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Prolog

 

 

Zadkiel

 

»Neeeeiiiiiiiin!«, brülle ich panisch.

Der Speer trifft.

Evolet.

Das kann nicht wahr sein, ich will meinen Augen nicht trauen, aber die bittere Erkenntnis überkommt mich, denn es ist wahr. Ich lasse mich auf die Knie fallen und hebe ihren Oberkörper ganz vorsichtig an. Immer wieder streiche ich zaghaft ihre Wange und küsse sie auf die Stirn.

»Verlass mich nicht! Bitte, verlass mich nicht!«, flehe ich voller Verzweiflung. »Bitte, bleib bei mir. Ich liebe dich!«, flüstere ich in der Hoffnung, sie würde am Leben bleiben. Ein schwaches Lächeln macht sich auf ihren Lippen breit. Ich versuche zurückzulächeln, aber stattdessen schneide ich eine seltsame Grimasse, die nichts mit einem Lächeln zu tun hat. Ihr Blut klebt an meinen Händen. Ich will die Blutung stoppen, aber ich weiß, es hat keinen Sinn. Der Speer, den Iaoth geworfen hat, war ein Aralesá. Ein mit Gift durchtränkter Speer, welches Iaoth eigens für die Engel entwickelt hat, um sie zu töten. Ihr Energie geben, würde nichts bringen, denn das Gift kann ich nicht verschwinden lassen. Mir fehlt dazu das Wissen. Natürlich! Mir fehlt das Wissen, aber ihm nicht. Er hat das Gift entwickelt, also muss er wissen, wie man es neutralisieren kann! Ich sehe zu Iaoth, der selbstgefällig, mit verschränkten Armen und einem dreckigen, wissenden Lächeln, mir direkt ins Antlitz starrt. Er weiß, welche Richtung meine Gedanken eingeschlagen haben. Als ich meine Liebste wieder ansehe, haben sich ihre Augen bereits geschlossen und ihr Lächeln ist verblasst. Ich küsse ihre Lippen, ihre Augen, ihre Stirn, ihre Wangen. Lautes Schluchzen erschüttert meinen Leib. Meine Tränen tropfen auf sie herab. Ich schließe für einen Augenblick die Lider und atme einmal tief durch. Bitte, verzeih mir, flehe ich still. Sanft lege ich Evolets Körper ab und stehe mit zittrigen Beinen auf. Ein letztes Mal blicke ich auf die kleine Gruppe um mich herum. Ich umrunde Evolet und gehe direkt auf Iaoth zu. Die Blicke der Anderen spüre ich, sie brennen mir Löcher in den Rücken. Vor Iaoth bleibe ich stehen.

»Ich wusste, du würdest sie nicht sterben lassen«, sagt er selbstzufrieden mit einem höhnischen Grinsen auf den Lippen. Widerlicher Bastard!

Kapitel 1

 

 

Iaoth

 

Gut, mein Plan hat funktioniert. Zufrieden sitze ich auf meinem Thron in der Dunkelwelt. Bald werde ich über alle Welten herrschen. Was mir zusteht, wird mir gehören.

»Hast du das Gift des Aralesá neutralisiert? Wird sie überleben?«, fragt Zadkiel. In seinen Augen blitzen Kampfesmut und Zorn auf. Ausgezeichnet! »Du hast mein Ehrenwort.«

»Pah! Als wäre das etwas wert. Ich will es mit einem Vertrag besiegeln!«, fordert er tollkühn. Das gefällt mir, so werde ich bekommen, was ich will! Ich nicke. Zadkiel lässt das Lichtpapier in seiner Hand erscheinen und ich einen Höllenstift.

»Zu meinen Bedingungen«, sage ich diabolisch. Er knirscht mit den Zähnen, gibt mir aber das Papier. Zadkiel weiß, ich ziehe die Strippen. Mit einem Handwedeln lasse ich Tinte auf dem Papier erscheinen und gebe es ihm. Er liest die Zeilen und sieht mich dann an. Hass schlägt mir entgegen, als er den Vertrag unterschreibt. Auch ich unterschreibe ihn, dann leuchtet er für einen Moment hell und löst sich anschließend auf. Das kosmische Gesetz kann nicht gebrochen werden. Der Vertrag ist bindend. Der Erzengel will sich abwenden und gehen. »Stopp! Du hast etwas vergessen.« Schnaubend wendet er sich mir wieder zu. Ich strecke meine Hand aus und er ergreift sie. Schwarzer Nebel umfließt unsere ineinander verschränkten Hände und sie werden ganz warm. Ein kleiner Teil meiner Finsternis geht auf ihn über. Je wütender und hasserfüllter er ist, desto mehr wird er diese Finsternis nähren und zu seiner machen. Nichts Gutes wird dann mehr in ihm sein. Er wird schwarz werden wie die Nacht. Wir lösen unsere Hände, er tritt einen Schritt zurück und bleibt wenige Augenblicke so stehen. Dann wendet er sich ab und verschwindet in den Tiefen der Höhle.

 

Jaden

 

Ich sitze nun seit Tagen am Krankenbett in Täbris, bei meiner kleinen Schwester. Man schickte Ezekiel, um uns über den Gesundheitszustand meiner Schwester aufzuklären. Natürlich brachen wir sofort auf, um bei Ev zu sein. Das ist jetzt vier Tage her. Eigentlich hätte sie längst erwachen sollen. Ihre Wunde ist verheilt, aber sie schläft weiterhin. Raphael meinte, die Wunde würde so schnell heilen, weil sie Engelsblut in sich trägt. Aber wieso wacht sie dann nicht endlich auf? Zad ist seit dem Kampf in Adma spurlos verschwunden. Niemand weiß, wo er sich befindet oder ob er zurückkommt. Diesbezüglich wird mir nicht viel gesagt. Die Lichtwesen besprechen sich hinter verschlossenen Türen. Wie konnte das hier nur so aus den Fugen geraten? Ich bin wütend, auf jeden, der mir versprochen hatte, dass alles gutgehen würde. Nichts ist gutgegangen. Meine Schwester liegt im Koma, Zad ist wie vom Erdboden verschluckt und Iaoth spaziert seelenruhig durch die Welten. Was für ein grandioser Erfolg! Aus dem Stuhl, in dem ich sitze, stemme ich mich hoch, weil ich mir die Beine vertreten muss, wenn ich noch länger hierbleibe, werde ich noch wahnsinnig. Als ich aus der Tür hinaus bin, treffe ich auf Emily. Ihre Augen sind eingefallen und tiefe Ringe zeichnen sich darunter ab. Man merkt ihr die Sorge um ihre beste Freundin an, aber sie versucht stark zu sein. Darum liebe ich sie noch mehr. Die Arme schlinge ich schützend um sie und drücke sie fest an mich. Ich möchte ihr Halt geben, obwohl ich es bin, der ihn so dringend nötig hat.

»Alles wird gut«, flüstere ich in ihr Haar und will sie beruhigen, aber ich weiß, sie ist genauso wenig überzeugt davon wie ich.

»Ich verstehe einfach nicht, weshalb sie nicht aufwacht. Ich meine, ihre Vitalwerte sind völlig in Ordnung und die Wunde ist verheilt. Also wieso, Jaden, wacht sie nicht auf!?«

»Ich weiß es nicht, Ems. Es macht mich wahnsinnig, es nicht zu wissen. Ich bin mir sicher, Raphael hat Antworten, aber ich verstehe nicht, wieso er sie nicht mit uns teilt.« Nachdenklich starre ich auf einen Punkt am Boden. Ich werde Raphael zur Rede stellen, er muss mir einfach sagen, was hier passiert, denn ich weiß, etwas Seltsames geht hier vor. Meine Instinkte sagen mir, dass es etwas Schlimmes ist.

 

Jophiel

 

Seit Tagen kann ich schon kein Auge zumachen. Die ständige Sorge um Ev treibt mich in den Wahnsinn. Ich kann immer noch nicht glauben, dass Zad mit Iaoth gegangen ist. Wieso hat er das getan? Hatte er seinen Verrat von Anfang an geplant? Was ist passiert? Nur schwer kann ich mir vorstellen, dass er alles so beabsichtigt hat, aber in letzter Zeit hatte er sich so verändert. Er ist immer verschlossener geworden, kühler. Möglich, dass ich einen Teil dazu beigetragen habe, weil ich mit Ev zusammen bin. Oder war, nach allem, was in den letzten Tagen vorgefallen ist. Weder weiß ich, ob sie aufwachen wird, noch, ob sie immer noch mit mir zusammen sein will. Ich befinde mich auf dem Weg zu ihrem Zimmer. Als ich eintrete, sehe ich sie, so wie die letzten Tage schon, unbewegt in ihrem Bett liegen. Ihr engelsgleiches Gesicht ist eingefallen und sie wirkt so zerbrechlich wie nie zuvor. Behutsam setze ich mich zu ihr, an den Rand des Bettes. Ich nehme ihre Hand, die in meiner Pranke verschwindet.

Eine Träne läuft mir aus dem Augenwinkel. Ich wische sie nicht weg, es ist niemand hier, der sie sehen könnte. Noch nie habe ich jemanden so sehr geliebt wie sie. Aber es ist nun einmal, wie es ist, sie wird mich nie wirklich lieben können. Denn ihr Seelenverwandter ist Zadkiel. Wie sollen wir ihr erklären, dass er verschwunden ist, sollte sie erwachen? Mein Instinkt sagt mir, sie würde daran zerbrechen. Und das macht mich wütend, unglaublich wütend! Wie konnte dieser verdammte Mistengel nur einfach abhauen. Einfach mit Iaoth gehen, der sie beinahe getötet hätte. Sie hatte sich zwischen den Speer und Zadkiel geworfen, um ihn zu retten! Und was hatte er getan? Er ist auch noch mit ihrem Beinahemörder verschwunden. »Bitte, wach endlich auf, Ev! Wir brauchen dich. ICH brauche dich«, flüstere ich mit gesenkter Stimme.

 

Zadkiel

 

Für das, was ich Evolet antun musste, hasse ich mich abgrundtief. Ihre Erinnerungen an mich habe ich ihr genommen. Der egoistische Teil in mir hofft, sie würde sich dennoch an mich erinnern. Ich verzehre mich nach ihrer Nähe, nach ihrer Wärme. Sie ist mein ganz persönlicher Engel, mein Leben. Ich habe alles für sie aufgegeben, mein Leben für sie geopfert, meine Prinzipien über den Haufen geworfen, nur um sie zu retten. Wie das alles ausgehen wird, weiß ich nicht. Wird sie mich töten, wie einst Aurora ihren Seelenverwandten Uriel tötete? Genau diese Situation wollte ich vermeiden. War Geschichte nicht dazu da, um daraus zu lernen? Iaoth wusste, dass sie meine Achillesferse war, das Einzige, womit er mich ködern konnte. Und jetzt bin ich übergewechselt, etwas, das ich sonst niemals getan hätte. Der Hass auf dieses verabscheuungswürdige Wesen brodelt in mir wie Gift, welches durch meine Adern fließt. Plötzlich höre ich Schritte im Flur, dann eine Stimme, die mich anspricht.

»Iaoth wünscht dich zu sehen. Sofort!«, höre ich den Lakai sagen. Ich drehe mich um, starre ihn wütend an. Vor Wut sind meine Gedanken vollkommen verklärt. Wie ein Wahnsinniger stürme ich auf ihn zu und lasse mein Haniob in der Hand erscheinen. Mit einem gekonnten Hieb trenne ich ihm den Kopf ab. Ein diabolisches Grinsen breitet sich auf meinen Lippen aus, als ich zusehe, wie er vertrocknet, bis er schließlich ganz verdorrt ist und sich auflöst. Gerade habe ich jemanden getötet, auch wenn er nicht unschuldig war, so war er doch wehrlos, aber es macht mir nichts aus. Dieses neue Gefühl in mir, diese Kälte, diese Teilnahmslosigkeit, sollte mich erschrecken, aber es fühlt sich an, als wäre sie schon immer da gewesen. Hoch erhobenen Hauptes gehe ich in den Thronsaal, wo Iaoth auf mich wartet. Dort angekommen, bleibe ich direkt vor dem Thron stehen und verschränke die Arme abweisend vor der Brust.

»Du wolltest mich sehen«, meine Stimme ist schneidend, kühl.

»Ich habe deinen ersten Auftrag.« Seine Augen glänzen teuflisch vor Aufregung, als er das sagt. Betont uninteressiert ziehe ich eine Augenbraue hoch. Er erklärt mir, was er von mir verlangt, und mit jedem Wort, welches er ausspricht, weicht mein Desinteresse blankem Zorn. Ich möchte mich weigern, aber das würde Evolets Tod besiegeln, durch den Vertrag, den ich mit Iaoth geschlossen habe. Innerlich verfluche ich mich für meine Torheit, ich hätte ihn genauer lesen sollen. Im Vertrag stand, ich müsse absolut jedem Befehl Iaoths nachkommen und ihn ausführen ohne Wenn und Aber. Weigere ich mich, ist Evolet sofort tot. Fieberhaft suche ich nach einer List, einem Schlupfloch, einem verdammten Ausweg, irgendetwas! Aber ich finde nichts, mir fällt absolut nichts ein. Also bleibt mir kaum eine andere Möglichkeit, als genau das zu tun, was er von mir verlangt. Meine Augen sind zu Schlitzen verengt und ich sehe ihn zornentbrannt an, bevor ich den Thronsaal verlasse.

»Ich werde einen Weg finden, dich zu töten! Das schwöre ich!« Als ich den Thronsaal verlasse, begleitet mich sein höhnisches Lachen noch ein ganzes Stück.

 

Evolet

 

Das Nichts. Ein Ort voller Finsternis, ein Ort der Leere, ein Ort der Verdammnis. Diese Dunkelheit ist mein ganz persönliches Gefängnis geworden, aus dem es kein Entkommen gibt, dem ich nicht entgehen kann. Ein Teil meines Seins will hier nicht mehr weg, diesen Teil verstehe ich nicht! Und der andere … Er ist still, er ist leer, er ist verschwunden. Wie lange ich wohl schon hier bin? Zeit ist hier wohl relativ. Irgendwo im hinteren Teil meines Gedächtnisses ist eine für mich relevante Information, auf die ich jedoch keinen Zugriff habe. Ich kann sie nicht abrufen! Nur dunkel kann ich mich daran erinnern, was passiert ist. Wir waren in Adma und ich bin beinahe gestorben, dann tauchte Mom auf und drängte mich wieder zurück in meinen Körper. Wieder in meiner sterblichen Hülle, schnappte ich nach Luft. Danach wurde alles schwarz. Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist ein Zerren, dem ich nachgab, dann ist alles lückenhaft. Mir fehlen Bruchteile von dem Danach. Davon, was zwischen dem Jetzt und dem Vorher passiert war. Zum gefühlt tausendsten Mal blicke ich mich hier um, aber es hat sich nichts geändert, es ist alles schwarz. So schwarz, dass ich mich nicht einmal selbst sehe und nicht weiß, ob ich wirklich hier bin oder nur träume. Das hier ist zu meinem ganz persönlichen Horrortrip geworden. Wieder fühle ich dieses unangenehme Zerren. Es macht mir Angst, denn ich weiß nicht, was geschehen wird, wenn ich dem nachgebe. Die Panik steigt so jäh auf, dass ich, jedenfalls denke ich das, loslaufe. Schnell weg, weit weg von diesem Ziehen. Hilfe!

 

Jaden

 

»Raphael!«, brülle ich, als ich ihn endlich im Flur vor dem Gemeinschaftsraum erwische. Seit Tagen versuche ich ihn schon zu erreichen, aber ich habe das Gefühl, er weicht mir aus. Ihn am Oberarm packend, zwinge ich ihn zum Stehenbleiben. Er sieht mir in die Augen und weiß, ich will Antworten. Immer noch hat mir niemand gesagt, was genau sich in Adma zugetragen hat.

»Sag mir endlich, was geschehen ist! Und was bedeutet diese Heimlichtuerei?«, fordere ich. Er sieht mir ernst in die Augen, nickt und führt mich in den angrenzenden Raum. Der Erzengel deutet auf das Sofa, ich nehme Platz und warte, bis auch er sich setzt.

»In Adma … ist einiges ziemlich schiefgegangen«, er sieht mich bedauernd an, ringt um seine nächsten Worte.

»Ev wollte sich für Zad opfern.«

Das Atmen fällt mir plötzlich schwer. Er war der Grund, weshalb sie beinahe gestorben wäre! Nur seinetwegen liegt sie im Koma! Als ich Zad kennenlernte, mochte ich ihn, aber ich konnte das nicht einfach zugeben, ich bin Evs großer Bruder, ich muss sie beschützen. Aber jetzt hasse ich ihn regelrecht! Mit den Zähnen knirschend, gebe ich ihm zu verstehen weiterzusprechen, obwohl ich mir nicht sicher bin, das alles hören zu wollen.

»Er ist verschwunden.«

»Gut!«, bin ich erleichtert darüber. »Er sollte mir besser nicht unter die Augen treten! Meinetwegen soll er in der Hölle schmoren!«, würge ich hervor. Raphael lehnt sich vor und stützt sich auf den Knien ab. Er fährt sich einige Male durch das Haar, eine Geste, die ich so noch nie an ihm vernommen habe. Er wirkt überfordert und verzweifelt, dann lacht er bitter auf.

»Da ist er vermutlich sogar«, presst er hervor. Das verstehe ich nicht ganz. Ist er tot? Haben sie seinen Leichnam gefunden?

»Inwiefern?«

»Wir können nur vermuten, wo er ist, aber wir wissen, mit wem er gegangen ist.« Oh oh, mir schwant Böses. Meine Atemzüge werden flacher und ich beiße die Zähne zusammen. Dann halte ich es nicht mehr auf meinem Platz aus und springe auf.

»Dieser miese, kleine Verräter! Verfluchter Scheißkerl!«, wettere ich und laufe dabei eine Spur in den Boden.

»Wir wissen noch nicht sicher, ob er ein Verräter ist«, versucht er mich zu beruhigen, aber ich kann die Zweifel in seinen Augen erkennen, als Raphael mich anschaut.

»Und wonach sieht es dann aus?« Darauf kann er mir nicht antworten, denn alles spricht gegen Zad.

»Das werden wir herausfinden.«

»Meine Schwester rettet ihm das Leben, und so dankt er es ihr!?«, schnaube ich aufgebracht. Meine Schwester … Wie soll ich ihr erklären, dass der Kerl, den sie liebt, uns verraten hat? Sie wird in ihren Grundfesten erschüttert werden. Daran wird sie ganz sicher zerbrechen.

 

Jophiel

 

Nur schleppend vergeht die Zeit, die ich in Evs Krankenzimmer verbringe, aber dennoch ist es heute so weit. Ihr achtzehnter Geburtstag. Wir alle fragen uns, was nun passieren wird, wo sie doch noch immer schläft. Wann wird sie aufwachen? Wie werden wir ihr erklären, wo Zad ist? Was für Auswirkungen werden ihre Kräfte haben, in diesem Zustand? Keiner von uns weiß eine Antwort auf diese Fragen. Die Gesamtstimmung unter uns ist gedrückt, selbst Tiel und Vel sprechen nur sehr wenig. Uns ist klar, nur mit Evs Hilfe werden wir das Tirod finden können. Ohne sie gibt es keine Hoffnung. Wieder sitze ich an ihrer Seite und mustere ihr Gesicht, ihre Wangen sind blass und eingefallen. Sie wirkt mehr tot als lebendig. Ihr Atem geht flach, manchmal stockt er, aber wir können uns den Grund nicht erklären. Moon ist vor einigen Tagen aufgetaucht und liegt zusammengerollt zu ihren Füßen auf dem Krankenbett. Er wirkte zwar gelassen, als er erfahren hat, was Zad getan hat, aber ich konnte einen Anflug von Erschütterung in seinen Katzenaugen erkennen. Eine Weile starre ich Moon nachdenklich an.

»Wieso wacht sie nicht auf?«, frage ich ihn, vielleicht weiß er etwas, das wir nicht wissen. Bastet weiß Dinge, die wir nicht wissen, Dinge, die uns verborgen bleiben, aus welchen Gründen auch immer.

»Das Wieso kann ich dir nicht beantworten.« Das Katzenvolk liebt kryptische Aussagen. Selten drücken sie sich klar aus. Ich gebe einen entnervten Laut von mir.

»Und was ist mit dem Wann?«

»Wenn sie sich bereit fühlt, wird sie aufwachen.« Natürlich, eine klare Antwort hätte mich ja auch in Erstaunen versetzt.

»Du solltest wirklich an deiner Art zu antworten abreiten!«

Ich stehe von meinem Platz an ihrer Seite auf und schlendere, die Hände in den Hosentaschen, zum Fenster. Die Sonne steht hoch am Himmel und scheint fröhlich, keine einzige Wolke ist zu erkennen. Sie leuchtet so hell, als würde sie unsere trübe Stimmung verhöhnen, als wären wir die Pointe eines bizarren Witzes. Ich bin so vertieft in den Anblick, der sich mir bietet, dass ich erschrocken zusammenfahre, als ein gellender Schrei die Ruhe zerreißt. Blitzartig drehe ich mich um. Sie ist wach!

Kapitel 2

 

 

Evolet

 

Ich halte es nicht mehr aus! Es macht mich wahnsinnig! Schwaz, schwarz, schwarz, alles schwarz! Ich ergebe mich dem Zerren und lasse mich treiben. Vielleicht bringt es mich weg von hier. Und ich habe recht, es trägt mich davon. Der See, an dem ich nun stehe, ist wunderschön. Er ist mir vertraut, aber das seltsam freudige Gefühl bei diesem Anblick irritiert mich. Mein Dad wurde hier ermordet, und dennoch kann ich diesen Ort nicht hassen. Diese Gedanken beiseiteschiebend, blicke ich auf meine Hände, sie sind durchscheinend, aber klar als Hände zu erkennen. Als ich aufblicke, steht jemand mit dem Rücken zu mir auf dem Steg. Der Statur nach ist es ein Mann, seine Hände hat er locker in den Hosentaschen verstaut. Mein Herz fängt schneller an zu schlagen, aber wieso? Ich kenne ihn nicht. Oder? Zaghaft gehe ich auf ihn zu, bis ich direkt hinter ihm stehe. Sein Duft nach frischer Seife und etwas Herbem steigt mir in die Nase und lässt mein Herz vor Aufregung schier zerspringen. Der Geruch ist so vertraut.

»Ich habe auf dich gewartet, Evolet«, der sanfte Klang seiner Stimme, als er meinen Namen nennt, lässt eine völlige Ruhe in mir aufsteigen.

»Wieso?«, frage ich, aber er antwortet nicht.

Gerne würde ich sein Gesicht sehen, aber er wendet es mir nicht zu. Ich stelle mich neben ihn und blicke zu ihm hoch. Seine Augen sind geschlossen, genießerisch reckt er seine Nase der Sonne entgegen. Dieser Anblick hat etwas so Beruhigendes, etwas so Vollkommenes, dass ich in diesem Augenblick einfach nur unendlich glücklich und zufrieden bin. Nie wieder will ich woanders sein. Nie wieder in meinen Körper zurück, wenn ich nur bei ihm bleiben kann. Dann öffnet er die Lider und sieht mich an. Ein Stich fährt mir durch den Kopf, als ich seine hellen, blauen Iriden sehe. Ich kenne sie, aber woher? Sie sind mir so vertraut, dass mir gleich vor Grübelei der Schädel zerspringt. Sein Name. Wie ist sein Name? Er wendet mir seinen Körper zu. Nase an Nase stehen wir uns gegenüber.

 

Zadkiel

 

Gott, wie sehr ich sie vermisst habe. Meine Hände habe ich in meinen Hosentaschen zu Fäusten geballt, weil ich sie so gerne berühren würde, doch sie kann sich nicht mehr an mich erinnern. Dafür habe ich ja gesorgt.

»Du kommst mir so bekannt vor«, flüstert sie, als ob sie etwas lange verloren Geglaubtes gefunden hat. Am liebsten würde ich sie bis ans Ende der Welt verschleppen und einsperren, nur um sie in Sicherheit zu wissen, aber es gibt keinen Ort, an dem sie sicher ist.

»Woher solltest du mich denn kennen?«

»Sag du es mir.« Sie legt die Stirn kraus und wartet geduldig auf meine Antwort.

»Das würde ja voraussetzen, dass ich dich auch kenne, nicht wahr?«, stelle ich eine Gegenfrage und lächle sie sanft, aber mit traurigen Augen an.

»Du hast mich bei meinem Namen genannt, also musst du mich kennen!« Verdammt! Es war wie ein Reflex, es ist einfach passiert. Ab sofort muss ich vorsichtiger sein, wenn ich etwas sage.

»Jeder aus der Licht- und Dunkelwelt kennt deinen Namen«, versuche ich mich an einer Ausrede für meinen Ausrutscher, wobei das gar nicht so weit hergeholt ist. Zuerst blickt sie mich etwas irritiert an, dann erkenne ich an ihrer Mimik, wie das Gesagte für sie Sinn ergibt.

»Es tut mir schrecklich leid, ich muss mich geirrt haben«, murmelt sie kleinlaut. Ihre Wangen färben sich rosig und sie senkt beschämt den Blick. Mach das nicht, bitte sieh mich an. Ich will deine Augen sehen, deine wunderschönen Augen …

Mein schlechtes Gewissen plagt, es malträtiert mich richtiggehend. So gerne will ich es ihr sagen, will ihr sagen, dass ich ihr die Erinnerungen genommen habe. Aber wenn ich ihr Leben nicht gefährden will, muss ich nach Iaoths Pfeife tanzen, zumindest so lange, bis mir etwas Besseres einfällt.

»Geirrt?«

»Ich dachte, wir würden einander kennen, aber ich habe mich anscheinend getäuscht.« Das sollte nicht möglich sein, ich war gründlich! Angestrengt konzentriert sie sich auf die Mitte des Sees, das ist genau die Stelle, an der wir im Wasser waren. Sie wirkt so, als würde sie über etwas nachdenken, als würde sie sich erinnern können, aber das ist absolut unmöglich! Jäh unterbricht sie meine Überlegungen.

»Du kennst meinen Namen, aber wie ist deiner?«

»Ist das von Bedeutung?«, antworte ich ihr, als sie mir in die Augen sieht. Enttäuschung spiegelt sich in ihrem Blick wider.

»Für mich ist es das.«

»Wieso?«

»Ich möchte dich wiedersehen«, gibt sie schlicht zurück, als wäre meine Nähe etwas ganz Natürliches für sie, was es schließlich auch ist, unsere Seelen passen zueinander, sie gehören zusammen. Eigentlich.

»Das tun wir bestimmt auch so, dazu brauchst du meinen Namen nicht, Liebes.« Als sie mich freudig anlächelt und ihre Augen dabei so hell strahlen wie die aufgehende Sonne, wenn sie den Himmel in ihren Rot- und Orangetönen küsst, schlägt mein Herz schneller und Wärme breitet sich in meinem Inneren aus. Ihr Blick, ihr Lächeln, ihr Strahlen, das alles zu sehen, sie zu sehen, fühlt sich wie nach Hause kommen an.

»Happy Birthday, mein Herz!«, raune ich, den Blick verschleiert vor Sehnsucht nach ihr. Nach meinem Herzen. Auf einmal fühle ich ein Brennen in den Füßen, es arbeitet sich langsam immer weiter hoch, bis mein ganzer Körper davon eingenommen ist. Und dann sehe ich plötzlich Flammen meinen Körper emporkriechen wie eine lebendige Schlange. Sie wickeln sich um meinen ganzen Leib und machen mich bewegungsunfähig. Ich vernehme einen erstickten Laut, und als ich hochblicke, sehe ich in ein entsetztes Gesicht. Mit jedem Zudrücken der Flammen entferne ich mich mehr und mehr von dieser Welt, bis ich plötzlich wieder in der Dunkelwelt stehe. In meiner Kammer. In diesem Augenblick wird mir klar, wir haben Iaoth alle unterschätzt. Wie er es geschafft hat, mich wieder hierherzuholen, kann ich absolut nicht sagen, aber ich werde es herausfinden!

 

Evolet

 

Ich schreie. Schreie so laut wie nie zuvor in meinem Leben. Jemand packt mich an den Armen und drückt mich in die Kissen meines Bettes. Es ist Jophiel. Immer noch schreie ich wie von Sinnen. Jophiel redet beruhigend auf mich ein, doch es bringt nichts, denn ich verstehe ihn kaum, weil das Blut in meinen Ohren so laut rauscht. Sein Griff wird fester, aber ich strample und winde mich wie verrückt unter seinem Griff.

»Ev! EV! EV! Herrgott! Beruhige dich doch!«, brüllt er plötzlich, als wäre seine Stimme direkt in meinem Kopf. Es hilft, denn langsam schaffe ich es ruhiger zu werden.

»Atme, Ev! Tief ein und wieder aus«, fordert Jo und ich tue es. Mein Puls verlangsamt sich und mein Atem geht wieder gleichmäßiger. Allmählich lässt er mich los und geht zu einem Tisch, auf dem ein leeres Glas und eine mit Wasser gefüllte Karaffe stehen. Er befüllt das Glas und hält es mir anschließend unter die Nase. Meine Hände zittern, als ich es entgegennehme. Erst als die kühle Nässe meine Kehle herabrinnt, bemerke ich das Brennen in meinem Hals.

»Du bist wach. Endlich!«, haucht er.

»Wie lange war ich weg?«, frage ich, weil mir jegliches Zeitgefühl abhandengekommen ist.

»Fast zehn Tage. Deine Wunde war nach ein paar Tagen schon verheilt, aber du wurdest einfach nicht wach.« Zehn Tage! Ich war zehn Tage im Nichts?

»Du hast geschrien. Was ist passiert?«, fragt Jo argwöhnisch.

»Ich weiß es nicht«, lüge ich. An jeden Blick von dem Fremden kann ich mich erinnern, als ihn die Flammen verschluckt haben. Eisige Kälte breitet sich in meinem Körper aus.

»Ich habe dich vermisst.« Zärtlich fährt er mir über mein Haar, aber es fühlt sich komisch an. Anders. Was soll ich ihm antworten? Nichts Passendes fällt mir ein, also schweige ich. Ich versuche mich an die Dinge, die in Adma passiert sind, zu erinnern, aber je mehr ich mich anstrenge, desto schwieriger wird es. Vielleicht ist es der Schock, den ich seit dem Erwachen habe. Beklommenheit macht mir das Herz schwer. Ich stelle das Glas ab und falte meine Hände im Schoß.

»Erzähl mir, was nach Adma passiert ist. Bitte.« Jo sieht mich abwägend an. Sein Blick macht mich nervös und ich beginne meine Hände zu kneten.

»Er ist verschwunden, nachdem du verletzt worden bist.«

»Er? Du meinst Iaoth? Wissen wir, wo er hin ist?« Ich sehe etwas Dunkles, etwas Unheimliches in seinen Augen aufblitzen, aber es ist so schnell wieder verschwunden, dass ich denke, es mir nur eingebildet zu haben.

»Ja. Iaoth ist verschwunden.«

Das waren ja wieder einmal ganz klasse Nachrichten!

»Was sollen wir jetzt machen?« Jo nimmt meine Hände und drückt sie sanft. Es fühlt sich irgendwie komisch und falsch an, wenn er das tut. Wieso ist das plötzlich so? Von meinem Bauch weg breitet sich ein Zittern aus, welches mir bis in die Zehenspitzen fährt. Versuchsweise will ich es unterdrücken, aber es geht nicht. Jo umfasst mit beiden Händen mein Gesicht, streicht mit den Daumen unter meinen Augen entlang. Diese Geste soll beruhigend auf mich wirken, aber ich fühle mich nur angeekelt davon.

»Wir tun jetzt gar nichts. Du ruhst dich aus! Immerhin warst du eine Weile ausgeknockt.« Er küsst mir die Stirn, seine Lippen verweilen etwas länger dort, als es hätte sein müssen. Ich will protestieren, weil ich das Tirod, so schnell es geht, finden will. Deswegen versuche ich langsam, von dem Gefängnis der letzten Tage aufzustehen. Leider nicht langsam genug, mein Kreislauf versagt, und sowie ich stehe, plumpse ich auf das Bett zurück.

»Ev, mach langsam!«, mahnt Jo und drückt mich wieder behutsam in die Kissen zurück.

Ich beschließe, seinem Rat zu folgen. Geschwächt nutze ich niemandem etwas.

»Ich hole Raphael, bleib hier liegen!«, befiehlt er sanft, als würde er mit einer Fünfjährigen sprechen. Mit geschlossenen Lidern lasse ich die Geschehnisse in Adma Revue passieren.

 

Der Speer trifft.

Mich.

Die Zeit scheint wieder in einem normalen Tempo zu funktionieren. Wie betäubt führe ich meine Hand an die Stelle, wo der Speer steckt.

Sie ertastet etwas Klebriges, Zähflüssiges. Ich besehe meine Hand und erkenne das Blut. Es fühlt sich an wie ein Déjà-vu. Meine Beine geben nach und ich kippe zur Seite auf den Boden. Die Sicht verschwimmt mir. Ich atme flach. Ich dachte immer, sterben würde sich schmerzvoll anfühlen und Panik würde sich im Körper breitmachen. Aber nichts davon trifft zu. Ich fühle mich völlig leer, entspannt, furchtlos. Der Blutverlust macht sich allmählich bemerkbar und mein schwaches Grinsen erstirbt, bevor ich das Bewusstsein verliere.

 

Grinsen?

 

Jophiel

 

Ich lasse die Türe hinter mir ins Schloss fallen und mache mich schnurstracks auf den Weg zu Raphaels Zimmer. Wenn ich mich nicht irre, müsste er dort sein. Als Ev schreiend aufgewacht ist, wurde ich im ersten Moment selbst panisch. Und dass sie mich fragte, was nach Adma passiert war, ist auch seltsam. Ich habe eine Vermutung, die Raphael entweder untermauern oder untergraben wird. Ich klopfe an Raphaels Türe und trete nach einem gedämpften Herein ein.

»Sie ist wach«, sage ich zu Raphael, der lesend in einem Stuhl sitzt. Er sieht freudig lächelnd auf und man spürt förmlich, wie die tagelange Besorgnis aus seinen Zügen verschwindet.

»Wie geht es ihr?«

»Den Umständen entsprechend, aber…«, ich stemme eine Hand in die Seite, mit der anderen greife ich mir, um Worte ringend, in den Nacken.

»Aber?«, fordert Raphael mich auf weiterzusprechen.

»Sie erinnert sich nicht an Zadkiel.« Im Aufstehen klappt er das Buch, welches er in Händen hält, zu und geht zum Fenster. Bestimmt geht auch ihm dasselbe wie mir durch den Kopf.

»Wie kommst du darauf?«

»Als ich ihr sagte, dass er verschwunden sei, dachte sie, ich spräche von Iaoth.«

»Wie hast du reagiert?«

»Ich habe sie in dem Glauben gelassen. Was hätte ich sonst tun sollen? Wir wissen nicht, was Zadkiel vorhat und warum er ihre Erinnerungen an ihn verhüllt hat!« Raphael dreht sich zu mir um, sein Gesicht grimmig verzogen, und nickt. Jetzt wirkt er neuerlich besorgt und mir geht es nicht anders. Ein Teil freut sich über ihr Vergessen, aber der andere Teil macht sich Sorgen darüber, was Zadkiel dazu bewogen haben könnte. Ob er die Seiten gewechselt hat? Ich wage es nicht, diese Frage zu beantworten.

»Ruf alle zusammen! Informiere sie über Evs Zustand und mach allen klar, dass keiner Zadkiel erwähnen soll, wir belassen es so. Vorerst«, weist er mit fester Stimme, die keinen Widerspruch duldet, an.

»Ach, ich habe ihr gesagt, ich würde dich zu ihr schicken. Vielleicht wäre es besser, wenn sie derweil nicht alleine ist.« Zustimmend nickt er. Wir treten zusammen auf den Flur, nehmen aber verschiedene Richtungen. Sogleich schicke ich allen eine SMS, in der steht, dass wir uns in fünf Minuten im Gemeinschaftsraum treffen. Nacheinander trudeln Jaden, Ems, Luel, Vel, Tiel, Sariel, Boe, Agreas und der Rest der Truppe ein.

»Ev ist aufgewacht«, beginne ich und Jaden will bereits voller Vorfreude, seine Schwester wieder bei Bewusstsein zu sehen, zur Türe stürmen.

»STOPP! Jaden, warte!«, halte ich ihn auf. Er hält abrupt an und wendet sich mir mit vor Erleichterung glänzenden Augen zu.

Kapitel 3

 

 

Emily

 

Ich stelle mich an Jadens Seite und nehme seine Hand fest in meine. Jophiels Mimik lässt mich in meiner Freude darüber, dass meine Freundin endlich aufgewacht ist, stocken. Ein nervöses Flattern breitet sich in meinem Magen aus und ich trete unruhig von einem Fuß auf den anderen.

»Worauf soll ich warten!? Meine Schwester ist wach und ich will zu ihr!«, erwidert Jaden mit vor Euphorie erhitztem Gesicht. Jophiel bedeutet, uns zu setzen.

»Jo, meine Schwester ist bei Bewusstsein, ich werde mich jetzt nicht hinsetzen und ich werde nicht warten. Meine. Schwester. Ist. Wach!«

»Nimm Platz, bitte. Ich muss vorher noch einiges erklären«, der eindringliche Klang seiner Stimme lässt Jaden aufhorchen. Das bis vor Sekunden noch dagewesene Hochgefühl wird von plötzlichem Misstrauen fast gänzlich verdrängt. Auf Jos erneuerte Geste hin nehmen Jaden und ich nur sehr widerstrebend Platz. Nun warten alle mit angehaltenem Atem darauf, dass Jophiel endlich weiterspricht.

»Sie ist wach, ja, aber sie kann sich nicht mehr an Zadkiel erinnern. Er hat sich aus ihrem Gedächtnis gelöscht.« Dem erleichterten Ausatmen folgt ein beklemmendes Schweigen. Bis auf Jaden und mich weiß hier anscheinend jeder, was das zu bedeuten hat.

»Und was sollen wir jetzt machen?«, fragt Agreas. Jaden ist neben mir ganz still geworden. Ich kann nicht sagen, was in ihm vorgeht, aber ich denke, dass die Erleichterung über das Aufwachen seiner Schwester vorherrschend ist.

»Niemand wird ihn auch nur mit einer einzigen Silbe erwähnen. Bis auf Weiteres ist es besser so.« Bevor sie noch weiter darüber diskutieren können, was sie tun wollen, unterbreche ich sie in ihrem Redefluss.

»Hallo!? Kann jemand den dummen sterblichen Menschen erklären was das bedeutet?«, frage ich mit vor Ironie triefender Stimme.

»Jeder Mensch hat Erinnerungen. Die, welche er als Bilder im Kopf abgespeichert hat, und andere, die als Gefühle im Herzen abspeichert sind. Wenn man sie jemandem nimmt, aus welchen Gründen auch immer, muss man ihm die Bilder wie auch die emotionalen Erinnerungen an das Ereignis nehmen. Deswegen ist es sehr schwierig, denn wenn nur ein winziger Teil von welcher Erinnerung auch immer zurückbleibt, kann das sehr schlimm enden für die betreffende Person«, antwortet Agreas bedrückt. Ich sehe regelrecht das Damoklesschwert über unseren Köpfen schweben.

»Stopp! Pause und zurückspulen! Was soll das heißen?«, frage ich, die Nerven zum Zerspringen gespannt.

»Depression, Selbstverletzung und Tod könnten die Folge sein.« Weil ich das Gefühl habe zu ersticken, schnappe ich nach Luft, aber der Sauerstoff erreicht meine Lungen kaum. Die aufkommende Panik schiebe ich jedoch mit aller Macht, die ich besitze, zur Seite, um für Jaden stark zu sein, und für mich selbst.

Jaden drückt meine Hand etwas fester und ich halte dagegen, um ihm zu zeigen, dass wir dies gemeinsam ausstehen werden. Ich bete darum, dass Zadkiel ihr alle Empfindungen und Bilder gänzlich genommen hat, denn niemand von uns könnte … damit leben. Meine Gefühle fahren Achterbahn, meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Das Zittern unterdrücke ich, soweit es mir möglich ist. Der Raum wirkt plötzlich schrecklich erdrückend und ich bekomme klaustrophobische Zustände. Die Augen schließend und tief einatmend, zwinge ich mich, mich zu beruhigen. Noch will ich daran nicht einmal denken! Und außerdem haben wir sie noch nicht gesehen, das bedeutet, alles ist möglich! Von dem kleinen Hoffnungsschimmer bestärkt, kann ich mich wieder auf das Gespräch konzentrieren.

»Wissen wir, warum Zad das getan hat?«

»Nein, Tiel. Deswegen wird ihn niemand, ich wiederhole, absolut keiner, ihr gegenüber erwähnen! Wir werden so tun, als hätte er nie existiert! Verstanden?« Zustimmend nicken wir. Ich ziehe Jaden hinter mir her und wir gehen hinaus. Als wir draußen sind, umarme ich ihn fest, er kann es jetzt gebrauchen. Er schließt seine Arme um mich, vergräbt sein Gesicht an meinem Hals und atmet zitternd aus.

»Wenn ihr etwas zustößt, dann schwöre ich, Emily, werde ich ihn töten!«, droht er, kann aber die leise Angst in seiner Stimme nicht ganz verbergen. Beruhigend streiche ich ihm mit der Hand über den Rücken.

»Bin ich deswegen ein schlechter Bruder? Sie liebt ihn doch.« Ich kann ihn gut verstehen, er hat sich ständig um seine Schwester gesorgt, auf sie aufgepasst und sie behütet. Jaden hat einfach Furcht, seine Schwester zu verlieren. Das kann ich sehr gut verstehen. Seit Will auch tot ist, hat er nur mehr Ev.

»Nein. Du bist ein wundervoller Bruder!«, stelle ich klar, denn es ist die absolute Wahrheit.

 

Jaden

 

Dankbar löse ich die Umklammerung um Ems Körper. Diese Umarmung habe ich gebraucht. Ich nehme ihr elfenhaftes Gesicht zwischen meine Hände und sehe sie stumm an. Ohne sie wäre ich schon längst durchgedreht. Sie gibt mir Kraft und dafür bin ich ihr unendlich dankbar. Zärtlich küsse ich sie und lasse all meine Liebe in diesen Kuss fließen. Sanft löst sie sich von mir.

»Wir sollten zu deiner Schwester.«

»Lass uns noch einen Augenblick warten«, erwidere ich als Antwort, denn das Gehörte macht mir zu schaffen. Als Jo erzählte, was meiner Schwester zustoßen könnte, bin ich innerlich zur Salzsäule erstarrt. Bis auf ein einziges Wort waren meine Gedanken leer gefegt. Und dieses Wort kreist unaufhörlich weiter in meinem Kopf umher. Wie ein riesengroßes Damoklesschwert, welches jeden Augenblick auf uns niedersausen könnte, fühlt es sich an. Ich bin dankbar, dass Ems mir diese Minute der Vorbereitung gegönnt hat, aber jetzt muss ich mich der Angst stellen, meine Schwester verlieren zu können, je nachdem wie ihr Zustand war.

Wir schleichen durch die Flure, bis wir vor dem Krankenzimmer angekommen sind. Ich atme tief durch und trete gefasst ein. Raphael steht im Raum und sieht mich betroffen an. Moon sitzt im Schoß meiner Schwester, die tränenüberströmt in ihrem Bett kauert. Ohne großartig nachzudenken, gehe ich auf sie zu und reiße sie in meine Arme. Sie krallt sich an mir fest wie eine Ertrinkende, deren Rettungsreif ich bin. Tröstend streiche ich ihr über das Haar und küsse ihren Kopf.

»Kleines, wieso weinst du?«, will ich wissen, aber sie schluchzt zu sehr, was eine Schnappatmung hervorruft. Sie ist so dünn geworden, dass es wirkt, als würde sie wegen der Weinkrämpfe, die ihren Körper bibbern lassen, in jeder Sekunde wie ein Schmetterlingsflügel zerstäuben.

Unentwegt schüttelt sie den Kopf. Ich sehe Raphael an, bitte stumm darum, mir die Frage zu beantworten.

»Sie weinte schon, als ich das Zimmer betrat«, stellte er bedrückt klar.

»Sie hat noch nichts gesagt, vielleicht spricht sie mit euch.« Rücksichtsvoll verabschiedet er sich und verlässt das Krankenzimmer. Emily hat sich auf die andere Seite des Bettes gestellt und streicht Ev nun auch beruhigend über den Rücken.

»Hey, kleine Schwester? Weswegen weinst du?«, frage ich ruhig. Sie umfasst ihren Oberkörper und wiegt sich vor und zurück. Die Schnappatmung wird immer schlimmer, wenn sie weiterhin falsch atmet, wird sie ohnmächtig werden. Sanft, aber bestimmt löse ich ihre Arme um ihren Bauch und drücke ihren Körper an meine Brust.

»Scht, scht. Alles gut, Kleines«, murmle ich in ihr Ohr. Während sie so an mir lehnt, kann ich deutlich ihre Schulterblätter fühlen, die sich mir in die Brust bohren.

»Ich bin hier. Versuch zu atmen, sonst wirst du ohnmächtig«, verlange ich von ihr. Allmählich beruhigt sie sich, ihre Atmung wird flacher und ich habe das Gefühl, wieder aufstehen zu können.

»Weswegen weinst du?«, frage ich neuerlich.

»Ich weiß es nicht. Es ist so … leer in mir und ich bin so schrecklich traurig. So, dass es mich fast erdrückt und mir die Luft zum Atmen raubt. So traurig, dass es schmerzt, dass mein ganzer Körper schmerzt. Wieso bin ich so unendlich deprimiert, Jaden? Was ist das?«, schluchzt sie. Emily wirft mir über das Bett einen wissenden Blick zu. Ihr stehen nun ebenfalls Tränen in den Augen, denn wir wissen nun beide, wie schlimm die Situation ist. Zad war nicht gründlich genug. Ich drücke meine Schwester noch einmal fest und zwinge sie, mir in die Augen zu sehen.

»Du warst eine Weile weg, du hattest eine schlimme Verletzung. Es geht vorbei, du musst dich nur erholen«, lüge ich, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Schlaf ein bisschen, du bist vollkommen erschöpft. Du wirst sehen, morgen schaut die Welt ganz anders aus.« Sie nickt schwach, igelt sich unter die Bettdecke und beinahe sofort schläft sie tief und fest.

»Jaden, sie…«

»Draußen«, unterbreche ich sie, ziehe sie mit mir hinaus und schließe die Tür hinter uns.

»Ein Teil von ihr erinnert sich, Jaden!«, gestikuliert sie wild aufgebracht.

»Ich weiß.«

»Was sollen wir jetzt tun? Wir müssen doch irgendetwas unternehmen!«

»Und was schlägst du vor!?«, frage ich aufgebracht. »Was sollen wir machen? Wir sind

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: M. Dabjuk
Bildmaterialien: Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss, www.juliane-schneeweiss.de Bildmaterial: © Depositphotos.com, Shutterstock.com
Tag der Veröffentlichung: 06.04.2016
ISBN: 978-3-7396-4727-2

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Jeder Tag bedeutet vierundzwanzig neue Stunden. Jeder Tag bedeutet, dass alles möglich ist. Man lebt den Moment oder man stirbt darin, aber man lebt sein Leben einen Tag nach dem anderen. Und man versucht immer, auf die Sonnenseite zu gelangen. Ins Licht. - Day (Marie Lu, Legend - Fallender Himmel)

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