in einem Lagerhaus fürs Militär! Überall Handgranaten, Maschinengewehre, Pistolen mit verschiedenen Kalibern so weit das Auge reicht.
So viel, wie ich über ein Atelier wusste, konnte ich definieren, dass es sich meistens um ein kreatives Zimmer handelte. Und das war sicherlich nicht kreativ, sondern krank und gefährlich!
Hätte ich das Atelier doch bloß nicht betreten, sonst würde ich nicht wie zu Eis erstarrt mitten im Raum stehen und hätte mich gegen die kraftvollen Hände wehren können, die mich plötzlich packten und mich weg schleiften, bis mir etwas unter die Nase gehalten wurde und ich beißenden Geruch in die Nase bekam, sich meine Augen schlossen, nach oben drehten und ich schließlich wieder das Bewusstsein verlor.

Rasante Flucht durch die Nacht




Es war wieder still, es war wieder dunkel, doch es war auch kalt und etwas feucht. Irgendwo in der Nähe von mir ging Jemand auf und ab. Die Hände waren verschwunden und ich lag irgendwo auf kaltem Stein herum, noch gelähmt vor Angst mit ungeheuer pochendem Kopf und nicht in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen. Mindestens eine Stunde dort herumliegend und immer noch mit klopfendem Herzen und den Schritten lauschend, die ununterbrochen hin und her hallten, wagte ich es nicht, mich zu rühren. Ich konnte meine Dummheit nicht in Worte fassen. Und wenn ich es doch gekonnt hätte, ich hätte kein Wort herausgebracht. Meine Furcht war größer, als der Mount Everest. Sie war größer, als das Universum. Sie war größer, als die Unendlichkeit. Wie konnte ich immer in so etwas hineinschlittern? Zuerst niedergeschlagen, jetzt irgendwo an einem unbekannten Ort herumliegend.. Es war schon etwas primitiv. Die ganze Sache mit meinen Eltern war so erschreckend, dass ich sie fast gar nicht mehr als Eltern sondern als aufgezwungene Halbgeschwister sah, auf die ich aufpassen sollte und es nicht geschafft hatte und dafür jetzt büßen musste. Ich kämpfte gegen meine Furcht. Ich kämpfte gegen das, was dort die ganze Zeit schon hin und herlief. Ich kämpfte gegen all das Böse, was auf mich herabsauste.
Der Jemand, der dort die ganze Zeit auf und ab ging, blieb plötzlich stehen und ich erkannte Sarah Connelys Stimme, die sich erhob, nachdem ihre Besitzerin eine Telefonnummer in ihr Handy getippt hatte: „Ja, Jordan, ich weiß, dass es unpassend ist, aber es wird noch eine Weile dauern. Wir haben Schwierigkeiten durch Katie bekommen und können vielleicht erst um neun Uhr mit den besagten Waffen bei dir sein…. Ja, verstanden, also bis neun Uhr, vielleicht auch etwas später.“
Ich versuchte, das Gesprochene zu verarbeiten, jedoch pulsierte mein Kopf so sehr, dass ich keinen klaren Gedanken auf die Reihe brachte. Eins war mir sofort klar gewesen: Ich war die größte Gefahr, die es in ihren Augen gab und sie waren meine größte Gefahr. Diese Erkenntnis presste meine Augen zu, mein ganzes Sein noch härter auf den kalten Stahlboden. Kaum hatte Sarah aufgelegt, hatte sie wieder damit begonnen auf und ab zu gehen.
Es konnte nicht ewig so weitergehen. Die beiden, oder zumindest sie heckte einen Plan aus, um des Problems Lösung zu finden, der sie immer näher kam. Darum überwandt ich mich, öffnete die Augen und starrte in ein Gesicht.
„Ahhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh!“
Ich schrie so erschrocken, wie es nur verständlich war. Ich kniff die Augen wieder zu und strampelte so heftig, dass ich Martin Connely ein paar gepfefferte Tritte verpasste.
„Sei ruhig, oder soll ich eins von den Dingern holen, die du hier unten im Keller entdeckt hast? Ich glaube eher nicht, dass du das riskieren willst, oder? Du weißt ja gar nicht, wie groß dieser Keller ist! Er ist wie ein Labyrinth aus Gängen, wie in den Pyramiden. Selbst wenn wir dich hier heraus lassen würden, würdest du dich verirren, schließlich verhungern oder verdursten!“ sagte er in einem irren Tonfall.
„Schatz, lass den Quälgeist mal in Frieden und hilf mir dabei, einen Plan zu finden, der unsere Probleme am einfachsten löst!“, kam es von irgendwoher. Die Schritte waren verstummt.
„Das Einfachste, Schatz, ist, diesen Quälgeist

zu zerquetschen

, das weißt du ganz genau.“
Ich hörte auf zu strampeln und starrte meinen … Vater an, jedoch so eisig, als würde ich ihn jetzt erst klar sehen.
„Das wollt ihr doch nicht tun, oder? Bin ich denn so wichtig für euch, dass ich es wert bin die ganze Zeit Wache zu halten, dass ich nicht ausbreche, oder dass ihr euch so lange Gedanken darüber macht, wie es jetzt weitergehen soll? Ich war für euch doch eh immer nur ein Stück Dreck! Was interessiere ich euch denn auf einmal so sehr?“
„Darum macht es uns ja auch nichts aus, dich zu beseitigen, merk’ es dir. Aber ich werde dir alles jetzt mal erklären: Du bist, wie du dir vielleicht schon gedacht hast, natürlich nicht

unsere Tochter! So eine wie dich würde ich auch nicht als leibliche Tochter haben wollen! Wir haben dich entführt. Entführt aus einem Krankenhaus, wo du noch nicht mal einen Monat alt warst. Entführt, weil du die Tochter meines Erzfeindes bist. Dein Verschwinden hat dazu geführt, dass deine Mutter Selbstmord beging und dein Verschwinden hat auch dazu geführt, dass dein Vater fast in Grund und Boden versank! Dein Vater ist der bedeutendste Mann in diesem Land. Er ist der Premierminister! Er ist das Oberhaupt! Er hat das Sagen und du bist sein Kind und wusstest all die Jahre nichts davon. Dein toller Vater hat dafür gesorgt, dass ich bei den Wahlen zum Minister nicht antreten konnte! Er.. Er hat Jemanden engagiert, damit ich mit gebrochenen Rippen und in Lebensgefahr schwebend auf einer Intensivstation lag, ohne eine Chance auf das Amt, auf dass ich so lange schon angespielt hatte. Dein Vater ist ein kaltblütiges Schwein! Er wird an seinem 67. Geburtstag sterben! Du wirst deinen Vater nie sehen. Du hattest dann nie eine wirkliche Familie und du wirst deinen Vater niemals überhaupt kennen lernen! Du wirst hier zugrunde gehen. Das sage ich dir jetzt schon einmal ganz konkret ins Gesicht. Dein Vater wird eigenhändig von mir umgebracht werden und zwar auf seiner eigenen Geburtstagsfeier. Und du, du kleines Miststück, kannst nichts dagegen tun!“ Martin spuckte schon vor Verachtung und ich war ebenfalls erfüllt von ihr. Mit jedem Satz war seine Stimme höher und heiserer geworden, fast hysterisch.
„Das ist ja zu verrückt um wahr zu sein. Nein ich sag dir mal was, Connely! Du

bist verrückt. Nein, ihr beide

seid das!“, sagte ich.
Ich war geschockt. Ich war dermaßen geschockt, dass ich sprachlos war. Dieser Mann, dieses – Etwas, es war so geistesgestört! Warum ist mir das nie aufgefallen?!, dachte ich. Konnte nichts davon verstehen, was dieser Mann gerade gesagt hatte. Es war zu viel auf einmal. Es war zu verrückt um wahr zu sein. Es war krank. Ich war in noch größerer Gefahr, als ich angenommen hatte, als ich aufgewacht war, gerade eben, nachdem man mich betäubt hatte. Ich musste irgendetwas zerbrechen, am besten ihn. Den Mann, der vor mir hockte. Ihn zerschmettern, ihm einfach nur weh tun und ihn so sehr verletzen, dass er herumkroch wie ein elender Regenwurm, der sein Loch nicht mehr findet. Meine ungeheure, plötzliche Wut auf die beiden ließ mich nach oben schnellen, ließ mich ihn gegen die Wand schleudern – ja das tat ich wirklich – und Sarah, die herbeigestürmt kam, die Tür gegen den Kopf knallen. Beide sackten zusammen und blieben reglos liegen.
Ich kramte in den Taschen von beiden herum, nachdem ich erst verstanden hatte, was ich soeben getan hatte. Geld, das ich mir einsteckte, Ausweise, die alle das gleiche Bild aufwiesen, aber immer andere Namen trugen, die ich hinter mich warf, kleingeknickte Pläne, vervielfältigt, in großer Zahl in der Handtasche von Sarah Connely, auf denen der Verlauf des Todes meines.. Vaters beschrieben wurde, von denen ich einen einsteckte, nur für den Fall und um mir einen groben Überblick zu verschaffen, was die beiden als nächstes vorhatten.
Ich fand schließlich das Mittel, was vermutlich Martin mir unter die Nase gehalten hatte und ein paar Tücher, die ich alle mit dem Mittel tränkte und sie über Nase und Mund der beiden legte. Sollten sie doch von dem Mittel eine Überdosis einatmen. Sollten sie doch krepieren. Es würde mich nicht stören. Es würde mich freuen. Kalte Abscheu lief mir in Schaudern den Rücken herunter. Gleichgültigkeit ihnen gegenüber überflutete mich. Diese Leute hatten meine Mutter auf dem Gewissen und bald vielleicht auch meinen Vater. Diese Leute waren das Schlimmste, was mir je passiert war. Sie übertrafen sogar noch die intrigante Stacy, die vom gleichen Charakter war.

Anscheinend hatte Connely nur geblufft. Ich war in einem Zimmerchen neben dem „Hauptatelier“ und musste nur ein paar Gänge weiter gehen, bis ich zur Treppe kam.
Ohne groß nachzudenken, packte ich eine große Reisetasche und einen Rucksack und stopfte Proviant, Klamotten, ein Zelt, sowie Schlafsack, mehrere Decken und eine Thermoskanne mit heißem Kakao hinein, sodass sie kaum noch zu gingen. Nach mehrfachen Leiter auf und hinab Steigens war ich nun endlich startklar. Das alles könnte ich gut brauchen. Schließlich zog ich mich so dick eingemummelt an, wie es nur ging, packte beim allerletzten Hinuntergehen meine Boots vom letzten Winter und zog sie dann auf der letzten Stufe der Treppe sitzend an.
Ohne noch ein einziges Mal zurückzuschauen, machte ich mich auf den Weg hinaus ins Ungewisse, der Freiheit entgegen, die ich so sehr ersehnt hatte. Doch im Innersten meines Herzens wusste ich, dass ich nicht wirklich frei war, denn ich musste meinen Vater warnen, ihn retten. Ein Problem kam dadurch dazu: Ich war nun auf mich allein gestellt. Und ich wusste, dass ich auch ein wenig Angst verspürte, obwohl ich das nicht zu merken versuchte. Ohne zu Hause, ohne ein greifbares Ziel und ohne Plan. Zweifellos würde ich mich ein paar Wochen durchschlagen können, doch so lange hielt das Proviant nicht. Ich beschloss zuerst zu Hannah zu gehen. Mit einem neuen, konkreteren Ziel im Kopf machte ich mich auf den Weg.

Ich hatte mir die Leiter gepackt, die an der Garage von Hannahs Haus lehnte und hatte sie an das Fenster vom Zimmer meiner Freundin gelehnt. Ich wusste, dass ihr Zimmerfenster immerzu nachts offen stand und so war es ein Leichtes hineinzukommen. Verschmitzt grinsend schlich ich zu ihr. Wie sie da schlief, ohne ihre schwarze Schminke und ohne ihre Kontaktlinsen, die neben ihr auf dem Nachttisch lagen. Ihre schwarzen Satinvorhänge flattern leicht im Wind. Dass Hannah nicht kalt war, wunderte mich immer wieder.. Um ehrlich zu sein sah sie eher wie eine Sterbende aus, denn das ganze Zimmer vermittelte einen trostloses Gefühl. Um sie zu erschrecken, nahm ich mir ihren schwarzen Ledermantel vom Haken und die Maske von letztem Karneval, die darunter hing. Sie sah aus wie ein Affe, nur dass sie nicht braun oder schwarz, sondern grau getigert war. Dann nahm ich einen ihrer Schlagzeugsticks, die sie wie ihren Augapfel oder ihre Kontaktlinsen hütete und schlich mich langsam an sie heran, streckte die Hand mit dem schwarz glitzernden Stick aus. Das heftige Stupsen, das ich ihr verpasste, schien sie nicht zu stören. Sie schlief einfach weiter.
Plötzlich bemerkte ich, dass etwas nicht stimmte, dass ihre Brust sich nur schwach und unregelmäßig hob und senkte. Schlief sie vielleicht doch nicht? Ich nahm den Mantel und die Maske wieder ab und legte sie auf den Sessel neben ihrem Bett, trat an sie heran und beugte mich über sie. Ich musste einen Schreckensschrei unterdrücken.
Das konnte nicht wahr sein! Was war hier nur los? Auf Hannahs Brust war ein breiter Schnitt erkennbar. Wenn ich mich genauer umsah, sah ich, dass ein Teil ihres mitternachtsblauen Pyjamas dunkel verfärbt war, dass es im Zimmer viel zu ordentlich war für meine chaotische Freundin, dass die Tür offen stand, dass das Licht im Flur brannte. Mit klopfendem Herzen näherte ich mich der Tür. Sie warf einen dünnen Strahl Licht ins Zimmer. War sie eben auch schon geöffnet gewesen? Ich konnte mich nicht erinnern, dass sie offen gestanden hatte!
Wie angewurzelt stand ich da. Das hieß, dass der Täter im Zimmer gewesen sein musste! Nein! Das konnte nicht geschehen sein! Warum hatte er mich nicht gleich auch getötet, wenn ich doch jetzt von der Tat wusste? Ich ging noch mal zu Hannahs Bett und sah mir die Wunde näher an. War sie wirklich tot?
Nein. Es konnte nicht geschehen sein. Ich stand da, immer noch erstarrt und über sie gebeugt. Ich starrte sie an. Sie atmete, jedoch schwach. Ich löste mich aus meiner Schreckenstarre und beschloss dann durch die Tür zu gehen, um zu prüfen, ob derjenige noch im Haus war.
Bitte sei nicht mehr da, bitte sei weg!, dachte ich angsterfüllt. Im Flur, im gesamten Haus war es totenstill, jedoch brannte das Licht. Hatte der Täter schon längst das Haus verlassen? Vorsichtig, um keinen Laut zu machen, selbst wenn es so leise wie das Trippeln eines Tausendfüßlers war, trat ich Stufe um Stufe die Treppe hinunter. Es war, als ob ich gleich sterben würde vor Angst. Dann erstarrte ich.
Warum brachte ich mich in Gefahr, während Hannah im Sterben lag und nur ich und der Täter von ihrem Zustand wussten? Warum rief ich nicht den Notarzt?! Als ich wieder ins Zimmer schlich, sah ich nur für einen kurzen Augenblick einen Schatten am Fenster, der dann durch es hindurch huschte und unterhalb der Leiter verschwand.
Kaum hatte ich mich wieder gefasst, rannte ich zum Bett zurück, um nachzugucken, ob die Gestalt sein Werk nun vollendet hatte. Doch es war keine neue Wunde zu erkennen und erleichtert richtete ich mich wieder auf, suchte hastig nach Hannahs Handy. Da ich Handschuhe anhatte, hatte ich nichts zu befürchten, falls die Polizei nach dem Täter suchte. Außerdem war ich es ja auch nicht gewesen. Warum dachte ich in solch einer Situation überhaupt an so etwas?
Als ich genauer überlegte, während ich suchte, fiel mir auf, dass die Leiter nie an der Garage lehnte. Sie war nie da gewesen. Ich hatte bei jedem Besuch bei ihr nie eine Leiter zu Gesicht bekommen. Von wem stammte sie? Wer konnte und wollte meiner Freundin so etwas antun? Mir fielen nur vier Personen ein: Hannahs Eltern und meine falschen Eltern.
Verzweifelt suchte ich und suchte und suchte und fand das Handy immer noch nicht. Ich wurde immer verzweifelter und hatte keine Ahnung, wie ich ihr sonst helfen konnte! Da war endlich ihr Handy. Es lag im Kleiderschrank, zwischen Schrankbrett und Schrankwand. Es war klar, dass Hannahs Handy irgendwo an einem verrückten Ort lag. Meine Freundin war die unordentlichste Person, die ich kannte.
Jetzt musste ich die Handynummer finden. Ihre Schwester war die einzige Person, die sich um ihre kleine Schwester sorgte. Hannahs Eltern waren immer auf Geschäftsreisen und beauftragten ihre ältere Tochter, die bereits ausgezogen war, immer wieder auf ihre kleine Schwester aufzupassen. Dass sie nicht jeden Tag da sein konnte kümmerte sie nicht. Hauptsache sie hatten jemanden, dem sie vorwerfen konnten, man hätte nicht gut genug auf sie aufgepasst, falls Hannah mal etwas passieren sollte.
Ich hasste ihre Eltern und die beiden Schwestern taten es auch. Doch Cathleen würde alles für ihre Schwester tun. Ich schrieb ihr eine SMS. Komm so schnell wie möglich zu Hannah. Ich bin’s Ariana, verrat es aber keinem. Ich bin auf der Flucht und rufe jetzt anonym die Polizei und den Notarzt. Ich kam eben – ich weiß, dass es dämlich war – durchs Fenster und sah, dass Hannah schwer verletzt wurde. Komm so schnell du kannst!! Aber verrat keinem, dass du es von mir weißt! Ariana. Dann rief ich beim Notarzt an.
„Geht doch mal endlich jemand ran..!“, murmelte ich langsam ziemlich verzweifelt.
Jede Sekunde ging es Hannah bestimmt schlechter. Sie war ja schon bevor ich kam bewusstlos gewesen! Endlich meldete sich eine Frauenstimme mit dem üblich heruntergeleiertem Satz.
Jedoch unterbrach ich sie: „Ja, ich weiß, wo ich anrufe. In der Karlingsstraße neunundzwanzig liegt jemand Verletztes in einem Bett. Jemand muss das Mädchen niedergestochen haben oder ähnliches. Vielleicht schlief es nur. Es ist schon ganz kalt. Das Fenster stand offen. Ich kam hier gerade herein und sie lag schon da. Beeilen Sie sich!“ Am Ende der Leitung seufzte die Frauenstimme.
„Sagen Sie uns Ihren Namen, oder kann ich davon ausgehen, dass das, was sie gerade getan haben nur aus Versehen passiert ist? Bleiben Sie dort, es wird Hilfe kommen.“
„Ich war es nicht! Spielt keine Rolle, wie ich heiße. Ich bin auf der Flucht vor meine El - ... Das geht sie nichts an. Kommen sie dorthin, aber ich werde jetzt verschwinden müssen. Ich kann nicht länger hier bleiben. Auf gute Ermittlungen von der Polizei, wer ich bin. Die Schwester des Mädchens weiß Bescheid. Auf Wiederhören.“
Ich beendete das Gespräch, warf das Handy in den Wäschekorb an der Tür, kletterte eilig die Leiter hinunter und sprang hektisch ein paar Meter zu früh von der Leiter. Zum Glück landete ich in einem Gebüsch, das sich an der Garage entlang zog, dabei fiel auch noch die Leiter um.
„Ach, scheiß drauf!“, murmelte ich hektisch und rannte davon, ohne darauf zu achten ob die Gestalt nicht doch noch im Garten war und auf mich wartete, in Richtung weite Waldlandschaft, die leider noch weit entfernt war, denn Hannah wohnte mitten in der Innenstadt.
Doch in einer Seitenstraße bemerkte ich einen bekannten, dunklen Landrover parkend mit brummenden Motor. Ich hätte mir denken müssen, dass die beiden direkt bei Hannah nach mir vorbeischauen würden. Vermutlich hatten sie die Arme schon bevor ich ankam nach mir ausgefragt, sie dann betäubt, da sie so nichts merken könnte, sich nicht wehren würde und sie dann versucht auf stümperhafte Weise umzubringen.
Ich war so froh, dass der Abschaum so dämlich war, dass sie nicht mal das Herz trafen, dass ich kurz auf der Stelle stehen blieb, weil ich nicht daran dachte weiterzugehen, mich dann jedoch hastig wieder umdrehte, um zu bemerken, dass jemand durch die Gasse hinter mir auf mich zukam. Panisch rannte ich sofort drauf los, weg von diesem Jemand, der entweder Mr. oder Mrs. Connely sein musste und konnte natürlich nichts anderes machen, als den Kugeln auszuweichen, die auf mich abgeschossen wurden.
Ich hatte sie vielleicht erwischt, als sie meine Freundin versuchten zu ermorden, jedoch hatte ich sie nicht als den einen Schatten erkannt, der vor meinem inneren Auge abermals durch das Fenster huschte. Im Zimmer waren sie nicht mehr gewesen, als ich bemerkt hatte, dass die Tür offen stand. Sie mussten am Anfang noch im Zimmer gewesen sein und als ich die Maske aufgezogen hatte in den Flur geschlichen sein und dann abermals ins Zimmer zurückgekehrt sein, als ich auf der Treppe war. Wie kam es, dass ich sie nicht bemerkt hatte, als sie vom Zimmer in den Flur und zurück gehuscht war? Aber wieso hätte ich auch darauf achten sollen, ob jemand im Zimmer war oder nicht? Ich hatte ja geglaubt das dieser Jemand unten gewesen war. Aber wie waren sie eigentlich in das Haus gekommen? Denn die Leiter hatte nicht am Fenster gelehnt, als ich kam. Wahrscheinlich waren sie durch eines der Fenster eingestiegen, oder Sarah Connely hatte unten auf Martin gewartet und die Leiter vorsichtshalber wieder vom Fenster weggestellt, falls ich kam.
Plötzlich streifte mich etwas am Arm und im nächsten Augeblick peitschte höllischer Schmerz an der Stelle empor, sodass ich schrie und im Laufen mit der Hand die Stelle abtastete. Ein Schuss hatte mich gestreift. So ein Mist!!
Ich sah mich um. Sarah Connely war stehen geblieben und schüttelte ihre Pistole energisch. Anscheinend waren die Patronen alle. Ich streckte ihr die Zunge raus, als sie zu mir herüber blickte, auch wenn das kindisch war, und sie beschloss, wieder die Verfolgung auch ohne Waffe aufzunehmen, jedoch war ich schon zu weit entfernt.
Ich rannte durch die Straßen, ohne zurückzublicken und ohne darauf zu achten, ob die beiden mir mit dem Landrover nachjagten. Falls dies der Fall sein würde, hätte ich keine Chance gehabt. Sie hätten mich ebenso kaltblütig ermordet, wie sie es bei Hannah versucht hatten, nur dass es dieses Mal wohl besser gelingen würde. Kaum eine Laterne schien jetzt noch, da die meisten Glühbirnen eh kaputt waren, oder jemand sie derartig demoliert hatte, dass sie nicht mehr funktionieren konnten. Auf meiner Flucht sah ich nur vereinzelt ein paar Autos durch die Dunkelheit huschen. Meistens war die Totenstille nur gestört durch meine stampfenden Schritte. Ich war froh, dass ich nicht nur im Sport gejoggt war, sondern auch ständig in meiner Freizeit. Mein Kopf stach unangenehm, sowie die Wunde, meine Hüften und meine Fußsohlen, doch ich ignorierte es. Lieber solche Wehwehchen haben, als irgendwann tot in der Gosse zu modern.
Die Schaufenster in der Fußgängerzone, durch die ich lief und die ich flüchtig betrachtete, waren dunkel und meistens voller Puppen, über und über bekleidet mit Röcken, High Heels, Hüten, Blusen und haste nicht gesehen. Alles unnötiger Quatsch!, dachte ich. Manche Leute hatten vielleicht Probleme, von denen sie ständig sprachen, selbst ich war eine von diesen Leuten gewesen. Wen kümmerte es, ob man unbeliebt war, wenn es Situationen gab, wie diese hier. Wenn man nicht wusste, ob diese Sekunde nicht die letzte sein konnte, wenn man nicht wusste, ob sich im nächsten Moment plötzlich der Feind rasend schnell nähern und einem einen tötlichen Schlag versetzen konnte, wenn man nicht wusste, was gerade mit den Leuten geschah, die man liebte, wenn man nicht wusste, was aus einem werden soll, wenn man nun ständig auf der Flucht sein würde und ständig auf der Hut sein musste.
Ich hatte mich gar nicht mehr darauf konzentriert, wo ich hinlief, ich lief einfach dorthin, wo meine Füße mich trugen, um mich selbst später nicht verantwortlich fühlen zu müssen, wenn etwas Schlimmes geschah. Wenn dieses eine schlimme Ereignis eintreten sollte. Jedoch wusste ich auch, dass ich jetzt auf ein Leben in Angst zurannte, dass ich keinen Plan hatte, wie ich meinen leiblichen Vater retten konnte und dass ich vielleicht nie erfahren würde, was aus Charlie und vor allem aus Hannah geworden war.
Etwas heißes, nasses lief mir über die Wangen. Mir wurde jetzt erst bewusst, was ich zurückließ. Es war nicht nur das Einsame, Demütigende, sondern auch das Fröhliche, Nette und Lustige, was ich wie ein bemaltes Papier in die Tonne kloppte, weil es mir nicht mehr gefiel.
Ich durfte jetzt jedoch nicht wehmütig an die Vergangenheit denken. In dieser schweren Zeit ist es falsch in der Vergangenheit zu leben. In dieser schweren Zeit half man sich nur, wenn man in der Gegenwart lebte und alles auf sich zukommen ließ, um noch entscheiden zu können, ob es gut ausgehen sollte, oder nicht. Optimismus liegt mir aber nicht, dachte ich verzweifelt. Kaum einer hat weniger Optimismus als ich, denn ich bin ja schon am heulen, wenn jemand mit mir Schluss gemacht hat, dachte ich weiter. Ich hatte damals immer geglaubt, ich würde an den Qualen der Einsamkeit sterben. Doch das war überhaupt gar nichts im Vergleich zu dem.
Ein brummender, lauter Motor, ließ mich aus meinen Gedanken aufschrecken. Ich war unbemerkt weitergerannt, hatte mich nur auf meine Überlegungen und Gedanken konzentriert, konnte bereits schon den Wald erkennen. Weniger als hundert Meter entfernt, standen die ersten Bäume in der Dunkelheit.
Ich sah erschrocken zurück. Das Auto der Connelys kam auf mich zu, immer lauter werdend brüllte der Motor.
In meiner Einbildung schrie mir der Landrover zu: „Meine Güte bist du schwach! Kaum eine halbe Stunde später, da habe ich dich schon wieder eingefangen! Du bist so gut wie tot!“
Ich schüttelte kaum merklich den Kopf und flüsterte: „Ihr seid ein Haufen Dreck zu glauben, dass ich mich so leicht fangen lasse. Ihr werdet noch sehen. Ich bin eine wirklich sehr große Gefahr für euch. Das hier ist noch nicht das Ende, merkt es euch!“
Und ich bäumte mich gegen die Krämpfe in meinen Beinen auf und rannte, wie ich noch nie zuvor gerannt war. Zu meiner größten Verwunderung und Erleichterung gewann ich immer mehr Abstand zwischen dem rasenden Landrover und mir. Das Joggen hatte sich wirklich gelohnt. Doch ich bemerkte im nächsten Moment, dass es nicht an meiner Leistung liegen konnte, dass die beiden mich verloren. Es musste etwas anderes gewesen sein, was ich nicht begreifen konnte. Die zwei konnten vielleicht etwas vorhaben, aber was konnte das schon sein? Oder ihr Tank war leer? Nein, das wäre ein zu großer Zufall gewesen. Aber warum dachte ich so darüber nach? Ich konnte froh sein, dass mehr Abstand zwischen uns war. Somit konzentrierte ich mich wieder auf das Rennen meiner Beine, sowie auf den Wald.
Ich strahlte, als ich schließlich die Bäume erreichte.
„Endlich Wald!“, murmelte ich erleichtert und flüchtete ins Dunkel der Bäume. Hier kannte ich mich von uns Dreien am allerbesten aus, das war natürlich klar. Sie würden mich nicht finden, garantiert nicht. Mein Puls ging wieder etwas langsamer, der Landrover hatte den Waldrand noch nicht erreicht, somit hatte ich etwas mehr Vorsprung. Das hieß jedoch nicht, dass ich mich jetzt ausruhen konnte.
Ich rannte noch eine Weile weiter, bis ich mir sicher war, dass ich weit genug in den Wald gerannt war und etwas beruhigter setzte mich langsam wieder in Bewegung.

Vorerst gerettet




Der Tag brach an, als ich auf eine Lichtung stieß, mich an den letzten Baum auf der einen Seite lehnte und aufatmete. Ich war nun schon an die vier Stunden gewandert, eine Tortur für jeden annähernden Sportmuffel und Konditionsfreien, der ich trotz allem Joggen war.
Dazu gab es eine ganz einfache Vorgeschichte: Ein neuer, junger und attraktiver Sportlehrer war auf unser Internat gewechselt und ich hatte auf ihn ein Auge geworfen, wie gut zehn andere Mädchen aus meiner Klasse. Die Anderen hatten es nicht zugeben wollen, da sie vergeben waren, oder es einfach von sich selbst aus nicht wollten, jedoch nicht anders konnten, als ihn süß zu finden. Da dieser Lehrer vor allem auf langes Laufen und Joggen Wert setzte, hatte er das ganze Jahr über, das ich ihn hatte, nur Laufen verlangt. Dadurch war ich jeden Abend mindestens zwei Stunden um das Gelände gelaufen. Am Anfang konnte ich das Gelände nur einmal umlaufen, dann wurde es immer mehr, bis ich schließlich fünfzehn Runden in zwei Stunden hinlegen konnte. Für mich war das sehr viel, denn das Gelände ist mächtig und für mich als Null-Konditionsmensch war das eine große Leistung gewesen, weshalb ich dann auch in Sport eine Eins plus bekam. Allerdings fand ich den Lehrer nicht mehr so toll, wie anfangs, denn dieser war doch sehr jähzornig und im Großen und Ganzen unausstehlich.
Doch allein das Fliehen vor den Kugeln hatte mir einiges an Energie abverlangt. Die Streifwunde an meinem linken Arm hatte schon vor zwei Stunden aufgehört zu bluten, jedoch tat es immer noch höllisch weh. Ich spürte Blasen an meinen Füßen. Boots waren nichts zum Wandern oder Rennen, vor allem nicht wenn es aus mindestens einer halben Stunde Hetzjagd durch die Stadt bestand.
Langsam musste ich mir überlegen, wo ich nun hin sollte. Wenn ich zu meinem Vater wollte, musste ich in die Hauptstadt, doch ich wusste ja nicht einmal, wo ich gerade war! Ich war einfach schnurstracks geradeaus gelaufen, Hauptsache weg von dieser Stadt, die ich jetzt so sehr hasste.
Ich hielt meine Augen für eine Weile geschlossen. Als ich die Augen abermals öffnete, sah ich Paco plötzlich vor mir hocken.
„Paco, was machst du denn hier?!“, fragte ich erstaunt und setzte mich auf den kühlen Waldboden.
Paco schnupperte an meiner Armverletzung und sah mich besorgt an.
„Ja, ich weiß. Sieht schlimm aus, nicht wahr? Das waren meine falschen Eltern..“
Paco schaute verständnislos drein, indem er den Kopf zur Seite legte.
„Ich bin keine Connely, ich bin eine O’Hara, verstehst du? Ich bin die Tochter des Premierministers! Ich hab’s immer noch nicht ganz kapiert, aber es ist so. Und mein Vater ist in Gefahr. Und wenn ich ihn nicht retten kann, werde ich meinen Vater nie kennen lernen!“
Paco saß kurz still da, winselte, dann wedelte er wieder mit seinem Schwanz und rannte plötzlich los, über die Lichtung und wartete auf der anderen Seite auf mich.
„Wo willst du denn hin?!“
Ich folgte meinem kleinen Freund ein paar Minuten. Der Krampf in meinen Beinen und der Schmerz in meiner Schulter und meinem Kopf war immer noch nicht verklungen, aber wie immer störte es mich im Moment nicht.
Der Wald wurde allmählich lichter und schließlich, nach einer Stunde, konnte ich die Grenze des Waldes vor mir sehen.
Paco verschwand, nachdem er sich von mir verabschiedet hatte. Nächstes Mal werde ich ihm eine Kiste voller Hundefutter oder Leckerlis schenken, die er hier im Wald nur von mir ab und zu bekam, wenn ich zum Supermarkt kam, der auf der anderen Seite der Stadt war und zu Fuß nicht gerade schnell zu erreichen war.
Ich wäre ohne ihn niemals aus diesem Wald herausgekommen! Ich mit meinem fehlenden Orientierungssinn hatte es in großen Wäldern immer schwer, auch wenn ich schon öfters dort gewesen war.
Es war ungewöhnlich sonnig an diesem Tag, denn es war langsam Winter geworden, spät im November und kaum ein Sonnenstrahl schaffte es sonst um diese Zeit noch durch die Wolken und den Nebel.
Mir fiel plötzlich wieder ein, was ich im Haus der Connelys in meine Tasche gesteckt hatte. Ich kramte in meiner Hosentasche und hörte das viele Geld klimpern, bis ich das Stück Papier endlich zu fassen bekam.
Der Plan war sehr übersichtlich und komplex gestaltet. Wetten, Connely hat mindestens die sechzehn Jahre gebraucht, die ich schon bei ihm war, bis er den Plan fertig hatte?, dachte ich höhnisch. Der hat doch grade mal ein Hirn von einem Clownsfisch!
Ganz oben stand „Entführung von O’Haras Tochter“. Dann folgten ein paar andere Punkte, die sich immer weiter in die Sache hinein verstrickten. Es war fast wie eine Einkaufsliste, bei der man das Erledigte ankreuzte und in der jeder Schritt in einer kurzen Überschrift erläutert war (siehe Anhang). Zum Glück war das meiste noch nicht angekreuzt, sodass die beiden noch viel zutun hatten, bis sie alles erreicht hatten, was sie wollten. Doch in der Liste war auch von zwei Männern die Rede: Frederic und James Hawley.
Wer auch immer sie sind, sie tun mir leid, dachte ich. Denn hinter diesen Namen stand das Wort: eliminieren. Jedoch gab es noch kein Kreuz an dieser Stelle und dort stand außerdem: Nicht auffindbar.
Eins erzürnte mich zutiefst: An der Stelle wo stand „Eliminierung von Katie“, stand in der Zeile mit den Kreuzen: Leider noch nicht.
Eine Weile starrte ich auf das Papier und ließ meine Wut auf diese Worte und auf die Menschen, die diesen Plan verfasst hatten, über mich hereinbrechen.
Konnte es denn wirklich wahr sein, dass ausgerechnet ich die Hauptfigur in diesem ganzen Skandal spielte? Na, ja, abgesehen von meinem Vater war ich das ja. Doch warum immer ich?!, fragte ich mich verärgert und verzweifelt. Ich konnte nicht verstehen, warum plötzlich alles so kurz vor meinem siebzehnten Geburtstag passieren musste. Das war mir ein zu großer Zufall, aber ändern konnte ich eh nichts mehr.
„Ihr werdet das alles noch zu spüren bekommen. Alles, was ihr mir angetan habt und was ihr in Kürze noch vorhabt mir anzutun!“, murmelte ich verbissen.
Die riesige Flut aus Wut blieb bestehen. Ich knüllte den Plan so fest zusammen, wie es nur ging, um meine Wut etwas zu besänftigen, die nach Gewalt dürstete und an meinen Eingeweiden leckte.
Ich versuchte mich allmählich zu beruhigen. Was nützte es mir denn, wenn ich mich aufregte? Jedenfalls nicht viel. Langsam lockerte ich meinen Griff um das Blatt Papier und steckte es wieder in die Tasche.
Ich hatte keine Ahnung, wo genau ich war, trotzdem setzte ich meinen Weg fort. Irgendetwas musste ich ja unternehmen, um nicht wahnsinnig zu werden. Die Wiesenlandschaft zog sich in weiten Kurven um die Klippen herum. Vergissmeinnicht, Butterblumen, Stiefmütterchen, Wildrosen und Veilchen strahlten in der Sonne und verbreiteten einen leichten, süßen Duft, der durch die kalte Meeresluft schwach zu vernehmen war. Einen Moment hatte ich große Lust, mich einfach fallen zu lassen, mich von dem sanften Duft in den Schlaf gleiten zu lassen.
Dann fiel mir jedoch ein, dass ich weniger als zwei Wochen noch an Zeit zur Verfügung hatte, meinen Vater zu retten. Darum ließ ich die Blumen Blumen sein und wanderte einfach weiter.
Um dieses unerhörte Verhalten meiner falschen Eltern zu überspielen, dachte ich über die gegenwärtige Lage und die, die in der Zukunft sein könnte nach. Lauter Dinge schossen mir durch den Kopf und ich hatte das Gefühl zu verbrennen, denn die Sonne brannte mir im Nacken.
Kaum ein Mensch wäre auf die Idee gekommen hier zu wandern, weil in den nordländischen Nadelwäldern es nur so voller wilder und bedrohlicher Tiere wimmelte. Jedoch war das nur ein Gerücht. Mir war jedenfalls noch kein gefährliches Tier begegnet.
Es fühlte sich auch merkwürdig an, völlig auf sich allein gestellt zu sein, durch die Gegend zu rennen und zu hoffen, dass meinem Vater nichts zustieß, selbst wenn ich ihm nicht helfen konnte. Doch das bezweifelte ich zutiefst.
Plötzlich fiel mir ein, dass im Plan auch von einer Gegenseite die Rede war. Wer konnten diese Leute sein, die in dieser Gruppe gegen die Verschwörer arbeiteten?
Jemand, der sich wie ich kleidete, konnte nichts dagegen tun, inmitten der grünen Wiesen entdeckt zu werden. Das hätte mir klar gewesen sein müssen, als ich abgehauen war! Wie dumm ich nur gewesen war!

Ohne, dass ich es bemerkt hatte, war ich weiter gelaufen. Jedoch hatte ich nur ein kleines Stück zurückgelegt, als mir eine Bewegung auffiel. Vor mir in der Ferne der riesigen Wiesenlandschaft bewegten sich mehrere Punkte auf mich zu.
Für einen Augenblick dachte ich noch daran zu fliehen, mich zurückzuziehen, wieder in den Wald zu rennen, doch es schien so, als ob die Menschen, die ohne Zweifel die Punkte verkörperten, mich schon entdeckt hätten.
Und als ich mich dann doch entschließ, mich in den Schatten der Bäume zurückzuziehen, begannen die Menschen zu rennen und kamen immer näher. Anstatt wie angewurzelt stehen zu bleiben, rannte ich nun weiter, versteckte mich jedoch anschließend, da ich keine Lust mehr auf Hetzjagden hatte. Ich wusste, dass ein Baum nicht gerade das perfekte Versteck war, jedoch konnte ich dann auch besser beobachten, wo die Menschen entlang liefen, denn die Bäume standen nicht besonders nah aneinander.
Doch eine halbe Stunde später tauchten die Menschen immer noch nicht auf. Kein Knacken, kein Rascheln, nichts Verdächtiges hatte ich in der letzten halben Stunde vernommen. Es war gespenstisch still in diesem Wald, denn die Tiere des Waldes hatten gelernt kein Geräusch zu machen. Jenseits der Angst arbeitete mein Kopf angestrengt. Waren die Männer wirklich meine Feinde, oder waren es nur gewöhnliche Nomaden, die häufiger im Norden umherstreiften? Waren es vielleicht auch Mitglieder der Organisation, die für meinen Vater und gegen die Verschwörer arbeitete?
Ein Schatten legte sich über den Wald. Es wurde schlagartig dunkel. Ein Donnergrollen erschütterte alles um mich herum. Sturzbäche aus Regen prasselten auf die Blätter in den hohen Kronen, Blitze zogen sich schlängelnd über den dunkelgrauen Himmel. Es dauerte nur Sekunden, bis meine Haare pitschnass waren.
„So ein Mist!“, fluchte ich.
Wo sollte ich mich nun unterstellen? Hier draußen krank zu werden gehörte nicht zur besten Überlebensstrategie. Also kletterte ich hastig vom Baum und rannte durch die Gegend. Hier gab es rein gar nichts, was groß genug für mich war! Bedeutete das denn jetzt im Ernst, dass ich das ganze Gewitter über durch den Wald hetzen und nicht wissen würde wohin, während mir immer klammer werden und ich immer kränklichere Folgen zu spüren bekommen würde?
Dann erblickte ich durch die vielen Tropfen, die es durch das doch so dichte Netz aus Zweigen und Blättern auf den Waldboden geschafft hatten, ein, nein zwei. Drei. Vier Zelte.
Mitten im Wald hatte es doch keine Spur von Touristen gegeben! Warum waren hier dann Zelte? Waren es Eingeborene, die man noch nicht entdeckt hatte, oder waren es wirklich einfach nur Touristen, die sich vor dem Unwetter schützen wollten?
Doch dann fiel es mir wieder ein. Warum ich mindestens eine halbe Stunde auf einem dicken Ast gekauert hatte. Den Wanderern oder Nomaden, oder was auch immer sie waren mussten diese Zelte gehören! Hastig sah ich mich nach einem Versteck um. Links neben mir waren mehrere Holunderstrauche nahe eines hohen Baumes gewachsen. Doch gut konnten die mich auch nicht verbergen. Was tun?!
Aber ohne eine große Chance mich noch genauer umzublicken, wurde schon eine Zeltwand beiseite geschoben und es kam Jemand hinaus und auf mich zu.
Es war ein Mann, der mir vertraut vorkam, ich aber nicht wusste woher.
Er hatte smaragdgrüne, alte Augen in denen es leicht weiß schimmerte, einen ungepflegten Bart, der bis zu seinen Schultern ging und kurze, schlecht geschnittene, graue Haare. Der Alte hatte einen dunklen Regenmantel an, dessen Kapuze er sich gerade über den Kopf zog. Woher kannte ich diesen Mann?
„Du musst Katie sein, nicht wahr? Wir haben versucht dich zu finden, weißt du? Komm doch erst einmal rein, du erkältest dich noch “, sagte der Mann mit einer leicht krächzenden, jedoch auch beeindruckenden Stimme.
Eine seiner Hände legte sich um meine Schultern und so bugsierte er mich in das Zelt, aus dem er soeben gekommen war.
Im Zelt war es außergewöhnlich warm und trocken. Ein Licht brannte von irgendwoher und ein Reiseradio stand auf einem Klapptisch. Ein junger Mann saß daran und drehte am Radioknopf.
„Ich krieg verdammt noch mal einfach keinen Empfang, Frederic!“, fluchte er. Dann sah er zu uns beiden auf und erstarrte. Das Radio summte ununterbrochen, ansonsten war es still.
„Ist sie es?“, fragte er nach einer Weile. Frederic, der immer noch nicht den Arm von meinen Schultern gelöst hatte, nickte.
„Sie war es wirklich. Heute morgen, als du geglaubt hattest, da wäre jemand am Waldrand. Aber ich denke mal, dass sie sich versteckt hat, nachdem wir auf sie zu kamen. Luis, wenn wir nicht sofort etwas unternehmen, werden die Connelys sie noch irgendwann kriegen! Es ist anscheinend schon dazu gekommen, dass Katie es herausgefunden hat. Das alles hier! Wir müssen sofort handeln!“
„Verstanden, Frederic. Ich benachrichtige den Rest.“
Und der junge Mann namens Luis nahm seinen Regenmantel und ging rasch hinaus in den Regen.
„Was ist hier los. Wer sind Sie eigentlich? Und woher kennen Sie meinen Namen?! Gehören Sie zu dieser Organisation gegen die Verschwörer oder sind Sie Teil der Verschwörer? Was wollen Sie von mir?“, fragte ich hastig und verwirrt entzog ich mich seinem Arm.
Frederic seufzte und sagte: „Setz dich erst mal. Ich werde dir alles erklären, was du wissen willst.“

„Wir sind eine Geheimorganisation, die schon seit Jahren versucht, Martin und Sarah Connely zu stoppen. Doch wir haben noch immer nicht ihr Geheimquartier gefunden“, sagte der Alte.
„Und deswegen seid ihr unterwegs, oder wie darf ich das verstehen?“, fragte ich also.
„Ja, wir suchen schon seit längerer Zeit. Nun wissen wir, dass ihr Hauptquartier im Norden sein muss, denn die Südinsel haben wir schon komplett durchkämmt. Die Verschwörer sind uns schon seit mehreren Jahren ein Dorn im Auge gewesen. Wir waren in der Überzahl. Knapp sechshundert Leute. Wir hätten sie jeder Zeit ausschalten können, aber dein Vater meinte, es wäre nicht nötig. Doch seit ein paar Jahren haben sie den Spieß umgedreht. Sie haben unsere Männer bedroht, ihre Familien umzubringen, alles was sie hatten ihnen wegzunehmen, sodass uns mehr als die Hälfte verlassen haben und nun für die Verschwörer arbeiten. Dein Vater weiß nichts davon, dass Connely hinter allem steckt. Ich glaube es ist auch besser so. Aber ich bin so froh, dass wir dich gefunden haben. Wer weiß was dir hier draußen zustoßen könnte..“, er schüttelte verzweifelt den Kopf.
„Was, wenn du irgendeinem seiner Männer in die Arme gelaufen wärst? Ja, dann wäre alles aus gewesen. Wenn du gestorben wärst gäbe es keinen Ausweg mehr, dass dein Vater ermordet wird. Deswegen musst du um jeden Preis das alles hier überleben!“
„Aber was ist denn daran so wichtig, dass ich überlebe? Warum ist es denn so schlimm, dass ich sterbe? Wenn ich sterbe und ihr meinen Vater immer noch retten könnt, was ist denn dann so schlimm, wenn ich nicht dabei bin? Was kann ich denn schon großartig tun?“, wollte ich wissen.
Doch in diesem Moment kam der Mann wieder ins Zelt gestürmt.
„Die Anderen sind informiert. Wir konzentrieren uns auf die Nordküste“, sagte er nur und nahm wieder seinen Platz am Radio ein, wo er wieder ununterbrochen am Tuningknopf drehte.
„Dieses bescheuerte Wetter. Wenn das nicht bald aufhört, bekommen wir wirklich keine Nachrichten mehr!“
„Reg dich ab. So wichtig ist das nun auch wieder nicht“, erwiderte Frederic.
Es schien so, als ob er ganz froh war, dass Luis in dem Moment zurückkam, um mir nicht antworten zu müssen.
„Frederic, du hast meine Frage nicht beantwortet..“, sagte ich darum etwas kleinlaut. Frederic guckte erst kurz verlegen, dann winkte er ab.
„Es gibt jetzt Wichtigeres zu tun, als über deine Rolle in der Bewegung zu diskutieren. Wir müssen warten bis das Wetter sich beruhigt. Dann können wir weiter nach dem Versteck suchen. Ich fürchte jedoch, dass es gefährlicher wird, sobald wir noch näher in den Norden vordringen.“
„Wenn ich fragen darf: Wo sind wir hier jetzt eigentlich? Ich bin einfach durch die Gegend gelaufen und wusste nicht wohin.“
„Nicht weit von den Bergen. Eigentlich in der Nähe von Gjøvik. Vielleicht bist du einfach nur einen Bogen darum gelaufen, oder du hast vielleicht ein ums andere Mal ein Paar Kreise gedreht. Frauen haben da ja manchmal so ihre Probleme“, sagte Luis ohne wirklich darauf zu achten, ob er jetzt gerade etwas beleidigend klang.
„Ich finde, du solltest dich einmal ausruhen. Es wird ja auch schon spät..“, sagte Frederic entschuldigend und packte Luis am Arm und zog ihn in Richtung Zeltausgang. „Komm mit. Ich muss noch etwas mit dir klären.“
„Hey!!“, rief Luis verständnislos.
Als die zwei nun verschwunden waren, war ich ziemlich froh, dass ich allein war. Dass wirklich eine Gegenorganisation gegen die Verschwörer existierte, dass es noch andere Dinge gab, als dieses Waffenlager im Keller und die Tatsache, dass ich wirklich wichtig in dieser ganzen Sache zu sein schien, war schon ziemlich viel auf einmal. Aber um irgendetwas zu tun, legte ich mich auf den Boden des Zeltes und versuchte zu schlafen.
Doch mein Kopf wirkte so erhitzt wie schon lange nicht mehr. Selbst in der Woche, in der ich in der Schule fünf Klausuren geschrieben hatte, war er nicht so überfüllt gewesen mit Lernstoff. Die Lehrer auf dem Internat machten liebend gerne ihre eigenen Regeln und gaben gerne ziemlich viele Sachen auf einmal auf. Und vier andere Klausuren in der Woche konnten sie auch nicht davon ablenken ihre zu schreiben. Wie froh ich bin, endlich da weg zu sein, dachte ich erleichtert.
Was hatte Frederic mir eigentlich heute alles an Neuem erzählt? Er hatte mir erzählt, dass ehemalige Leute aus der Organisation von Martin Lyle erpresst wurden und dass sie zu ihnen übergetreten waren. Er hatte erzählt, dass der Premierminister über die Verschwörungstheorie Bescheid wusste, jedoch nicht besonders ausreichend, um sich ein klares Bild von der Gefahr zu schaffen, in der er tatsächlich schwebte. Frederic hatte mir auch erzählt, dass das Hauptquartier der Verschwörer nicht im Süden der Insel liegen konnte, denn dort hatten sie schon alles durchsucht.
Aber das, was er mir nicht erzählt hat, ist doch von größerer Bedeutung. Irgendetwas muss er mir verschwiegen haben, sonst hätte er mir doch einfach auf meine letzte und am meisten beantwortet gewollte Frage geantwortet. Was spielte ich für eine Rolle in diesem ganzen Komplott? Sie konnte doch niemals wichtiger sein, als die von meinem Vater! Er war schließlich in Todesgefahr. Ich war nicht unbedingt in Gefahr und wenn, dann nur, weil ich irgendeinem von Connelys Männern in die Arme lief. Doch für so dumm konnten sie mich doch nicht halten! Unmöglich!


Ich stand an einem Waldrand. Vor mir sah ich Rauch über dem Dach einer alten, verlassenen Mühle aufsteigen. Dahinter musste ein Dorf sein. Mein Magen knurrte in diesem Moment ohrenbetäubend und ich trat ein paar Schritte aus dem Wald hinaus. Hinter mir stand noch jemand, redete auf mich ein, packte mich und versuchte mich zurückzuziehen, in den Schutz des Waldes.
„Lass das, Katie! Das ist zu gefährlich! Ich wette mit dir, sie haben überall ihre Männer! Du kannst niemandem mehr glauben. Niemandem! Versteh das einfach! Nicht weil du einfach nur Hunger hast oder so. Das meine ich nicht! Denk doch mal nach! Die kennen dich! Du bist nicht irgendwer. Nicht irgendein ausgerissenes Mädchen, was ihr letztes Stück Brot verbraucht hat! Bleib hier! Wir klauen irgendwo noch etwas. Vielleicht können wir ja in der Nacht zurückkommen. Aber am Tag ist es zu gefährlich! Hör bitte auf mich und bring dich nicht in Gefahr!“
Es war ein junger Mann, fast noch ein Teenager. Er hatte schwarze, strubbelige und kurze Haare und außergewöhnlich tiefblaue Augen, die mich besorgt anstarrten, als ob sie mich beschützen wollten, indem sie mich immerzu nur anstarrten und mich damit zur Vernunft zu bringen versuchten.
„Jesse, aber was ist, wenn sie ausgerechnet nur in der Nacht auf uns – auf mich – lauern? Was willst du dann machen? Mein Magen hält das nicht mehr lange aus! Wir sind schon seit mehreren Tagen ohne Essen. Ach – ich meinte mich. Du brauchst es ja nicht unbedingt, oder? Aber jetzt mal im Ernst: Warum willst du mich denn so dermaßen beschützen? Hat dir Frederic das aufgegeben oder
was? Bist du nur bei mir, weil er nur so ein Auge auf mich hat? Oder warum bist du hier? Meinst du wirklich, ich würde nicht daran denken, dass sie auf mich warten könnten, weil sie genau wissen, dass ich hier in der Nähe gesichtet wurde? Ich kann auch alleine klar kommen, wenn du willst“, erwiderte ich launisch. Der Ausdruck in seinen Augen wurde kühl und aufgebracht.
„Wenn das so ist.. Dann brauchst du meine Hilfe ja nicht. Ich hab auch noch andere Dinge im Kopf und ich habe es auch nicht nötig hier zu sein. Wenn du meinst, dass ich Frederic wie ein Hund in allem gehorche, dann täuschst du dich gewaltig! Er ist einfach wie ein Vater für mich, verstehst du? Ich hatte nie einen richtigen Vater. Und meinem leiblichen Vater werde ich auch nie wieder begegnen wollen und können. Er hasst mich, das hat er mir gesagt, als ich fünf Jahre alt war, als er mit seiner neuen Freundin durchbrannte! Ich bin einfach nur hier, weil ich will, dass dir nichts zustößt! Begreif das doch endlich! Frederic glaubt, ich würde auf anderen Wegen und mit anderen Mitteln versuchen das Versteck der Verschwörer ausfindig zu machen! Bitte bleib bei mir, sonst gehe ich und komme nie wieder!“
Als Jesse von seinem Vater gesprochen hatte, hatte er sich abgewandt. Ich wusste, dass er mit den Tränen kämpfte. Aber ich wusste jedoch nicht, wie ich ihn anders trösten konnte, als ihn zu umarmen. Da er nicht reagierte, hoffte ich, dass ich das Richtige tat, um ihn zu trösten.
Nach einer Weile stummen Dastehens und Nichtstuns wagte ich es schließlich, hob meinen Kopf und blickte ihm ins Gesicht. Er hatte nicht wirklich geweint. Nur eine einzige Tränenspur war zu sehen. Seine Augen waren geschlossen.
„Tut mir leid, Jesse. Ich hab überreagiert. Und du hast vollkommen Recht. Nur weil ich Hunger habe, heißt das doch noch lange nicht, dass ich unentdeckt in das Dorf komme, mir etwas zu Essen besorgen kann und dann einfach wieder hinausgelange. Aber was sollen wir anstatt dessen tun? Einfach nur
herumzusitzen und nichts zu tun hilft mir und dir bestimmt auch nicht“, sagte ich dann mit sanfter Stimme.
Er öffnete die Augen, sah mich kurz an und drückte mich dann plötzlich fest an sich, fuhr mir mit seiner Hand durch mein Haar und ließ mich nicht los. Ich war so erschrocken, dass ich kurz erstarrte und mich verkrampfte, aber dann entspannte ich mich wieder. In seinen Armen fühlte ich mich seltsam geborgen. Sein Körper wärmte mich und mir kroch eine leichte Gänsehaut über die Arme.
Manchmal war Jesse etwas stürmisch und im nächsten Moment wieder total verschlossen. Als er merkte, was er da gerade tat, ließ er mich sofort wieder los und guckte verlegen zu Boden, so als ob ich bloß nichts davon erwähnen sollte.
Nach einer Weile durchbrach ich die peinliche Stille: „Sollen.. Sollen wir dann mal bis auf die Nacht warten?“
Er guckte mich kurz an und nickte dann kaum merklich, räusperte sich und sagte: „Aber ich werde bald wieder zu Frederic zurückmüssen.. Er braucht alle drei Tage einen Bericht über die Vorkommnisse, um auf dem Laufenden zu bleiben. Könnte sein, dass ich morgen wieder weg muss.“
Das enttäuschte mich etwas, jedoch wusste ich ja, dass er immer zu mir zurückkommen würde. Doch woher ich das wusste, wusste ich selber nicht.



Wieder allein




Sonnenlicht blendete mich, als ich aufwachte. Was war das für ein Traum gewesen? Er erschien mir so real gewesen zu sein. Wer war dieser Jesse? Ich wurde rot. Wie vertraut wir uns gewesen waren. Dabei kannte ich diesen Typen doch nicht einmal! War das einer dieser Träume, der irgendwann wahr wurde? Und wenn ja, wann? Der Traum verblasste immer mehr, je angestrengter ich versuchte, mich an jede Einzelheit zu erinnern. Irgendetwas war in dem Traum vorgekommen, was wichtig war, aber wie es ja immer so sein muss, wusste ich nicht mehr worum es ging. Das Einzige, an das ich mich erinnern konnte war dieser Typ: Jesse.
Dann fiel mir auf, dass ich vollkommen allein war. Die Stille drückte schon auf meine Ohren.
„Frederic? Luis? Irgendjemand da?“, fragte ich ohne große Überlegungen. Keine Antwort.
„Hm, komisch..“, murmelte ich und stand auf.
Man hatte mir den Verband um meinen Kopf abgenommen. Anscheinend brauchte ich ihn nicht mehr. Aber wo waren denn nun alle?
Ich guckte mich im Zelt um. Das Radio war noch da. Zwei Decken unter denen ich gelegen hatte, lagen zerknautscht auf dem Boden auf einer Matte. Ich hatte nicht besonders gut gelegen, mein Rücken meldete sich plötzlich schlagartig und protestierend. Eine Kühltasche war auch hier. Ich glaubte nicht, dass ich alleine hier war.
Ich streckte den Kopf aus dem Zelt. Die anderen Zelte waren verschwunden. Konnte es wirklich sein, dass sie ohne mich aufgebrochen waren? Was sollte das? Hatte Frederic nicht gesagt, es sei besser, dass ich bei ihnen war, als alleine hier umherzuwandern? Ich verstand gar nichts mehr. Was zum Teufel war geschehen, dass sie ihre Meinung geändert hatten? Ich konnte es einfach nicht einordnen!
Doch ich konnte daran jetzt nichts ändern und da es mir am klügsten schien, einfach alleine loszugehen und nach dem Versteck der Verschwörer und einer Lösung zu suchen, packte ich das Zelt ein, schulterte mir alles auf den Rücken und ging los.
Das Gepäck war ziemlich schwer, denn ich hatte alle Sachen mitgenommen, die die Anderen da gelassen hatten. Es wäre ja dumm gewesen, wenn ich es einfach da liegengelassen hätte. Das nützte dann nämlich keinem.
Ich watete durch das Gestrüpp und stolperte hin und wieder, wie üblich. Ich musste immer und immer wieder an diesen jungen Mann aus dem Traum denken und wollte unbedingt wissen, wer er war und ob ich ihn bald begegnen würde. Kaum zu glauben, dass mir so etwas passieren konnte, dachte ich mir plötzlich. Denn an das ganze Ausmaß, was bisher geschehen war und was noch kommen würde, hatte ich gar nicht gedacht. Und es hatte mich jetzt schon verändert. Ich war misstrauischer, erwartete hinter jeder Ecke, oder jedem Baum, ein neues Hindernis. Vielleicht auch mein letztes.
Ich hörte Vögel zwitschern. Nordland war so schön, wenn man es ohne die Menschen betrachtete. Kein Leid stach aus den Wäldern hier im Norden hervor. Alles lebte in Frieden.
Der Boden sank an manchen Stellen ein, sobald ich drauf tat. Ich musste wieder einmal eine ganze Weile unterwegs gewesen sein, denn meine Füße schmerzten, was mein Rücken schon pausenlos vorgemacht hatte.
Vor mir, in einer leichten Entfernung, lag eine Lichtung. Doch irgendetwas stimmte nicht. Plötzlich drangen Schmerzensschreie in meine Ohren.
Was ist denn plötzlich wieder geschehen?, fragte ich mich. Immer dann, wenn ich mich gerade sicherer fühlte musste man mir einen riesigen Dämpfer verpassen!
Sollte ich lieber verschwinden, oder herausfinden von wem die Schmerzensschreie kamen und warum? Ohne noch groß drüber nachzudenken duckte ich mich und rannte lautlos von Busch zu Busch, immer näher gen Lichtung. Immer lauter wurden die Schreie jetzt und ich versuchte irgendeine Stimme, die ich kannte aus ihnen herauszuhören. Doch die Stimme kannte ich nicht, selbst wenn die Schreie die Stimme verändert hätten. Dieser Mensch, der diese Qualen erlitt, kannte ich nicht. Den restlichen Weg musste ich nun vorsichtig, geduckt und langsam zurücklegen.
Hinter einem Holunderstrauch verborgen, der halb seine Blätter hängen ließ, kam ich endlich zum Stehen und lugte durch die noch vorhandenen Blätter. Ein Mann, wie ich ihn zuvor noch nie gesehen hatte, trat einen weiteren immer und immer wieder. Seine kurzgeschorenen schwarzen Haare, seine Bikerjacke und die Springerstiefel verliehen ihm einen bedrohlichen Eindruck.
„Du wirst mir jetzt verraten, wo der Minister sich morgen aufhält, oder willst du dass ich noch meinen kleinen Freund benutze?“, der Mann deutete auf Baseballschläger, der an seinem Gürtel festgeschnürt war.
„Den benutze ich eigentlich nur, wenn jemand mich um einen langsamen Tod bettelt. Aber bei dir würde ich – schätze ich – eine Ausnahme machen. Also jetzt mal schnell! Wo ist der Minister morgen? Komm schon, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!“
Der Mann am Boden trug einen olivgrünen Overall und hatte überall Schrammen und Blutergüsse. Was hatte der Mann mit den Springerstiefeln ihm nur angetan? Und warum wollte er von einem Mann in einem Overall wissen, wo der Minister sich aufhielt?
Dann begriff ich und mir stockte der Atem. Der Mann war mir am Anfang schon etwas bekannt vorgekommen. Aber nicht von der Stimme. Ich hatte ihn zuvor immer nur auf Bildern im Fernsehen gesehen. Es war der Wirtschaftsminister! Mr. Smith! Oh nein, wie schlimm man ihn zugerichtet hatte! Man erkannte ihn schon fast nicht mehr.
Die Lippen waren aufgesprungen, ein Auge war zugeschwollen, seine Nase war mindesten dreimal gebrochen und ich konnte mir vorstellen, dass manche Rippen langsam bersten würden, wenn der Mann, der ihn verdrosch nicht langsam einmal aufhörte.
Ich musste irgendetwas unternehmen! Ich konnte einen Minister doch nicht einfach so sterben lassen, denn das würde sicherlich passieren, wenn ich nicht eingriff. Hatte der Mann etwas mit der Verschwörung zu tun? Sicherlich.
Plötzlich klingelte das Handy des Mannes mit der kurzen Frisur, der für kurze Zeit aufhörte den armen Minister zu einen unförmigen Haufen zu treten. „Presley? .. Ach, Martin! Ja, der Minister ist hier.. Nein er hat noch nichts gesagt, aber ich bleib dran. Bald wird er reden, das verspreche ich dir! Wenn er nicht langsam redet, dann ist er nur noch Matsch. So wichtig ist er ja nicht, dass wir ihn am Leben lassen müssen, oder? … Ja, verstanden. Dann also bis in drei Stunden“, redete Presley in sein Handy hinein, dann steckte er es wieder in seine Tasche. „Nun, soll ich weitermachen, oder willst du noch weiterleben? Red' endlich! Es hilft dir nichts, wenn die Tiere dich nachher fressen. Mir nützt es nichts, dir nützt es nichts. Komm, gib's doch zu! Du bist der Einzige, der wüsste wo dein Freund sich aufhält!“
Beim letzten Satz trat Presley noch einmal mit aller Kraft zu. Mr. Smith aber lächelte nur müde.
„Was bringt es dir, wenn ich es dir sage? Dein toller Chef wird dir eh nicht viel dankbarer sein, als ich dir bin, dass du mich zu Matsch prügeln willst. Dich nutzt er doch eh nur aus. Ihr wollt doch nur wissen, wo er an seinem Geburtstag sich aufhalten wird und das wisst ihr doch, oder etwa nicht? Morgen ist doch vollkommen unnötig für euren Plan, oder? Warum sollte ich es euch denn sagen?“, sagte er mit hochmütiger Verachtung in seiner Stimme.
Mir fiel wieder ein, was es mit Mr. Smith auf sich hatte: Ein Adliger, der versuchte in der Politik auszuhelfen und erfolgreich zu sein. Seine Frau wohnte auf einem Gut in der Nähe der Hauptstadt und züchtete Pferde. Sein Vater war ein Meister im Jagen gewesen und Mr. Smith selbst war eine Niete darin. Also hatte er es mit Politik ausprobiert und bemerkt, dass es ihm gut stand.
„Mein Gott! Wenn du einmal redest, dann kommt nur unnötiger Schwachsinn raus! Sag endlich einmal was, was ich brauchen kann, Vollidiot!“, schrie Presley auf.
„Ist ja gut, ist ja gut! Der Präsident ist - “
„NEEEEIN!“
Ich hatte gerufen, ohne es wirklich gewollt zu haben und schon im nächsten Moment plumpste ich aus dem Holunderstrauch heraus direkt vor die Füße von Presley, der sich erschrocken umdrehte und mich anstarrte, als wäre ich ein Geist.
Das hatte ich mal wieder ganz super hingekriegt. Wie konnte so was denn nur immer mir passieren? Ausgerechnet mir und immer in so unpassenden Momenten!
„Ach nein! Ein Mädchen, wie nett! Was hast du denn hier mitten im Wald zu suchen, kleines Mädchen? Pilze sammeln bist du bestimmt nicht! Campst du hier?“, fragte er mit einem höhnischen Grinsen und deutete auf mein Gepäck. „Also.. Ich.. Äh.. Ja.. Campen.. Genau. Warum verhauen Sie diesen Mann? Hat er Ihnen was getan?“, sagte ich und stellte mich dumm.
Presley lachte schallend.
„Ach komm! Tu nicht so, als ob du das nicht herausgefunden hast! Du bist ja nicht schließlich plötzlich vom Himmel gefallen! Wie lange hast du hier schon im Busch gehockt und gelauscht? Bestimmt lange genug! Also scher dich fort, bevor ich es mir anders überlege und.. Nein… Warte.. Moment mal! Momentchen mal!!“
Er schaute mich genauer an.
„Dich kenn' ich doch von irgendwoher, Mädchen!“
Grauen stieg in mir auf. Ich musste verschwinden. Auf der Stelle. Smith blickte mir kurz forschend ins Gesicht und stöhnte dann als er mich ebenfalls erkannte. Wieso erkannte er mich? Er kannte mich doch nicht! Der Schläger vor mir zog abermals sein Handy aus der Tasche und begann irgendetwas zu suchen.
„Ich hab doch ein Bild von dir, nicht wahr? … Ja und wenn ich mich nicht täusche bist du… Sieh mal einer an! Da schau doch. Bist das nicht du, kleine Göre?“, sagte er dann erfreut lächelnd, die Gewissheit blitzte mich durch seine Augen an und er streckte mir sein Handy entgegen.
Ein Bild von mir, wie ich in der Küche stand und lächelnd in die Kamera blickte, während ich Kartoffeln zurechtschnitt. Dieses Foto war von Hannahs Handy! Hatte Martin wirklich jedem seiner Verbündeten ein Bild von mir geschickt? Das war ja ekelhaft! Was die wohl alles mit meinem Bild anstellten! Darüber konnte ich mich auch noch später aufregen. Jetzt musste ich erst mal mich und Smith aus diesem Schlamassel herausholen.
„Nein, das bin ich nicht. Ich kann gar keine Kartoffeln schneiden und wenn man genau hinguckt hat die da auf dem Bild keine dunklen Haare, sondern rote. Da ist nur der Schatten etwas hinderlich. Das bin nicht ich. Die hat auch grüne Augen. Sehen Sie doch genauer hin!“, sagte ich hastig. „Warum ist es so wichtig, dass Sie herausfinden, wo der Minister morgen ist? Das ist doch nicht wichtig! Sie wollen dem Minister doch nichts, oder?“
Noch schlechter konnte die Lage nicht werden. Meine kleinen Ausreden halfen auch nicht viel in einer solchen bedrohlichen Situation. Der Mann lachte wieder. Er war anscheinend doch nicht so blöde, wie er am Anfang auf mich gewirkt hatte.
„Du bist wirklich leicht zu durchschauen, Kleine. Ich glaube, alleine hier zu Campen ist wohl gestrichen. Und wenn du nicht mitkommen willst, muss ich auch bei dir den Schläger verwenden, auch wenn dein hübsches Gesicht dann entstellt wäre…“
Ich sprang auf, trat ein paar Schritte zurück. Angst überflutete mich und mir brach langsam der Schweiß aus. Nein, ich will nicht zurück zu den Connelys!! Wenn es überhaupt soweit kommen würde, denn vielleicht brachte Presley mich ja um. Noch hier. Vor Smiths Augen. Und Smith gleich hinterher, nachdem Smith ihm gesagt hatte, wo mein Vater sich morgen aufhielt.
„Wenn du abhauen willst, wirst du nicht weit kommen. Also bleib am Besten hier, Kleine.“
Wie er mich ständig „Kleine“ nannte... Es bereitete mir Übelkeit. Das Einzige, was mir jetzt noch blieb, war mit Presley zu gehen. Wie konnte ich denn schon entkommen? Da blieb ich lieber hier und hatte vielleicht noch etwas mehr zu leben, als wenn er mich eingefangen hätte und mich dann verdroschen hätte.
Plötzlich spürte ich einen ungewöhnlichen, sanften Lufthauch über meine Wange, doch als ich mich umblickte war da nichts. Als Presley merkte, dass ich nicht weiter zurückging grinste er triumphierend.
„Kluges Mädchen. Dir wäre ja auch nichts anderes übrig geblieben, oder?“, sagte er dann zufrieden.
„Also, Smith... Was... Was zum?!“
Auch ich verstand plötzlich nichts mehr. An der Stelle wo Smith hätte gewesen sein müssen, war nur noch Staub und Erde. Wohin war er verschwunden? Jetzt wo ich ihn hatte helfen wollen, hatte er mich einfach im Stich gelassen.
Jetzt, wo Presley mich erkannt hatte, hatte er sich aus dem Staub gemacht, klammheimlich mir den Tod überlassen? Feigling!, schrie es in mir. Feigling, Feigling, Feigling! Jetzt war es endgültig aus. Presley stampfte mit seinem Fuß auf. Dann wirbelte er herum und packte mich so fest am Arm, dass ich spürte, wie sich das Blut staute.
„Hast du deine Finger da im Spiel? Hast du hier einen Komplizen im Hintergrund postiert, um zuerst Smith und dann dich selbst zu retten? Na, Na?? Rück mit der Sprache raus! Wo hast du ihn hingebracht? Wo ist er hin?“, brüllte er, auch wenn sich nur noch wenige Zentimeter zwischen unseren Gesichtern befanden.
Er schüttelte mich, brüllte, schrie und tobte und war gerade dabei, mir eine zweite Ohrfeige zu verpassen, als es ihn plötzlich von den Füßen riss und er mich losließ. Ich schrie auf und stürzte ebenfalls zu Boden.
Als ich wieder aufstand, lag Presley am Boden. Was war geschehen, dass Presley plötzlich auf dem Boden lag? Doch weiter kam ich nicht, denn jemand packte mich von hinten um meine Hüfte und ich wurde unerklärlicherweise hoch in die Wipfel der an die Lichtung angrenzenden Bäume katapultiert, mitsamt den Armen, die meine Hüfte umschlangen. Was ging hier vor?
Ich schrie und versuchte mich zu befreien, aber die Arme waren zu stark. Dann wurde ich von Ast zu Ast getragen und ich konnte es mir nicht erklären. Ich versuchte meinen Kopf zu drehen, doch ehe ich das Gesicht desjenigen, der mich von Presley wegbrachte sehen konnte, schmerzte mein Nacken urplötzlich so stark, sodass ich meinen Kopf wieder nach vorne wandte. Ich sah unter mir den Waldboden in ungewöhnlich hoher Geschwindigkeit vorbeifliegen. Was ging hier verdammt noch mal vor? Wo war Mr. Smith hin? Hatte derjenige, der meine Hüfte umschlungen hielt ihn auch weggebracht? Was würde Presley jetzt wohl tun? Doch ehe ich noch weiterdenken konnte wurde mir schwarz vor Augen, mir wurde urplötzlich heiß und kalt zugleich und ein paar Sekunden später bemerkte ich nichts mehr.
Ich wachte auf dem kühlen Waldboden liegend wieder auf. Die Arme um meine Hüften waren verschwunden. Wieso war ich ohnmächtig geworden? Ich verstand wirklich nichts mehr. Über mir erblickte ich nichts als das rötliche Glimmen, das die Sonnenstrahlen verursachten.
Nach einer Weile richtete ich mich auf. Wo war ich nun wieder gelandet? Sicherlich war ich in einem der tiefen Wälder im Norden und irgendwie hatte ich das Gefühl, ich wäre hier schon einmal gewesen.
Dann sah ich die Vertiefungen im Boden und die kleinen Löcher, die die Heringe der Zelte verursacht hatten. Hier hatte ich meine Reise für heute begonnen. Hieß das jetzt, dass ich wieder von vorne laufen musste? Langsam hatte ich keine Lust mehr. Ständig wandern und wandern und wandern. Aber ich war froh, dass derjenige, der mich so urplötzlich weggebracht hatte, mich vor Presley bewahrt hatte. Aber hätte er mich nicht woanders hinbringen können und nicht wieder zurück? Vielleicht ein paar Meilen weiter?
Doch es half ja auch nichts, wenn ich jetzt darüber meckerte, dass mein Retter mich am falschen Ort abgesetzt hatte. Ich konnte von Glück reden, dass ich überhaupt dem entgangen war, dass mir ohne meine Rettung zweifellos zugestoßen wäre.
Das heruntergefallene Laub knisterte unter meinen Füßen und die Luft lag weich um mich herum. Ein paar Vögel zwitscherten. Ich wusste nicht einmal, wo ich hin lief und ob ich in dieselbe Richtung lief, wie das letzte Mal.
Es mussten wieder einmal Stunden vergangen sein, doch Müdigkeit spürte ich nicht. Ich dachte darüber nach, wie es mir gelingen würde, Martins Plan auffliegen zu lassen. Mein Vater musste mich wirklich vermisst und schon lange die Hoffnung verloren haben, mich je wieder zu sehen. Ich blieb plötzlich stehen. Aber was war denn mit Mama geschehen? Hatte sie sich erhängt, war sie von einer Klippe gesprungen, den tiefen Abgrund gen Meer gestürzt und nicht mehr aufgetaucht? Mama. Ich wünschte mir so sehr, dass sie jetzt mit mir reden würde, hier sein und mich unterstützen, mit mir kommen würde, bis zum Schluss. Doch vielleicht tat sie das gerade in diesem Moment auch. Wachte sie von da oben aus über mich? Ich sah nach oben, doch ich sah nur die gelblichen Blätter, die eins nach dem anderen abfielen. Wie hatte sie ausgesehen? War sie groß oder klein? Brünette oder blond? Welche Augenfarbe hatte sie gehabt? Die gleiche, wie ich sie hatte? Und tat es ihr leid, dass sie von dieser Welt gegangen war? Wusste sie, dass dies ein Fehler gewesen war und sie hätte stark bleiben müssen, nicht daran kaputtgehen sollen? Hätte sie vielleicht nicht ein Messer nehmen, einen Sprung vom Dach eines Krankenhauses wagen müssen, wenn sie stark genug gewesen wäre und wenn man sie genügend getröstet hätte?
Die Augen voller Tränen sank ich am nächsten Baumstamm hinunter. Ich zitterte, weinte. Mama. Ich hatte gelernt, dass Eltern Abschaum sein können, die ganzen Jahre, die ich bei den Connelys zugebracht hatte, dass man sie am liebsten nicht jeden Tag sehen wollte, dass Eltern einen die ganze Zeit nerven können, aber sie nicht zu haben, war dann auch wieder nicht das Beste. Es war schlimmer. Viel schlimmer, als einen schwer berufstätigen Vater zu haben, der kaum da war und sich kaum um einen kümmerte. Hauptsache man wusste, dass er da war. Wenn man wusste, er würde nie mehr durch die Haustür kommen, nie mehr am Fernseher im Sessel sitzen, die Füße hochgelegt, würde es schmerzhafter sein, als wenn er kaum da war.
Ich hatte nie richtige Eltern gehabt, hatte mich nie geliebt gefühlt, war damit zwar klar gekommen, aber lebte schon ein Stück weit in meiner eigenen Welt. Zurückgelassen, wie ein Verletzter, mit tiefen Wunden, unfähig sich aufzurichten und einem nachzulaufen, schreiend nach Armen suchend, die einen schützten und trösten.
Dann fiel es mir ein. Ich hatte Arme gefunden, die mir aufhalfen, die mich stützten, wann immer ich hinkte. Wenn es auch wenige waren, wenigstens waren welche da gewesen. Hannah und Charlie hatten mir geholfen, egal was gewesen war, hatten zu mir gestanden und hatten sich nicht beeinflussen lassen von irgendwelchen Leuten, die ihnen einredeten, dass ich zu niemandem gehören sollte, weil ich schlecht war.
Ich rappelte mich auf und wischte meine Tränen weg. Ich heulte nicht gerne und selten, doch wenn ich mal weinte, dann konnte ich meistens nichts mehr zurückhalten. Doch jetzt war keine Zeit zum Trauern und für Wehleidigkeiten. Jetzt waren andere Dinge wichtiger und dringend nötig. Meinen Vater retten, zum Beispiel. Oder Hannah noch einmal „hallo“ sagen. Außerdem war ich ja schon weiter, als ich geahnt hätte, sofern ich vorher gewusst hätte, was auf mich alles zukam. Ich war immerhin von meinen falschen Eltern weg und auf dem besten Weg, das Versteck der Verschwörer zu finden.
Ich atmete tief durch und ging abermals weiter. Ich hoffte, rechtzeitig an mein Ziel zu kommen, denn im Moment lief ich nur auf der Stelle herum und konnte nichts dagegen tun. Wo war nun das Hauptquartier der Verschwörer? Ich wollte unbedingt dem Ziel ein Stück näher kommen, denn ich wusste; dort standen Antworten auf ein paar meiner vielen Fragen bereit. Der Wald wurde immer lichter, doch ich bemerkte es nur am Rande. Ich war zu vertieft in meinen Gedanken, dass ich nicht einmal merkte, wo ich überhaupt noch hin lief. Ich musste mehr aufpassen, wenn ich unterwegs war. Überall lauerten Gefahren, das müsste mir langsam klar sein, nachdem ich Presley und meinen falschen Eltern mehrmals in die Falle getappt war.
Die Sonnenstrahlen blendeten mich aus heiterem Himmel. War ich wirklich schon so weit gekommen? Erstaunlich, wie die Zeit vergehen kann, wenn man seinen Gedanken nachhängt.
Ich bemerkte erst jetzt, was vor mir lag. Ein kleines Holzhäuschen. Es sah sehr gemütlich aus mit seinem blau-weiß gestreiften Anstrich und dem kleinen Gärtchen direkt daneben, wo Stockrosen, Rosen, Veilchen, Stiefmütterchen und diverse Büsche wuchsen. In den Fenstern hingen rote Spitzenvorhänge. All das verlieh dem Häuschen ein wenig mehr von der Marine und dem Meer, was unter den Klippen, die hinter dem Häuschen lagen, brauste.
Das Haus erinnerte mich an etwas, dennoch wusste ich auch, dass ich hier noch nie gewesen sein konnte, denn Martin und Sarah Connely hatten mich nie auf Ausflüge mitgenommen, sie hatten mich nicht einmal danach gefragt, waren einfach gefahren. Es musste noch aus dem Krankenhaus sein. Vielleicht gab es da ein Foto von dem Haus und es hat mir damals schon so gut gefallen, dass ich es mir immer wieder angeschaut hatte, in den Armen meiner Mutter. Aber konnte ich mir da sicher sein? Woher kannte ich es wirklich?
Ich ging darauf zu, sah mich immer wieder um, ob das nicht eine Falle von Presley oder anderen Nichtverbündeten war. Wie ein scheues Reh, dachte ich und lächelte beschämt. Hier beobachtet mich doch nun wirklich keiner! Aber konnte ich mir wirklich so sicher sein? Natürlich nicht. Trotzdem schob ich diese Gedanken beiseite. Ich wollte wissen, woher ich dieses Haus kannte und dafür musste ich näher ran gehen.
Ich stieß das Gartentürchen des weißgestrichenen Zaunes auf und erschrak, als dieses leise quietschte. Lange war hier niemand mehr durchgegangen. Der Weg zum Haus war kurz, aber er wand sich durch die vielen Büsche zu einer blaugestrichenen Hintertür, an der ein goldener Anker hing. Ziemlich hübsch. Ich hätte mir gut vorstellen können, hier einmal zu leben. Doch wenn das Haus anscheinend nicht bewohnt war, warum sahen die Stockrosen aus, als hätte man sie eben frisch eingepflanzt? Warum leuchteten die Blätter der Büsche in einem sattgrün, wie sie nur aussehen konnten, wenn man sie regelmäßig düngte? Warum gab es auf dem gepflastertem Weg keine heruntergefallenen, verwelkten Blumen? Warum gab es zwischen den Steinplatten des Weges kein Unkraut?
Hier musste jemand wohnen. Ganz klar, denn sonst sähe der Garten nicht so gepflegt aus.
Ich drückte sachte gegen die Tür mit dem Anker und es wunderte mich, dass sie sich leicht öffnen ließ. Sie sah so schwer aus und ich hatte mir eigentlich gedacht, dass die Tür verschlossen war. Komisch. Wer ließ denn sein Haus geöffnet? Na ja, ich musste zugeben, das Haus hier lag auch in der Pampa, aber trotzdem wäre ich das Risiko nicht eingegangen. Wer weiß, es konnte immer einmal passieren, dass hier jemand vorbeikam (so einer wie ich), der direkt ins Haus reinging.
Drinnen war es warm und behaglich. Es gab einen langen Flur, den eine weiße Tapete, sowie zahlreiche Bilder von Leuchttürmen, Muscheln und Dünen zierte. Der Boden war aus einem sandfarbenen Teppich, alles wirkte, wie am Strand. An einer Wand hing ein riesiges Netz, indem große und kleine Muscheln hingen. Solche Netze hatte ich auch auf Flohmärkten in meiner Heimatstadt gesehen, doch dafür hatte ich mein Geld nicht ausgeben wollen.
Die Tür rechts von mir führte in ein Wohnzimmer. Auch hier sah alles frisch geputzt aus. Auf keinem der Möbel gab es ein Staubkörnchen. In der Ecke stand ein weißer Strandkorb, dessen Polster blau-weiß gestreift war. In diesem Haus schien alles blau-weiß zu sein, bis auf die Vorhänge aus roter Spitze. Ich ließ mich in den Strandkorb fallen. Wie wäre es wohl, wenn ich hier leben würde, ohne Gedanken an eine Verschwörung gegen den Premierminister, schon ausgezogen, weg von meinen Eltern, die ich jedes Wochenende besuchen ging und die mich liebten. Wie es wohl sein würde, jeden Abend im Strandkorb zu sitzen, Tee zu trinken und sich auf den nächsten Tag zu freuen, an dem man runter zum Wasser gehen würde, um schwimmen zu gehen. Doch ich wusste ganz genau; dies war nur ein schöner Traum.
Plötzlich war da dieses Geräusch, dass einem näherkommenden Auto und dann kurz darauf einem Schlüssel im Schloss ähnelte. Oh verdammter Mist, dachte ich, sprang gehetzt auf und rannte zurück durch die Hintertür. Bitte, lass denjenigen, der gerade nach Hause kommt bitte die Vordertür aufmachen, lass das Schloss klemmen, damit ich hier vorher rauskomme, bitte!, dachte ich verzweifelt.
Kaum war die Hintertür hinter mir zugezogen, da hörte ich noch, wie jemand auf der anderen Seite des Häuschens die Tür aufmachte und eintrat. Ich versteckte mich in einem der Büsche. Ein paar Minuten später hörte ich ein paar Stimmen näher kommen. Dann erschrak ich so sehr, dass ich beinahe aufgeschrieen hätte vor Schreck, da genau über meinem Kopf eines der Fenster geöffnet wurde. Verängstigt und darauf bedacht, keinen Mucks von mir zu geben, presste ich mich an den Boden, in die Erde, sodass meine Hose ganz verdreckte, doch das kümmerte mich im Moment wirklich gar nicht. Mir fiel es schwer zu atmen, denn ich hatte Angst, derjenige könnte mich hören. Gehörte er zu den Guten? Gehört er zu den Bösen? Gehörte er überhaupt zu irgendwem? In diesem Moment erhob derjenige seine Stimme. Es war ein Mann und auch seine Stimme kam mir bekannt vor, wie alles an diesem Häuschen.
„Emily, denkst du nicht, dass Jordan langsam mal anfangen könnte unser Finanzwesen etwas zu verbessern? Ich muss ihn unbedingt sprechen, morgen. Hat sich Presley schon gemeldet?“ Presley? Nicht etwa der

Presley? Und warum kam ihr der Name Jordan so bekannt vor?
„Er muss am besten heute noch die Lage in Hørten überprüfen. Laufen alle Fabriken wieder? Der kleine Anschlag sollte aber nicht erwähnt werden, was meinen Sie? Ist das so am Besten, wenn wir erst einmal Stillschweigen darüber behalten? Und haben Sie inzwischen schon etwas Neues über Smith gehört? Er taucht nicht mehr zu Sitzungen auf!…“
Mehr bekam ich dann auch nicht mehr mit, denn der Mann, dessen Stimme mir so unendlich vertraut vorkam, schlug das Fenster wieder zu.
Ich wartete, traute mich immer noch keinen Zentimeter weiter und horchte. Dann etwa fünfundzwanzig Minuten, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, öffnete sich die Haustür, wie ich hören konnte und dann ein paar Augenblicke später heulte in Motor auf.
Nachdem das Brummen des Motors verklungen war, richtete ich mich wieder auf. Puh, das war knapp gewesen. So schnell würde ich mich nicht mehr in fremde Häuser schleichen, soviel war sicher.
Als ich durch das kleine Tor wieder hinaus gegangen war, schlenderte ich verträumt an der Klippe entlang. Natürlich achtete ich darauf, dem Abgrund nicht zu nah zu kommen, aber weit genug davon weg war ich nun auch wieder nicht. Langsam bemerkte ich erstaunt, wie weh mein Magen schon vor Hunger tat. Ich setzte meinen Rucksack ab, nahm einen der Toasts, die ich mitgenommen hatte und biss hinein. Ungetoastet schmeckten sie nicht so gut, aber wenigstens hatte ich etwas. Als ich das zweite Mal hineinbeißen wollte, gefror ich in meiner Handlung.
Keine fünfzehn Meter von mir entfernt sah ich einen kleinen Pfad an den Klippen hinunterführen. Wohin der einen wohl führte? In eine geheime Bucht? An den Strand? Doch als ich hinuntersah, sah ich an den Klippen grenzend Sand. Dort unten lag ein weiter Strand, auf dem ein paar Felsen thronten, die bei Flut bestimmt vom Wasser geflutet wurden. Meinen Toast langsam essend, machte ich mich also an den Abstieg. Ich war einfach zu neugierig für diese Welt, für meine Situation.
Ich hatte erwartet, dass ich in höchsten einer Stunde unten angekommen war, jedoch hatte ich nicht ahnen können, dass sich der kleine Pfad kilometerweit die Klippen entlang schlängelte und in weiten Bögen nach unten verlief. So brauchte ich bis zum Abend.

Wie durch Zufall




Als ich dort unten ankam, taten meine Füße höllisch weh. Ich hatte mir in meinen Boots mindestens zwei Blasen gelaufen. So ein blöder Mist! Wenigstens waren sie leise, denn ich hätte ja nicht wissen können, was mich erwartete, als ich unten angekommen war und dass das einmal wichtig für mich werden würde.
In der Zeit, in der ich beim Absteigen gewesen war, waren Männer aufgetaucht, die mit Gewehren bewaffnet auf und ab marschierten, in bestimmte Richtungen, als würden sie vor irgendetwas patrouillieren. Also musste hier irgendetwas versteckt gehalten werden und natürlich wollte ich wissen, was es war. Ich verschmolz mit dem Schatten. Dies war eigentlich sehr einfach, da sich der Mond hinter den Wolken dieser wolkenreichen Nacht verbarg und die Klippen günstigen Schatten auf den Sand warfen. An der Klippenwand schien nichts zu sein, denn hier waren die Wachen nicht so nah aneinander, wie ich weiter hinten sehen konnte. Dort hatten sogar manche Wachen ein Lagerfeuer errichtet.
Ich schlich an der Klippenwand entlang, meine Schritte wurden vom Sand verschluckt. Die Wand aus Klippen zog sich weiter als der Horizont und ich lief immer weiter darauf zu. Irgendwann musste ja irgendetwas erscheinen, denn langsam wurden die Wachen dichter und ich musste langsamer gehen, damit meine Bewegungen nicht doch noch gesehen wurden und ich später wieder niedergeschlagen, oder Sonstiges irgendwo aufwachte. Dies war mir in den letzten Tagen schon entschieden zu oft passiert.
Ich kam an einem besonders großen Felsen vorbei und staunte nicht schlecht. Dort vorne, unter vielen Palmen versteckte sich ein wuchtiges Hallengebäude. Konnte es das sein, was ich gesucht hatte? Das Hauptquartier? Was sollte es sonst sein? Mich vergewissernd, dass nirgendwo in meiner Nähe eine Wache war, ging ich langsam weiter, auf das Gebäude zu.
Es hatte nicht viele Fenster und in der Dunkelheit war die Fassade dunkelgrau. Was verbarg man dort vor der Welt? Waffen? Gefangene? Oder etwas Entsetzlicheres?
In meiner unmittelbaren Nähe standen ein paar hochgewachsene Pflanzen, die sich an eine der vielen Palmen schmiegten. Ohne groß zu überlegen warf ich mich blitzschnell und leise hinein. War es vielleicht zu schnell gewesen, sodass jemand es bemerkt hatte? Jedenfalls konnte ich niemanden plötzlich aufgeregt rufen, oder schnelle, lauter werdende Schritte hören.
Ich atmete kurz tief durch und blickte dann auf. Das würde jetzt schwer werden. Geduckt rennend erreichte ich schließlich die Fassade. Da mein Schatten dunkler war als die Wand musste ich auf die Rückseite des Gebäudes. Dort erreichte das Mondlicht nicht mich und die Wand.
Als ich gerade um die Ecke schlich, sah ich eine schlafende Wache an die Wand gelehnt. Zuerst zuckte ich zurück, doch da die Wache schlief, würde sie mich wohl kaum bemerken.
Um den Mann, der schon ziemlich alt sein musste nicht zu wecken, schlich ich in weitem Bogen um ihn herum. Doch etwas stimmte nicht mit ihm. War der Mann dort vorne an eine Kette gefesselt? War er überhaupt eine Wache, oder war er ein Gefangener? Eine Wache war nie gefesselt. Und eine Wache hatte auch keinen Knebel im Mund. Also musste es ein Gefangener sein. Seit wann saß er schon dort?
Aber im Moment war mir das Innere des Gebäudes wichtiger. Ich schlich weiter. Zum Glück war ein Fenster direkt neben einer Hintertür, die jedoch schon etwas rostig und ungeölt aussah. An die traute ich mich lieber nicht heran.
Ich stellte mich auf eine Kiste die neben dem Mann lag und schaute so durch das kleine Fenster.
Alles war dunkel, man konnte nicht viel sehen. Doch was ich sehen konnte war ein kleiner Raum, indem nur ein Tisch stand, auf dem eine Öllampe leuchtete. Und mir stockte der Atem. Martin Connely saß dort an einem Stuhl, den Rücken zu mir. Er sprach mit einem Mann. War das Presley? Nein, dieser Mann war nicht so muskulös wie er. Er war schmächtiger.
Plötzlich zuckte ich mit dem Kopf zurück, mein Herz klopfte wie wild. Hatte der fremde Mann mich eben voller Verwunderung angestarrt? Mist! Mist, Mist, Mist! Ich musste wieder einmal um mein Leben rennen.
Ich rannte, ohne noch einen Gedanken an die Wachen zu verschwenden, die eh nicht an dieser Seite des Gebäudes patrouillierten, auf die Klippenwand zu, verschmolz wieder mit den Schatten. Die Hintertür flog mit einem lauten Quietschen auf. Martin stand in der Tür, blickte sich hektisch um.
„Was soll denn da gewesen sein, Jordan? Ich sehe niemanden! Hast du wieder irgendwelche Halluzinationen?“, fragte Martin wütend und genervt.
Jordan? War das nicht der Jordan, an den die Waffen aus dem Keller in Martins Haus gegangen waren? Ich drückte mich noch weiter an die Wand und spürte plötzlich erschrocken und mit noch größer werdender Panik, dass hinter mir gar keine Wand mehr war.
Ich plumpste geräuschvoll auf einen harten, feuchten Boden. Als ich mich wieder aufgesetzt hatte, sah ich durch einen schmalen Spalt in der Wand vor mir einen Lichtstrahl wandern. Pfeilschnell stürzte ich auf die Wand zu und presste mich an die Wand neben dem Spalt.
„Da war ein Geräusch, da hast du Recht. Aber ich glaub allmählich, dass du Gespenster siehst. War bestimmt irgendeine Fledermaus, die hier von der Decke geflogen ist, oder so“, sprach Martin ganz nah an der Öffnung. Konnte man meinen Herzschlag hören? Men Herz musste doch bald aus meiner Brust herausbrechen!
„Da war Katie, da war Katie! Da bin ich ganz sicher, hundert Prozent!“
„Da war nichts, Jordan! Sieh doch, das ist nur ein dummer Spalt.“
„Nein, sie war da!! Am Fenster, ich bin doch nicht blöd, Martin! Ich hab doch gesehen wie sie sich bewegt hat! Außerdem ist dieser Spalt viel zu dünn, sieh doch! Mann, Martin! Wir hätten sie vielleicht geschnappt, wenn du mich nicht aufgehalten hättest!! Und sieh nur im Sand sind Spuren. Die führen dirket hier hin. Sie war da, Martin. Katie ist hier! Wir fangen an zu suchen, los jetzt!“
„Jordan, du bist hier nicht der Chef also mal halblang-“
„Hör auf mit dem Tamtam, hör einfach und mach einfach was ich sage, los!“
„Wer macht hier Tamtam?! Wenn es dir denn dann unbedingt besser gehen wird, dann bitte! Suchen wir nach der mysteriösen Gestalt, die Katie sein soll und die es gar nicht gibt!“
Als sich die Schritte entfernten, seufzte ich erleichtert und ließ mich etwas an der Wand herabsinken, da der Boden rutschig war. Martin war ziemlich von sich selbst und seiner Meinung überzeugt, wie typisch für ihn. Gut für mich, denn Jordan war viel klüger als er. Er hatte die Fußspuren im Sand bemerkt, er hatte mich erkannt. Würden sie mich finden?
Ich ließ mich weiter die kalte Steinwand hinabsinken. Wie knapp das gewesen war!
Erst nach ein paar Momenten erkannte ich endlich mehr als nur Schwärze. Meine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, die nur etwas vom hereindringenden Mondlicht aufgehellt wurde. Stalaktiten hingen von der niedrigen Decke herab, die gerade so hoch war, dass ich stehen konnte. An manchen Stellen musste ich mich jedoch ducken. Doch als ich weiter in die Höhlenhalle hineinging, wurde die Decke immer höher und höher, sodass man sie kaum noch sehen konnte.
Am Ende der Höhle erkannte ich nun einen weiteren kleinen, spitz nach oben zulaufenden Spalt in der Wand. Viel zu viele Stalaktiten waren schon von der Decke abgefallen und lagen nun auf dem kaltfeuchtem Steinboden herum. In einer Ecke der Halle in leichter Entfernung sah ich einen unterirdischen See, der sich über die Jahre gebildet hatte durch die Tropfen klaren Wassers, die auch jetzt noch von der Decke fielen. Gegenüber vom See hatten Menschen aus vergangenen Zeiten Malereien und Schnitzereien an der Wand hinterlassen. Viele stellten Tiere da, oder Monster, die von Menschen in die Enge getrieben und besiegt wurden. Doch dafür hatte ich nur ein paar Blicke übrig. Ich wusste, dass kaum ein Mensch jemals diesen Ort betreten hatte.
Nach einer Weile rappelte ich mich schließlich auf, als ich mich vergewissert hatte, dass Connely und Jordan verschwunden waren. Auf den ersten paar Metern stolperte ich noch ungeschickt und fiel fast wieder hin, weil es so rutschig auf dem Felsenstein war und ich so lange rumgesessen hatte.
Unsicher lief ich auf den Spalt zu. Was war hinter ihm? Eine Biegung? Eine böse Falle von den Connelys? Darum kümmerte ich mich jetzt nur wenig, denn ich wollte von diesem Ort so schnell wie möglich loskommen, so schnell es eben ging.
Ich passte kaum durch den Spalt, denn dieser war schmaler als der Erste, durch den ich so zufällig hindurchgefallen war. Diesmal hatte mich meine Tollpatschigkeit gerettet, doch ab jetzt musste ich mehr aufpassen. Zu oft war ich in brenzlige Situationen geraten. Wenigstens wusste ich jetzt, wo das Hauptquartier war und musste mich nur noch um meinen Vater kümmern. Ich hatte jedoch erwartet, dass der Ort, der jetzt hinter mir lag nicht doch noch Antworten bereithielt, warum alles so kommen musste, wie es gekommen war.
Hinter dem Spalt war es noch dunkler, denn hier kam kein Mondlicht hindurch. Hektisch tasteten meine Hände an der Wand entlang. Ein Rinnsal Wasser lief über meine Arme, meine Finger. Alles war so gruselig still. Dunkel. Wohin führte bloß dieser Gang?
Viele Minuten war ich nun unterwegs und es wurde nicht heller. Bis jetzt war nur eine Biegung stark nach rechts aufgetaucht, hinter der ich verzweifelt und erfolglos einen Ausgang erhofft hatte. Alles vergeblich.
Schon eine Ewigkeit musste ich durch die Dunkelheit gelaufen sein, doch bewegte sich nichts, bemerkte ich keine Veränderung. Gab es in diesen irrenden Gängen überhaupt einen Ausgang? Lief ich immer weiter auf eine Sackgasse zu? Meine Hoffnungen schwanden immer mehr. Ich ließ mich einen Moment auf einen Felsen sinken, den ich in der Dunkelheit ertastet hatte.
Plötzlich stieg der Tunnel steil an und wurde immer erdiger und weicher. Ich glaubte zu wissen, wo ich rauskommen würde.
Ich wäre im nächsten Moment beinahe gegen die immer noch steinige
Wand gerannt. Zum Glück zog ich vorher noch im letzten Moment den Kopf durch die dritte dünne Öffnung in der Wand aus Stein.
Auf dem Boden, der mir durch das blendende Sonnenlicht entgegenschlug, lag Laub, verschieden gefärbt und moderte vor sich hin. Aber das war nicht das, was meine Aufmerksamkeit beanspruchte. Ein junger Mann, höchstens zwanzig Jahre alt, stand dort, den Rücken mir zugewandt. Woher kannte ich ihn? Die schwarzen Haare schienen ihm ins Gesicht zu fallen, denn er strich sie sich ständig zur Seite. Konnte es sein, dass…?
In diesem Moment wirbelte der Mann blitzschnell herum und fixierte mich abrechnend mit seinen dunkelblauen Augen. Ich tat es ihm nach, indem ich zurück starrte, mit panischem Erschrecken, da ich ihn augenblicklich erkannt hatte. War das nicht dieser Typ aus meinem Traum? Konnte es eventuell sein, dass ich ihn ausgerechnet jetzt treffe, wo ich das Schlupfloch der Verschwörung entdeckt hatte?
„Du..?“, sagte ich schüchtern und wurde etwas rot.
Mir war plötzlich heiß und meine Hände wurden schwitzig. Wie konnte man nur wegen eines Typen so nervös werden? Dabei hatte ich Hannah immer ausgelacht, wenn ihr das passierte, als sie ihren Schwarm angesehen hatte. „Ich?“, fragte der Typ ruhig und doch verwirrt. Er hatte diese warme Stimme aus meinem Traum. Ich schwebte auf Wolke sieben, doch ansehen lassen wollte ich mir das nicht. Also holte ich tief Luft, formte meine Hände zu Fäusten und kam einen Schritt näher auf ihn zu.
„Bist du..? Jesse?“
Der Typ guckte wie ein Fragezeichen.
„Woher weißt du, wie ich heiße?“ fragte er perplex.
„Weiß nicht, kenn' dich irgendwoher..“, stotterte ich schnell vor mich hin.
Ich konnte ihm einfach nicht so lange in die Augen gucken, also guckte ich auf den Boden. Was war das für eine peinliche Situation! Ich hatte ja gesagt, dass ich genug brenzlige Situationen hatte, aber dafür mussten keine peinlichen kommen!
„Ach so“, sagte Jesse nur knapp.
Nach einer Weile erhob er wieder das Wort.
„Also, du weißt wer ich bin, aber ich weiß nicht, wer du bist..“ Ich zuckte zusammen.
„Katie… O’Hara“, flüsterte ich. Für einen Moment sah ich eine Emotion über Jesses Gesicht flackern. War es Entsetzen, Verblüffung, Schockierung? Doch die Emotion war so schnell weg gewesen, wie sie gekommen war. Zu schnell, um sie genau zuordnen zu können.
„Und.. Was machst du hier?“, fragte ich ihn, nur um etwas zu sagen.
„Ich war auf der Suche nach dem Hauptquartier der Verschwörer. Doch jetzt habe ich es ja gefunden. Ich hoffe, niemand ist auf dich aufmerksam geworden? Sonst bist du nämlich hier nicht mehr sicher!“
Er schien etwas zu verbergen, doch das machte mir nichts aus, denn in diesem Moment war ich einfach nur froh, dass ich ihn endlich gefunden hatte.
„Wie bist du eigentlich hierher gekommen?“, fragte er plötzlich und durchbrach die Stille und meine Gedanken.
„Ähm, zuerst bin ich von den Connelys weg.. Dann war ich bei Hannah..“, sagte ich.
Mir fiel auf, dass in dem Moment, indem ich Hannahs Namen erwähnte, sich Jesses Hände zu Fäusten ballten und er wirkte verkrampft, als würde er etwas unterdrücken. Was war denn nur los mit ihm??
„Was ist?“, fragte ich darum.
Er zuckte zusammen und sagte nur knapp: „Nichts..“
Wir saßen auf einem Baumstamm, der schon seit mehreren Jahren hier herumliegen musste.
„Du, was hast du nun eigentlich vor?“
„Ich werde zu Frederic zurückgehen und ihm den Ort mitteilen“, antwortete er mir nach längerem Zögern.
„Kannst du mich mitnehmen? Ich will wissen, wieso sie einfach abgehauen sind, obwohl sie meinten, ich wäre besser bei ihnen aufgehoben!“, sagte ich hastig.
Er lächelte.
„Natürlich kann ich das.“ Seine Stimme verriet keine Emotion.
Das Wandern zog sich wie immer lange hin. Langsam musste ich mich wirklich mal dran gewöhnen, dass ich in wenigen Tagen das komplette Land durchqueren musste. Ich traute mich nicht ihm zu sagen, dass ich Jesse im Traum gesehen hatte.


Er war sehr schön. Verdammt, wie konnte man nur so gut aussehen? Es fiel mir richtig schwer mich auf den Weg zu konzentrieren und ihn nicht pausenlos anzustarren. Zum Glück bemerkte er es nicht. Hoffentlich.
Die Sonne stand schon wieder tief am Horizont und ließ glutrotes Licht durch die Baumwipfeln scheinen. Ich liebte Sonnenuntergänge, doch jetzt hatte ich keine Zeit, sie mir anzuschauen.
Seit Stunden hatten wir schon nicht mehr miteinander geredet, doch als die Nacht über den scheinbar endlosen Wald, den wir gegen Nachmittag betreten hatten, hereinbrach, brach Jesse plötzlich das Schweigen: „Komm, wir sollten uns langsam um ein Nachtlager kümmern.“
Ich nickte nur als Antwort.
Er hatte anscheinend kein Zelt bei sich, also kroch er mit mir in das, was Frederic und seine Leute zurückgelassen hatten. Seit Tagen hatte ich nicht mehr richtig geschlafen, so kam es mir vor.


Ich lag die ganze Nacht wach. Mir schwirrten einfach zu viele Gedanken durch den Kopf. Wer war der Besitzer des kleinen Häuschens, dessen Stimme mir so bekannt vorgekommen war? Was war mit dem Mann, der hinter Connelys Versteck an der Gebäudewand geschlafen hatte? Warum war ich ausgerechnet jetzt, nachdem ich das Hauptquartier der Verschwörer entdeckt hatte, Jesse über den Weg gelaufen? War es Zufall oder hatte man ihn geschickt? Und wenn ja, welche Seite hatte ihn geschickt? Ich hatte mir mittlerweile angewöhnt niemandem mehr zu trauen. Meine Fragen gingen jedoch noch weiter. Was machte Charlie jetzt und wie ging er mit meinem plötzlichen Verschwinden und mit dem Angriff auf Hannah um? Und vor allen Dingen: Wie ging es Hannah? Hatte sie die Attacke wirklich überlebt?
Ich lag schon die ganze Zeit mit dem Rücken zu Jesse da. Bestimmt schlief er schon längst und wenn er es doch nicht tat, dann hatte er sich wirklich keinen Millimeter vom Fleck gerührt. Die Gedanken spannten weitere Fragen in meinen Kopf hinein. Sie wollten nie enden. Was würde ich als Antwort von Frederic bekommen auf die Frage, warum sie ohne mich einfach so verschwunden waren? Konnte ich Jesse wirklich auch nur einen Funken vertrauen? Log er mich an? Jeder hätte ihn schicken können. Frederic hatte einen guten Grund dafür, aber genauso viel wie Martin Connely einen hatte. Frederic könnte ihn geschickt haben, um auf mich aufzupassen. Doch was war, wenn Martin ihn geschickt hatte, um erstens meinen Standort herauszufinden und zweitens mich auszuspionieren, um genau zu erfahren, wie weit ich schon gekommen war und ob er noch Zeit hatte.
„Kannst du etwa nicht schlafen?“
Ich hätte beinahe einen Schreckensschrei ausgestoßen vor Überraschung. Jesse schlief also doch nicht. Dachte er etwa die ganze Zeit nach, oder lag er nur da und versuchte zu schlafen, was ihm nicht gelang?
„Nein“, antwortete ich schließlich.
„Ich habe nachgedacht und.. Ich finde wir sollten morgen getrennt weitergehen. Es ist besser, wenn ich alleine Frederic Bericht erstatten gehe und du kannst in dieser Zeit dich schon mal auf den Weg in die Hauptstadt machen.. Ich werde schneller wieder da sein. Es sind ja nur noch acht Tage bis zur Geburtstagsfeier..“, fuhr er fort.
Also würde er morgen lieber alleine weiterlaufen. Mir war direkt klar gewesen, dass er eine lahme Schnecke wie mich bald leid sein würde, aber dass dies so schnell passieren würde hätte ich nicht erwartet. Es machte mich traurig.
„Also.. Was meinst du damit, du wärst schneller da?“, fragte ich etwas gekränkt. Ich lag immer noch da, wie vor zehn Minuten, rührte mich nicht und verriet somit keine Emotion, wollte mich nicht umdrehen und verraten, dass seine Worte mich etwas verletzt hatten.
„Ich meine damit jetzt nicht, dass du langsam gehen würdest oder so, aber ich bin kein normaler Mensch, Katie. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es dir jetzt schon erzählen sollte, aber ich fürchte, dass nie der richtige Zeitpunkt dafür kommen wird.
Katie, ich bin ein Vampir und das schon seit 1982, soweit ich mich erinnern kann. Ich altere nicht, mir macht keine Waffe, kein Lebewesen, rein gar nichts auf der Welt etwas aus und ich bin schnell an entfernten Orten. Ich bin seit 1982 ein Vampir, aber so viel ich von Frederic erfahren habe am 5. Juni 1963 geboren. Meine Familie ist tot, für mich jedenfalls, ich hatte nie Geschwister gehabt, konnte mich nur an meinen Vater erinnern.. Und mein Vater war…“
Ich spürte, wie er bei diesen Worten die Fäuste ballte. Mich überraschte es irgendwie überhaupt nicht, dass er ein Vampir war, zumindest, dass er kein richtiger Mensch war. Das war es gewesen, was mich an meinem Traum so gewundert hatte.
Wir sind schon seit mehreren Tagen ohne Essen. Ach – ich meinte mich. Du brauchst es ja nicht unbedingt, oder?


„Was war mit deinem Vater?“, half ich ihm wieder auf die Sprünge, als ich merkte, dass er aufgehört hatte zu sprechen und eventuell meine Reaktion abwartete. Nun drehte ich mich um und sah ihm in seine wunderschönen Augen, die ins Leere blickten. Jesse fing sich anscheinend wieder. Doch er schien immer wütender zu werden und jetzt schob sich auch eine gewisse Verletztheit in sein Gesicht.
„Mein Vater war ein richtiger Gentleman. Jedenfalls erfuhr ich von vielen Frauen, die ihn kannten, dass er – und es waren wirklich viele Frauen – einmal einer gewesen sein musste. Zu dem Zeitpunkt, als mein Leben gerade einen geordneteren Alltag angenommen hatte, ohne Gefahr laufen zu müssen, einen Menschen zu überfallen, war er einfach nur noch ein Playboy. Meine Mutter hatte er längst vergessen und verlassen und irgendwo in Førde, einem Fischerdorf zurückgelassen. Zum Beispiel erfuhr ich durch einige Beobachtungen, die ich gemacht hatte, dass er nie an zwei Abenden die gleiche Dame ausführte. Warum ich mit ihm gegangen war, damals, als ich noch klein war, weiß ich nicht.
Doch als ich dann erkannte, was für ein Mensch er war, hielt mich nichts mehr dort. Seit diesem Tag an war ich nicht mehr in der Hauptstadt, weil ich befürchtete er lebe immer noch da. Doch anscheinend habe ich mich getäuscht, denn er wohnt jetzt woanders, wo du schon einmal warst.. Ich bin die ganzen Jahre über nie lange an einem Ort geblieben, reiste durch die ganze Welt, sogar nach Amerika und brach heimlich ins Weiße Haus ein, um vielleicht irgendetwas an Dokumenten über Nordland zu finden, was idiotisch war… Doch ich bin nie in Førde gewesen. Vermutlich habe ich Angst davor meine Mutter zu sehen..“, er verstummte und sah verzweifelt an die Zeltdecke.
Schweigen.
„Das mit deinem Vater tut mir leid..“, sagte ich schließlich.
Anscheinend ging ihm die Geschichte mit seinem Vater sehr nahe. Plötzlich blickte er mir tief in die Augen, als ob er mir etwas sagen wollte.
„Doch seit zehn Jahren ist er mit einer zwanzig Jahre jüngeren Frau verheiratet. Er sieht keinesfalls so alt aus, wie er es in Wahrheit ist, denn er ist genauso alt wie dein Vater, der ja in acht Tagen siebenundsechzig wird..“, sagte er.
Ich sah ihn verstört an. War das denn so wichtig zu wissen, dass mein Vater genauso alt war wie seiner und dass er jetzt wieder sozusagen „clean“ war? Ich verstand es nicht ganz.
„Genug des Geschichtenerzählens. Du solltest jetzt endlich schlafen“, sagte er, drehte sich wieder mit dem Rücken zu mir und schwieg eisern.
Also blieb mir nichts anderes übrig, als mich auch umzudrehen und zu versuchen einzuschlafen. Mich ängstigte die Tatsache nicht, dass er ein Vampir war, denn wenn er mir bis jetzt nichts getan hatte, würde er es auch nicht mehr tun und er hätte sich sonst auch nicht die Mühe gemacht mir sein ganzes Leben zu offenbaren. Wieso hatte er es überhaupt getan? Eine Antwort darauf fand ich nicht mehr an Abend, denn es dauerte gar nicht lange, da war ich auch schon wieder eingeschlafen.

Der zweite Traum




Jesse räumte bereits seine Sachen zusammen, als ich die Augen aufschlug. „Guten Morgen“, sagte er, sobald er bemerkte, dass ich wach war.
Ich gähnte, stützte mich auf meinen Ellbogen ab und sah ihm beim Einpacken zu. Er hatte es irgendwie eilig.
„Morgen. Du, sag mal.. Gehen wir heute wirklich getrennte Wege?“, fragte ich.
„Ich denke, es ist das Beste..“
Komisch, sein Gesicht sah nicht überzeugt aus.
Ich setzte mich nun gänzlich auf. Wie ich aussah wollte ich erst gar nicht wissen. Bestimmt standen meine Haare zu Berge und mein Gesicht war verlaufen und vielleicht auch etwas zerkratzt, meine Kleidung verdreckt und schmuddelig.
Wie viele Tage war ich nun schon unterwegs? Jesse hatte gestern Abend erwähnt, dass es nur noch acht Tage bis zur Geburtstagsfeier waren. Dann müsste ich schon länger als eine Woche auf dem Weg in die Hauptstadt sein! Und doch war ich gar nicht mal so weit gekommen. Jetzt musste ich mich wirklich sputen. Was wenn der Tag der Geburtstagsfeier anbricht und ich bin nicht einmal weiter als in der Mitte Nordlands? Jørkensburg lag ja eher im Süden! Jesse hatte Recht: Wir durften keine Zeit mehr verlieren. Mit dieser Erkenntnis sprang ich auf und packte meine Sachen rasch zusammen.
Als schließlich auch das Zelt am Rucksack befestigt und die restlichen Sachen in den Rucksack hineingestopft waren sagte Jesse: „Na dann.. Wir sehen uns bestimmt bald wieder.“
Er gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange, der mich erröten ließ, drehte sich um und wollte schon verschwinden, da hielt ich ihn auf, indem ich seine Hand festhielt.
Er sah sich zu mir um, erstaunt, aber irgendwie erwartungsvoll und ich sagte nur: „Wir haben eins vergessen: Ohne Navigationshilfe lande ich bald in der Nordsee..“
Nun schwand sein erwartungsvoller Blick und ich hätte mich Ohrfeigen können, weil ich nichts Besseres zu tun hatte, als auf meinen Orientierungssinn aufmerksam zu machen und nicht zu sagen, dass er mir fehlen würde, was auch wirklich stimmte, denn er fehlte mir jetzt schon. Ein kleines Lächeln konnte er sich dennoch abringen.
„Ach, so. Stimmt. Geh einfach immer weiter in diese Richtung“, er deutete nach rechts, „bis du ein Gebirge zu deiner Rechten siehst. Meide unbedingt jedes Dorf, jedes Haus, denn es könnte sein, dass dort die Männer von Martin lauern. Dann musst du einen schmalen Pfad suchen, der dich durchs Gebirge führen wird, bleib jedoch nach ein paar Kilometern nicht mehr auf dem Weg, sondern geh in einem guten Abstand davon weiter parallel entlang. Ich weiß nämlich nicht, ob da noch mehr Hintermänner von Connely warten, denn du musst auf jeden Fall durchs Gebirge und die Landstraße, die dadurch führt kannst du ja unmöglich benutzen. Wenn du dann das Gebirge hinter dir hast, werde ich bestimmt wieder bei dir sein. Wenn ich jedoch nicht auftauche, dann versuch einfach mal mit dem Gebirge im Rücken weiterzulaufen. Bis dahin müsste ich eigentlich schon wieder bei dir sein. Lass dich nicht erwischen..“
Und schon entzog er seine Hand aus meinem Griff und verschwand. Es schien Stunden zu dauern, bis ich mich wieder fing und nun blickte ich mich unsicher um.
Wo sollte ich hin laufen? Und viel mehr, wo war ich? Musste ich nun rechts oder links weiterlaufen? Diese ganzen Bäume verwirrten mich, das Knistern kleiner Blätter durch Mäuse, die eilig darüber hinweg liefen, das gedämpfte Sonnenlicht, dass durch die Baumkronen drang, das Umherschwirren der Insekten, das Glitzern des Staubes im Sonnenlicht.
Doch es half alles nichts. Irgendwo musste ich ja hingehen, konnte nicht dumm in der Gegend herumstehen, bis irgendwer mich fand. Alles, was er mir erklärt hatte bezüglich des Weges, schien plötzlich aus meinem Kopf verschwunden geworden zu sein. Ich rief mir seine Worte mit angestrengt zu gepressten Augen in Erinnerung. Wieso musste ich so vergesslich sein? Jetzt saß ich in der Patsche nur weil mein Gedächtnis so schlecht war? Musste ich jetzt auf Jesse warten? Was sollte ich nur tun?
Ein Bild schoss mir durch den Kopf. Jesse hatte in eine Richtung gezeigt. Vielleicht musste ich ja dort entlang laufen.
Ich wandte mich nach rechts, vertraute diesem Bild, dass so plötzlich in meinen Kopf geschossen war und lief los, achtete auf jedes Geräusch und glaubte daran, irgendwann die Hauptstadt, wenigstens das Gebirge zu erreichen.
Stunden vergingen, während ich durch die Landschaft wanderte.


Ich traf dieses Mal zum Glück auf keinen auf keinen Wanderer, was mich beruhigte. Wenn ich jetzt wieder auf Presley stoßen würde, könnte Jesse mich vermutlich nicht mehr retten.
Mit stampfenden Schritten lief ich nun durch pieksende Büsche, die sich mir in den Weg stellten, wich tiefhängenden Ästen aus, dachte nur daran, endlich das Gebirge zu erreichen. Meiner Kleidung tat dieses ganze Wandern durchs Unterholz nicht sonderlich gut, aber die konnte ich, nachdem ich, und falls ich dieses Abenteuer überstanden hatte eh wegwerfen.
Was Charlie bloß davon halten konnte.. In seinen Augen musste jedes Kleidungsstück gerettet, fachmännisch restauriert und gepflegt werden. Bei diesem Gedanken musste ich glucksen. Wenn er mich jetzt so sehen würde, würde er in Ohnmacht fallen!
Zweige knackten unter meinen Füßen. Ständig hielt ich Ausschau nach einem Lebewesen, um mich rechtzeitig zu verdrücken. Was hatte Jesse noch einmal gesagt? Wenn ich einen Berg sah, sollte ich nach einem Pfad suchen. Na super!
Wie lange würde ich dafür brauchen? Stunden? Tage? Er hätte mir doch wenigstens eine ungefähre Beschreibung geben können! War er bereits bei Frederic? Sicherlich, wenn er nicht schon auf dem Rückweg war. Ich wünschte, ich könnte genauso schnell rennen, einen Orientierungssinn wie er zu haben, denn wie es schien verlief er sich nie. Ich musste allerdings bedenken, dass er auch schon länger lebte als ich und viel herumgekommen war.
Plötzlich spürte ich, wie sich eine Wurzel um meinen rechten Fuß schlang. Dann sah ich auch schon, wie der Boden meinem Gesicht immer näher kam. Ich schrie vor Überraschung auf und konnte mich gerade noch mit meinen Händen abfangen.
Geschockt lag ich erst einmal ein paar Momente auf der plattgedrückten Erde und rührte mich nicht, starrte in die jadegrün schimmernden Blätter, um mich wieder zu erholen. In Gedanken verloren zu sein war schon gefährlich, jedenfalls in meinem Fall. Und nun hatte ich direkt wieder schlechte Laune. Ich schnaubte verächtlich und rappelte mich missbilligend wieder auf, machte mir nicht einmal mehr die Mühe, mir den Dreck von der Kleidung zu klopfen. Dadurch würde sie nicht viel besser aussehen. Seufzend ging ich weiter und lenkte meine Gedanken wieder in die Zukunft.
Bald darauf konnte ich durch die Baumkronen den ersten Berg ausmachen. Erleichtert beschleunigte ich meine Schritte.
Die Dämmerung brach herein, als ich den Fuß des ersten Berges von vielen erreichte. Für heute verspürte ich keine Lust, noch weiter zu gehen. Der Anstieg wäre bestimmt nicht sehr lässig und würde mir eine gewisse Anstrengung abverlangen. Jetzt waren es nur noch sieben Tage bis zu dem großen Tag. Bei der Vorstellung zitterte ich etwas, da mir ein eiskalter Schauder über den Rücken lief. Ich wollte gar nicht mehr daran denken!
Langsam hatte ich den Dreh raus beim Zeltaufbau. In dieser Nacht viel es mir ungewöhnlich leicht einzuschlafen. Vielleicht lag es daran, dass ich wieder eine Szene von Jesse und mir träumte:

Jesse kam auf mich zu.
„Du erinnerst dich bestimmt an die erste Nacht im Zelt, als ich dir erzählte, dass ich ein Vampir sei? Als ich dir erzählte, dass mich nichts mehr auf der Welt würde verletzen können?“, sagte er.
Ich sah bald Rot. Ich schien in dieser Szene sehr, sehr wütend zu sein. Und zwar auf ihn. Es kam mir so vor, als hätte er vorher etwas gesagt, was mich dermaßen entrüstet hatte, dass ich ihm am liebsten den Kopf abgerissen hätte. Aber ich tat es nicht. Ich versuchte nur ruhig zu bleiben, was mir nicht gelang. Wie konnte dieser Feigling jetzt das Thema wechseln und sich nicht die Mühe machen, mich zu beruhigen, oder die Welle aus Wut, die jetzt noch einmal durch meinen Körper raste und mich mit dem Gift, alles in diesem Moment an Jesse zu hassen, ansteckte, die Welle aus dieser Eingeweiden zerfressenden Enttäuschung, die durch meinen Körper zuckte, zu ersticken, zum Verschwinden bringen?? Wie feige! Er war doch an allem Schuld!
Wir waren in einen fast dunklen Raum, nur eine schwache Tischlampe, die auf dem Tisch stand an dem ich und Jesse lehnten, brannte neben uns. Wenigstens konnte ich das noch vor lauter Wut registrieren. Doch ich registrierte noch etwas Anderes, Ferneres. Von irgendwoher drangen Schreie, Verletzte, die vor Schmerzen keuchten und auf sich aufmerksam zu machen versuchten, nach Hilfe riefen, mit fast gebrochener Stimme, Sirenen der Krankenwagen, die durch die Nacht heulten.
„Ja..“, erwiderte ich schlicht und sehr spät auf seine Frage.
Ich kochte innerlich so dermaßen vor Wut, ich konnte ihn einfach in diesem Moment nur verachten. Er hätte mir damals doch die Wahrheit sagen können! Und zwar die ganze Wahrheit! Etwas sagte mir nämlich, dass es da noch etwas gab, was er mir nicht verraten hatte und was mich noch mehr rasend machte. Hoffentlich rückte er bald damit heraus, sonst kochte ich noch über. Die Enttäuschung nagte so sehr an mir. Am liebsten hätte ich ihm jedes einzelne Körperteil einzeln herausgerissen, damit er sich auch so verletzt fühlte und verraten, wie ich es tat und so enttäuscht, dass es ihn fast gänzlich zerriss. Stattdessen tischte er mir immer wieder Lügenmärchen auf, er sei ein Vampir! Wie konnte ich nur so dumm sein und ihm Glauben schenken? Wie vernebelt war ich denn damals von seinen schönen Augen gewesen? Was brachte es mir denn, wenn ich seine Augen bewunderte, wenn er im Grunde doch ein verachtenswerter Mistkerl und Lügner war?
„Das war. Gelogen..“
„Ach, das ist ja mal eine Neuigkeit! Als hättest du das nicht schon die ganze Zeit getan!“, schrie ich nun bissig und schon bald davor zu Toben.
Verächtlich wandte ich mich von seinem schönen Gesicht ab, doch er ging einfach um mich rum, hielt meine Schultern fest und sah mir wieder mit diesem intensiven Blick in die Augen. Trotzig blickte ich ihn an. Es war egal, was er nun zu sagen hatte, besänftigen ließ ich mich heute nicht mehr von ihm. Das konnte er so was von vergessen!
Nun begann er wieder zu sprechen: „Bis dahin war es mir noch nicht klar gewesen, aber als du in mein Leben tratst, hast du meine bisherigen Vorstellungen von meiner Zukunft gestohlen. Heute träume ich von einer anderen Zukunft“, er sah mir weiterhin – und wenn es überhaupt noch ging – noch tiefer und intensiver in die Augen. „Einer Zukunft mit dir! Glaube mir bitte, wenn ich dir sage – und das ist dieses Mal so ehrlich und wahr, wie ich hier vor dir sitze – dass ich dich liebe. Katie, du bist mein Leben und die Einzige, die mir alles wegnehmen könnte, die mich am meisten verletzen könnte!“
Mir blieb die Luft weg, meine Wut verpuffte zu einem Rauchwölkchen, die sich langsam auflöste und es blieb nur die Wärme, die jetzt durch seinen Blick in meinen Körper floss, direkt in mein Herz. Was war geschehen? Warum konnten ein paar solcher Sätze von ihm mich wieder so derartig beruhigen, dass ich nicht mehr böse auf ihn war?
Er nahm mein Gesicht in die Hände, alles um uns herum, die Schreie, die Rufe, die Sirenen, alles war verklungen, verstummt, und ließ nur noch mich und Jesse auf dieser Welt, meiner Welt.
Ohne mich aufhalten zu können, stellte ich mich auf die Zehenspitzen, schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn einfach. Erst zärtlich, dann leidenschaftlich. So leidenschaftlich, wie es nur ging. Dieser Moment würde immer in meinem Gedächtnis eingetrichtert sein und nie vergessen werden. Ich hätte nie geglaubt, dass dieser Moment je passieren würde. Eine Woge berauschender Gefühle brach über mich herein. Jesse legte seine Arme behutsam und sanft um mich und erwiderte meinen Kuss nicht weniger leidenschaftlich. Von einem Moment auf den anderen, schwebte ich in diesem ertränkendem Glück. Es klang jetzt schon so abwegig, dass ich ihn vor ein paar Minuten noch fast zerfleischen hätte können.
„Ich liebe dich auch, Jesse!“, sagte ich, als wir uns kurz voneinander lösten. Kein Mensch, kein Lebewesen würde das hier je zerbrechen können. Jesse und ich gehörten zusammen und keiner würde uns je wieder trennen können!




Ich zuckte zusammen, als ich aufwachte. War es wirklich ein Traum gewesen? Es kam mir wieder einmal so real vor. Wie der letzte Traum vor einigen Tagen. Verlegen ertappte ich mich dabei, wie ich mir wünschte, dass dieser Traum bald Realität werden würde. Bei dem Gedanken, dass er mich so küssen könnte, wurde mir warm ums Herz.
Plötzlich merkte ich, wie sich jemand neben mich auf den Boden fallen ließ, leise und ohne einen Laut, als sei die Erde keine Erde, sondern Watte, die sich um den Menschen schmiegte, der auf ihr saß. Alarmiert riss ich die Augen auf und fuhr hoch und starrte in tiefe meeresblaue Augen.
„Jesse?“, fragte ich verblüfft, verwirrt und erschrocken.
Er lächelte sein schönstes Lächeln.
„Ja?“
„Ich dachte, w- wir würden uns erst Morgen wieder sehen, oder so..“, stammelte ich durcheinander und schüchtern, denn Bilder aus meinem nächtlichen Traum kamen mir wieder in den Sinn.
Sein intensiver Blick, seine Lippen, seine Arme, die meinen Rücken berührten und durch meine Haare fuhren. Ich merkte, wie mir heiß wurde und schnell wandte ich meinen Blick auf meine Hände, wobei mir aber nicht entging, dass er bei meinen Worten etwas traurig wirkte.
„Soll ich wieder gehen?“ Er erhob sich schnell und machte schon einen halben Schritt von mir weg.
„Nein, nein! Ich war nur so überrascht!“, sagte ich schnell.
„Na, dann ist ja alles gut..“
Grinsend setzte er sich wieder neben mich.
„Du siehst müde aus. Soll ich dich erst einmal tragen?“ fragte er mich erwartungsvoll.
Ich lief rot an und stand etwas schwankend auf, was ich nicht verstand. Wieso hatte ich solche Balanceprobleme?
„Nein, nein. Es geht mir gut, danke..“, sagte ich trotzdem.
Ich wollte nicht dass er mich trug. Ich wollte nicht, dass er unter meinem Gewicht zusammenbrach! Auch wenn das lächerlich war, denn pummelig war ich überhaupt nicht. Verzweifelt versuchte ich, grade stehen zu bleiben.
Sehr überzeugend

, sagte eine verächtliche Stimme in meinem Kopf. Jesse lachte auf.
„Ja, ist klar. Wir packen jetzt das Zelt ein und dann trag ich dich!“
Er blieb hartnäckig. So ein Mist!
Zehn Minuten später schulterte ich das Gepäck und mein fürsorglicher Begleiter mich.
„Bin ich wirklich nicht zu schwer?“, fragte ich mit großen Komplexen und äußerst beschämt.
Er schüttelte schmunzelnd den Kopf.
„Nein, entspann dich. Wenn du willst, kannst du etwas schlafen“, sagte er.
Ich nickte nur, und legte vorsichtig meinen Kopf auf seine Schulter. Er lief schnell, jedoch nicht so schnell, dass alles verschwamm, aber doch schneller als jeder Läufer bei der Olympiade, trotzdem fand ich es angenehm. Meine Arme waren vor seiner Brust verschränkt. Ich genoss die Zeit, in der er mich trug. Glücklich schloss ich die Augen.

Das erste, was ich danach wieder spürte, war die Decke, die mich bedeckte. Doch da war noch etwas Anderes. Ich öffnete langsam die Augen und blickte in Jesse Gesicht, als ich den Kopf nach hinten bewegte. Seine Augen waren geschlossen. Erst jetzt bemerkte ich, dass er mich in einer sanften, beschützerischen Umarmung hielt. Im Schlaf sah er so süß aus! Noch süßer und schöner als sonst. Ich kuschelte mich näher an ihn, ohne es wirklich zu bemerken, schloss abermals die Augen.
Schlief er wirklich? Ich dachte, Vampire könnten nicht schlafen!
Und nun sagte mir eine Stimme in meinem Kopf: Denk an deinen letzten Traum, darin liegt die Antwort!


Doch an diese Antwort kam ich kein Stückchen heran. Mein Gedächtnis hatte nur das Ende meines Traumes abgespeichert. Der Anfang war aus meinem Gehirn gesickert, wie Wasser, dass durch die Löcher in den Plastikschälchen der Tomaten entfloh, wenn man sie wusch. Verdrießlich versuchte ich wieder zu schlafen. Sicherlich würde ich irgendwann die Lösung erfahren, voraussichtlich, dass der Traum in Erfüllung ging, was mein tiefster Wunsch war. Doch irgendetwas sagte mir, dass ich es bald erfahren würde, und dass es mich mehr aus der Bahn werfen würde, mein Leben dermaßen verändern würde, als ich jetzt schon annahm. Aber bevor ich noch einen weiteren Gedanken daran verschwenden zu können, schaltete sich das Betriebssystem meines Gehirnes aus und katapultierte mich in einen Tiefschlaf.

Erste Zweifel




„Katie… Katie!“
Eine vertraute Stimme, die ich überall erkannt hätte, flüsterte meinen Namen und weckte mich somit. Wie lange hatte ich nun schon wieder geschlafen? Mein Magen machte sich mit einem dröhnenden Geräusch bemerkbar. Ach, stimmt. Ich hatte seit Tagen nichts gegessen! Getrunken hatte ich zwischendurch einen Schluck aus meiner Thermoskanne, die jedoch fast leer war. Neugierig öffnete ich die Augen, denn ich roch etwas Duftendes, Leckeres. Nun erkannte ich, dass Jesse mir ein warmes Brötchen unter die Nase hielt. Ich musste lachen.
„Wo hast du die denn her?“, fragte ich.
„Gefunden“, scherzte er amüsiert. „Morgen, Schlafmütze!“
„Morgen!“, erwiderte ich und nahm ihm dann dankbar das Brötchen aus der Hand. Ich biss in das Brötchen.
„Ich hab noch mehr..“, er deutete auf eine Tüte, die ein Logo einer bekannten Bäckerkette schmückte. „Falls du noch hungrig bist, nach dem da.“
Nun deutete er auf das Brötchen, das ich in der Hand hielt.
Er grinste. Seine Zähne blitzten auf. Etwas war anders als das letzte Mal.
„Wo ist das Zelt hin?“, fragte ich kauend, nachdem ich noch einmal ins Brötchen gebissen hatte.
„Ich fand es zu.. Einengend..“, sagte er lächelnd.
Ich schmunzelte.
„Ach, so..“
Ich musste daran denken, wie er mich schützend umarmend geschlafen hatte. „Ich dachte, du kannst nicht schlafen?“, platzte es aus mir heraus.
„Äh, wieso?“, fragte er perplex und vielleicht auch etwas ertappt. Er starrte mich erschrocken an.
„Na, du hast doch geschlafen, als ich das letzte Mal aufwachte!“, sagte ich ungeduldig und knabberte etwas nervös an meinem Brötchen herum. Das mit der Umarmung verheimlichte ich ihm lieber.
„Das kommt von dem … Äh… Vielen Laufen und wenig Blut.. Das macht mich müde..“, stammelte er. Das glaubte ich ihm nicht.
„Also, wir sind fast durch das Gebirge hindurch, wenn wir uns heute beeilen, könnten wir noch heute Nachmittag wieder im nächsten Wald sein..“, sagte er rasch.
Er versuchte das Thema zu wechseln. Doch das ließ ich ihm nicht durchgehen. „Ich glaube dir nicht, dass du müde werden kannst. Da ist doch irgendetwas, was du mir verheimlichst. Ist es nicht so?“, sagte ich und blickte ihm tief und forschend in die Augen, hörte auf mein Brötchen zu essen.
„Da ist nichts, was ich dir verheimliche. Rein gar nichts! Es ist eben so, dass wenn ich zu wenig .. Blut getrunken hab, eben nicht mehr so viel Energie habe. Ist das so unverständlich? Es ist eben kein Krankenhaus in der Nähe..“, sagte er nun etwas wütend geworden.
„Krankenhaus?“, fragte ich verdutzt.
„Ja, Krankenhaus. Ich klaue immer die Blutvorräte dort. Zwar nicht alles, aber ein bisschen. So viel, dass ich satt bin“, antwortete er nun etwas desinteressiert und genervt. Ich glaubte ihm kein einziges Wort.
Irgendetwas musste er mir doch verheimlichen! Sonst wäre er doch nicht so wütend geworden, als ich ihn darauf angesprochen hatte. Es war so klar, dass er log. Und ich musste sagen, er war schon ein schlechter Lügner. Zu wenig Blut! Ha, darauf hätte sogar ein Kaninchen kommen können! Ich schnaubte verächtlich.
„Ist irgendwas?“, fragte er immer noch angenervt.
„Nein“, erwiderte ich trotzig.
„Lass uns aufbrechen, sonst sind wir vor dem Abend nicht durch das Gebirge hindurch..“, sagte ich nun, um die negative Spannung zwischen uns etwas zu lockern.
Es half nichts.
„Wenn du meinst..“, sagte er nur.
Ich wusste, dass ich mich nicht täuschte. Aber ich konnte nicht sagen, ob dieses Geheimnis riesig, oder klein war. Ich wusste nur, dass er mir nicht alles so richtig erzählte. Log er mich die ganze Zeit nur an? Ich konnte das einfach nicht glauben. Ich wollte es nicht glauben! Aber ich musste auch realistisch denken.

Mir schwirrten nicht nur diese Gedanken über seine Unehrlichkeit im Kopf herum, sondern etwas anderes, viel wichtigeres. Doch ich kam nicht darauf, so sehr ich es auch zu erzwingen versuchte. Den ganzen Tag über versuchte ich es, doch es half nichts. Es hatte etwas mit dem Traum zu tun, wenigstens wusste ich das. Jedoch hatte mich die Vorstellung, Jesse würde mich küssen derartig verwirrt, dass ich den Rest schon wieder vergessen hatte. Es machte mich wütend, dass etwas Wichtiges so greifbar war und ich es trotzdem nicht packen konnte. Es machte mich rasend, dass ich nicht von diesem quälenden Gedanken loskam. Es verletzte mich zu wissen, dass er mich anlog.
Wir liefen wieder einmal schweigend nebeneinander her. An was dachte er? Vielleicht daran, wie er mein Misstrauen eindämmen konnte, oder eine weitere Lügengeschichte spannte, wie eine Spinne, die die Wahrheit verdecken wollte, und sie dann bewachte, jedes Insekt, jedes Lebewesen, was versuchte das Netz zu durchdringen in es einspannte, um es dann zu verspeisen, verschwinden zu lassen? Mich durchzuckte ein leichter Schauder. Ich wusste, dass er mich mit einem seiner Seitenblicke die ganze Zeit über beobachtete. Doch es war mir egal. Sollte er doch glauben ich würde an irgendetwas scheußliches denken, an etwas, an das ich dachte, während ich mich fragte, was er mir denn nun nicht preisgeben wollte.
Die einzige weitere Erinnerung, die ich von dem Traum hatte, war, dass ich vor lauter Wut ihm beinahe jede Gliedmaßen einzeln gebrochen hätte. Aber das war es sicherlich nicht. Doch es hatte was damit zutun, da war ich mir sicher. Vielleicht wäre das meine Reaktion auf die Wahrheit. Die ganze Wahrheit. „Hast du was? Du siehst so .. Verärgert aus..“, sagte er plötzlich.
Verärgert war ich auch. Wie konnte ich das nicht sein? Trotzdem erschreckte ich mich, als er so aus heiterem Himmel mich aus meinen Gedanken riss.
„Nein, ich habe nur etwas geträumt“, murmelte ich hastig als Antwort, ohne groß darüber nachzudenken, was ich da redete.
Dieses Mal war ich es, die schlecht log. Ich träumte nur. Oh, Mann. Wie unglaubwürdiger ging es denn noch? Wenn ich verärgert aussah, konnte ich doch nicht träumen! Da sähe ich doch eher verträumt aus, oder abwesend, aber doch nicht sauer! Ich musste mir mal was anderes einfallen lassen. Aber eins wusste ich; ich durfte nicht mehr so auffällig und angestrengt nachdenken. Nicht vor ihm. Es würde ihm sicherlich auffallen, dass ich misstrauisch ihm gegenüber war und das ihn vermutlich sehr kränken und helfen würde es uns beiden auch nicht.
Hartnäckig, wie ich manchmal sein konnte, wollte ich unbedingt herausfinden, warum er mir nicht alles sagte. Ich wollte wissen, an was er gerade dachte. Verdrießlich musste ich mir eingestehen, dass ich nicht anders konnte, als mir zu wünschen, dass er mich so umarmen würde, wie letzte Nacht. Und nun wurde mir klar, dass ich ihn trotz allem liebte.
Aber das war doch verrückt! Ich kannte ihn doch erst seit ein paar Tagen! Wie konnte ich mich denn da schon so sehr verliebt haben? Vor allem die Tatsache, dass ich ihm nicht trauen durfte, ängstigte mich. Konnte ich all das so verbergen, dass er es nicht bemerkte? Ich wusste es nicht, aber ich hoffte ich würde es können.
„Du grübelst die ganze Zeit vor dich hin. Ist da wirklich nichts, was dich beschäftigt? Dich beschäftigt doch irgendetwas!“, sagte Jesse.
Oh, Mist. Konnte er etwa meine Gedanken lesen? Klar beschäftigte mich etwas. Aber ich konnte ihm natürlich nicht sagen, was es war.
Dann kam mir ein Einfall: „Ich denke nur darüber nach, wie wir Martin aufhalten können.. Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Die ganze Zeit ging es nur darum, dass ich es überhaupt rechtzeitig und unverletzt in die Hauptstadt schaffe, aber wie es weitergeht, liegt noch völlig offen.“ Er nickte.
„Da hast du Recht..“, murmelte er und zuckte die Achseln. „Ich habe keine Ahnung. Ehrlich gesagt kann ich dir nur raten, dich nie aufzugeben und daran zu glauben, dass du es schaffst. Lass alles auf dich zukommen, aber so, dass du im richtigen Moment entscheiden kannst“, sagte er nur. Hm, da hätte ich selbst drauf kommen können. Aber wenigstens versuchte er mir zu helfen.
Wir gingen wieder schweigend nebenher, bis es Nachmittag wurde und wir tatsächlich den nächsten Wald erreichten. Die Brötchen waren längst verdrückt und ich hatte wieder Hunger. Die Tage zuvor war mir das gar nicht aufgefallen, ich hatte nur daran gedacht in die Hauptstadt zu kommen und sonst nichts. Wenigstens hatte ich das Trinken nicht vergessen. Doch jetzt war meine Thermoskanne leer. Ich musste langsam nach einer Quelle oder etwas ähnlichem suchen.
Ich war die Erste von uns Zweien, die eine seichte Rauchschwade über den Bäumen ausfindig gemacht hatte. Meine Schritte wurden schneller, ich konnte nur noch an meinen Durst denken und mir kam nichts anderes mehr in den Sinn, selbst das Versprechen zu Jesse, dass ich mich keinem Haus nähern durfte, vergaß ich. Jemand hielt mich am Handgelenk fest.
„Wo willst du hin?“
Jesse war aufgefallen, dass ich schneller ging. Wie konnte ich nur so blöd sein und vergessen, dass er immer noch neben mir lief.
„Ich hab Durst!“, sagte ich nur.
„Du darfst da nicht hingehen! Du weißt doch gar nicht, ob da vielleicht Verschwörer hausen! Lass mich für dich etwas holen gehen!“, sagte er, während er nun meinem Arm fest hielt.
„Nein. Ich kann das schon selber!“, sagte ich wütend und riss mich los, auch wenn ich wusste, dass es nichts half, er würde mich aufhalten können, egal was er tat.
Und genau, wie ich es geahnt hatte, wirbelte er mich herum, und packte mich an den Schultern, hielt mich eisern fest. Ich zappelte und wollte seinen Griff abschütteln, aber er war natürlich stärker.
„Bist du jetzt völlig übergeschnappt? Du darfst da nicht hingehen, Katie! Weißt du nicht, was Martin mit dir machen würde, wenn er dich jetzt zu fassen kriegt? Er wird dich umbringen, sobald er dich auch nur sieht! Bestimmt sind in jedem einzelnen, stinkenden Dorf Spitzel postiert und warten nur darauf, dich einzufangen und ihm auszuliefern! Bleib hier! Wenn du so durstig bist, dann hol ich dir etwas zu trinken. Das ist viel sicherer, als wenn du gehst. Das grenzt schon an Selbstmord!“, schrie er nun fast verzweifelt.
Ich blickte einfach nur zur Seite. Sein Blick war einfach zu verletzend für mich. Er sah so verzweifelt aus, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Was war mit ihm, mit mir los?
„Und wenn du nicht hier bleibst, während ich dir was zu trinken hole, binde ich dich an irgendeinen Baum, bis ich zurückkomme und dich wieder abbinde. Ich sage dir, das werde ich wirklich tun!“, sagte er nun.
Ich seufzte, sah ihn wieder an, trotzig und gespielt verständnisvoll.
„Ist ja schon gut. Wenn du unbedingt willst, dass ich hier bleibe und du anstatt dessen das zu Trinken holst, soll’s mir recht sein. Dann warte ich eben hier!“, sagte ich nun.
Natürlich waren das nur leere Worte. Ich wollte dieses eine Mal alleine ins Dorf.
Doch es erschloss sich schwieriger, als ich gedacht hatte. Kaum war ich ein paar Schritte in Richtung Rauch gegangen, nachdem Jesse gegangen war und ich nur eine Minute gewartet hatte, war er auch schon wieder aufgetaucht. Dann würde ich es eben diese Nacht versuchen. Irgendetwas sagte mir, dass er in dieser Nacht wieder schlafen würde. Und so kam es auch.
Es fiel mir schwer, nicht auch wegzutreten, doch irgendwie schaffte ich es, indem ich mit verwirrende Gedanken in den Kopf pflanzte, bis ich Jesses gleichmäßiges, leichtes Atmen vernahm. So lautlos, wie es ging, stützte ich mich zuerst auf meine Handballen, ehe ich aufstand. Auf Zehenspitzen tappte ich zum Ende der Lichtung in Richtung Dorf.
Ich wollte wieder in die Zivilisation. Mir war nie klar gewesen, wie wichtig sie doch für mich gewesen ist, auch wenn ich mich so gefühlt hatte nicht dazu zu gehören. Man konnte mir nicht übel nehmen, dass ich meine sozialen Wünsche auch umsetzen wollte. Oder?
Mir kamen Zweifel. Es war verantwortungslos ins Dorf zu gehen und töricht! Was ritt mich in diesem Moment, mich davonzustehlen? Ich blieb unentschlossen stehen. Was sollte ich nun tun? Sollte ich ein braves Mädchen sein und wieder zurück ans Feuer gehen, oder sollte ich endlich einmal das machen, wonach mir im Augenblick war? Vieles sprach gegen einen Besuch im Dorf, schon gar nicht in der Nacht, denn wirklich etwas zu holen würde es eh nicht geben. Was wenn es nur ein einsames Haus wäre? Ein Haus, indem die Verschwörer warteten, um mich unbemerkt zu überfallen und einzusperren, ehe sie Martin meinem Schicksal überließen.
Ich tat genau das Richtige: Auf halbem Wege macht ich kehrt und lief zurück zu Jesse, in die Mitte der Lichtung. Ich wusste, dass ich meine Entscheidung jetzt auf keinen Fall bereuen würde.

Beim Frühstücken von pappigen Brötchen, die seit gestern in einer Plastiktüte in meinem Rucksack eingeschlossen gewesen waren, wurde mir die Eintönigkeit meines jetzigen Lebens bewusst. Auch wenn es vielleicht aufregender war als zuvor, es war auch nicht besser zu Wandern, welches nie zu meinen Lieblingssportarten oder Freizeitaktivitäten gehört hatte. Es war mir immer schwer gefallen, in konditionellen Sportarten durchzuhalten. Auch wenn Wandern jetzt nicht die am meisten Kraft aufreibende der Möglichkeiten gewesen war, aber auf alle Fälle die langweiligste. Ich biss in mein Brötchen. Ohne irgendeine Beilage wirkten sich die Brötchen schnell austrocknend auf den Hals aus. Langsam brauchte ich wieder Abwechslung.
„Ich glaube, du bist die Brötchen langsam satt, oder?“, sagte Jesse zu diesem Zeitpunkt. Ich schreckte hoch. Er ließ mich immer wieder in der Annahme, er könnte meine Gedanken lesen, was bestimmt nicht stimmte. Es konnte nicht stimmen!
„Ja, denke schon..“, antwortete ich zerstreut.
„Dann bring ich dir morgen etwas anderes mit, in Ordnung?“, antwortete er, worauf ich knapp erwiderte: „Ja.“
Es sollte das längste Gespräch für mehrere Stunden gewesen sein.
Heute war mal wieder einer dieser Tage, an denen ich so gut wie nur in Gedanken versunken war und kaum noch auf die Umwelt achtete. Jesse musste mich öfters einmal an tippen, wenn er eine Antwort auf eine Frage verlangte, die ich dummerweise überhört hatte. Doch ich war schon immer so gewesen. Etwas verpeilt, vielleicht auch geheimnisvoll, sehr ruhig und verschlossen, jedoch fröhlich laut und lustig, wenn man mich besser kannte und ich grade besonders gute Laune hatte.
Wie konnte ein Tag nur so ereignislos an mir vorbeifliegen, wie eine Biene an allen Blättern, nur auf einen Punkt fixiert? In deren Fall eine Blume, in meinem Fall die Geburtstagsparty meines leiblichen Vaters, dem ich nie begegnet war. Nervosität machte sich in mir breit. Der Tag war nun so greifbar nah! Ich wusste nicht, wie mir zu helfen sein würde, wenn ich an diesem Tag Martin und gut sechshundert Anderen entgegentreten musste.
Der Abend kam genauso bedeutungslos, wie es jeder andere Abend davor getan hatte. Diese eintönigen Wanderungen durch die Landschaft machten mich inzwischen wahnsinnig. Jesse war sehr ruhig, lockerte die Stimmung meistens nicht sehr gut auf und war nicht der beste Gesprächspartner, da ich wusste, dass er mir nur einen Bruchteil der Wahrheit erzählt hatte. Wie gut konnte ich ihm trauen? Würde er mich irgendwann an Martin ausliefern? Ich hatte ständig dieses Gefühl, er habe etwas mit dem kranken Möchtegernverbrecher zu tun, der versuchte meinen Vater zu ermorden, feiger Weise mit gut sechshundert Anderen gegen schlappe einhundert. Uns blieb nur noch darauf zu hoffen, dass diejenigen, deren Gefolgschaft Martin sich mit Erpressung erkauft hatte, am entscheidenden Tag, an dem das Schicksal über Nordland entscheiden würde, sich gegen ihn erheben werden, um das Land zu retten, denn es ging ja nicht nur um mich und dass ich endlich meinen Vater kennen lernen würde.
Nein, es ging schließlich um die Zukunft meiner Heimat und die Heimat von ungefähr ein ein Halb Millionen anderer Bürger von Nordland, die nichts von all den dunklen Machenschaften im Lande mitbekamen.
Diese Nacht war kühler als sonst und ich hatte eigenhändig beschlossen das Zelt wieder aufzustellen, auch unter Jesses Protesten, das Zelt sei zu klein. Er konnte ja auch draußen schlafen, wenn es ihm nicht passte und er so aussehen wollte, wie ein Wachhund!
Es gab noch so viele offene Fragen und ich wusste nicht, welche ich Jesse stellen sollte. Zum Einen, weil ich mich nicht zwischen ihnen entscheiden konnte, zum Anderen durfte ich ihm nicht trauen. Ich durfte es einfach nicht und da mein Herz sowieso Luftsprünge machte, wenn ich auch nur seinen Namen dachte, entschied ich mich sehr vorsichtig zu sein. Wer weiß, ob ich ihm am Ende doch noch alles erzählte?
Wie ich im Zelt da lag und darüber nachdachte – wie ich es schon x-mal getan hatte – ob ich ihm wirklich so weit vertrauen durfte, ihm Fragen zu stellen, kam es mir lächerlich vor, wie sehr ich mich doch auf die Anderen verlassen hatte und nicht mir selber etwas zugetraut, immer den Anweisungen Anderer nachlief und mir selber den Weg nicht ausgedacht hatte. Also, warum sollte ich Jesses Anweisungen Folge leisten, wenn ich doch die Heldin in dieser Geschichte sein sollte?
Doch da fiel mir auf, wie selbstverliebt und dumm dieser Gedanke war. Ich brauchte

die anderen Mitkämpfer doch. Ohne Frederic, oder Jesse hätte ich schon vor Tagen aufgegeben. Dieses schüchterne, kleine Mädchen ohne Selbstvertrauen, das in mir schlummerte, erwachte immer mehr zum Leben und ich durfte das nicht zulassen. Ich brauchte doch Mut und Selbstvertrauen auf diesem steinigen Weg!
Ich erinnerte mich noch gut daran, wie es gewesen war, als ich noch klein war, gerade mal fünf Jahre alt und gefragt hatte, wieso ich meinen Eltern überhaupt nicht ähnlich sah. Daraufhin hatte Sarah Connely mich finster angeschaut und gesagt, dass mich das nichts anginge und ich in mein Zimmer gehen sollte. Als ich dann zehn wurde hatte ich begriffen, dass ich bei meinen „Eltern“ nicht erwünscht war. Ehrlich gesagt fragte ich mich, wieso sie mich als Baby nicht einfach die Klippe runter gestoßen hatten, wenn sie mich doch eh umbringen wollten. Warum hatten sie sich die Mühe gemacht, mich bei ihnen zu behalten, als ihr Kind, ihr Fleisch und Blut? Eine Leise Träne floss mir über die Wange seitlich in meine Haare, die verfilzt von meinem Kopf runter hingen und mein Gesicht verbargen. Gut so.
Warum hatten sie mich damals nicht einfach umgebracht? Es wäre doch viel leichter gewesen, sie hätten schon vor sechzehn Jahren ein Kreuz in die Zeile der Einkaufsliste machen können, die von meinem Tod handelte.
Ich sah mich nach Jesse um, der draußen übernachten wollte, wie ein trotziges Kind. Doch er war nicht mehr da. Er war spurlos verschwunden. Erschrocken sprang ich auf und stieß an die Zeltdecke, was aber nicht wehtat.
Ich lief hinaus, barfuß, da ich nicht mit Boots in den Schlafsack schlüpfen wollte. Von seiner Anwesenheit war nichts zu spüren. Doch wieso war er fort? Er sagte mir doch sonst immer Bescheid, bevor er zu Frederic oder sonst wem aufbrach! Ich begann mir ernsthaft Sorgen zu machen und suchte den Waldboden mit meinen Augen ab.
Und da erblickte ich etwas Weißes, Kleines, dass an einem der Heringe klebte. Neugierig beugte ich mich dorthin und erkannte, dass das Weiße ein Zettelchen war, der mit enger und schiefer Handschrift beschrieben, leicht in der kühlen, seichten Brise der Nacht wehte.
Etwas besänftigt riss ich den Zettel vom Hering ab. Wie war Jesse hier an Tesafilm gekommen? War ja auch egal, denn nun las ich den Brief und meine Augen flogen nur so über die fein geschriebenen Zeilen:


Katie. Es tut mir leid, dass ich dir nicht gesagt habe, dass ich fortgehe. Aber es musste sein. Frederic verlangt von mir alle drei Tage spätestens Bericht zu erstatten und jetzt werde ich länger fort sein. Ich habe dir Verpflegung für fünf Tage in den Rucksack gepackt und auch deine Thermoskanne mit Kakao aufgefüllt, aber ich glaube nicht, dass ich so lange wegbleibe. Pass auf dich auf und gehe einfach weiter in die Richtung in die wir gegangen sind. Wenn du dann nach Hørten kommst, betrete die Stadt nicht! Rede mit niemandem und zeig niemandem dein Gesicht! Man wird dich sofort erkennen, glaube mir! Wende dich gen Westen und lauf immer weiter, dann wirst du bald in der Hauptstadt sein.
Jesse.



Gefangen




Na super. Glaubte er denn, dass ich wusste, wie die Fabrikstadt aussah? Ja, gut. Man erkannte sie schon wegen der ganzen Fabriken für die die Stadt dann ja auch schließlich ihren Namen bekommen hatte, aber ich wusste nicht, in welchem Teil des Landes sie lag und auch nicht, wo Westen war in dieser Pampas. Lief ich nun nach Westen oder Osten? Nach Süden oder Norden? Er hätte mir doch wenigstens einen Kompass da lassen können! Aber dann wurde mir klar, dass das eigentlich verwöhnt klang und Jesse bestimmt nicht die ganze Zeit mit einem Kompass in der Hosentasche herumlief und vielleicht sogar noch einen zweiten für mich dabei hatte, obwohl ich glaubte, dass Jesse nie einen Kompass benötigte.
Aber ich hatte es doch auch letztens geschafft, alleine ein Stückchen weiter zu gehen und hatte mich dieses Mal nicht verirrt oder war im Kreis gelaufen, wie ganz am Anfang meiner Reise, die mir so unendlich lang schon vorkam, als sei ich schon seit Jahren unterwegs. In dieser Zeit war so viel geschehen, es könnte ein komplettes Buch einnehmen.
Ich musste unbedingt an meinem Selbstvertrauen arbeiten. Wie sollte ich sonst den Kampf gegen die Connelys gewinnen, wenn ich so wenig an mich glaubte? Dann konnte ich mich ihnen direkt ausliefern lassen.


Es waren bereits schon drei Tage vergangen und langsam wurde ich ungeduldig. Ich wollte mir nicht eingestehen, dass ich ihn vermisste. Ihn schmerzerfüllt und Herz zerreißend vermisste. In jeder Sekunde dachte ich an ihn, wenn ich nicht versuchte, mir den Rest des Traumes in Erinnerung zurückzurufen.
Ich erinnerte mich noch daran, kurz nachdem ich aufgebrochen war, hatte ich die Quelle der Rauchschwaden erreicht. Es war eine Mühle gewesen, die sich mitten auf einer Lichtung erhob und eigentlich recht gemütlich, wenn auch leicht verfallen wirkte. Dieser Anblick ließ mich an meinen allerersten Traum von mir und Jesse zurückdenken. Dort hatten wir uns gestritten, weil ich unbedingt etwas Verpflegung haben wollte und er mich davon abgehalten hatte. Es war eine ähnliche Szene gewesen, wie die an unserem letzten gemeinsamen Abend, als ich Durst hatte. Konnte es wirklich sein, dass ich Visionen hatte, wenn ich träumte? War ich eine Art Hellseherin, die vielleicht ungenau die Zukunft von sich und Jesse voraussehen konnte?
Nein, das war doch verrückt! Wie konnte ich eine Hellseherin sein? Und warum sollte ich nur die Zukunft von mir und Jesse voraussagen können? Auch wenn ich mir eingestehen musste, dass ich wollte, dass es stimme bezüglich meines letzten Traumes und irgendwie war diese Theorie auch wahr, was für mich jedoch bedeutete, dass ich wirklich nicht mehr alle an der Waffel hatte.
Warum war mein Leben nur so verkorkst? Ich verstand das alles nicht!

Nun war es schon so lange her – für mich jedenfalls – dass wir uns gesehen hatten, dass es mich zerreißen wollte. Ich hatte noch nie so geliebt, und um ehrlich zu sein, hatte ich mir auch nie gewünscht so zu lieben, wenn man wusste, dass die Liebe nicht zurückgegeben werden würde und man sich nicht traute, seine Gefühle für Jemanden zu offenbaren.
Ich schüttelte den Kopf, als ob ich versuchen wollte, die Gedanken abzuschütteln. Ich konnte jetzt nicht nur an mich denken, das war egoistisch. Ich musste an das komplette Land denken. Das Land, mein Vater, Hannah und alle anderen brauchten mich, auch wenn sie es vielleicht nicht wussten. Sie würden mich brauchen.

Ich lief und lief, ließ meinen Beinen die Organisation meines Weges machen, um in Ruhe nachdenken zu können. Wie weit war ich jetzt schon ohne Jesse gekommen? Wie weit würde ich noch kommen, bevor er zurückkam?
Ohne es zu bemerken, war ich erneut an einem Waldrand angekommen. Vor mir lag eine riesige Stadt. Sie sah sehr grau aus, zu viel Beton schmückte die Häuserwände. War ich jetzt wirklich in der Fabrikstadt? Wo sonst sollte ich denn noch sein? Die normalen Städte sahen bunter, grüner und freundlicher aus, als diese trostlosen Plattenbauten.
Jetzt fiel mir ein, dass Jesse mir eingeredet hatte, bloß einen Bogen um diese Stadt zu machen. Aber ich wollte wissen, wieso. Außerdem, was konnte mir denn schon geschehen? Wenn Jesse mich einfach so durch das Land schickte, musste er sich nicht wundern, wenn ich neugierig bin, neues zu Entdecken, wenn ich mein Leben lang nicht aus meiner Heimatstadt herausgekommen war.
Immer und immer wieder drängte sich das Verlangen in meinen Kopf, die tiefere Bedeutung des kürzlich Geträumten zu entschlüsseln. Ich wusste nicht, wieso mir der Traum derartig schnell entfallen konnte. Der Anfang des Traumes war wichtig. Wichtiger als alles Andere, wie mir sofort klar gewesen war, als ich aufwachte, doch ich hatte es trotzdem vergessen.
Ich stand immer noch am Waldrand, unschlüssig ob ich das Risiko eingehen sollte, die Stadt zu betreten und Gefahr zu laufen entdeckt und eventuell gefangen zu werden. War es nicht klüger, einfach weiter zu gehen und die Fabrikstadt, Fabrikstadt sein zu lassen?
Die Stadt lag fast wie ausgestorben vor mir. Ironisch, wie meine Fantasie nun einmal war, ließ sie in meiner bildlichen, inneren Vorstellung einen Strohballen über die Straße rollen, wie in den alten Western-filmen. Ich schlug mir diese Vorstellung jedoch wieder aus dem Kopf, denn das war jetzt unangebracht.
Ich fackelte gar nicht mehr lange, denn mein Gehirn schien sich abgeschaltet zu haben, auch wenn ich mich fragte, wie es sich so gut programmieren konnte, dass es mich immer in den wichtigsten Momenten im Stich ließ und ich lehnte mich nun gegen das Verbot von Jesse auf und trat mehrere Schritte weiter auf das erste Fabrikgebäude zu. Bis jetzt stürmte niemand auf mich zu, also ging ich noch etwas weiter.
Nun stand ich neben einer nicht zu der Stadt passenden Holztür, die ungewöhnlich neu aussah, als sei sie soeben erst montiert worden.
„Na also, Jesse. Siehst du mal, es ist gar nicht so gefährlich wie du dachtest. Sieh die Welt doch nicht immer als so schlecht! Und kein Idiot lauert auf mich. Was soll mir hier schon passieren? Die arbeiten doch alle. Hier ist sowieso niemand!“, sagte ich triumphierend und schnaubte verächtlich und ungläubig, weil ich nicht glauben konnte, dass Jesse so vorsichtig war.
Es passierte so schnell, dass ich nicht einmal mehr verdutzt aufschreien konnte: Im nächsten Moment flog diese ungewöhnlich neue Tür zu meiner Linken mit einem schallenden Krachen auf und eine Gestalt erschien, stülpte mir eine Art Kartoffelsack über den Kopf, als sei ich irgendein Tier, was man einfangen musste, um es zu impfen oder einzusperren.
Ich hätte mich selbst ohrfeigen können, so dumm war ich gewesen. Und naiv, hoffnungslos und bescheuert naiv. Wieso hatte ich nur für diese wenigen fünf Minuten annehmen können, man würde nicht überall nach mir suchen? Ich hatte doch selbst miterlebt, wie viele Wachen sich allein schon um das Hauptquartier tummelten. Man konnte davon ausgehen, dass es mindestens sechshundert Verschwörer gab. Und die reichten, um mindestens einen in jedem Dorf abzustellen, um auf mich zu warten und mich sofort einzufangen. Doch ich wusste, dass in dieser Riesenstadt nicht nur ein Verschwörer auf mich gewartet hatte, denn jetzt hielt mich Jemand mit einem Arm um den Hals fest während dessen jemand Anderen Armes Hand meinen Mund zu hielt. Ich bekam kaum noch Luft durch die eng geflochtenen Nähte. Ich merkte, wie mir schwindelig wurde und ich nur noch mitbekam, wie ein weiterer Mann den Sack um meine Hüfte zuband, womöglich mit einer Art Strick. Es kam mir etwas vor wie in einem Déja-vu, da ich in letzter Zeit so oft ohnmächtig geworden zu sein schien. Ich konnte mich nicht länger gegen die übermannende Gefühllosigkeit wehren und versank in tiefen Schlaf. Ich konnte nur hoffen, dass ich nicht erstickte und dass die Männer, die mich nun entführt hatten, mir bald einen Luftschlitz oder etwas Ähnliches gönnten, sonst wachte ich womöglich nicht mehr auf.


Ein stechender Schmerz im Kreuz verursachte mein jähes Erwachen. Ich schreckte hoch und fand mich in undurchdringlicher Schwärze wieder. Wenigstens konnte ich spüren, dass ich auf einer Art Holzpritsche lag, aber das war dann auch alles, was mich mehr über meine Umgebung erfahren ließ. Ich war froh, nicht erstickt zu sein, doch vielleicht hatten meine Entführer das auch gar nicht beabsichtigt. Noch nicht.
Schlafen konnte ich nun nicht mehr. Sehen erst recht nicht. Das Einzige, was mir noch blieb, war zu horchen, auf jedes winzige Geräusch. Also schloss ich die Augen, setzte mich so hin, dass ich meine Arme um meine angezogenen Beine schlingen konnte.
Doch da war rein gar nichts. Nicht einmal ein Windhauch drang in meine Ohren. Zwar wusste ich nicht, ob ich in einem Keller, oder in einem kleinem Nebenzimmer eingesperrt war, aber eins konnte ich daraus schließen: Ich war so gut wie allein hier oder meine Wachen schliefen irgendwo, etwas weiter entfernt von mir.
Nun war genügend Zeit, um sich Gedanken zu machen, wie ich wieder aus diesem Schlamassel heraus kommen sollte. Ich stand auf, tastete mich im Dunkeln an einer kalten Wand entlang und versuchte auf so etwas wie eine Tür oder ein Fenster zu stoßen. Nach wenigen Schritten war ich auch schon in einer Zimmerecke angelangt. In diesem Moment kam mir ein unnötiger Gedanke: Was, wenn es hier Spinnen gab? Ich hasste Spinnen mehr als alles andere!
Bald darauf schob ich den Gedanken wieder ärgerlich beiseite. Wieso konnte ich in einer derartigen Situation über meine leichte Phobie nachdenken? Solange kein Etwas über meine Hände oder sonst worüber huschte, konnte mir nichts passieren, außer von meinen Entführern Martin ausgeliefert oder direkt ermordet zu werden.
Den Boden spürte ich hart unter meinen Fußsohlen. Die Wand wirkte kahl und düster, auch wenn ich nichts sehen konnte und all das nur ertastete.
Es schienen Betonwände zu sein. Vielleicht war ich ja noch immer in der Fabrikstadt. Vielleicht war dies das zweite Hauptquartier der Verschwörung? Wenn ja, so war ich geradewegs in Teufelsküche gelaufen. In mein Unglück.
Ich ließ mich an der Wand herabrutschen. Wie sollte ich hier je herauskommen? Ich war in einem Zimmer gefangen, dass mit Betonwänden und Stahltüren vollkommen ausbruchssicher war. Wenn Jesse nicht bald herausfinden würde, was mit mir geschehen war, würde mein Vater verloren sein. Obwohl ich wusste, dass ich immer auf Frederic und seine doch wenigen Männer zählen konnte. Doch sie würden nicht hohe Chancen haben, wenn sie hunderteins gegen rund sechshundert waren. Die einzige Möglichkeit war, dass die Leute, die von Connely erpresst wurden auf seine Seite zu wechseln im richtigen Augenblick das Richtige taten und am Ende doch noch zurück auf die richtige, gute Seite wechselten.
Wenn ich noch lange in diesem Gefängnis hocken musste, würde ich wahnsinnig werden! Doch es könnte ja auch sein, dass ich bis zum Geburtstag meines Vaters gar nicht mehr überlebte. Mir stiegen die Tränen in die Augen.
Wenigstens noch ein Mal wollte ich Jesse sehen und Charlie und Hannah. Und Paco. Was wohl mit ihm geschehen war? Ich habe ihn seit Tagen nicht mehr gesehen. Wie lange ich wohl schon auf der Flucht war? Ich verlor hier drin jegliches Zeitgefühl, genauso wie ich es eigentlich in den letzten Tagen immer verloren hätte, wäre da nicht die Sonne gewesen, die mir signalisierte, wann ich mein Zelt aufschlagen konnte.
Plötzlich fiel mir etwas ein. Ein Satzfetzen und dann noch einer. Alles fügte sich zu einem Puzzle zusammen.

Mir fiel auf, dass in dem Moment, indem ich Hannahs Namen erwähnte, sich Jesses Hände zu Fäusten ballten und er wirkte verkrampft, als würde er etwas unterdrücken. Was war denn nur los mit ihm??
„Was ist?“, fragte ich darum.
Er zuckte zusammen und sagte nur knapp: „Nichts..“



Das ganze Geschehene schien sich nun auch immer mehr zu einem Puzzle zusammenzufügen, je öfter ich solche Blitzeinfälle hatte. Doch wann war das, an was ich mich nun erinnerte, geschehen? Vielleicht war es ja auch aus meinem letzten Traum? Nein, sicherlich nicht. In meinem letzten Traum kam Hannahs Name nicht vor. Also dachte ich weiter.
Und dann wusste ich, dass es ein Teil unserer Unterhaltung war, die wir geführt hatten, als ich ihn das allererste Mal in der Realität getroffen hatte. Erst jetzt wurde mir klar, dass Jesse eine sehr große Rolle in diesem ganzen Abenteuer spielte, eine viel größere, als ich je angenommen hätte, hätte ich nicht die Möglichkeit durch diese Visionen das Puzzle eigenhändig und schneller, als es das Schicksal tun würde, zusammenzufügen.

Mir fiel auf, dass in dem Moment, indem ich Hannahs Namen erwähnte, sich Jesses Hände zu Fäusten ballten und er wirkte verkrampft, als würde er etwas unterdrücken. Was war denn nur los mit ihm??
„Was ist?“, fragte ich darum.
Er zuckte zusammen und sagte nur knapp: „Nichts..“



Aber verdammt, wo kamen diese dummen Visionen her? Langsam reichte es ehrlich! Doch irgendwie war ich froh, dass mein Gehirn mich daran erinnert hatte. Erstmals konnte ich mich in meinem Gefängnis von meiner jetzigen Situation ablenken und darum klammerte ich mich an diese Erinnerung, analysierte sie bis zu ihrer Bedeutung. Es war, als würde mein eigenes Gehirn mir ein Rätsel aufgeben, was ich zu lösen hatte.
Fakt ist, dass als er Hannahs Namen gehört hatte, sich sein Verhalten geändert hatte. Und zwar hatte es sich zum Negativen geändert. Es schien so, als würde er Hannah kennen, sie aber nicht besonders gut leiden können, oder .. Vielleicht hatten sie sich wirklich gekannt und sie hatte ihm aber etwas Schlimmes angetan, wozu er sich jetzt rächen wollte, vielleicht aber auch vergessen wollte und ich Dummkopf ihn wieder daran erinnert hatte.
Vielleicht kannten sie sich wirklich? Aber woher? Und seit wann? Waren sie vielleicht einmal ein Paar gewesen und hatte Hannah Jesse vielleicht verlassen und er hatte dies nicht besonders gut verkraftet? Oder war es andersrum? Aber warum kam ich jetzt auf die Idee, dass sie einmal verliebt gewesen waren? Hannah war gerade mal ein Jahr älter als ich, knapp. Wie lange hätte sie ihn kennen müssen und mit wie viel Jahren hätten sie zusammen sein können? Ich kannte sie also seit knapp zwei Jahren. Dann war sie da fast fünfzehn gewesen. Hätte es denn sein können, dass sie mit dreizehn oder vierzehn oder beides mit Jesse zusammen sein können? Ich hatte jedoch nicht den Eindruck von ihm bekommen, dass er auf so schräg aussehende Mädchen stand, wie Hannah es war.
Die Eifersucht. Die Eifersucht ließ mich sogar jetzt schlecht von meiner besten Freundin denken, die vielleicht im Sterben lag oder schon tot war oder vielleicht nur in einem leicht verbesserten Zustand war. Wie konnte ich denn so von meiner Freundin reden, die hoffentlich im Krankenhaus war? Wie konnte ich nur so ein Arsch sein?
Doch ich musste weiter nachdenken. Was war am logischsten? Welche Theorie war am realistischsten? Entweder sie waren ein Liebespaar, hatten sich aber schmerzlich trennen müssen, wegen einem Grund, den ich nicht zu wissen vermochte, oder weil sie sich einmal getroffen hatten und sofort gewusst hatten, dass sie sich auf ewig nicht leiden werden können. Ich musste nachdenken, welche Emotionen ich wann auf Jesses Gesicht bemerkt hatte. Wenn ich von Frederic gesprochen hatte, wenn ich von meinem Vater geredet hatte, wenn ich von.. Wenn ich von Martin geredet hatte, hatte er etwas nervös gewirkt. Wenn ich jedoch von meinem Vater sprach, war da keine Emotion gewesen, als sei ihm mein Vater im Grunde vollkommen gleichgültig. Vielleicht hatte ihn mein Gerede über Vater auch angenervt und er hatte es versucht zu unterdrücken, genauso wie er die Emotionen beim Klang von Hannahs Namen unterdrücken wollte?
Ich kam zum Schluss, dass wenn ich hier herauskommen sollte, das erste was ich tat, Jesse darauf anzusprechen und er mir Rede und Antwort würde geben müssen. Es war an der Zeit, dass seine Lügen ein Ende nahmen. Übrigens glaubte ich ihm immer noch nicht wirklich, dass er ein Vampir war.
Und jetzt fiel es mir ein: Der Traum, der allerletzte Traum hatte damit begonnen, dass ich fuchsteufelswild beinahe auf ihn eingeschlagen hätte, hätte ich mich nicht zurückgehalten und warum war ich so wütend gewesen? Natürlich! Weil alles, was er mir bis jetzt erzählt hatte, größtenteils eine dicke, fette Lüge gewesen war! Wieso war mir das nicht schon früher eingefallen? Wieso kam ich erst jetzt darauf?
Langsam fing ich doch auch jetzt schon an zu kochen. Doch noch stärker war dieses endlose, trostlose Gefühl der bitteren Enttäuschung. Ich hatte ihn geliebt, von Anfang an und ich liebte ihn immer noch. Doch würde meine Liebe dieses Gefühl ersticken können, irgendwann? Selbst wenn die Szene wirklich so ausgehen würde – da ich mir mittlerweile sicher war, dass die Szenen die ich träumte, immer in ähnlicher Weise geschehen würden – würde ich ihm je ganz verzeihen können? Ich hatte mit Liebe überhaupt keine Erfahrung, nur dass sie einen immer einsam machen kann, obwohl man es nicht ist, weil derjenige, den man liebt, nichts mit Einem zu tun haben will. Und das war die einzige Erfahrung, die ich mit Liebe gemacht hatte und deswegen überraschte es mich nicht besonders, dass dieses Gefühl wieder in mir aufkeimte und es wunderte mich auch nicht, dass ich mich darüber nicht wunderte.
Die Liebe ist wirklich ein seltsames Spiel. Man wusste nie, wie die Geschichte ausging, aber Eines war schon immer klar: Am Ende würde man entweder als Sieger oder Verlierer ausgehen. Aber war das nicht bei allen Dingen im Leben so? Der Eine verliert, während der Andere gewinnt. Dieses Mal musste ich das Schicksal so drehen und beeinflussen, dass ich als Gewinner aus diesem Abenteuer hervorgehe.
Alles kam auf diesen einen Tag an, auf dieses eine Event. Ich war plötzlich nicht nur so enttäuscht, durch die Erkenntnis von vorne bis hinten verarscht worden zu sein, sondern auch total aufgeregt, denn entweder morgen oder übermorgen – schlecht zu berechnen durch mangelndes Zeitgefühl – würde der finale Tag kommen.
Ich schreckte hoch, als ich einen donnernden Aufprall oder Ähnliches gegen eine Tür hörte. Was war das?

Verzweiflung




Wieder ein Aufprall gegen eine stählerne Tür. Ich stand auf, denn ich hatte mich bei meinen Überlegungen auf den kalten Boden sinken lassen und lief einfach auf das Geräusch zu. Dort, wo es am lautesten donnerte, ertastete ich eine Tür, doch sie bebte nicht sehr stark, als ein erneutes Donnern die Stille durchschnitt. Sie vibrierte nur ganz leicht, als sei eine Tür ganz in der Nähe das Hindernis dessen zu sein, was immer es auch war.
„H-Hallo?“, fragte ich zitternd.
Keine Antwort. Hätte ich mir ja irgendwie denken können.
„Hallo?!“, sagte ich nun etwas lauter und das Donnern erstarb.
„W-Wer spricht da? Will der Teufel mich holen? Hat er mich endlich gefunden? Ich danke ihm vielmals, dass er gekommen ist und mich von meinem Leiden erlösen will!“ Eine irre klingende Stimme ertönte gedämpft durch den Schlitz zwischen Boden und Stahl. Ein hysterisches Kichern folgte. Man hätte unmöglich sagen können, ob es ein Mann oder eine Frau war.
„Seit wann sind Sie hier? Und was machen Sie da? Hat man Sie auch hier eingesperrt?“
„Ich weiß es nicht mehr. Ich bin schon seit vielen Jahren hier..“, antwortete die Stimme verzagt.
„Und warum hauen Sie dann gegen die Tür?“, fragte ich nun.
„Weil ich die Geister, die mich heimsuchen verjagen will. Sie sind nicht besonders freundlich und nisten sich in deinem Kopf ein, wenn du nicht aufpasst!“
Was war das denn für ein Irrer? Würde ich auch so enden, wenn ich noch lange hier drin blieb? Hoffentlich nicht! Die Vorstellung, ich könnte durch dieses Zimmer laufen, die Fäuste geballt und durch die Luft wedelnd, um vermeintliche Geister abzuwehren, die durch die Ohren, die Nase oder den Mund in mein Gehirn gelangen wollten. Was für ein Blödsinn!
„Kommen hier manchmal Leute vorbei und geben Ihnen was zu Essen oder gucken sonst so nach Ihnen?“
„Oh, nein. Nein, nein, nein. Man hat mich vergessen, weißt du. Schließlich bin ich schon sehr lange hier und diese Leute sind anscheinend sehr beschäftigt. Ich ernähre mich von allem, was mir in die Hände kommt...“
Eine kleine Pause und dann: „Wer bist du eigentlich, dass du mich so etwas fragst? Bist du der Teufel? Willst du mich verschlingen, weil ich deine Freunde, die Geister verjage? Bist du deshalb so freundlich, um mich hereinzulegen und fragst mich so vieles um mich besser kennenzulernen, um so selbst in meinen Kopf zu kommen und mich dann irre im Kopf machst?“
Ich seufzte und ließ mich wieder auf meine Pritsche fallen. Wie ich in der Dunkelheit diese ausmachen konnte, war mir wirklich ein Rätsel. Der Mensch dort in der anderen Zelle konnte gar nicht irrer werden, als er jetzt eh schon war.
„Halloho? Bist du jetzt beleidigt, weil ich dich ertappt habe, großer Teufel?“
„Ich bin nicht der Teufel und jetzt halt doch endlich die Klappe!“, sagte ich nun etwas angepisst.
Mein Magen fing an zu knurren. Auch das noch. Und ich war hier mit einem Verrückten gefangen, der über Geister und Teufel brabbelte.. Ich sterbe!!
Ich ignorierte das erneut anfangende Gelaber des anderen Gefangenen. Hauptsache war, dass ich selbst nie so enden würde. Warum wurde es in diesem Raum nicht heller? Ich musste doch mindestens schon zwei Stunden wach sein und da es Abend gewesen war als ich gefangen genommen worden war, musste es doch langsam mal wieder hell werden!
Ich wollte endlich raus aus diesem Loch. Brachte mir denn niemand etwas zu essen? Aber das war jetzt nicht das Allerwichtigste. Wo war eigentlich mein Rucksack hin? Und warum war ich da bis jetzt noch nicht drauf gekommen? Ich suchte im Zimmer herum, doch da war nichts außer der Pritsche und der Stahltür und ein mickriges Fenster ganz oben unter der Decke. Ich ließ mich wieder auf den kalten Steinboden fallen.
Eine Weile dachte ich an gar nichts, dann kamen wieder Worte von Jesse hoch, die er einmal gesagt hatte, während eines Fußmarsches:
Es ist komisch, dass ich, jetzt wo ich dich kenne, ein anderer Mensch bin, als zuvor. Du musst wissen, früher war ich ein ganz anderer Mensch, vielleicht etwas egoistisch und herrisch, doch jetzt bin ich das nicht mehr. Du scheinst diese Eigenschaften irgendwie von mir befreit zu haben..


Danach hatten wir verlegen geschwiegen, aber innerlich hatte ich Luftsprünge gemacht. Es war schön gewesen zu hören, dass ich ihm gut tat, doch jetzt wusste ich nicht einmal, ob ich ihm glauben konnte, dass er wirklich Jesse Taylor hieß. Waren all diese Gespräche nur gelogen? Hatte er mich geschickt hinters Licht geführt und mich so lange mit versteckten Komplimenten in seinen Worten genährt, dass ich ihm blind vertraut hatte und ständig annahm, wenn etwas Ungewöhnliches passiert war, was mit Jesse zu tun hatte, dass das alles nur Zufall war und dazu gehörte, wenn man ihm zusammenlebte? Doch jetzt wusste ich, dass alles was er mir bis jetzt von sich gegeben hatte, gespielt und erfunden gewesen war. Das Ende des Traumes schien mir jetzt so unmöglich, wie die Möglichkeit, hier je wieder lebend herauszukommen. Was sollte ich nur tun?
Mir rangen Tränen übers Gesicht und ich versuchte nicht hörbar zu schluchzen. Ich wollte keinem eine Bestätigung dafür geben, dass ich wusste, dass die Lage aussichtslos war und dass ich aufgegeben hatte. Und ehrlich gesagt, aufgeben wollte ich immer noch nicht. Jedenfalls nicht in der Sache mit meinem Vater, nur würde ich jetzt sicherlich ohne Jesse weitermachen müssen, denn er hatte mich gezielt verraten.
Was hatte er Martin alles über mich erzählt? Hatten sie mich deswegen so gut verfolgen können? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Tag und Nacht ein Mensch hinter dieser komischen Holztür auf mich gewartet hatte. Das wäre doch unmöglich gewesen! Auch wenn sie sich vielleicht abgewechselt hatten, trotzdem stand es auf der gleichen Höhe auf der Skala der Möglichkeiten, wie sie mich schließlich doch gefangen nehmen konnten entweder so oder mithilfe von Jesses Verrat.
Ich weinte immer noch und ich war wütend darüber, denn ich wusste, dass es mir jetzt nicht helfen würde. Es würde mir umso mehr Kraft rauben, die ich doch brauchte, um den Fängen der Verschwörung zu entfliehen.
Ich musste jetzt endlich nachdenken! Jede Sekunde zählte, der Geburtstag meines Vaters war jetzt zum Greifen nahegekommen. Wenn ich richtig mitgekommen war, war morgen der finale Tag. Also musste ich mich wirklich beeilen hier herauszukommen!
Die Stille übermannte mich regelrecht. Der Irre hatte schon lange aufgehört zu toben, vielleicht aus Erschöpfung und weil ich ihn kalt ignorierte. Und ich saß hier herum mit keiner Idee, wie ich hier herauskommen könnte. Mein Kopf war leer, alles war ausgelöscht. Jegliches logische Denken. Nur sinnloses Zeug geisterte durch meinen Schädel. Vielleicht hatte ich seitdem ich niedergeschlagen worden war eine Fehlfunktion im Hirn, dass ich mich fortan nie wirklich gut konzentrieren konnte.
Es hörte sich so trostlos an, diese Stille, die Wände, die Tür, die Pritsche, selbst der Boden war trostlos und kalt. Und irgendwo war dieses gleichmäßige Tropfen zu hören. Wo kam das her? War das nur meiner Einbildung zu verschulden, weil ich so durstig war, geschweige denn, dass mein Magen laut knurrte?
Im nächsten Moment klammerte ich mich wie ein Idiot an dieses Geräusch, als sei es das einzige, was ich seit langer Zeit wieder einmal hörte, als sei ich schon so lange hier, dass der alte Irre in der Nachbarzelle getobt hatte. Ich hörte dem Klang zu und es beruhigte mich ein bisschen. Ruhig atmend schloss ich die Augen und horchte, als sei das Geräusch eine Einschlafmusik. Das regelmäßige Plitsch

, Platsch

, was die Tropfen verursachten, als sie auf den Boden aufkamen, irgendwo in den Weiten dieses Gebäudes, ließ mich nach kurzer Zeit schläfrig werden. Doch dann störte mich etwas.
Überrascht merkte ich, nun mit offenen Augen, dass die Sonne in die Kammer schien, als winziger Lichtstrahl und an die mir gegenüberliegende Wand leuchtete, anscheinend durch das winzige Fenster über meinem Kopf. Ich hätte nie gedacht, dass ich die Sonne jemals wiedersehen und die Wärme von ihr je wieder auf meiner Haut spüren würde. Es erfüllte mich mit Glück, was in meiner Situation verwunderlich war. Doch da war noch etwas anderes plötzlich gekommen. Im nächsten Augenblick wusste ich, was mir mein Unterbewusstsein mitteilen hatte wollen: Schatten huschten am Fensterchen vorüber, fast pfeilschnell, jedoch immer noch langsam genug, um weitere Umrisse zu erkennen. Es waren Männer, mindestens fünf Stück, mit Messern und Pistolen bewaffnet, manche sogar mit Jagdgewehren oder etwas ähnlichem. Ein kalter Schauer lief mir eisig den Nacken und dann den Rücken hinunter. Meine Nackenhaare stellten sich vor Entsetzen auf. Waren sie gekommen, um mich zu töten? War es wirklich schon soweit? Würde ich jetzt sterben müssen? Eine Tür krachte auf, und ich dachte, jetzt würde es um mich geschehen sein, doch es war nicht die meine, die aufgestoßen wurde. Weitere Türen krachten auf und nach jedem Knall dachte ich, es sei meine Tür, die in Stücke bersten würde, ich zuckte heftig zusammen. Angsterfüllt drückte ich mich in die Ecke an der Wand, in der auch die schwere Stahltür eingelassen war, zitterte und wartete auf das große Peng.
Eine näherstehende Tür wurde aufgestoßen und dieses Mal hörte ich ein gedämpftes Wimmern durch die Tür hindurch. Der Irre. Wollten sie nur ihn holen? Ich hoffte es insgeheim so sehr, dass ich gar nicht wirklich realisierte wie ein markerschütternder Schrei auf einen Schuss folgte. Dann erstarb der zerreißende, unmenschliche Ton schlagartig, als ein weiterer Schuss ertönte.
Verzweifelt versuchte ich ruhig zu bleiben, den Tränenschleier zu unterdrücken und nicht selber wahnsinnig zu werden und anzufangen, an den Teufel zu glauben.
Das Tropfen war verstummt. Alles war ruhig, während ich versuchte mein Schluchzen zu unterdrücken.
Doch dann geschah es. Die Tür flog mit einem ohrenbetäubenden Knallen auf und zwei Männer stürmten herein. Sie starrten auf das der Tür gegenüber liegende Bett, als würden sie es nach mir absuchen und schienen mich gar nicht zu bemerken.
Das war meine einzige Chance. Langsam setzte ich mich in Bewegung, immer näher der Öffnung hinter der Stahltür entgegen. Als die Männer unter das Bett sahen, rannte ich los, so schnell ich nur konnte. Hoffentlich waren da nicht noch mehr Männer. Hatte ich nicht mindestens fünf Männer am Fenster vorbeihuschen sehen? Oh, Mist! Es war vielleicht riskant, doch die einzige Möglichkeit, meinem elenden Schicksal zu entfliehen. Einfach nur raus hier!
Aber wo war der Ausgang? Ich hätte mir denken können, dass dies kein normaler Keller eines normalen Wohnhauses sein konnte. Sicherlich war es einer der Fabrikkeller und die waren endlos. So einfach wie bei den Connelys konnte es daher nicht werden. Meine Hoffnungen sanken, aber ich durfte nicht aufgeben. Nicht jetzt. Schließlich hing mein Leben davon ab!
Nun rannte ich einen Gang entlang, während mir flau im Magen wurde, als ich einen kurzen Blick in die Zelle des toten Irren warf. Ein noch so kleiner Blick genügte schon.
Alles war voller Blut. Der weiße Kittel färbte sich immer noch von Sekunde zu Sekunde mehr zu einem roten Matsch. Aus dem Mund des Alten quoll rote Flüssigkeit und sein weißes, langes Haar stand von seinem Kopf ab, wie elektrisch aufgeladen, an manchen Stellen verkohlt. Anscheinend hatte man ihm die Kanone direkt an den Schädel gehalten, bevor man abgedrückt hatte.
Doch es waren seine Augen, die mir einen derartigen Schrecken einjagten. Weit aufgerissen waren sie, starrten in die Ferne, wo ihn niemand hin folgen würde können und waren von einem milchigen Weiß überzogen, was seine Blindheit begründete. Seine Augen könnten blau oder grau sein, doch auf die Schnelle konnte ich das nicht erkennen. Und dort, wo sein Bauchnabel gewesen sein musste, war ein großes Loch in seinem Körper, der Kittel außen herum war zerfetzt. Eine Fleischwunde war das nicht mehr. Ich musste ein Würgen unterdrücken. Armer alter Mann, wie verrückt er auch geworden sein mag, so etwas hatte mit Sicherheit kaum einer verdient, und er gehört nicht zu den wenigen Glücklosen, die solch etwas verdient hätten. Sein Glück.
Ich rannte weiter, unterdrückte ein weiteres würgen und konzentrierte mich wieder auf meine Flucht. Inzwischen war ich fast den ganzen, langen Gang herunter gelaufen, ohne dass ich auf irgendein Hindernis gestoßen war.
Ich hätte zu gerne gewusst, wieso dieser Mann – der einst bestimmt noch klar im Kopf gewesen war – so ein Schicksal erleiden musste. Hatte er zu viel über sie gewusst? Oder hatte er etwas anderes gewusst, was Martin gefährlich werden könnte? So viele Fragen schwirrten durch mein Hirn, während mir nun doch Tränen übers Gesicht fielen. Ich hasste diese salzige Flüssigkeit. Schnell rannte ich das letzte Stück den Gang hinunter in merkwürdigen Haken, damit ich womöglich kein zu leichtes Ziel darbot.
„Psst, Katie!!“, flüsterte es plötzlich von links.
Vor Schreck hätte ich beinahe das Gleichgewicht verloren. Die Stimme kam mir eigenartig vor, als gehöre sie zu Jemandem, den ich kannte, doch ich wusste, dass dem nicht so war. Trotzdem klang sie so, als würde derjenige ein Verbündeter von mir sein.
Ich blickte mich um, war nicht stehen geblieben, aber langsamer geworden. Rechts von mir war eine Sackgasse. Eine mit einem Vorhängeschloss versehene Tür schien mich in meiner Einbildung hämisch anzugrinsen, als würde sie sagen „ha, das war wohl nichts!“ und somit endete dies für diese Richtung meinen Fluchtweg. Es nützte nichts, ich würde sowieso nach Links müssen.
Kaum war ich einen Schritt in den linken Durchgang getreten, da zog mich auch schon Jemand in eine kleine Nische. Ich wehrte mich panisch. War das nun wirklich derjenige, der mich gerufen hatte? Hatte irgendjemand mich in eine Falle geführt? Würde es jetzt

enden?
Da ich wusste, dass es ein Mann war, war mir klar, dass ich sowieso keine Chance hatte. Er war stärker als ich. Der Mann hielt meine Arme mit einer einzige Hand fest.
„Sei jetzt ruhig und bewege dich nicht, bitte! Dein und mein Leben wird sonst vorbei sein..!“, hauchte die Stimme des Mannes. Sie war warm und sanft bemerkte ich und ich spürte auch den Körper des fremden Verbündeten und ebenso warm und sanft war auch die Berührung seiner Hand an meinen Handgelenken, sowie die andere Hand auf meinen Lippen.
Ich gehorchte ihm, wartete dass die feindlichen Männer endlich antanzten und schloss angsterfüllt die Augen. Mein Herzschlag hüpfte immer schneller, als würde er ehrgeizig versuchen, einen Marathon zu gewinnen gegen den Weltbesten. Das Herz des Mannes schlug nicht im Mindesten weniger schnell als meines.
Und schon nach wenigen Momenten war es vorüber.
Der fremde und doch bekannte Mann hatte gewartet, bis kurz nachdem er mich in die Nische gezerrt hatte – was für mich wie eine Ewigkeit gewirkt hatte – die zwei Männer auftauchten, die Waffen schon schussbereit in den Händen. Nach zwei schnell aufeinander folgenden Schüssen sackten sie zu Boden. Sie waren sofort tot.
Ich schluchzte leise, als der Mann mich weiterzog, und ich konnte durch den Tränenschleier nicht erkennen, wie genau dieser aussah. Alles schien für mich in diesem Augenblick an mir vorbei zu laufen, zu rennen, denn ich konnte mich später an kein Detail erinnern.
Ein paar weitere Schüsse vielleicht, ein paar weitere Leichen und dann war da endlich der Ausgang. Das Licht der warmen Sonnenstrahlen strahlte auf uns hinab. Sie schien gar nicht in meine Situation hineinzupassen. In meine Welt, die so ausweglos ernst, gefährlich, trostlos und unwirklich wirkte. Bestimmt sah ich schrecklich aus.
„Ist alles in Ordnung mit dir? Was hat man mit dir gemacht?“, befragte mich der Mann besorgt und drängend zugleich.
Wie sollte es mir denn gehen? Ich war traumatisiert, ausgehungert sowie durstig und hatte lange die Sonne nicht mehr gesehen. Außerdem war es dort drin bitterkalt gewesen. Sicherlich bekam ich bald eine dicke, fette Erkältung. Doch das waren jetzt nur kleine Wehwehchen. Darum schüttelte ich nur ganz leicht den Kopf. Der Mann drückte mich an sich und strich über mein Haar, während ich kurz vor dem Zusammenbruch stand. Sein Verhalten erinnerte mich an Jesse, den Verräter, und ich musste schon wieder anfangen zu weinen.
„Schscht, bald sieht die Welt schon viel besser aus, mach dir keine Sorgen um deinen Vater, wir helfen dir ihn zu retten. Ruh dich jetzt erst mal aus. Wenn du willst, kannst du auch schlafen. Ich wecke dich dann, wenn wir angekommen sind“, sagte der Mann mit seiner sanften, tief brummenden Stimme. „Ich heiße übrigens James.“
„Danke.. James..“, flüsterte ich und jetzt wurde mir erst bewusst, wie brüchig, müde und fremd meine eigene Stimme eigentlich klang.

Es war mir eine Zeit lang unmöglich einzuschlafen, auch wenn ich wusste, dass das jetzt bitter nötig war. Ich brauchte Kraft für das, was jetzt noch vor mir stand, was so greifend nah war, wie die Decke, die James mir gegeben hatte und die mich jetzt bis zum Kinn zudeckte. Mein neu kennengelernter Verbündeter saß neben mir und starrte auf die vordere Fensterscheibe des Jeeps, in dem wir fuhren, so rasend schnell, wie ich es von einem Jeep nicht erwartet hätte. Ich traute mich nicht den Kopf auf James Oberschenkel zu legen, denn ich kannte ihn ja nicht einmal richtig – gerade einmal zwei Stunden – und ich fand es unhöflich es einfach so ohne Erlaubnis zu tun. Also blieb ich weiter eingerollt bis ans Limit liegen und hielt meine Augen fest verschlossen.
„Du, Katie.. Ich muss dir eine schlechte Nachricht überbringen..“, fing James urplötzlich an zu reden. „Schläfst du?“
Ich hatte keine Kraft um ihm zu antworten, doch irgendwie wusste ich, dass er sowieso weiter reden würde.
„Mein Vater, Frederic Hawley, ist vor ein paar Tagen verstorben.“
Jede einzelne Silbe versetzte mir einen tiefen Faustschlag in die Magengegend. Frederic sollte tot sein? James war Frederics Sohn? Warum hatte ich nicht von ihm gewusst? Warum war er nicht dabei gewesen, als ich Frederic das erste und letzte Mal begegnet war? Wie und wieso war Frederic gestorben? Tränen wollten schon wieder meine Augen verlassen und ihre Reise meine Wangen hinunter auf das makellose, graue Lederpolster des Jeeps antreten, doch ich hielt sie ärgerlich zurück. Sei nicht so ein Schwächling, Katie!

, dachte ich mir wütend und voller Trauer.
„Ja, er ist tot. Man hat uns gejagt, mich und meinen Vater. Sie kamen ganz unmittelbar in unser Dorf, das wir nur für einen Tag bewohnten. Zum Glück haben wir es früh genug mitbekommen, denn die Männer der Verschwörer haben sich nicht besonders leise oder unauffällig verhalten. Trotzdem waren wir nur knapp entkommen und mussten um unser Leben laufen.
Da wir jedoch auf einem der Berge von einem Schneemeer umgeben waren, war es nicht leicht zu entkommen.
Ich rannte den Berg hinunter, dachte mein Vater würde mir folgen, doch anscheinend hatte er die andere Richtung eingeschlagen und ist den Berg weiter hinauf geklettert. Ich muss zugeben, dass das töricht von ihm war, schließlich hatten sie Schusswaffen dabei und ich sage dir, diese Männer wurden nur dazu geboren zu töten.
Jedenfalls hörte ich nur dumpf die Schüsse, da ich schon weit entfernt war von dem Punkt, an dem unsere Wege sich getrennt hatten und ich hatte Angst und rannte noch weiter, mittlerweile in einem düsteren und dichtem Wald, um rundete einmal das Dorf und kam schließlich wieder zu der Stelle, an der ich meinen Vater das letzte Mal gesehen hatte.
Ich sah zum Berganstieg hinauf und mir drehte sich der Magen um: An einem Fleck war der Schnee scharlachrot verfärbt. Das konnte nur eines bedeuten: Sie hatten meinen geschnappt und nicht nur das. Sie hatten ihn auch ermordet. Kaltblütig und brutal.
Seinen Leichnam müssen sie mitgenommen haben, zumindest fand ich weit und breit keinen. Es ist immer noch sehr schwer für mich es zu begreifen, doch ich darf jetzt nicht in der Traurigkeit versinken, ich muss doch dort weitermachen, wo mein Vater aufgehört hat, dort wo er gescheitert ist und ich muss verhindern, dass dir dasselbe passiert wie mir. Ich darf nicht zulassen, dass du deinen Vater für nur so kurze Zeit hast und ihn dann doch wieder verlierst. Und dieses Mal für immer. Schließlich hatte ich mein bisheriges Leben schon einen Vater gehabt und du.. Du hattest eben keinen. Nicht einmal eine Mutter.
Aber in der Hinsicht bist du nicht anders als ich. Ich habe meine Mutter schon lange verloren, jedoch nicht auf die gleiche Weise wie du. Sie ist nicht gestorben. Sie lebt noch. Sie ist bestimmt glücklich und überzeugt davon, das Richtige zu tun. Ich glaube, dass mein Vater schon immer geahnt hat, dass in ihr dieses wahre Gesicht schlummert. Doch ich schäme mich immer noch für sie. Jeden Tag, jede Minute, ja, jede Sekunde sogar. Aber deswegen gebe ich nicht auf, sie zu bekämpfen. Sie soll nicht an ihr Ziel kommen und ihr neuer Ehemann ebenso wenig.
Katie, meine Mutter ist.. Sarah Connely.“

Das Finale




Ich versuchte, mir keine Reaktion anmerken zu lassen. Schließlich gab ich vor zu schlafen, also regte ich mich nur, indem ich meinen Kopf etwas besser auf meinen Arm bettete. Mitleidig wollte ich James am liebsten den Arm um die Schulter legen, damit er vielleicht etwas getröstet war, doch das ging ja im Moment nicht. Und jetzt, nachdem ich das alles erfahren hatte, war es mir nun noch unmöglicher einzuschlafen. Wie sollte ich das alles so schnell verarbeiten können, um in nur wenigen Stunden meinem Feind entgegenzutreten? Das war doch unmöglich! Die Tatsache, dass ich grade mit dem Sohn eines Feindes in einem Auto saß, den ich noch nie zuvor gesehen hatte, erschien mir als sehr unvorsichtig. Aber ich glaubte nicht, dass er mir etwas antun würde. Wieso sollte er mir denn dann die Wahrheit erzählen?
Ein Gedanke nahm in meinem Kopf Gestalt an. Wann war dieser Überfall auf Frederic und seinen Sohn gewesen? Vielleicht.. Oh, mein Gott! Hoffentlich war meine Befürchtung falsch. War es vielleicht an einem der Tage gewesen, wo Jesse mich verlassen musste um Frederic „Bericht zu erstatten“? Hatte Jesse Frederic ermordet? War er daran beteiligt gewesen und hatte den Körper seines Feindes vom Tatort weggeschleppt und in einen See geworfen, mit Beton oder etwas Ähnlichem beschwert?
Ich wollte das nicht wahrhaben, doch nach alldem was ich erfahren hatte, konnte es trotzdem stimmen, auch wenn es mich grauste, das Bild von Jesse mit dem toten Frederic über der Schulter und einem ausdruckslosen Gesicht.
Warum tat Jesse so etwas? Unter all den Lügen hatte ich dennoch das Gefühl, dass er ein guter Mensch war und vielleicht auch von Martin erpresst wurde. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er freiwillig einen Menschen tötete! Aber vielleicht hatte er es auch nicht freiwillig getan.
Mir kamen Szenen aus Filmen ins Gedächtnis. Szenen, wo junge Männer und Kinder von Erwachsenen gezwungen wurden zur Strafe einen anderen umzubringen. Ich konnte immer noch dieses Leid – was im Falle einer Verfilmung natürlich gespielt war – in ihren Augen sehen. Ich wünschte mir für niemanden so eine Situation, die echt und nicht inszeniert, gespielt war. Niemand sollte so einer Aufgabe und so einem Leid ausgesetzt sein. Vor allem kein Kind oder Jugendlicher, selbst wenn ich noch einer war.
James blieb stumm und ich ebenfalls. Ich hatte einfach zu wenig Energie. Ich wusste, ein Teil der Wahrheit würde noch kommen, doch der restliche Teil war schon über mir zusammengebrochen und hatte mich erschöpft, denn es war so viel Schreckliches und so wenig Gutes in ihr.
Mein Gehirn sagte mir, dass ich dieser Aufgabe nicht gewachsen sein würde, die mir jetzt noch bevorstand, doch mein Herz signalisierte mir, dass nur ich diejenige war, die eine Chance hatte, die Pläne der Connelys zu durchkreuzen.
All das erschien mir so schwer und so neu. In den letzten Wochen hatte ich so viel durchgemacht, ich wusste nicht, wie es danach weitergehen würde. Wenn es überhaupt noch ein Danach geben würde. Wer wusste schon, ob ich diesen Kampf überlebte?
Mit dieser Erkenntnis gab ich mein Kopf zufrieden und er schaltete sich langsam ab. Dieses Gefühl, halb im Schlaf und halb im Wachzustand zu sein, war beruhigend. Es war dieses sanfte Ziehen in die Bewusstlosigkeit, die ich mir ersehnt hatte, nachdem James mir alles erzählt hatte, was er wusste, oder zumindest fast alles.
Ich ließ mein Bewusstsein friedlich in den Schlaf gleiten. Morgen war der Tag der Entscheidung. Heute konnte ich noch halbwegs in Ruhe schlafen. Ich spürte noch wie jemand mir sanft übers Haar strich, bevor ich vollends weg war.

Als ich aufwachte war es still, jedoch nur für einen kurzen Augenblick den ich brauchte, um meine Augen und Ohren wieder auf Betriebszustand zu setzen und richtete mich langsam und allmählich auf. Im nächsten Moment hörte ich einen lauten Aufschrei. Keinen Aufschrei von Angst oder Schmerz. Einen Aufschrei von Enttäuschung, möglicherweise auch Zorn, Wut. Was war denn plötzlich los? Wo waren die Anderen?
Der Jeep war stehen geblieben, der Motor aus. Ich blickte durch meine langen Wimpern nach draußen, die meine Augen noch etwas verdeckten, aufgrund des Halbschlafes, indem ich noch steckte. Dort war nichts als Schwärze. Wenigstens im Auto war es hell, doch die Lichtquelle konnte ich im Moment nicht ausmachen.
Ich schoss hoch und knallte gegen das Wagendach. Mist! Der Schmerz breitete sich schlagartig aus. Ich war doch hoffentlich nicht wieder an die alte Verletzung dran gekommen? Aber das war doch egal. Die Schmerzen mussten mir im Moment nebensächlich sein. Das mussten sie jetzt!
So schnell ich konnte krabbelte ich zu einer der Autotüren und versuchte sie zu öffnen. Abgeschlossen. Mann, James, was soll das?, dachte ich verärgert. Wütend und verzweifelt rammte ich mein ganzes Gewicht gegen die Wagentür, doch sie hielt ihm stand. Warum mussten die mich auch mit einem Jeep abholen und nicht in einem VW oder so was? Wenn der Kampf gerade ausbrach und ich war nicht dabei, was brachte es dann, wenn ich nicht schon tot war? Wenn sie mich doch eh nicht brauchten? Dabei wussten sie doch, dass sie mich brauchten! Ich war doch kein Kleinkind mehr, auf dass man aufpassen muss und wie früher ein Gitter vor die Treppe spannen muss, damit es nicht herunterfiel!
Ich trat und schlug gegen diese vermaledeite Scheibe und versuchte, sie irgendwie zum bersten zu bekommen, doch es funktionierte einfach nicht! Hektisch sah ich mich im Fußraum um. Da, eine Lenkradsperre aus Metall. Das könnte gehen. Sie sah sehr massiv aus für so eine Lenkradsperre. Gelb-schwarz, wie eine Gabel mit nur zwei Spitzen und nicht dreien, vorne mit zwei Haken ähnlichen Enden verbunden, um sie um das Lenkrad zu befestigen. So ein Teil kannte ich schon von den Connelys. Sie hatten auch Angst gehabt, dass ihr Auto geklaut werden konnte. Vor allem wahrscheinlich wegen dem geladenen Inhalt im Kofferraum.
Ich musste mich über den Beifahrersitz legen, um in dessen Fußraum greifen zu können. Ich streckte mich so weit ich konnte und tastete nach ihr. Es schien eine Ewigkeit zu dauern bis ich den Griff der Sperre mit meiner Hand umschließen konnte. Da hatte ich sie doch. Ich zog mich ächzend zurück auf meinen Ursprungsplatz, den Sitz hinter dem Fahrer. Ich wog das Werkzeug in meinen Händen. Es lag schwer in meiner Hand, also würde das reichen, um die Scheibe zu zerschlagen. Ich atmete ein paar Mal tief durch bevor ich so gut ich konnte ausholte und die Lenkradsperre gegen eines der hinteren Fenster schlug. Das Glas brach nach weiterem Ausholen in tausend Scherben und regnete nach einer Millisekunde gen Boden. Ich schützte meinen Kopf instinktiv mit meinen Armen und ließ die Lenkradsperre wieder fallen. Als der letzte Glassplitter gefallen war, machte ich mich daran mich aus dem Fenster zu zwängen, aber es war keine schwere Übung. Das einzige was nicht so gut verlief, war dass ich zum Schluss mit dem Kopf zuerst auf das Gras fiel. Doofe Schwerkraft. Und mein armer Kopf!
Mies gelaunt stand ich nun auf und starrte dumm durch die Gegend. Mir schwirrte der Kopf und Übelkeit kochte in mir hoch. Doch ich beherrschte mich angestrengt und versuchte klar zu denken.
Und was jetzt? Alles war dunkel, man konnte kaum noch die Hand vor Augen sehen und den Jeep hatte James in einem Waldstück parken lassen, so wie es aufgrund der vielen Bäume und dem ungestümen Gestrüpp am Rande der Lichtung, auf der der Jeep stand, aussah. Irgendwo kreischte eine Eule laut durch die Nacht.
Wo kam nun dieser Aufschrei her, den ich vernommen hatte, als ich aufgewacht war? Er schien so nah gewesen zu sein, als sei der Urheber des Geräusches nur wenige Meter vom Wagen entfernt gewesen. Ich suchte jeden Zentimeter der Lichtung mit meinen Augen ab. Nichts. Vielleicht war derjenige, der geschrien hatte auch schon woanders, war fortgerannt, warum auch immer. Außerdem hätte mir das schon längst auffallen sollen, da ich ja solange gebraucht hatte, bis ich mich aus dem Jeep befreit hatte und bis dahin hätte die Person längst auf die Geräusche, die aus dem Wagen kamen reagiert und mir entweder geholfen oder mir etwas angetan oder mich davon abgehalten oder ähnliches.
Ich seufzte. Wohin sollte ich jetzt gehen? Noch einmal blickte ich mich verwirrt um. Es war auf dem Waldboden durch das hohe Gras kein Fußabdruck zu erkennen. Doch da kam mir eine Idee: Natürlich musste an den Stellen, auf denen die anderen drüber gelaufen waren geknickte Grashalme sein, also suchte ich wieder den Boden ab, dieses Mal aber nach eingedrückten Grasflächen.
Und da war auch schon die erste, jedoch handelte es sich dabei nur um die Reifenspur des Autos, das mitten auf der Lichtung parkte. Es wirkte so fehl am Platz, hier im Grün, wo ich mich immer noch am wohlsten und am meisten zu Hause fühlte, auch wenn ich immer noch nicht wusste wieso. Ich suchte weiter. Da waren meine Fußspuren, die sich vom Jeep bis zu mir erstreckten und da waren noch mehr, die weitergingen, an mir vorbei bis zu einer stelle am Rande der Lichtung rechts von mir. Ich blickte in die Schwärze, die dort noch vollkommener war, denn das schwache Mondlicht erreichte dort nicht mehr das Erdreich. Einladend wirkte dieser Ort nicht besonders. Es war eine unheimliche Atmosphäre und trotzdem war genau das der Grund, warum dieser Wald auf mich so interessant wirkte. Ein langes Luftholen später steuerte ich auch schon auf mein Ziel zu.
Während Schreie immer lauter wurden, erst dumpf, dann immer deutlicher, hörte ich von links und rechts immer wieder ein Rascheln, ein Quieken, ein Knurren oder Zwitschern von aufgescheuchten Tieren, die von den vielen Geräuschen aus dem Schlaf gerissen worden waren. Aber ich achtete nicht auf sie. In anderen Situationen hätte es mich beunruhigt, doch jetzt war das nicht der Fall. Ich musste klar denken können und mich konzentrieren, auf nur dieses eine Ziel, die eine wichtige Aufgabe, die man mir ungesagt auf die Schultern gelegt hatte, als ich geboren wurde. War das mein Schicksal? Ich glaubte schon.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis ich das Ende des Waldes erreichte, doch wusste ich, dass es höchstens zehn Minuten gedauert haben konnte, seitdem ich die Lichtung, auf der der Wagen thronte, verlassen hatte.
Das Erste, was ich sah, nachdem ich das Dickicht hinter mir gelassen hatte war ein Schlachtfeld. Keins, wie eins aus Filmen, keiner kämpfte mit den gleichen Mitteln, keiner mit Schwertern oder Ähnlichem. Trotzdem konnte man Verschwörer und Ordensmitglieder gut voneinander unterscheiden.
Die Machtlosigkeit der Ordensmitglieder verkörperten ihre Waffen: Küchenmesser, Dolche, Mistgabeln, ein einzelnes Gewehr, eine winzig kleine Pistole und Besenstiele, die gegen die Feuerwaffen der Verschwörer nicht den Hauch einer Chance hatten. Bei dem Anblick überkam mich Grauen und Angst um die, die ich in der kurzen Zeit dieses Abenteuers ins Herz geschlossen hatte: James, Luis und ein paar andere aus dem Zeltlager, die ich beim kurzen Lagerfeuer getroffen hatte.
In diesem Augenblick erblickte ich James. Er stand dort mit dem einen Gewehr in der Hand, zielte Verschwörern ins Bein, damit sie kampfunfähig waren und der nächststehende Verbündete des Ordens nahm sich des Verschwörers Waffe, um sie direkt danach gegen einen nächsten Gegner zu benutzen. Sie wollten nicht töten, sie hatten andere Absichten wie die Verschwörer.
Egal, was passierte, die Verschwörer würden immer versuchen die Macht zu übernehmen. Dies war Martins Werk und er allein trug die Verantwortung. Diese Eskalation des Problems war nur auf seinem Mist gewachsen, auch wenn er etwas Anderes behauptete, aber wer tat das nicht an seiner Stelle?
Ich wusste nicht, ob ich anders gehandelt hätte an seiner Stelle, doch ich wusste, dass unter meiner Verantwortung nie eine solche Tat stehen würde. Eher würde ich mich umbringen!
Ich stand also da, starrte in Richtung Kampfgetümmel. Man konnte kaum einen Menschen identifizieren, gar sehen in diesem Staub, der aufwirbelte, in der Dunkelheit, die nur spärlich von Laternen bekämpft wurde, in dem Lärm, den die Waffen und die Schreie verursachten. Das reinste Chaos. Es war mir unbegreiflich wie ich nach einer Ewigkeit immer noch nicht angegriffen worden war, schließlich stand ich fast mittendrin. Jedoch galt meine Aufmerksamkeit James, der sich bei meinem Ausruf umdrehte und mich mit Schrecken erblickte. Ich wusste, wie er reagieren würde.
„Katie!! Was tust du hier? Wie bist du aus dem Wagen gekommen? Warum bist du nicht in Sicherheit? Das ist gefährlich! Ich sage dir ich möchte nicht, dass du kämpfst!“, schrie er mir entgegen, kaum verständlich durch den Lärm, während er einem Verschwörer die Waffe abluchste, um sie im nächsten Moment gegen einen weiteren Gegner zu nutzen und ihm ins Bein zu schießen.
Ich sah zu, wie er weiterkämpfte, stand einfach nur da, wundersamerweise immer noch nicht angegriffen, geschweige denn berührt worden.
„Ich wollte nicht alleine in einem Wagen eingesperrt sitzen und darauf warten, dass ihr meine Aufgabe erledigt ohne mich dabeizuhaben! Ich bin schließlich diejenige, die Martin als Einzige aufhalten kann und egal was du tust, ich bleibe hier und kämpfe und wenn ich verletzt werde, es ist mir egal! Ich möchte endlich wieder eine Familie haben und mich aufgenommen fühlen! Weißt du, wie das ist zu wissen, dass dein ganzes Leben lang eine Lüge war? Ich habe nichts mehr zu verlieren, also kämpfe ich! Egal was du sa-“
Ich verstummte und starrte auf einen Punkt rechts oben hinter James rechtem Ohr, wo sich eine mir sehr bekannte und vertraute Silhouette abgezeichnet hatte. Nur für einen scheinbar kurzen Moment hatte ich die Einbildung, aber das konnte nicht sein! Sie konnte nicht hier sein. Hannah war nicht hier. Wie sollte sie auch? Lag sie nicht im Koma oder im Krankenhaus, oder irgendetwas in der Art? Hatte Jesse mir nicht eines öden Wandertages erzählt, wie er in der Zeitung von dem ungewöhnlichen Mordanschlag an meiner besten Freundin erfahren hatte und dass es ihr nicht besonders blendend ging, sie sich jedoch stabil hielt und sie außer Lebensgefahr war, was die Ärzte für ungewöhnlich bedachten, da Hannah an dieser Verletzung trotz des mangelhaften Zielen hätte verbluten müssen. Und doch. Ich hatte sie gesehen, für einen kleinen Augenblick. Und ich wusste, dass es stimmte. Meine beste Freundin war soeben durch eine Öffnung verschwunden. Eine Öffnung in einer Wand.
Ich blickte langsam weiter nach oben die Wand entlang. Es war ein riesiges Gebäude auf einer Anhöhe. Durch das Licht und das Chaos hatte ich zunächst gar nicht mitbekommen, dass der Kampf vor einem Gebäude ausgebrochen war und dann stockte mir der Atem, als mir auffiel, dass das nicht nur irgendein Gebäude war, sondern das Meistausgestrahlte des ganzen Landes, noch vor dem Gutshof der alten Königsfamilie von Nordland. Das Parlamentsgebäude, der Ort, an dem mein leiblicher Vater seinen siebenundsechzigsten Geburtstag feiern wollte. Und das war heute! Ich schrie vor Entsetzen auf, als ich nachdem ich die Fenster abgesucht hatte eines fand, was meine Adern gefrieren ließ.
Jemand packte mich am Arm. Ich wehrte mich ohne wirklich wissen zu wollen, ob es Freund oder Feind war, und es war mir auch egal. Jetzt war ich einfach nur entschlossen, dem Ganzen ein Ende zu bereiten. Und wenn es ein schnelles Ende sein sollte, es war mir Schnuppe.
Keinen Augenblick später wusste ich, dass es nur James war, der mich jetzt dazu mobilisieren wollte zurück zum Jeep zu laufen, was er jedoch gleich vergessen konnte. In der kurzen Zeit, die wir uns kannten, musste er immerhin erkannt haben, dass ich nicht feige war und einfach kniff und mich wie ein verängstigtes Kaninchen in meinem Bau versteckte oder brav auf Alle hören würde. Ich war nicht so und er wusste das.
„Katie. Du. Musst. Dich. Verstecken. Und egal, was du jetzt sagst: Ich lasse dich nicht zu diesem Schwein hoch! Und auch nicht zu Martin!“ Sein Gesicht war leuchtend rot und seine Züge waren stark verändert, so anders. Schmerzverzerrt.
Ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, doch ich verstand nicht. Wer?
„Wen meinst du mit.. Schwein?“, fragte ich langsam und dennoch laut, schließlich tobte die Schlacht immer noch und sie war noch weit vom Ende entfernt.
„Ich glaube, das kannst du dir selbst erklären“, sagte er nur abweisend und er wandte sich leicht ab.
„Nein.“
Er schwieg.
„Wenn du nicht Martin meinst.. Wen dann?“, hakte ich nun nach.
Wieder schwieg er, doch nun wieder mir zugewandt und mit einem Blick, der Frauenherzen durchbrechen könnte. Sie zum Flennen bringen könnte. Meines war auch beinahe dabei zu brechen. Doch eben nur beinahe.
Dieses Mal packte ich ihn fester und an beiden Armen, sodass er mich ansehen musste ohne wegzublicken.
„Wen. Meinst. Du“, sagte ich ruhig, vielleicht etwas drohend und doch verlangend.
„Deinen komischen, verräterischen Freund!“
Es war wie ein Schimpfwort. Freund

. Ich musste mich stark überwinden nicht die Augen zu verdrehen. Was sollte das denn jetzt? Was kümmerte es ihn? Und vor allem: Woher wusste er das?
„Ich weiß doch, dass du ihn magst. Dein Blick im Jeep, als wir losgefahren sind und dein ganzes Verhalten, alles an dir verrät mir, dass er dich verletzt hat und du ihn trotzdem vermisst und zwar übernatürlich sehr. Ich kann dich nicht davon abhalten, ihn zu lieben und ihm zu vertrauen. Aber bedenke, wie er dich hintergangen hat, was er getan

hat. Er ist ein Verräter und sonst nichts. Ich weiß, dass er da oben ist. Vielleicht will er seinen Fehler wiedergutmachen, vielleicht auch nicht. Vielleicht bist du ihm scheißegal, vielleicht auch nicht. Vielleicht hilft er Martin gerade und vielleicht auch nicht. Wer weiß..“ Er verzog den Mund und blinzelte stark, als ob er versuchte so die Tränen zurückzudrängen, was ihm leider nicht gelang.
Er weinte. Mitten in dem Chaos standen wir zwei und es schien irgendwie alles gedämpft zu sein. Die Schreie, die Schüsse, die Erschütterungen. Alles war wie weit entfernt, in einer anderen Welt. Und ich sah ihn einfach nur an, während er versuchte sich zu beherrschen und mir nicht in die Augen zu blicken, doch ich ließ ihn nicht. Das Einzige, was ich in diesem Moment verspürte war Mitleid. Mitleid und eine tiefe Traurigkeit. Schuldgefühle vielleicht auch. Um all das zu vergessen oder wenigstens etwas zu tun, zog ich ihn an mich. In eine schützende, tröstende Umarmung. Ich wollte nicht, dass er weinte. Ich wollte, dass er wie mein kleiner, großer Bruder war und dass er bei mir blieb, jedoch nicht so, wie er es jetzt in Betracht zog.
Nach gefühlten Jahren trennten wir uns wieder. Es schmerzte mich, ihm wehzutun, aber er musste verstehen. Er musste begreifen, auch wenn er es anscheinend schon getan hatte, dass er mir nicht bedeutungslos in Erinnerung bleiben würde. Er würde mein kleiner, oder eher doch großer Bruder sein, der mich immer beschützte und ich ihn ebenso. Ich liebte ihn wie einen Bruder und das wollte ich ihm auch zeigen. Ich wartete, bis er sich allmählich beruhigte und gab ihm dann einen Kuss auf die Wange und bevor er irgendetwas sagen oder tun konnte, rannte ich auch schon Hannah hinterher in das Parlamentsgebäude.
Ich hätte nie gedacht, dass mich niemand aufhalten würde, dass es so einfach werden würde, zu dem stattlichen Gebäude zu kommen, genauso wie ich nicht gedacht hätte, dass Hannah hier aufkreuzen hätte können.
Als ich die Tür erreichte, blickte ich mich ein letztes Mal zu James um, doch er war nicht mehr da. Er war verschwunden. Panisch suchte ich den Schauplatz mit den Augen ab, etwas gehindert durch den nebligen Staub und das Getümmel, fixierte trotzdem jeden einzelnen Kämpfer genau, aber war weg.
Wo konnte er hin sein? Es waren schließlich nur wenige Sekunden vergangen, die ich gebraucht hatte, um die Tür zu erreichen und es war eigentlich unmöglich so schnell vom Ort des Geschehens zu verschwinden, denn offenbar fehlte hier von ihm jede Spur. So plötzlich und so lautlos war er fort. Was hatte er vor?
Hoffentlich tut er sich nichts an!, dachte ich nur entsetzt und verwirrt zugleich. Aber mein Gehirn holte mich wieder zurück zu meinem beschlossenem Plan, meinem Ziel. Ich musste jetzt tun, was ich konnte, um meinen Vater zu retten. Um James musste ich mich danach kümmern, auch wenn das schwierig war und ein Teil in mir sich gegen diese Erkenntnis wehrte, doch er drückte gegen eine eiserne Wand. Es galt jetzt nicht an mich zu denken, oder an James. Ich musste an die Zukunft des Landes denken, an sein Volk, an alles Andere als an mich. Wen kümmerte es denn wirklich, wie es mir ging? Was kümmerte es mich? Das war jetzt nebensächlich und dumm, aber menschlich. Menschen dachten immer zuerst an sich selbst. Wenn es darauf ankam würden sie immer zugunsten ihres eigenen Lebens wählen und womöglich dadurch ein anderes beenden. Doch es gab auch andere Menschen, die sich lieber opfern wollten, als jemand anderes sterben zu sehen. Ich glaube, ich gehöre zu Letzteren.
Und darum wandte ich mich mit einem lang gezogenen Seufzer ab gen Tür, eher gesagt Portal und quetschte mich durch den offen gelassenen Spalt durch die Doppeltüren, da ich nie wissen konnte, ob es schlecht war Geräusche zu machen. Und sicherlich war es nicht hilfreich Geräusche zu machen.
Die Eingangshalle übertraf meine Erwartungen nur knapp: Pompös, riesig und auch etwas kalt. Keinen Funken Gemütlichkeit, doch das kümmerte auch keinen, wenn das Parlamentsgebäude fast nur für internationale Empfänge, Sitzungen des Landesvorstandes oder Feiern genutzt wurde. Auch wenn ein Teil des Obergeschosses für die Präsidentenfamilie gebaut wurde, war der Großteil recht kalt eingerichtet.
Die Eingangshalle bestand fast nur aus Granit oder Marmor, was man durch das schwache Licht aus dem Flur im darüber liegendem Stock kaum erkennen konnte, bis auf den Boden, der in einem kunstvollen, bunten Mosaikstein gepflastert worden war. Von der Eingangshalle gingen links und rechts jeweils nur zwei Türen ab, alle aus teuer wirkendem, dunklen Holz, das Geländer der Treppen, die an beiden Seiten gegenüber von der Tür am Ende in eine Ebene zusammen liefen, war aus Elfenbein, verziert mit goldenen Ornamenten, die auch die Wände schmückten. Echt protzig und beeindruckend, doch diese Wirkung sollte zweifellos auch erzielt werden. Ich war neugierig, wie der Rest des Parlamentes wohl aussehen würde. Wie mein Vater lebte, wo er am liebsten war, was er an diesem Gebäude am interessantesten fand.
Da das Fenster sich ungefähr im ersten oder zweiten Stock befunden hatte, zog es mich eine der Treppen hinauf, dem Licht entgegen. Zum Glück machten meine Schuhe keine Geräusche auf dem kalten, glatten Mosaikboden und den Treppenstufen aus Marmor, auch wenn ich glaubte, dass man das nicht hören würde können, wäre ich Martin oder mein Vater. Ich wollte eine Art Überraschungsmoment haben, damit Martin erst einmal geschockt dastand, bevor er versuchte, mich zu erschießen. Was hatte eigentlich Hannah vorgehabt zu tun, sobald sie meinen Vater erreichte? Kannte auch sie Martin Connely? War sie auch eine Verräterin, oder wusste sie nur von Martins und Sarahs Plan und gab nun alles, um mir zu helfen? Ich wusste nicht, was ich von diesem Gedanken halten sollte. Wer wusste schon, wieso Hannah wirklich hier war außer sie selbst? Aber sie müsste mir Rede und Antwort gestehen, wenn wir das hier überlebten, denn eins war klar: Sie hatte gewusst, was vor sich geht und hatte mir nichts gesagt. Stattdessen hatte sie mich bei dem Feind leben lassen, wie ein nutzloses Lamm zum Schlachten vorgeführt, das abwartete, bis der Tag kommt, an dem es vorbei wäre. Wut kochte in mir hoch und ich fing nun an, schneller zu laufen. Was war sie denn bitteschön für eine Freundin, wenn sie mich die ganze Zeit über angelogen hatte? Einerseits wollte ich ihr jetzt die Freundschaft kündigen, aber andererseits konnte ich es nicht. Und genauso war es auch bei Jesse. Ich wollte ihn nie wieder sehen, aufhören ihn zu lieben, aber mein Herz spielte nicht mit. Er zog mich an wie ein Magnet und ich konnte dagegen nichts tun. Hatte James genauso gedacht? Wollte er aufhören mich zu lieben, aber er konnte es nicht, jedoch anders als ich weglaufen konnte? Mich zurücklassen konnte?
Er würde bald wieder richtig lieben können und zwar ein Mädchen, dass ihn so wie ihn liebt. Bedingungslos und unwiderruflich, so tief, glücklich zu sein, dass es so gekommen ist. Ich wünschte es ihm. Mein großer, kleiner Bruder sollte glücklich werden, und ich wollte es auch. Wer wollte das schon nicht?
Ich lief weiter, um die eine Ecke, dann geradeaus, immer dem nun heller werdenden Licht entgegen und mit jedem Schritt, den ich machte, schien mein Herz lauter und höher zu schlagen. Gleich würde es aus meiner Brust hervorbrechen oder mein Mund würde es ausspucken und ich wäre hin. Doch das war Unsinn, ich hatte nur Angst, nein, ich hatte eine Scheißangst, aber das half jetzt auch nicht weiter.
„Ich schaffe das, ich tue es jetzt einfach und niemand wird mich aufhalten können!“, presste ich zwischen meine Zähnen hervor, leise, schon fast unverständlich, während ich anfing zu rennen.
„O'Hara, ich warne dich! Ich werde schießen, aber sage mir nur noch eins: Hast du überhaupt keine Skrupel, du und deine Vorfahren, die mich und meine Familie verfolgt und fast ausgerottet haben, so Macht durstig und gierig, dass sie alles dafür getan haben?! Sag es mir! Bist du genauso? Ach, wie kann ich das nur sagen, sicherlich bist du genau wie deine ganze Familie! Ihr seid Egoisten, die nicht an das Wohl des Volkes denken! Klar, das nordländische Volk kennt es nicht anders, als es jetzt ist, aber sie werden es bald herausfinden, denn wenn sie durch mich befreit werden von dieser schon fast mittelalterlichen Regierung und ihren Ansichten werden sie erkennen, wie viel besser es ihnen mit mir geht und deine Tochter wird auch nichts dagegen machen können, denn sie ist doch vom gleichen Schlag wie du! Dein Blut fließt in ihren Adern und es verpestet sie. Ich muss es schließlich wissen, ich habe sie fast siebzehn Jahre jeden Tag um mich haben müssen!!“, schrie eine Stimme, noch etwas entfernt, doch ich würde sie immer erkennen.
Martin Connely. Und was brabbelt der da? Hatte er irgendwelche Wahnvorstellungen und glaubte deswegen an so einen Quatsch? Als ob die Familie meines Vaters seine fast ausgerottet hätte! Wieso sollte meine Familie das getan haben wollen? Das ist doch totaler Kokolores! Trotzdem beschleunigte ich meine Schritte umgehend und heftig, sodass ich schon fast nicht mehr nur noch rannte, sondern einen undefinierbaren, schnellen Schrittrhythmus anschnitt.
Er war bereit zu schießen, aber das war mir schon vorher klar gewesen, als ich durch das hohe Fenster im zweiten Stock geblickt hatte. Die Szene war für mich das reinste Grauen gewesen. Martin und Welch O'Hara standen am Fenster, der eine hielt dem anderen eine Pistole gegen den Kopf, während der andere starr vor Schreck dastand. Man hatte zwar aus der Entfernung nicht mehr erkennen können, doch für mich war es nicht besonders leicht, diesem Anblick nicht unter Panik zu begegnen.
„Was redest du denn da für dummes Zeug? Sicher geht es dem Volk gut, so wie es jetzt ist. Nicht jeder technische Fortschritt ist der beste! Und wenn du meinst, dass es ein Fehler ist, wenn ich es weiterhin vermeiden will, dass – wie mein Vorgänger es schon tat – Atomkraftwerke gebaut werden, dann liegst du falsch. Die Risiken sind zu groß und diesen kann ich das Volk nicht aussetzen. Wenn ein Fehler passiert, dann kann ich es erstens nicht rückgängig machen und zweitens wäre unser schönes Nordland zerstört. Und das willst du doch nicht, oder Martin?“, sagte nun Jemand, der nur mein Vater sein konnte.
„Dummes Zeug? DUMMES ZEUG?? Ich wusste, dass du meine Hauptfrage umgehen würdest, aber dass du tatsächlich so ein Schwein bist, ist echt traurig! Man kann mich nicht anklagen, wenn ich es tue, denn es ist zum Wohle des Volkes! Einer muss es tun! Und jetzt habe ich

keine Skrupel mehr, dich umzubringen, Welch, niemand wird mich aufhalten. Sag adieu

zu deinem Reichtum, denn etwas Anderes besitzt du nicht mehr!“, kreischte Martin fuchsteufelswild.
Und nun sah ich die Tür, hinter dem das Schicksal von mehreren Personen zusammentraf, an dem Ort, wo mein Vater war, an dem Ort, wo Martin war.
Im nächsten Moment rammte ich mein ganzes Gewicht gegen die Tür, die ohne großen Widerstand aufflog, schrie „Stoooooop!!“,so laut ich konnte und kam dann erst zur Ruhe, als ich fertig war mit dem Stolpern und mein Gleichgewicht wieder hatte.
Und eine Sekunde später wäre ich am liebsten wieder hinaus gerannt, denn da waren zwei Dinge, die nicht mit meiner Beobachtung übereinstimmten.
Ich war nicht darauf vorbereitet gewesen, ihn hier wiederzusehen, doch ein Teil von mir schien es geahnt zu haben, denn ich war nur wenig geschockt. Jesse stand mitten im Raum, starrte zuerst mich, dann meinen Vater und schließlich Martin an, offenbar immer noch unschlüssig, auf welche Seite er gehörte.
Das Zimmer musste das Arbeitszimmer meines Vaters sein, denn ein Schreibtisch lag nun umgestoßen vor ihm und Martin. Außerdem gab es zahlreiche, in die weinrote Wand eingelassene Bücherregale, aus denen manche Bücher herausgerissen worden waren und nun auf dem dunklen Parkettboden lagen, zusammen mit ausgerissenen Buchseiten, manche zerrissen, manche zerknüllt oder platt getreten.
Die hohen Fenster schmückte ein cremefarbener Vorhang, mit den gleichen goldenen Ornamenten wie in der Eingangshalle versehen, filigran und edel, wie es nur in so einem Protzhaus wie dem Parlament von Nordland sein konnte. Sicherlich, schön sah es aus, aber es war doch nicht so mein Geschmack. Außerdem mochte ich es nicht, wenn man sich in seinem eigenen Haus verlaufen konnte. Wer wollte das schon? Der arme Parkettboden..,dachte ich, denn an der Stelle, wo die Kanten des Tisches auf das Hindernis gestoßen waren, klafften riesige Kratzer und ein Riss war ebenfalls zu erkennen.
Die Erkenntnis, dass ich in genau diesem Anwesen hätte leben können, mit Vater und Mutter, glücklich und zufrieden, machte mich zwar traurig, doch es nützte mir sowieso im Moment nicht. Wieso sollte ich jetzt sentimental werden, eben jetzt, wo es doch an der Zeit war, nicht sentimental, nicht egoistisch und deprimiert zu denken, zu sein? Das hatte doch keinen Sinn und stellte sich dem Sieg in den Weg. Doch ich würde diese Mauer zerschlagen, wie ich es schon so oft getan hatte, vielleicht mit ein paar negativen Folgen, jedoch nicht so dramatisch, wie die, die zweifellos folgen würden, wenn ich jetzt in meinem eigenen Elend versank. Auch James konnte warten, genauso wie Jesse. Meine Gefühle mussten warten. Ich wünschte Hannah wäre hier.
Moment. Wo war

Hannah eigentlich? Hatte ich sie nicht ins Parlament laufen sehen? Oder hatte sie einen anderen Plan verfolgt? Was hatte sie denn sonst vorhaben können, dass sie nicht in diesem Raum war, im Zentrum des Geschehens, sondern irgendwo anders im Gebäude? Was tat sie hier, wenn sie nicht hier war, um meinen Vater zu retten, wie ich es vorhatte? Obwohl es mir sowieso komisch vor kam, dass sie hier war und dass sie anscheinend alles wusste und nun etwas dagegen zu unternehmen versuchte. Es sah ihr so gar nicht ähnlich Menschen zu helfen, die sie nicht gut kannte, auch wenn das ziemlich fies klang, doch es war so, aber das lag nicht an ihrem Egoismus. Es lag an ihrem Misstrauen, dass durch irgendetwas entstanden sein musste, vielleicht durch ihre Familie, die sie im Grunde genommen nicht hatte. Sie war ungefähr schon immer in der gleichen Situation gewesen wie ich mit nur einem Unterschied: Sie hatte eine Schwester, die sich um sie kümmerte so gut sie konnte, auch wenn sie rund hundertzwanzig Kilometer entfernt wohnte und es selten vor kam, dass Cathleen die Zeit fand, um sie zu besuchen. In meinem ganzen Leben hatte ich sie jedoch noch nicht gesehen, ebenso wie ihre Eltern, was ich aber nicht als merkwürdig empfand, da ich es irgendwie auch gewohnt war, auch wenn meine „Eltern“ fast jeden Abend zu Hause waren. Wir hatten uns sowieso die ganze Zeit angeschwiegen, da gab es keinen Unterschied, ob sie nun da gewesen wären oder nicht.
„Katie, du

? Habe ich meinen Männern nicht gesagt, dass sie dich töten sollen? Was macht du hier? Und wie doof bist du eigentlich?? Du hättest weglaufen können, dich vor mir und meinen Leuten verstecken können und wir hätten dich wahrscheinlich nie gefunden! Wieso bist du dann hier? Ich habe dir so oft die Chance gegeben zu verschwinden, aber du bist immer wiedergekommen! Du bist echt die Tochter deines Vaters! Dumm, egoistisch und gierig! Du, Göre, komm her!!“
Am Anfang hatte Martin noch betont ruhig gesprochen, doch dem Ende entgegen wurde er immer lauter. Ohne die Knarre vom Kopf des Premierministers zu nehmen, starrte er mich hasserfüllt an. Unbegründeter, und doch abgrundtiefer Hass stach mir in die Magengegend. Ich wusste ja, warum er mich so hasste, aber ich konnte nichts dafür. Ich hatte nie etwas böses getan, ich war schon immer das schwarze Schaf. Jedenfalls bei ihm und seiner Frau, James Mutter. Wie hatte eine Frau, die früher mit Frederic liiert gewesen war, sich in einen Taugenichts wie Martin Connely verlieben können? Einem Mann, der sein Leben lang auf diesen Tag hin gearbeitet hat und nie an etwas anderes gedacht hat, außer an Frauen, und vor allem an Rache. Angeblicher Rache im Namen seiner Vorfahren. Ich konnte nicht glauben, was er vor Kurzem noch Welch O'Hara verbal entgegen geschleudert hatte. Es war wirres Zeug. Davon war ich überzeugt. Aber wieso war Jesse hier? Mochte er seinen Vater trotz all seinem Leid immer noch? Auch wenn er behauptete, dass er Martin hasste, weil er seine Mutter mit dem Baby zurückgelassen hatte, ohne noch einmal zurückzublicken. War das auch eine Lüge gewesen? War es vielleicht anders?
„Na, du hast dazu nichts zu sagen? Dachte ich mir auch. Du stehst da, wie eine dümmliche alte Frau, als ob du hoffnungslos bist, aber trotzdem hier bist.“
Es gab eine Pause. Ich sträubte mich dagegen, ihm zu antworten. Ich wollte ihn noch etwas reden lassen, bevor mein Gewitter über ihn herein brach, und dann singen die Engel Halleluja.
„Du weißt, ich verabscheue dich, wie auch deinen Vater. Und weißt du was? Ich habe eine Idee..“
Ohne richtig zugehört zu haben, auf den Boden schauend, damit ich meinen Vater nicht ansehen muss, weil es mir irgendwie unwohl war, hatte ich nicht bemerkt, dass Martin auf mich zugekommen war, die Waffe immer noch auf Welch gerichtet. Erst, als er mir einen Arm um den Hals schlang und begann zuzudrücken, kam es mir in den Sinn mich zu wehren. Jetzt war mir klar, dass mein Verhalten wirklich dämlich aussah, als ob ich minderbemittelt wäre, vielleicht sogar behindert.
Doch egal wie sehr ich mich wandt und um mich schlug und trat, Martin ließ nicht los. Ich konnte den ekligen Tabak-Parfüm-Moschus-Gestank riechen, der Martin schon immer umgeben hatte, jedoch war er noch nie so stark gewesen, so unerträglich. Martin ließ kurz locker, sodass ich wieder atmen konnte, jedoch hatte ich immer noch nicht so viel Freiheit, dass ich ihn abschütteln konnte. Ich musste husten, da es mir schwer fiel zu atmen, als ob Martins Geruch die Luft um sich herum aufsaugen würde.
„Martin Connely, dieses Spielchen ist sogar unter deinem Niveau. Willst du das wirklich riskieren, dieses Spielchen zu spielen? Das ist doch total lächerlich! Komm wieder zu dir und hau ab, oder steh zu deinen Taten wie ein Mann und schiebe es nicht auf Andere!“, sagte Welch O'Hara mit einem Feixen.
„Mach mich nicht aggressiv, du Schwein!“, schrie Martin nun.
Ich hätte mir am liebsten die Ohren zugehalten, doch das war mir ja nicht ermöglicht, weil ich immer noch festgehalten wurde, also erlitt ich folglich eine leichte Taubheit. Wieder lachte mein Vater höhnisch auf.
„Jesse! Komm her!!“, sagte Martin laut. Seine Stimme bebte vor Wut.
Es schien mir erst so, als würde Martin auf Jesse mit seiner Pistole eindreschen wollen, aus irgendeinem Grund, den ich nicht kannte, doch dann sah ich, wie das metallene Todesgeschoss in Jesses rechter Hand landete.
„Mein Sohn, du hast die Wahl. Du wirst es tun und du musst dich entscheiden. Wer soll deiner Meinung nach leben? Und entscheide dich jetzt

! Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit.“
Der junge Mann sah seinen Vater entsetzt an, als würde er gleich widersprechen wollen, doch anscheinend schien der Blick seines Vaters, den ich nicht sehen konnte, ihn einschüchtern und langsam nicken. Martin war ein Schwein. Und noch mehr als das. Was konnte Jesse für all das? Warum benutzte er seinen Sohn, sein eigenes Fleisch und Blut für so eine Tat? Und dann sollte er sich noch entscheiden, zwischen mir und meinem Vater. Wenn er mich verraten hatte und auf der Seite von Martin war, würde er meinen Vater umbringen, aber im Endeffekt könnte er genauso gut mich töten wollen. Und dann kam mir der Gedanke, dass egal für wen sich Jesse entschied, der der nicht ausgewählt wurde, würde sowieso nur wenig länger überleben. Die Verzweiflung schoss durch meinen Körper wie ein Gift. Doch ich hatte einen Entschluss gefasst. Wenn ich schon getötet werden sollte, dann sollte es Jesse tun. Wenn, dann wollte ich von dem getötet werden, den ich liebte. Ich würde die Schande auch im Tod nicht ertragen können, wenn Jemand wie Martin mich tötete.
„Töte mich, Jesse. Es hat doch eh keinen Sinn. Er wird uns ohnehin beide töten, was hat es für einen Zweck, wenn ich eine Minute später sterbe?“, sagte ich atemlos, ruhig, schon fast monoton oder emotionslos.
Jesse warf mir einen kurzen Blick zu. War es Qual? War es dieser gequälte Blick, den ich schon zu oft bei ihm gesehen hatte?
„Doch nicht so blöde, wie du aussiehst, was Mädchen? Aber ja, du hast Recht. Vielleicht überlege ich es mir aber noch. Mein Sohn, entscheide dich. Jetzt

,“ sagte er während er mich von sich weg stieß, in Jesses Richtung.
Schließlich trat er neben mich, und ich traute mich nicht ihn anzusehen. Ich wollte einfach nur weg von ihm. Jesse hob die Waffe und es glitzerten Tränen in seinen Augen. Sie waren so schön, so klar, so blau und trotzdem nicht kalt. Es schien mir ein gutes letztes Bild von der Welt zu sein. Seine Augen sollten das Letzte sein, was ich sah. Er sah mich an. Es war nicht nur noch Qual in seinem Blick, der wieder so intensiv war wie ich ihn schon so oft erlebt hatte, doch es blitzte auch etwas in seinen Augen auf, doch ich konnte nicht erraten, ob ich mir das nur eingebildet hatte oder wenn nicht, was es bedeuten konnte. Ich wollte, dass es jetzt zu Ende ging. Ich wollte, dass es jetzt vorbei war. Ich schloss die Augen.
PENG!!!!


Ich erwartete Schmerz, ich erwartete, dass ich zusammenbrach, dass ich langsam ohnmächtig wurde. Doch es geschah nichts, außer, dass ich einen überraschten und qualvollen Aufschrei hörte. Ich riss die Augen auf. Was war hier los? Was hatte Jesse getan? Hatte er sich doch um entschieden und meinen Vater getötet? Was war hier los???
Ich blickte neben mich und sprang ein paar Schritte zur Seite. Martin war nicht tot, doch er atmete schwer vor Schmerz. Jesse hatte ihm in die Schulter geschossen. Der Verletzte wälzte sich auf dem Boden umher, der sich langsam mit Blut füllte. Und ich war starr vor Schreck. Ich konnte nur zusehen, wie Martin sich quälte, ohne etwas zu fühlen, fast gleichgültig starrte ich auf ihn hinab.
Dann knickten meine Beine ein und schon während ich fiel spürte ich, dass mich starke Arme vor einem harten Aufprall schützten. Ich bemerkte, wie mich etwas in mir in eine Dunkelheit zog. In eine gefühllose und trotzdem sanfte, entspannende, tiefe Schwärze. Es war wie ein glückliches Versinken in einem warmen Bett nach einem langen Tag und ich war plötzlich so müde. Starb ich jetzt? Ich wusste nicht, dass sterben so leicht sein konnte. Ich hatte es immer mit Schmerzen in Verbindung gesetzt. Die Dunkelheit schloss sich um mich und ich fiel in einen sehr tiefen Schlaf. Mir war egal, ob ich vielleicht nie wieder aus ihm aufwachen würde. Meine Pflicht war erfüllt. Mein Vater war gerettet.

Endlich die Wahrheit




Ich wusste nicht, ob ich lange geschlafen hatte, aber wirklich geglaubt, dass ich wieder aufwachen würde, hatte ich nicht. Ehrlich gesagt hatte ich es gehofft. Ohnmächtig zu werden war wirklich ein so schönes Erlebnis. Es ist, als würdest du den ganzen Stress und das ganze Leid aussperren können, wenn auch nur für einen kurzen Moment, doch es tat gut und es befreit dich zutiefst.
Ich spürte, dass etwas über meinen Kopf strich. Sanft, wie eine Feder und so warm, wie die Sonnenstrahlen im Sommer. Es war ein gutes Gefühl. Am liebsten würde ich immer so liegen bleiben und mich einfach weigern je wieder aufzustehen. Ich lag auf etwas Weichem. Wahrscheinlich einem Bett. Mich umschlang eine Decke. Sie war schön warm, doch ich wusste im nächsten Moment auch, dass das nicht das Einzige war, was mich wärmte, sondern dass mich die selben starken Arme umschlangen, die mich auch vor dem Aufprall bewahrt hatten. Jesse war bei mir. Für Jesse lohnte es sich mir zu leben.
Doch mein Leben würde sich jetzt abrupt ändern, sobald bekannt wurde, was geschehen war und sobald auch noch der letzte Bürger im Land heraus fand, dass die verschollene Tochter des Premierministers wieder aufgetaucht war. Wie würden wohl die Reaktionen von Stacy, Nick, Melissa und vor allem Charlie sein? Würden sie sich fragen, wie sie all die Jahre mit der Tochter des Staatsoberhauptes zusammengelebt haben und alle, außer Charlie sich schuldig fühlen würden, wenn sie realisierten, dass sie die ganze Zeit über das mächtigste Mädchen Nordlands hergezogen sind? Ich hoffte sie bereuten das, was sie getan haben, aber ich mochte keine Entschuldigung von ihnen hören. Ich wollte überhaupt nichts mehr von ihnen hören. Sie sollten in ihrer Stadt bleiben, in ihrem Internat, in ihrem Alltag, jedoch sollten sie mich bloß in Frieden lassen. Wobei ich mir nun dachte, dass ich wenn ich auf eine Schule gehen würde, garantiert auf eine andere gehen würde.
Plötzlich hatte ich das Bedürfnis meinen Vater zu sehen. Wo war ich hier eigentlich? Lag ich in einem Bett im Parlamentsgebäude oder in einem Krankenhaus? Ich konnte es nur herausfinden, indem ich aufhörte vorzutäuschen, ich würde noch schlafen. Außerdem wollte ich die letzten Erklärungen von Jesse, von meinem Vater und auch von Hannah hören, die wie vom Erdboden verschluckt war, seitdem ich sie ins Gebäude laufen sehen sah und offiziell seitdem ich in das Arbeitszimmer meines Vaters gestürzt war, wo ich sie eigentlich anzutreffen erwartet hatte.
Es war schon komisch, dass sie jetzt nicht da war, neben mir, auf mich hinab blickte und hoffte, ich würde doch mal gefälligst meine bescheuerten Lider heben. Ich kannte sie. Sie war sehr ungeduldig, fast schon hibbelig, und sie benutzte gerne Schimpfwörter in ihrem Sätzen, wenn sie es war. Es war eines dieser Dinge, die ich an ihr liebte. So sehr ich geduldig sein konnte, konnte sie es nicht. So sehr ich die Natur liebte und am liebsten mitten im Wald leben würde, im Einklang mit der Natur, könnte sie nicht mit ihren ständigen Shoppingtouren aufhören. Es gehörte zu ihr, war ein Teil von ihr. Und außerdem würde ich es nicht aushalten können, von ihr getrennt zu sein. Oder von Charlie. Er hatte auf der ganzen Flucht ein klaffendes Loch durch seine Abwesenheit hinterlassen und es hatte mich zerfressen.
Anscheinend schien Jesse nicht mehr länger warten zu wollen, dass ich aufwachte denn er fing an mich sanft zu schütteln. Er strich mir leicht mit dem Zeigefinger über den Arm, streichelte meine Wange und küsste meine Stirn, meine Augenlider, mein Kinn, meinen Mund, ein, zwei, drei, vier Mal, bis ich mich mit einem Seufzen dazu überwand, so zu tun, als würde ich jetzt erst aufwachen.
Also bewegte ich mich und fing an mich zu strecken. So etwas nannte ich ein glückliches Aufwachen. Genauso wollte ich jeden Tag aufgeweckt werden und das für meinen restliches Leben lang. Genauso und nicht anders. Schließlich öffnete ich meine Augen und sah ihn an. Er lächelte und dann lachte er. Und sein Lachen klang wie Musik in meinen Ohren und seine rabenschwarzen Haare fielen Kreuz und Quer, bis auf ein paar Strähnen, die ihm in die Stirn fielen. Doch das Schönste waren seine Augen. So strahelnd blau, nicht kalt und hell, sondern merkwürdig warm und dunkel. Dunkelblau wie die tiefe See. In mir erweckte es eine Freiheit und eine Nähe zugleich. Und diese Augen bewegten mich in einen Bann, aus dem ich nie mehr ausbrechen wollte. Und seine Lippen, so weich und sanft, ich könnte sie ständig mit den meinen berühren und tat es doch so so wenig und bis jetzt, ehrlich gesagt, noch überhaupt nicht. Dieser Gedanke versetzte mir einen sehnsüchtigen Stich. Das mussten wir unbedingt nachholen. Ich setzte mich in einer fließenden Bewegung auf und schlang die Arme um ihn, drückte mich an seine Brust und mir wurde heiß. Mein Gesicht schien zu glühen. Jesses Hand umfasste meine Taille, während die andere über mein Haar strich, sein Kopf lag halb auf meinem Rücken, halb auf meine Schulter und er küsste mein Schulterblatt, sowie meine Schulter. Innerlich vor Glück und gleichzeitiger immer noch währender Schüchternheit legte ich meinen Kopf an seinen Hals, hörte dem Rhythmus seiner Halsschlagader zu, dessen Takt für mich wie ein ganzes Orchester war. Er war mein Gott und ich war seine Göttin. Wir brauchten keine Worte, um uns zu vermitteln, wie sehr wir uns liebten. Allein die Anwesenheit des Anderen machte uns glücklich. Ich schloss meine Augen wieder und genoss diesen lang ersehnten Momenten einfach.
Nach einer Ewigkeit schienen wir uns erst von einander zu lösen. Und erst jetzt öffnete ich meine Augen ein weiteres Mal. Er blickte mich an, als sei ich das erste Wesen auf der ganzen Welt, das ihn vervollständigte. Und vielleicht stimmte das auch. Jedenfalls war es umgekehrt genauso. Ich erinnerte mich an ein Lied, was ich früher so oft gehört hatte. Love with a Stranger

von Marié Digby. Auf irgendeine Weise passte es im Moment. Passte es, seitdem ich Jesse kannte. Er kam und ging, redete und schwieg. Er war ein ungeschriebenes Blatt für mich. Er war so geheimnisvoll, dass ich nie genauso wusste, was er dachte. Er war so interessant in seiner manchmal abweisend wirkenden Art. Ich wollte alles über ihn wissen und bekam es doch nur Stück für Stück und klammerte mich daran fest, als sei es das Kostbarste auf der Welt. Ohne ihn konnte ich nicht mehr überleben. Er war meine Luft zum Atmen und sie schmeckte gut. Süß und doch einen Hauch bitter. Ein Hauch Gefahr.
Er hob mein Kinn mit seiner rechten Hand, sodass ich ihm direkt in die Augen sah, strich dann mit seiner linken Hand eine Haarsträhne aus meinem Gesicht beugte sich vor und alles schien in Zeitlupe zu laufen. Immer stärker spürte ich seinen Atem auf meinem Gesicht, der unregelmäßiger verlief, je näher er meinen Lippen kam. Ich schloss die Augen und wartete darauf, auf das Gefühl von seinen Lippen auf meinen.
Und da waren sie, so sanft und weich, wie ich sie mir immer vorgestellt hatte, fast noch weicher und sanfter. Es war besser als die Natur, besser als Musik. Niemand konnte uns nun noch trennen und als es nach gefühlten Wochen und doch nur wenigen Sekunden wieder zu Ende war, fühlte ich mich wie neugeboren. Das war also das Verliebtsein. Ich hatte es mir irgendwie.. Anders vorgestellt. Und ich konnte nicht beschreiben wie. Doch es war viel schöner.
„Ich liebe dich“, sagte Jesse mit einem glücklichen, kleinen Lachen.
„Ich dich auch“, gab ich zurück.
„Ich habe irgendwie das Gefühl, dass die Worte nicht wirklich richtig sind. Sie sind so.. Alltäglich. Ich überlege mir noch etwas dafür..“
Wir grinsten uns an und küssten uns wieder. Aber dann sah ich ihn fordernd an. Und er seufzte wissend.
„Du willst Erklärungen, richtig?“
Ich nickte nur und nahm keine Sekunde den Blick von ihm, von seinen wunderschönen, blauen Augen. Er seufzte.
„Also gut. Was willst du wissen?“
„Du kennst Hannah, ich weiß es. Was ist zwischen euch passiert? Wie habt ihr euch kennen gelernt und wieso bist du so wütend geworden, als ich ihren Namen erwähnte?“
Er musste verlegen lächeln.
„Hör zu. Ich kenne Hannah seitdem ich ein Jahr alt war. Sie ist meine Stiefschwester und hat immer zu ihrer Mutter gehalten, was ich leider nicht getan habe. Mein Vorbild war mein Vater, nicht meine Stiefmutter. Und als ich Hannah vor drei Jahren wieder traf, da haben wir uns heftig gestritten, welche Seite besser sei und ich war so geblendet, dass ich mich vollends mit ihr zerstritt. Ihre Mutter und unser Vater hatten sich nicht vollkommen normal getrennt. Mein Vater rannte eines Morgens einfach davon und nahm mich mit und meine Stiefmutter sah ich nie wieder, doch mir wurde von meinem Vater jeden Tag, jede Minute, sogar fast jede Sekunde eingetrichtert, meine Stiefmutter sei böse und sie habe ihm etwas weggenommen. Doch jetzt weiß ich, dass das nicht richtig war. Doch ich weiß, dass ihre Mutter tot ist und du weißt es auch, denn sie ist auch deine Mutter.“
Auf diese Worte musste ich erst einmal Schlucken. Hannah war meine Halbschwester? Jesse war ihr Stiefbruder? Hannah und Jesse kannten sich von klein auf? Das war so verrückt! Doch ich musste weiter fragen. Und so fuhr ich ohne Kommentar fort.
„Gut. Nächste Frage: Hast du Frederic Hawley getötet?“
Ein Schatten huschte über sein Gesicht.
„Ja.“
„Wieso?“
„Weil ich meinen Auftrag erfüllen sollte. Zu der Zeit war ich noch die Marionette von meinem Vater. Doch das hat sich geändert..“
„Also warst du bei ihm, weil er für dich ein Vorbild war?“
„Und weil er mich manipuliert hat bis ins Letzte, ja.“
„Was ist mit deiner leiblichen Mutter?“
„Es ist fast so, wie ich es dir erzählt habe, denke ich. Mein Vater hatte was mit ihr, hat mich mitgenommen, weil er mich anscheinend noch brauchte und sie zurückgelassen. Ich weiß nicht was aus ihr wurde. Wahrscheinlich ist sie jetzt immer noch alleine oder sie ist verheiratet, kann sich dem Vergangenen aber nicht entziehen. Ich denke, ich werde sie suchen gehen und sie einmal besuchen, aber ich weiß nicht, ob ich das schaffe..“
„Wenn Hannah ein Jahr jünger ist als du.. Wie alt bist du dann wirklich?“
„Ich bin 19. Na ja, so gut wie. Noch zwei Monate. Und Hannah ist achtzehn, versucht aber, das zu vertuschen. Sie hat für den Orden gearbeitet und dich heimlich beobachtet und dich beschützt. Martin wusste davon nichts. Er dachte, sie sei in einem Waisenhaus, da eure gemeinsame Mutter ja tot ist..“
Er sah mich besorgt an, als ob er fürchtete, dass ich beim Thema bei meiner Mutter in Tränen ausbrechen würde, doch irgendwie war ich dafür noch zu glücklich. Mein Herz hatte keinen Platz mehr für Schmerz. Doch ich musste trotzdem diese eine Frage noch stellen, die eine Wahrheit wissen.
„Jesse, du hast mich die ganze Zeit, wo wir zusammen unterwegs zu meinem Vater waren, die ganze Zeit, die wir uns kennen, belogen und..“
Er unterbrach mich hastig.
„Katie, es tut mir leid. Als ich sah wozu mein Vater bereit war, mir sogar das zu nehmen, was mich eigentlich nur noch am Leben ließ, seitdem ich es kannte war das der Knackpunkt für mich, an dem ich mich gegen ihn entschied. Er hat mich nie wirklich geliebt, er hat nur so getan als ob. Ich war seine Marionette, ich hatte keinen eigenen Willen. Doch du hast diesen Käfig, in dem ich gefangen war langsam zerbersten lassen und nun bin ich wieder frei. Ich kann frei leben. Ich darf dich lieben und ich will dich lieben und ich will mit dir zusammen sein. Egal, was kommt und egal was war, ich bleibe bei dir, weil ich dich vergöttere.“
Eine Träne lief mir die Wange hinunter und Jesse küsste sie hastig weg, dann wanderten seine Lippen immer weiter, bis zu meinen Lippen und blieben nicht dort haften..


Der Rest der Erklärungen war überflüssig. Jesse hatte mir sowieso alles schon erzählt. Und mein Vater wich komischerweise allem aus, was dem Thema mit Martins Motiv immer näher kam. Es schien sein wunder Punkt zu sein. Doch vielleicht würde ich darüber mehr herausfinden, wenn ich Zeit dazu hatte. Welch offenbarte mir, dass in nächster Zeit enorm viel Presserummel um die Ohren fliegen würde und es danach an der Zeit war, wieder an meine Bildung zu denken. Ich hätte nicht gedacht, dass er so schnell anfangen würde, über Alltägliches zu reden, doch er tat es. Die Tatsache, dass er nur vor wenigen Tagen von einem Mann wirklich hätte erschossen werden können schien ihn überhaupt nicht beeindruckt zu haben. Er ging seiner Arbeit wie gewöhnlich nach und als ich ihn fragte bekam ich nur die Antwort: „Ich lebe ja noch und außerdem tut sich meine Arbeit ja nicht von selbst. Ich bin der Premierminister und der muss immer da sein, auch wenn er gerade eine schwere Zeit durchmacht!“
Aber auf mich wirkte das alles nicht besonders schwer für ihn. Außerdem war er so übertrieben freundlich und höflich zu mir, beteuerte meine Ähnlichkeit mit meiner Mutter und bewunderte meine Stimme und natürlich auch meinen Mut im Angesicht der Ereignisse vom vorletzten Abend zutiefst. Er wünschte mir Glück mit Jesse und hing dann wieder mit der Nase fast auf dem Schreibtisch, während er Dokumente und Briefe durch las.
Hannah hatte mir auch nur wenig erklärt, das ich nicht schon wusste. Sie hatte mir gesagt, dass ich ihre Halbschwester war, weil unsere Mütter gleich waren und die gleiche Geschichte von der Beziehung zwischen Jesse und ihr, die sie jetzt jedoch betont höflich verbargen, um mich nicht zu verletzen oder zu nerven. Mittlerweile hoffte ich, dass sie sich bald schon wieder wirklich gut verstanden, jedoch wusste ich nicht genau, ob das klappen würde.
Das einzige, was mich wirklich beschäftigte war das Verschwinden von James. Wo war er nur hin, dass er bis jetzt nicht mehr wiedergekehrt war und ich fragte mich, ob ich ihn denn je wieder sehen würde, denn vermissen tat ich ihn schrecklich, auch wenn wir uns nur so eine kurze Zeit kannten. Ich hütete mich jedoch vor Jesse dieses Thema anzusprechen, denn ich merkte wie eifersüchtig er bei diesem Thema doch wurde.
Alles in allem hatte sich mein Leben total geändert. Ich lebte in einem Palast, hatte einen Freund, eine Halbschwester und war so etwas wie ein Promi in Amerika. Doch es gab noch einiges an Rätseln, die ich würde lösen müssen. Die größte Frage war das Motiv von Martin. Er hatte meinen Vater beschuldigt und das aufs Schwerste. Bevor er angeklagt werden würde – seine Schulterwunde war nicht zu schwerwiegend gewesen, dass er in Lebensgefahr geschwebt hatte – wollte ich gerne noch einmal ein Wort mit ihm reden, denn es interessierte mich. Hoffentlich würde Martin mir etwas erzählen und außerdem: Was war aus Sarah Connely geworden, James' Mutter? Sie war genau wie ihr Sohn wie vom Erdboden verschluckt. Es war immer noch reichlich Stoff zum Nachdenken da, doch jetzt wollte ich mich erst einmal erholen und mein Glück mit Jesse so richtig genießen.

Anhang




Der Plan




Entführung O’Haras Tochter & Tötung von O’Haras Frau x

Errichtung des Geheimquartiers x

Jordan Preston (Innenminister) auf unsere Seite ziehen x

Mitglieder vom Gegenorden erpressen x

Gelder von Banken abspeisen (Steuern usw.) für die Finanzierung von Waffen x (Dauert an)

Waffengeschäfte im Ausland (unauffällig ins Land schmuggeln) x (Dauert an)

Frederic und James Hawley eliminieren (Sind nicht auffindbar!!)

Armee unterwerfen

Presse unterwerfen (Fast geschafft)

Vorbereitungen für O’Haras Geburtstagsfeier werden von uns
getroffen (Teilweise)

Eliminierung von Ariana (Leider noch nicht)

Eliminierung aller Mitglieder, die sich nicht unterwerfen lassen wollen

Fabrikstadt einnehmen x

Eliminierung von O’Hara (Immer noch nicht erfolgt)

Impressum

Texte: Die von mir entwickelten Ideen dieses Buches gehören allein mir und dürfen nicht zu kommerziellen Zwecken und nur nach Nachfrage bei mir genutzt werden!
Bildmaterialien: LaZephyr
Tag der Veröffentlichung: 21.10.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
**** Mut ist nicht, keine Angst zu haben, sondern die eigene Angst zu überwinden. Martina Aschwanden, Autorin **** Für Yvonne, Christina, Felix und David.

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