Cover

Leseprobe

Aloha Vera und die feine Flora

23 kurze Geschichten aus Osnabrück

Freundeskreis Botanischer garten (Hrsg.)

Deutschsprachige Erstausgabe Juli 2018

Copyright © 2018 Freundeskreis Botanischer Garten (Hrsg.)

Alle Rechte vorbehalten

Alle Rechte der einzelnen Geschichten liegen beim jeweiligen Autor

Nachdruck, auch auszugsweise, nicht gestattet

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Covergestaltung: Wolkenart - Marie-Katharina Wölk,

www.wolkenart.com

Bildmaterial: Bigstockphoto.com,

Zeichnungen: Gisela Knoop und Silvia Oevermann

Projektdurchführung: Stefan Wellmann

Satz: Wolkenart - Marie-Katharina Wölk www.wolkenart.com

Korrektorat/Lektorat: Michaela Marwich, www.textcheck.agency

1. Auflage

Inhalt

Vorwort des Herausgebers

Wilde Tulpe

Martin Barkawitz: Todestulpen

Stiel-Eiche

Harald Keller: Das Märchen der Wanderschnecke

Killer Orchidee

Michael C. Goran: Der Garten des Herrn Pirrot

Kaktus

Anja Stephan: Mein kleiner grüner Kaktus

Straußenfarn

Alida Leimbach: Frühstück um halb zehn

Himmelsleiter

Aly Ra: Die Ersteigung der Polemonium Caeruleum

Bromelie

Christoph Beyer: Schnellschuss

Katzenminze

Gisela Knoop: Katzendreck und Art-Attack

Engelstrompete

Elisabeth Ibing: Ritual

Helikonie

Heinrich-Stefan Noelke: Ossenmontag

Chilenische Wachsglocke

Jörg Ehrnsberger: Kolibris

Hibiskus

Rita Roth: Das Lächeln der Mona Lisa

Gottesauge

Tina Schick: Gottes Auge

Echte Aloe

Miriam Rademacher: Auf die Pflanze gekommen

Baccara-Rose

Alexander Delgardo: Strafe muss sein

Wirsingkohl

Regina König: DINNER FOR TWO

Rundblättrige Minze

Iris Foppe: Magdas Minze

Kletten-Laubkraut

Kerstin Broszat: Vampire im Botanischen Garten

Hanf

Melanie Jungk: Weißt du, was dein Nachbar macht?

Seerose

Marie Winnefeld: Viel Lärm um Fisch

Lilie

Gisela Knoop: Ekelmekel – Menetekel

Buschwindröschen

Stefan Wellmann: Auftrag »Buschwindröschen«

Zimbelkraut

Ulrike Kroneck: Maria Z. und Marianne

Verzeichnis der Bilder

Der Botanische Garten der Universität Osnabrück

Der Freundeskreis

Vorwort des Herausgebers

Liebe Leserinnen und liebe Leser,

der Botanische Garten und sein Freundeskreis unternimmt es seit nunmehr über 30 Jahren, seinen Besucherinnen und Besuchern die Pflanzenvielfalt nahe zu bringen. Dabei war es unser Bestreben, neben den »klassischen« Vermittlungsformen wie Führungen und Aktionsprogrammen immer auch der Kultur einen Platz im Botanischen Garten zu bieten. So feiern wir gerne Feste und lauschen Konzerten draußen wie drinnen. Auch Ausstellungen und Lesungen gehören regelmäßig zum Programm des Gartens.

Nur eine aktive belletristische Auseinandersetzung mit unserem Thema Flora hat es bisher noch nicht gegeben. Die vorliegende Anthologie soll diese Lücke schließen und Menschen auch auf diesem Wege inspirieren, sich mit der weltweiten und heimischen Pflanzenwelt auseinander zu setzen.

Wir freuen uns, dass so viele Autorinnen und Autoren aus Osnabrück und dem Osnabrücker Land unserem Aufruf gefolgt sind, eine »kurze Geschichte mit einer Pflanze« zu verfassen und sie uns zum Abdruck unentgeltlich zu Verfügung zu stellen. Ich möchte an dieser Stelle allen Autorinnen und Autoren ausdrücklich dafür danken.

Die Geschichten sollten, so die Vorgabe, »eine Pflanze enthalten«, unabhängig davon, ob die Pflanze eine »Hauptrolle« spielt, wie etwa in den ersten beiden Geschichten »Todestulpen« und »Das Märchen der Wanderschnecke« oder nur als »Nebendarsteller« besetzt wurde. Das ist überall vortrefflich gelungen.

Jeder Story haben wir eine oder die entscheidende Pflanze der Geschichte als Zeichnung vorweggestellt. Bedanken möchte ich mich bei den beiden Zeichnerinnen Gisela Knoop und Silvia Oevermann.

Ich hoffe, dass Ihnen die verschiedenen und vielfältigen Genres zugehörigen Geschichten viel Spaß beim Lesen bereiten und Sie dazu inspirieren, sich die eine oder andere Pflanze auch einmal »in natura« hier im Botanischen Garten der Universität Osnabrück anzuschauen. Es lohnt sich.

Herzliche Grüße

Maria-Theresia Sliwka

Vorsitzende

Martin Barkawitz: Todestulpen

Die Glocken der Oude Kerk läuteten zur Mitternacht.

Paul de Jong presste seinen Kopf gegen eine Hauswand. Es war still auf den Straßen von Amsterdam. Der rhythmische Marschschritt einer Stadtwacht-Patrouille war verklungen, der gelbliche Schein der Blendlaternen bewegte sich in Richtung Prinsengracht.

Die Büttel hatten ihn nicht bemerkt.

Sie würden dem verarmten Landedelmann keine lästigen Fragen stellen. Und de Jong lief auch nicht Gefahr, von ihnen durchsucht zu werden. Sie würden nicht den Schatz finden, der tief in seinem Wams verborgen war.

Drei Tulpenzwiebeln.

De Jong wartete noch einen Moment, bis sich sein rasender Herzschlag halbwegs beruhigt hatte. Noch immer wusste er nicht, ob Verfolger hinter ihm her waren. Es gab genügend Halsabschneider in dieser Stadt, denen ein Menschenleben weniger wert war als das Diebesgut in seiner Tasche.

Ja, der Spross einer angesehenen königstreuen Familie war zu einem gemeinen Langfinger geworden!

De Jong hatte sich dieses Schicksal nicht ausgesucht, und die Schuld brannte wie ein weißglühendes Stück Eisen in seinem Inneren. Die Aussicht, einst in die Hölle zu kommen, erfüllte ihn mit grenzenlosem Entsetzen. Der calvinistische Glaube saß so fest in seinem Inneren wie ein Schiffsanker im Uferschlamm der Amstel.

Und doch war die Aussicht auf seinen Judaslohn die einzige Möglichkeit, de Jongs Mutter und Schwestern vor einem Leben in Schande und Elend zu bewahren. Sein Vater hatte mit Hilfe des Würfelbechers das Familienvermögen vernichtet. Und als sein alter Herr schlussendlich vom Schlag getroffen worden war, fiel das Schicksal der Familie wie eine verrottende Frucht in Pauls Schoß.

Paul de Jong war nun der Mann im Haus, auf dessen Schultern die Verantwortung lastete.

Ein leises Geräusch ließ ihn erneut in seiner lauschenden Position verharren. Hatte er van Weezels Halsabschneider doch nicht abschütteln können? Als de Jong in das Haus an der Herengracht eingebrochen war, hatte er sofort die Mietlinge des rechtmäßigen Tulpenbesitzers auf den Fersen gehabt. Allerdings war es ihm gelungen, die Kerle im Nebel abzuschütteln.

De Jong war ein kräftiger junger Mann, und auf der königlichen Militärakademie hatte er viele Fertigkeiten gelernt, bevor er das Institut aus Geldmangel hatte verlassen müssen. Nun kamen ihm seine Ausbildung bei der neuen Laufbahn als Bösewicht zugute – eine Ironie des Schicksals, über die de Jong nicht lachen konnte.

Nun ertönte ein schrilles Pfeifen, gefolgt von einem leisen Platschen. Nein, es war wohl nur eine Ratte gewesen, die ein nächtliches Bad im stinkenden Wasser der Gracht nehmen wollte. Der Dieb setzte seinen Weg durch das finstere Amsterdam fort.

Zum Glück kannte de Jong die Stadt wie seine Westentasche. Nachdem er sich noch drei Mal vergewissert hatte, dass er nicht verfolgt wurde, erreichte er sein Ziel. De Jong schlug das verabredete Klopfsignal an die Hintertür von Mijnheer Kuijpers Stadtpalais. Der ehemalige Offiziersanwärter wurde von einem mageren Diener empfangen, der einen mit fünf Kerzen bestückten Leuchter in der Hand hielt. Der Lakai nickte dem Dieb zu und geleitete ihn in die Studierstube seines Herrn.

Kuijper stand auch zu nächtlicher Stunde noch an seinem Pult und arbeitete an einem dickleibigen Folianten, vermutlich einem Rechnungsbuch. Doch als er den Besucher erblickte, ließ er den Gänsekiel sinken und deutete mit einer lässigen Bewegung seiner dicken beringten Finger auf einen Lehnstuhl.

»Nehmt doch Platz, mein guter de Jong! Piet wird uns eine Erfrischung servieren, nicht wahr?«

Der Bedienstete nickte und verschwand, um wenig später mit zwei Likörgläsern auf einem Tablett zurückzukehren.

De Jong wusste nicht viel über Kuijper. Dieser Mann hatte in den ostindischen Kolonien mit Gewürzen ein Vermögen gemacht. Er konnte es sich leisten, mit den anderen reichen Bürgern Amsterdams um das Prestige der schönsten Tulpen zu wetteifern.

Auch Kuijper ließ sich nun ächzend in einen Sessel plumpsen, der de Jongs Sitzgelegenheit gegenüberstand. Seine Augen glänzten, als er das Wort ergriff.

»War Eure … Mission erfolgreich?«

De Jong nickte und legte wortlos die drei Tulpenzwiebeln auf das Tischchen zwischen ihnen. Die Hände des reichen Mannes zitterten vor Gier, als er nach der Beute griff.

»Das ist sie also, die Semper Augustus«, brachte er mit heiserer Stimme hervor.

Der Dieb nickte mürrisch. Er würde niemals begreifen, warum gestandene Männer ihr ganzes Vermögen für eine Blume ausgaben – so schön sie auch sein mochte. Seit einiger Zeit kletterten die Preise für Tulpenzwiebeln im Königreich ins Uferlose. Hatte man im Jahre des Herrn 1623 noch tausend Gulden für eine besonders seltene Sorte zahlen müssen, so war dieselbe Zwiebel heute, im Jahre 1637, sage und schreibe 30.000 Gulden wert. Das herrschaftliche Haus, in dem die beiden Männer momentan zusammensaßen, wäre gewiss schon für ein Drittel dieses Preises zu haben.

Der reiche Kaufmann löste sich nur zögernd von seinem Schatz, strich über seinen Knebelbart und wandte sich de Jong zu.

»Und Ihr seid sicher, dass Euch niemand hierher gefolgt ist?«

Der Dieb nickte.

»Ich habe zahlreiche Umwege genommen, um mögliche Verfolger in die Irre zu führen. Außerdem war der Nebel mein Freund. Wenn die Stadtwache mich erwischt hätte, dann würde ich Euren Namen niemals preisgegeben haben.«

»Das ist gut. Ihr versteht gewiss, dass ich mir keinen Skandal leisten kann. Gleich morgen früh wird mein Sohn die Zwiebeln zu meinem Landgut in Brabant bringen, damit die Blumen dort wachsen und gedeihen können. Das Amsterdamer Klima ist Gift für diese zarten Geschöpfe.«

Kuijper sprach voller Wärme von den Tulpen, als ob von Kleinkindern die Rede wäre. De Jong versuchte, sich seine Ungeduld nicht allzu stark anmerken zu lassen.

»Mijnheer … da wäre noch mein Lohn, den ich zu bekommen habe.«

Der Auftraggeber lächelte entschuldigend.

»Ja, selbstverständlich. Verzeiht einem alten Mann, der nur noch Augen für seine Blumenleidenschaft hat. Piet weiß Bescheid, er wird Euch beim Abschied Euer Honorar überreichen. Doch nun wollen wir erst einmal auf den Erfolg Eurer Mission trinken!«

De Jong konnte jetzt wirklich einen guten Schluck vertragen.

Kuijper hob sein Likörglas, der Gast folgte seinem Beispiel.

Aber als de Jong getrunken hatte, wurde ihm schon sehr bald seltsam zumute. Und das lag gewiss nicht daran, dass er keine geistigen Getränke vertrug. Auf der Militärakademie hatte er mit seinen Kameraden oft genug dem Branntwein zugesprochen.

De Jong hatte keinen Likör in seinem Glas gehabt, sondern Gift!

Er sprang auf und wollte seinen Degen ziehen, um den betrügerischen Auftraggeber damit in die Hölle zu jagen.

Doch seine Beine versagten den Dienst, und der Dieb ging sterbend zu Boden.

»Im Geschäftsleben kommt es darauf an, die Risiken zu minimieren.«

Diese Worte aus Kuijpers Mund waren das Letzte, was de Jong hörte, bevor er ohne Aussicht auf Wiederkehr in den schwarzen Abgrund des Todes stürzte.

Martin Barkawitz

Ich lebe seit 1983 in Osnabrück.

Ich schreibe seit 1997 Krimis sowie andere Unterhaltungsromane, u.a. für die Jerry-Cotton-Serie.

Meine Homepage: www.autor-martin-barkawitz.de

Harald Keller: Das Märchen der Wanderschnecke

Durch unvorhergesehene Umstände, die deshalb unvorhergesehen blieben, weil sich aber auch gar niemand für sie interessierte, begab es sich, trug sich zu und wurde unvermeidlich, dass die Flugbahn einer Eichel aus dem Wald herausführte und sie ein paar Schritte außerhalb des Forsts jenseits des Feldweges zu liegen kam.

Sie fiel, wie wir von der Floskelhege zu sagen pflegen, auf fruchtbaren Boden. Verlockend genug für sie, um ihre holzige Hülle zu sprengen und einen Trieb auf Erkundung zu schicken. Der tastete sich vorsichtig voran, wand sich sanft bohrend durch die Krume, drang mählich in das Erdreich vor und stieß in der Tiefe auf eine Lagerstätte derart ergötzlicher Atzung, dass die Eichel umgehend Befehl gab, promptestens Wurzeln zu schlagen und unverzüglich mit dem Abbau zu beginnen.

Solcherart gefestigt und regelmäßig mit vorzüglichsten Nährstoffen versorgt, gedieh die kleine Eiche, streckte und reckte sich empor, und es dauerte nicht lange, da bildeten sich erste Knospen an ihrem noch zarten Geäst. Von der Frühjahrssonne warm umschmeichelt, barsten die Kapseln, und schon im nächsten Moment fand die kleine Eiche sich zu ihrer Überraschung in einem lindgrün prangenden Gewand wieder.

Das aber behagte ihr. Sie fand sich hübsch, wiegte sich stolz und anmutig im milden Sommerwind und genoss es, wie die zarten Brisen sanft durch ihre Blätter strichen.

Doch die goldenen Tage vergingen, der Herbst kam, und die Eiche bemerkte, dass ihre Blätter sich zu verfärben begannen. Sie nahm es mit Interesse und sogar gern zur Kenntnis. Zwar hatte ihr das sommerliche Grün sehr wohl gefallen, aber es war ihr mit der Zeit doch etwas eintönig erschienen, die farbliche Abwechslung daher durchaus willkommen, zumal sie fand, dass ihr die gedeckten Gelb- und rötlichen Brauntöne mit Resten von Grün zur Zierde gereichten.

Einen Schreck aber bekam die kleine Eiche, als eines ihrer Blätter vom Winde abgezupft wurde und schaukelnd zu Boden trudelte. Kurz darauf segelte noch ein zweites, dann ein drittes davon.

Sie wusste dafür keine Erklärung. Auch fühlten sich ihre Zweiglein lasch und lähmend taub an, zunehmend mürbe gar, als ob ihre Säfte langsam aus den Extremitäten ins Innere zurückflössen.

War sie womöglich erkrankt? Würde sie weitere Blätter verlieren? Am Ende gar wieder kahl werden?

Die umstehenden Gräser und Feldpflanzen waren von anderem Schlag und hatten keinen Rat für sie. In ihrer Not wandte sie sich himmelwärts, in Richtung der Fichten und Tannen, die sich jenseits des schmalen Weges, der den Wald umfasste, so hoch in die Lüfte erhoben, dass sie die Wolken zu kitzeln schienen.

»Hallo?! Hört mich jemand?«, drang es dünn von tief drunten bis hinauf zu den dunklen Wipfeln. Die Nadelbäume raunten umeinander; man hatte wieder dieses oder jenes gehört, das danach verlangte, gleich weitergereicht zu werden. Das zarte Stimmchen der kleinen Eiche verlor sich in all dem Gewisper und Geflüster. Nur eine Fichte, die an des Waldes Rand ein Stück vor der äußersten Reihe zu stehen gekommen war, merkte auf. Erst im zweiten Hinsehen ‒ es könnte auch das dritte gewesen sein, man weiß es nicht, denn Bäume haben ja keine Finger, die sie beim Zählen zu Hilfe nehmen können ‒ entdeckte sie, die Rede ist noch immer von der Fichte, den vorwitzigen Spross, den sie bis dahin für eines der den Ackerrand besiedelnden Kräuter und Halme gehalten hatte. Knarrend neigte die Fichte ihr Haupt und fragte wirsch: »Sprichst du mit mir? Was gibt‛s denn, Kleinchen?«

Die grazile Eiche, froh darüber, dass sie gehört wurde, berichtete, was ihr zugestoßen war. Die Fichte spürte die tiefe Verunsicherung des Bäumeleins und wusste es zu trösten. »Mach dir mal keine Sorgen, dünnes Reis. Wir haben Herbst, es geht auf den Winter zu, und wenn es kalt wird, heißt es Kräfte sammeln, denn der Winter ist ein schamloser Räuber. Darum weg mit allem, was man nicht braucht. Hüte dich vor dem Frost, dem bissigen Gesellen, nimm alle Säfte nach innen. Dann kommst du gut durch die schwere Zeit.«

Der kleinen Eiche tat es weh, sich von ihrem gerade so famos herausgeputzten Blätterkleid trennen zu müssen. »Aber wie ist denn bei euch? Eure Blätter sind noch so schön grün. Und da fällt nichts herunter.«

Die Antwort der Fichte klang ein klein wenig hochfahrend. »Wir sind doch auch Nadelbäume, Kindchen. Wir sind stärker als ihr.«

»Kann ich nicht auch ein Nadelbaum werden?«

»Nein, das geht nicht. Du bist als Laubbaum auf die Welt gekommen und wirst ein Leben lang ein Laubbaum bleiben.«

Die kleine Eiche bedankte sich artig und versprach, die Ratschläge der weisen Fichte zu befolgen.

Dazu aber kam es nicht. Der Bauer hatte seine Ernte unter Dach und Fach und teilweise schon beim Endverbraucher, daher ein wenig Zeit und so beschloss er, vor Jahresschluss noch einmal für ordentliche Verhältnisse zu sorgen und den Rain zu mähen. Mit dem billig betankten Traktor knatterte er die Wagengleise entlang, und die seitlich ausgestreckte Mähmaschine warf mit gemeinem Zähneblecken alles nieder, was am Wegesrand über den Sommer herangewachsen war.

Das Gras stand im Frühling wieder auf. Nicht so die kleine Eiche. Der Stummel, den die Schneidemesser übrig gelassen hatten, war beim ersten Frost schnöde zugrunde gegangen.

Die Fichte winkte ein trauriges Ade und sinnierte kurz über die Endlichkeit allen Lebens, während eine harzige Zähre ihre Rinde hinabrann. Sie selbst blickte auf ein gefahrenreiches Dasein zurück. Alle Jahre wieder zu Weihnachten schwärmten die Menschen aus und richteten regelrechte Massaker unter den Nadelbäumen an. Abgehackt wurden sie, und ihrer Wurzeln und unteren Wedel beraubt brutal aus dem Tann gezerrt. Der Fichte war das Glück hold gewesen, sie hatte überlebt. In ihrem jetzigen Alter bestand kaum noch Gefahr. Zumindest nicht von dieser Seite.

Sie seufzte leise, reckte wohlig ihre Zweige und genoss den Sonnenschein, ein Vorbote des Frühlings, der erstmals nach den langen eisigen Wintermonaten wieder ihre Borke erwärmte. Drüben im Laubwald sprangen die Knospen der Eichen, Buchen und Ahörner auf und gebaren die prächtigsten Grüntöne, die den Augen eine Weide, aber allesamt nicht von Dauer waren.

Nun erhebt sich noch die Frage, warum diese Erzählung »Das Märchen der Wanderschnecke« heißt. Ganz einfach: Weil die Wanderschnecke im gemächlichen Vorüberkriechen Zeugin der oben beschriebenen Ereignisse wurde und dem Chronisten getreulich und nach bestem Erinnerungsvermögen in die Feder – uff, jetzt wird das Altfränkische aber überrissen, daher besser: – ins Schreibgerät diktierte, der sie unverfälscht, ohne Auslassungen oder Abstriche, Ausweitungen oder Zutaten, wie es sich von Alters her für Botenjungen, Postkutscher, Telegraphen, Korrespondenten und andere Fernmelder geziemt, aufzeichnete und hiermit der Öffentlichkeit zugänglich macht.

Die erhobene Frage darf sich dann auch wieder setzen.

Dr. Harald Keller

Im Marienhospital geboren. Die Stadt als Taxifahrer, später als Journalist und Fotograf erkundet und als Wissenschaftler erforscht.

Ich schreibe überwiegend Artikel für Zeitungen und Zeitschriften, Sachbücher, Romane.

Webpräsenz: untergeschoss.wordpress.com; kellerreportagefotografie.wordpress.com

Michael C. Goran: Der Garten des Herrn Pirrot

Ich kann nicht genau sagen, warum niemand Herrn Pirrot mochte. Er war ein alter Witwer, der in einem kleinen, aber gepflegtem Haus lebte. Verwandtschaft hatte er nicht und seine Frau war vor Jahren gestorben, ohne Kinder gehabt zu haben. Die Einsamkeit macht verschroben und Herr Pirrot war niemand, der Gesellschaft suchte.

Das und die Tatsache, dass seine Frau unter unbekannten Umständen verstorben war, tat der Beliebtheit des alten Mannes nichts Gutes. Es hatte nicht lange gedauert und der gemeinste Tratsch hatte sich von den unmittelbaren Nachbarn über das ganze Viertel verteilt. Mal hieß es, er hätte seine Frau wegen einer Lebensversicherung umgebracht. Ein anderes Mal sollte seine Gier Schuld an ihrem Tod tragen, da er ihr kostspielige Medikamente vorenthalten hätte.

Dies alles ließ sich nicht nachweisen. Weder hatte der Tod von Frau Pirrot ihrem Mann einen finanziellen Segen bereitet, noch waren ihrem Hausarzt chronische Krankheiten bekannt gewesen und generell hatte es nicht am Geld gefehlt. Kurzum, es war nur Gerede, doch das hinderte die Menschen nicht daran, weiterhin Gerüchte zu verbreiten. Dass der alte Mann sich derer nicht scherte, schien besonders eifrige Klatschmäuler nur herauszufordern. Doch Herr Pirrot kümmerte sich schlicht um seinen Vorgarten und ließ die Leute reden.

Wären alle Beteiligten dabei geblieben, hätte es nicht so enden müssen und niemand hätte sterben müssen. Doch als ich den Fall übernahm, war es bereits zu spät. Damals war es mir nur noch nicht bewusst.

Die Kinder hatten Herrn Pirrot schon immer Streiche gespielt, doch nach und nach, befeuert von den Gerüchten, verloren sie mehr und mehr an Hemmung. Ich vermute, es war die Mühe, die der alte Mann in die Pflege des Vorgartens steckte, welche die Beete zum Ziel machte. Es begann mit Müll, den die Jugendlichen in seinen Garten warfen. Dann waren es zertretene oder ausgerissene Pflanzen.

All dies nahm Herr Pirrot mit scheinbarer Gelassenheit hin. Er beseitigte die Schäden immer wieder aufs Neue und beschwerte sich nie. Im Viertel wurden die halbstarken Aktionen geduldet. Ja, insgeheim geduldet und so mancher Junge versuchte, die Streiche der anderen zu übertreffen.

Die Lage änderte sich, als eines Tages ganze Büsche herausgezogen und der komplette Vorgarten verwüstet wurde. Später rühmte sich ein gewisser Daniel Müller, 14 Jahre alt, die Großtat vollbracht zu haben. Ob er tatsächlich Urheber der Sachbeschädigung gewesen war, kann nicht mehr mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden und bisher war es dem Dezernat nicht möglich, Daniels Körper vollständig wiederzufinden.

Bei den Vernehmungen versicherten mir die Nachbarn, dass Herr Pirrot sehr betroffen von dieser Schändung des Gartens war. Man hatte sogar Tränen im Gesicht des alten Mannes gesehen, billigte aber wie immer die Tat. Die allgemeine Meinung war, dass er es eben verdient hatte. Wie ich im Protokoll vermerkte, war diese Haltung, von Seiten des Dezernats, nicht nachzuvollziehen. Herr Pirrots ‚Verbrechen‘ schien nur die Weigerung zur Kontaktaufnahme zu sein.

Dennoch kann ich heute sagen, dass sich ab diesem Zeitpunkt etwas in Herrn Pirrot bewegt haben musste. Vielleicht war die Verwüstung des Gartens einfach der berühmte Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Diesmal begann er mit einer kompletten Erneuerung seines Vorgartens. Was sich in seiner Aussaat befand, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren, aber was es auch war, es ließ die Pflanzen in einer nie gekannten Geschwindigkeit wachsen.

In dieser Zeit sah man den alten Mann kaum noch, ihn hatte ein Leiden erfasst und man nahm an, dass er sich mit dem Neuanlegen des Gartens körperlich übernommen hatte. Der Vorgarten erhielt keinerlei Pflege, doch er gedieh wie nie zuvor. Prachtvolle Orchideen, mit einer nie gekannten Farbvariation und Blütensträucher, die einen anregenden Duft verströmten, schmückten den Vorgarten in nur zwei Wochen. Warum die Jugendlichen den Garten vorerst in Ruhe ließen, ist mir nicht bekannt. Es fand jedoch eine Veränderung bei den Bewohnern des Viertels statt. Zwar mochte man den alten Mann immer noch nicht, doch die Ästhetik des neuen Gartens wurde als sehr positiv aufgenommen. So kam es, dass man an dem Haus des Herrn Pirrot entlang spazierte, um sich an der wunderschönen Farbpracht des Vorgartens satt zu sehen.

In diesen Zeitraum fällt ein Phänomen, dass anfangs nicht mit Herrn Pirrot in Verbindung gebracht wurde. Zahlreiche Bewohner des Viertels hielten freilaufende Katzen, doch es schienen immer mehr Tiere nicht wieder zu ihren Eigentümern zurückzukehren. Man nahm an, dass die Tiere möglicherweise Verkehrsunfällen zum Opfer gefallen seien. Doch nachbarschaftliche Suchaktionen blieben ohne Erfolg, und als man eines Tages rund ein Drittel der Tiere vermisste, wurden den übrigen Felinen das Ausgangsprivileg gestrichen. Dank dieser Maßnahme hörte das Verschwinden, quasi über Nacht auf, doch die vermissten Katzen blieben verschwunden. Wenigstens fand man etwas Trost in dem wunderbaren Vorgarten des Herrn Pirrot, der, von einer bemerkenswerten Vitalität erfasst, besonders prächtig erblühte.

Später, nachdem etwas Gras über die Sache gewachsen war, ereignete sich eine andere Merkwürdigkeit, die als solche zunächst nicht wahrgenommen wurde. Der Eigentümer eines Hundes brachte seinen Border Collie zum Tierarzt, nachdem der Hund plötzlich immer apathischer wurde. Der Veterinär vermutete eine Vergiftung, da der Hund Kratzspuren und einige münzgroße Wunden aufwies. Er ließ das Blut des Tieres im Zentrallabor an der städtischen Klinik untersuchen und stellte ein unbekanntes Pflanzengift im Serum fest. Die Vermutung kam auf, dass der Collie sich beim Schnüffeln in einem Beet an den Dornen einer giftigen Pflanze verletzt hatte und der Hundehalter erinnerte sich, dass er sein Tier zuletzt in dem Vorgarten des

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 10.08.2018
ISBN: 978-3-7438-7751-1

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