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Das Lamm

Die herrschende Stille wurde nur von gelegentlichen Lauten der kleinen Schemen gebrochen, die sich dort drüben kaum von der umgebenden Schwärze abzeichneten. Der säuselnde kühle Wind ließ sie kurz erschaudern. Sie blickte zurück in das Fahrzeug, aus dem sie stieg, hielt dem Fahrer zitternd einen knittrigen Schein hin, der durch sehr viele Hände gegangen sein musste und wahrscheinlich mehr von der Welt gesehen hatte, als sie und wandte sich ab.

 

Ihre Furcht wuchs mit jedem weiteren Schritt, den sie sich von dem Taxi entfernte. Sie könnte noch umkehren, einfach zurück zum Hotel fahren, das ganze hier vergessen; sie fühlte sich hier ohnehin völlig deplatziert. Die Raben, die sie nun deutlicher auf dem Zaun auf der gegenüberliegenden Straßenseite wahrnehmen konnte, verhöhnten sie mit ihren tiefen rauen Stimmen.

 

Donnernd zog das Taxi an ihr vorüber und sie sah erschrocken zu, wie sich die purpurnen Rücklichter in der Schwärze verloren. Nun hatte sie keine Wahl mehr, sie konnte nicht mehr zurück.

 

So folgte sie langsam der leicht gebogenen Straße, während die schwarzen Vögel sie von ihren Plätzen aus scharf beobachteten und sich an ihrer Furcht labten. Ihr heftiges Atmen musste weithin zu hören sein, dachte sie, während sie versuchte, sich zu beruhigen und klar zu denken. Sie hatte das Gefühl, ihr Verstand sei ebenso undurchdringlich wie die Finsternis, durch die sie stieg. Sie konnte sich kaum konzentrieren, das elektrische Surren einer defekt blinkenden Neonröhre in einem geschlossenen Laden neben ihr machte sie fast verrückt. Sie beschleunigte ihr Lauftempo und lief weiter, bis sie eine Kreuzung erreichte.

 

Sie blickte nach links, nach rechts und nach vorn, doch alle Wege schienen eins mit der Dunkelheit zu werden; die sich wie ein Schleier über die Umgebung legte und sie durch dessen Präsenz förmlich erdrückte. Sie fühlte etwas Kaltes an ihrer Schulter herabrinnen. Der typische Regenduft füllte die Luft aus. Sie lief rasch geradeaus weiter, den Duft einatmend. Sie liebte den Geruch von Regen, er erinnerte sie an zu Hause.

Doch daran durfte sie jetzt nicht denken, sie lief die Straße weiter hinab, rannte, als der Regen stärker wurde. Sie wusste nicht, ob sie vor Angst oder Kälte zitterte, nur, dass sie weitergehen musste. Jetzt ist es ohnehin egal, dachte sie. Sie lief langsam weiter, der Regen durchnässte ihre Kleidung, sodass ihr kalt wurde.

 

Was für eine dämliche Idee das ganze doch war, vor allem dieses Hotelzimmer zu buchen, in das sie nicht zurückkehren würde. Ob ihre Familie stolz auf sie wäre, wenn sie hiervon wüsste? Immerhin ist es ja für einen guten Zweck, oder? Sie tut doch gewissermaßen etwas Gutes, nicht wahr? Aber das würde keiner in ihrer Familie verstehen, dessen war sie sich sicher. Keiner würde es verstehen. Versteht sie es denn selbst? Sie zweifelte. Aber ihr Glauben daran ließ sie zitternd weitergehen.

 

Er ließ sie auch das schwarze Gebäude am Ende der Straße betreten, das sie ihr genannt hatten. Sie ließ sich hineinführen, musste die Augen kurz zusammenkneifen; der Raum war hell erleuchtet. Die roten Kerzen am Boden strahlten eine willkommene Wärme aus. Sie legte ihre durchnässten Kleider ab, ließ sich erwartungsvoll den von Kerzen erhellten Gang entlangführen.

 

Sie dachte nicht mehr daran, umzukehren; sie dachte nicht an ihr Hotelzimmer oder an zu Hause. Sie tut doch wahrhaftig etwas Gutes, da ist kein Zweifel, sie würde ihre Familie schon mit Stolz erfüllen, daran glaubte sie. Sie legte sich in dem großen Saal nieder, ihre Brüder und Schwestern saßen alle bei ihr, umringten sie. Sie legte die Hände an die Brust, lächelte. Sie hatte nun keine Furcht mehr, sie zitterte nicht mehr. Sie würde ihre Familie stolz machen, ja das würde sie, sie würden es schon verstehen, sie...

 

Das Messer schnitt ihr tief ins Fleisch, ehe sie den Gedanken beenden konnte.

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Tag der Veröffentlichung: 24.07.2015

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