Prolog
Das Bellen und Schreien aus der unteren Etage riss mich in dieser Nacht aus dem Schlaf. Es mischte sich völlig übergangslos in meine Träume – ein Lärm wie der einer Sirene – und ließ mich erschreckt aufspringen. Es dauerte einen Moment, bis ich richtig zu mir kam. Die Dunkelheit meines Zimmers umfing mich immer noch mit dem Gefühl von Schlaf und machte meine Glieder schwer.
3:04 Uhr.
Das Zifferblatt des Weckers strahlte neongrün und brauchte vermutlich bald neue Batterien, denn er wirkte etwas blass. Anstatt aufzustehen und nach unten zu eilen, saß ich für eine Ewigkeit nur in meinem Bett und blickte auf die Uhr. Der Lärm blieb dabei die ganze Zeit wie ein Singsang in meinem Kopf.
Die Hunde.
Erst dann begriff ich, wieso ich überhaupt aufgewacht war. Charly und Jamie schlugen wegen irgendetwas an. Das war nicht das erste Mal in den sechs Monaten, die wir sie nun schon besaßen, doch heute schien irgendetwas anders. Es wurde mir bewusst, als ich schlaftrunken aus dem Bett torkelte und über die Decke stolperte. Sie klangen so wütend. Ihr Bellen wurde lauter, je dichter ich der Tür kam, und auf dem Flur hörte ich es schließlich ganz deutlich.
Da prallten Pfoten gegen die Eingangstür, gefolgt vom Hämmern hastiger Krallen an der Glasscheibe. Sie verloren sich beinahe unter dem Gebell der beiden, das schon fast einem Geschrei gleichkam. Nur eine Sekunde im tosenden Schwall ihrer Aggression machte mich hellwach. Ohne darauf zu warten, dass die beiden meine Eltern weckten, eilte ich die Treppe hinunter in die Wohnküche.
„Aus!“, rief ich und betätigte den Lichtschalter. Ein geblendeter Rudelführer mit wildem Haar und dünner Stimme, der heute Nacht wohl nicht sehr beeindruckend sein musste. Weder Charly noch Jamie nahmen Notiz von mir. Stattdessen tobten sie weiter und sprangen immer wieder gegen die Haustür, als wollten sie das Holz mit ihrer bloßen Wut aus den Angeln heben. In derselben Sekunde fiel mir auf, was für einen Schaden sie bereits angerichtet hatten. Essstühle waren umgefallen, Jacken von der Garderobe gerutscht und der Schirmständer lag irgendwo unter der Treppe, obwohl er normalerweise neben das Schuhregal gehörte. Es war das erste Mal, dass ihr Verhalten mir Angst einjagte. Eigentlich waren die beiden liebe und ausgeglichene Hunde, die selten etwas kaputtmachten. Heute jedoch erschienen sie mir wild und unkontrollierbar.
Sie waren nicht sie selbst.
Ein letzter, beherzter Sprung der beiden Pointermischlinge gegen die Haustür brachte mich dazu, mich zusammenzusammeln und meine Pflicht zu tun.
„Schluss jetzt!“
Ich trat mit entschlossenen Schritten zwischen sie und die Tür, um sie für mich zu beanspruchen.
„Sitz!“
Auch meine Stimme war wohl endlich zu mir zurückgekehrt, denn die Tiere folgten meiner Anweisung und beruhigten sich fürs Erste. Jamie hechelte so stark, dass ich seine rote Zunge sehen konnte, und sein Sabber hatte sogar ein wenig Schaum geschlagen. Charly hingegen schien weniger erregt, fiepte dafür aber ununterbrochen. Es war, als wollte er mir etwas sagen, dass ich nicht verstand. Zumindest nicht, bis ich seinem Blick folgte. Er durchdrang starr und hochkonzentriert die Glasscheibe, die zu unserer Haustür gehörte.
Der Wald, kam es mir in den Sinn.
Die beiden mussten etwas im Wald gewittert haben.
Wenn man so dicht an der kanadischen Wildnis wohnte wie wir, dann war es normal, dass sich ab und an ein Tier in die Nähe des Hofes verirrte. Ich hatte schon oft morgens aus dem Fenster geblickt und heimlich die Rehe begrüßt, die das Gras direkt vor dem Fenster wohl besser fanden als das, was sie im Wald kriegen konnten. Auch Wildschweine oder sogar Bären waren nichts Ungewöhnliches. Nichts, das Jamie und Charly nicht mindestens ein Mal gesehen hatten, seit Dad sie vor einem halben Jahr von einem Bekannten mitgebracht hatte. Heute klangen sie hingegen, als wartete dort draußen kein Reh, kein Wildschwein und auch kein Bär, sondern etwas anderes. Etwas Gefährliches.
Der Gedanke jagte mir einen Schauer über den Rücken. Nun warf ich selbst einen Blick durch die Scheibe. Ich wollte wissen, ob mit den Pferden alles in Ordnung war. Die Dunkelheit verschluckte die Sicht nach draußen einfach, denn im Licht der Deckenlampe sah ich nur mich selbst. In einem Akt der Dummheit umgriff ich den Knauf und öffnete die Haustür, um einen kurzen Blick auf den Stall zu werfen. In diesem Moment setzten sich die Hunde in Bewegung. Sie drängten sich mit jedem Funken Kraft ihres Körpers an mir vorbei, um gleich darauf bellend in der Dunkelheit zu verschwinden. Ein besorgtes Wiehern folgte ihnen aus dem Pferdestall, dann wurde es totenstill.
„Verflucht!“
Ohne zu zögern schlüpfte ich in meine Jacke und Gummistiefel. Ich hatte es vermasselt. Was auch immer dort draußen sein mochte, die Hunde mussten es für gefährlich halten. Ich wollte mir nicht ausmalen, wie ein Bär die beiden zurichten würde, wenn sie ihn attackierten. Also griff ich die Taschenlampe vom Fensterbrett und schnallte mir die Hundeleine um, bevor ich unseren Haustieren hinterhereilte.
Die Nacht war schneidend kalt. Ich konnte meinen Atem sehen, sobald ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, und unter meinen Sohlen ertönte mit jedem Schritt das verheißungsvolle Knarzen gefrorenen Bodens. Es war eine dumme Idee gewesen, nur in Nachthemd und Mantel loszurennen, aber nun wollte ich auch nicht umdrehen. Vielleicht waren Charly und Jamie noch in der Nähe. Voller Hoffnung spitzte ich die Lippen, um nach ihnen zu pfeifen. Romeo war jedoch der einzige, der mir antwortete. Sein unruhiges Schnauben drang aus dem Stall wie ein Warnlaut.
„Schon gut“, rief ich den Pferden zu. Ich wollte nicht, dass sie panisch wurden und gegen die Wände traten. „Ich habe das im Griff.“
Leider war ich mir da gar nicht so sicher. Der grellweiße Vollmond half mir zwar, genügend zu sehen, aber der Wald war groß. Dort zwei Hunde zu suchen konnte der Nadel im Heuhaufen gleichen, wenn sie nicht kommen wollten. Zudem war in der Dunkelheit Vorsicht geboten. Das lange Gras war im Herbst welk geworden und lauerte wie eine Schlange im Dickicht, um einen unerwartet zu Fall zu bringen. Es war so ziemlich das Schlimmste, das ich mir vorstellen konnte, nachts mit einem gebrochenen Fuß darauf zu warten, dass Dad mich nach Hause trug. Ich mochte schon zwölf sein, aber Gruselfilme hatte ich genügend gesehen, damit mein Verstand sich selbstständig machte.
Was, wenn es ein Mensch war, der sich hier herumtrieb? Einer mit üblen Absichten?
Ich schüttelte den Kopf. Dann hob ich die Hand an den Mund und rief nach den Hunden.
„Jamie! Charly!“
Nichts.
Kein Bellen, kein Winseln. Es war so still, als hätten die beiden sich kilometerweit entfernt. Im selben Augenblick fegte ein unruhiger Wind über die Umgebung und ließ die übriggebliebenen Gräser tanzen wie die Oberfläche eines finsteren Ozeans. Ich hingegen fühlte jeden Luftzug bis in meine Knochen. Ich musste mich beherrschen, nicht mit den Zähnen zu klappern. Dabei eilte ich bis zum Waldrand, ohne die Koppel aus den Augen zu lassen, und warf einen Blick zwischen die gesunden, massiven Bäume. Hier war es deutlich finsterer als noch auf dem Hof, denn die dichten Baumkronen sperrten das Mondlicht aus. Laub und Nadeln raschelten unter mir, während ich mich Schritt für Schritt vorantastete.
„Hier!“, rief ich. Ich zog das Wort so lang wie möglich, aber auch dieses Mal bekam ich keine Antwort. Eine Minute lang lauschte ich noch angestrengt in die Nacht, dann fluchte ich und machte schließlich kehrt.
Ich musste Dad holen.
Offenbar waren die Hunde schon weiter weggelaufen, als ich mir erhofft hatte. Immer wieder malte ich mir aus, was geschehen würde, wenn sie sich mit einem Bären anlegten oder einfach nur ein Reh bis zur nächsten Straße hetzten. Was, wenn sie überfahren wurden? Auf meinen Vater hörten sie besser. Zusammen würden wir sie sicher finden.
Ich hatte gerade kehrtgemacht, um am Stall vorbei und zurück ins Haus zu eilen, da raschelte es plötzlich hinter mir im Gebüsch.
„Jamie!“
Ich war noch nie so froh gewesen, ihn zu sehen. Jamie mochte erst neun Monate alt sein, doch er hatte schon jetzt die Maximalgröße erreicht, die man für einen Pointer normalerweise errechnete. Seine breite Brust war nass von Speichel, als er vom Waldrand aus auf mich zueilte. Während ich sein schwarzweißes Fell streichelte, spürte ich sein Herz unter meinen Händen hämmern. Er musste wirklich etwas gejagt haben. Seine Zunge hing immer noch weit aus seinem Maul.
„Guter Hund“, flüsterte ich und rieb kräftig seine Ohren. „Wo ist dein Bruder?“
Ich sah mich um, doch von Charly war keine Spur. Wo steckte er nur? Für gewöhnlich kamen immer beide zurück, wenn man einen rief. Wie kam es, dass Jamie ohne ihn aufgetaucht war? In die Freude meines unerwarteten Wiedersehens mit Jamie mischte sich nun noch mehr Sorge um Charly. War er weiter weggelaufen? Hatte er sich womöglich verletzt und wartete jetzt darauf, dass Jamie mich zu ihm brachte? Ein leises Klicken befestigte den Hund neben mir an der mitgebrachten Leine. Währenddessen kaute ich an meiner Unterlippe. Was sollte ich tun? Ich konnte Dad holen gehen, damit er mir half, Charly zu finden. Ich konnte ihn ohnehin nicht tragen. Doch Jamie begann derweil längst an der Leine zu zerren und führte mich Richtung Wald. Er winselte nervös.
„Wo ist Charly?“, fragte ich ihn. Er antwortete mir mit einem Bellen, das überlaut durch die Nacht hallte. Und dann, als wollte er ihm antworten, hörte ich plötzlich Charlys Stimme. Sie klang aufgeregt und nicht allzu weit entfernt.
„Komm“, sagte ich deswegen, umgriff die Leine fester und folgte Jamie zurück in den Wald.
Jamie eilte geradeaus, als hätte er den Teufel gewittert. Es fiel mir erst auf, als wir schon einige Minuten durch das Dickicht irrten, denn ich konzentrierte den Schein der Taschenlampe ausschließlich auf den Boden zu meinen Füßen. Das Mondlicht vermochte ihn hier nicht mehr genügend auszuleuchten, verwandelte jedoch jeden Baum um uns herum in eine beunruhigende Silhouette. Ich tat mein allerbestes, um weder die Stille dieser Nacht noch die Finsternis zu sehr zu interpretieren. Es gelang mir auch, bis mein Schein mehr zufällig auf Jamie fiel. Er hatte seine Nase die ganze Zeit über den Boden geschoben wie einen Staubsauger, um dabei lautstarke Schnüffelgeräusche von sich zu geben. Erst, als ich ihn ansah, wurde mir kalt. Das Fell an seinem Rücken war zu einer dichten, dunklen Bürste aufgestellt, die ich noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Irgendetwas hier machte ihm Angst. Und zwar genug, um ihn die ganze Zeit über nervös sein zu lassen.
Während ich ihn beobachtete, umgriff ich die Taschenlampe noch fester.
„Charly!“
Ich fand ihn im Dickicht, kaum mehr als einhundert Meter von uns entfernt. Mir fiel ein Stein vom Herzen, denn er schien nicht verletzt zu sein. Aus irgendeinem Grund hatte er nur nicht auf meine Rufe reagiert. Jamie wedelte wie verrückt mit dem Schwanz, als wir seinen Bruder erreichten, ließ sein Fell jedoch aufgestellt. Charly hingegen reagierte gar nicht auf uns – weder auf mich, noch auf Jamie – sondern stand nur da wie eine Statue. Er starrte geradeaus in den Wald, ohne sich zu rühren, und damit weg von uns.
„Komm jetzt.“
Ich hatte mehr als genug Zeit hier draußen verbracht. Um Charly an einem weiteren Ausbüxen zu hindern, befestigte ich nun das andere Ende der Leine an seinem Halsband. Charly reagierte nicht auf meine Worte. Auch nicht auf einen leichten Zug.
„Charly“, sagte ich. Doch in diesem Moment hörte ich es plötzlich auch.
Es war das schleifende Geräusch einer Bewegung im Laub.
Aus irgendeinem Grund ging ich augenblicklich in die Knie. Der Hof war schon mein ganzes Leben lang mein Zuhause. Ich war mit dem Wald, den Tieren und ihren Geräuschen aufgewachsen. Ich kannte sie, weil ich sie jeden Tag hörte. Selbst das leise Grunzen eines Wildschweines.
Das hier war jedoch nicht normal.
Anfangs wusste ich nicht einmal wieso. Mich erfasste ein Impuls von Flucht, der mir für eine Weile die Logik raubte. In dieser Zeit kniete ich hilflos auf dem Boden, presste mich an Charly und betete dafür, nicht gleich von einem wütenden Bären attackiert zu werden. Charlys angespanntes Knurren offenbarte mir dabei, dass meine Angst nicht unbegründet war. Ich packte sein Halsband fester, um ihn vor einer Dummheit zu bewahren. Dann warf ich einen vorsichtigen Blick ins Dickicht.
Was es auch war, dass uns dort aus der Ferne belauerte – es musste riesengroß sein. Ich hörte es an der Schwere, mit der sich seine Beine bewegten. Für den Bruchteil einer Sekunde stieg mir die Angst so sehr zu Kopf, dass ich am liebsten einfach losgerannt wäre. Ich wusste, es war da. Ich konnte es atmen hören – ein dumpfer, schrecklicher Bass, der einen gewaltigen Brustkorb dehnte. Jeder einzelne Atemzug drang so überdeutlich an meine Ohren, dass es mich beinahe um den Verstand brachte. Jedes Haar an meinem Körper stand zu Berge. Den Hunden ging es nicht anders. Sie hatten sich links und rechts neben mir aufgebaut wie zwei Wachtposten, die mit gestelltem Fell und nach vorn geneigten Ohren in die Finsternis starrten. Das fremde Wesen schien um uns herumzuschleichen. Als ich die Taschenlampe ausknipste, um es nicht zu provozieren, erkannte ich zwei grellgelbe Lichter mitten im Gebüsch. Ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass es Augen waren.
Der bloße Anblick ließ mich zur Salzsäule erstarren. Die Hunde mussten das Wesen zur selben Zeit erblickt haben wie ich, denn all ihr Mut stürzte in sich zusammen. Plötzlich zogen sie den Schwanz ein und zitterten wie Espenlaub. Selbst von Charlys wütendem Knurren war nun keine Spur mehr.
Es sieht uns an.
Ich hatte solche Angst, dass ich nicht hinschauen konnte, tat es aber trotzdem. Ich konnte meinen Blick einfach nicht von diesen Augen nehmen. Sie strahlten wie Taschenlampen aus dem Dickicht und schienen jede unserer Bewegungen zu verfolgen. Ich hatte noch nie ein Tier mit leuchtenden Augen gesehen. Der Schemen des Wesens mochte an einen Bären erinnern, aber alles an ihm war viel zu anders. Ich konnte die Gefahr spüren, die von ihm ausging. Eine schneidende Stille, untermalt von lauten, rasselnden Atemzügen. Der Waldboden schien ihre Bässe bis zu mir zu tragen. Ich hörte die Kreatur näherkommen, sah ihren gierigen Blick und fühlte ihre Intention. Sie würde sich jeden Moment auf uns stürzen. Ihr gewaltiger Körper beugte sich bereits hinunter, um genügend Schwung zu holen. Bevor sie jedoch auf uns zustürmen konnte, zerriss plötzlich ein ohrenbetäubendes Heulen die Luft.
Es war so laut, dass die dunkle Kreatur ihren Kopf erhob und in den Himmel blickte. Ich hingegen presste mich mit all meiner Kraft an meine Hunde. Ich wusste nicht, zu welchem Tier dieses Heulen gehörte. Ich wusste nur, dass ich noch nie zuvor einen schrecklicheren Laut vernommen hatte. Es war dringlich, tief und klang zugleich unerträglich wütend. Das Monster im Gebüsch lauschte dem zornigen Kampfschrei nur für den Bruchteil einer Sekunde. Dann stieß es sich plötzlich ab, um mit donnernden Schritten im Wald zu verschwinden. Es verschwand so schnell, wie es aufgetaucht war, und ließ mich atemlos am Boden zurück.
Mittlerweile klapperten meine Zähne in der eisigen Kälte. Mein Herz polterte wie ein Presslufthammer. Ich saß nur da und starrte auf die Stelle, an der das Wesen bis noch verharrt hatte. Mit jeder Sekunde wurde mir dabei ein wenig klarer, was soeben geschehen war. Ich hatte einem Tier gegenübergestanden, das ich nicht kannte. Einem riesigen Tier mit leuchtenden Augen. Schon jetzt kam mir der dumpfe Umriss des Wesens so unwirklich an wie ein Traum. Nur mein schweißnasser Rücken überzeugte mich davon, dass all das keine Einbildung gewesen war.
Meine Beine fühlten sich weicher an als Pudding. Sie wollten mich kaum tragen. Für den Moment wollte ich nichts sehnlicher, als einfach nach Hause zu eilen, ohne über meine Begegnung mit dem seltsamen Ungeheuer nachzudenken. Leider hatte ich vergessen, in welche Richtung wir mussten. Der Stall war hier im Wald schon lange nicht mehr zu sehen. Weil ich einen kurzen Gedanken an das Heulen verlor, das mir vermutlich das Leben gerettet hatte, begannen meine Knie unkontrolliert zu zittern.
Was war das?
Es hatte geklungen wie ein Wolf, wenn auch mit mehr Stimme. Ein Schrei aus voller Kehle, der für einen menschlichen Hals doch viel zu laut gewesen war. Die Gestalt, die leuchtenden Augen und nicht zuletzt das fremde Heulen schienen nur einen Namen für das Wesen zuzulassen.
„Ruby!“
Ich erschrak so heftig, dass ich herumfuhr und über Charly stolperte. Ich konnte mich gerade noch fangen, um nicht auf dem Waldboden fallen.
„Dad!“
Mein Vater musste uns gefolgt sein, denn er tauchte in diesem Moment aus einem Gebüsch. Sein dunkles Haar sah genauso wirr aus wie meines, und selbst der Schnurrbart über seiner Lippe wirkte irgendwie schief. Die dunklen Ringe unter seinen Augen zeugten von der späten Stunde. Genauso wie ich war er nur schnell in seine Jacke geschlüpft, denn ich sah seinen Pyjama unter dem Reißverschluss hervorschauen.
„Hast du …“, begann ich, ohne weiterzusprechen. Auf dem Weg hierher war er dem Wesen sicherlich nicht begegnet – sonst hätte er nicht so verschlafen ausgesehen. Mein Herz hämmert immer noch erbarmungslos gegen meinen Brustkorb. Ich war unendlich erleichtert darüber, meinen Vater zu sehen. Er brachte die Sicherheit des Hauses mit sich, in das ich mich schon sehnte, seit ich den Hunden gefolgt war.
„Warte nächstes Mal, bis ich aufgestanden bin“, brummte er müde. Dabei kam er näher, um mir die Leine abzunehmen, an der nun Jamie und Charly hingen.
„Gehen wir. Sonst holst du dir hier noch den Tod.“
„Ja“, murmelte ich. Meine Stimme war nicht mehr als ein heiseres Flüstern, denn der Klos von eben steckte immer noch in meinem Hals. Als Dad losstiefelte, drehte ich mich noch einmal um. Dabei warf ich einen Blick auf die Stelle, an welcher das Wesen bis eben gestanden hatte. Eine Weile haderte ich mit mir, ehe ich schließlich einen Schritt nach hinten machte und die Taschenlampe über den Boden hielt.
Was ich dort sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Der feste, dunkle Waldboden war trotz der niedrigen Temperaturen verformt worden und zeigte einen einzelnen Abdruck. Es war der einer Pfote, wie ich sie von Charly kannte. Nur, dass sie mindestens zehnmal größer war. Auch die Proportionen stimmten nicht. Sie erinnerten mich zum Teil mehr an einen Bären als an einen Hund. Der Anblick war so unwirklich, dass ich die Augen zusammenkniff, um mir ganz sicher zu sein.
„Dad?“, rief ich mechanisch. „Weißt du, was das gewesen sein könnte?“
Mein Vater blieb noch einmal stehen. Er war so müde, dass ihn die Hunde beinahe zu Fall brachten.
„Vielleicht Sasquatch“, erwiderte er, ohne einen Blick auf meine Entdeckung geworfen zu haben. Seine Stimme klang jedoch nicht so, als wollte er mich verschaukeln.
Er zuckte mit den Schultern.
„Jetzt komm und leuchte mir den Weg, bevor ich mir die Beine breche.“
„Okay …“, erwiderte ich und warf noch einen letzten Blick auf den Boden, ehe ich ihm hinterhereilte. Was es auch gewesen sein mochte, ich wollte es am liebsten so schnell wie möglich vergessen.
Kapitel 1
Das Wetter hatte es an diesem Morgen wirklich gut mit mir gemeint. In Kanada wusste man nie so recht, welche Temperaturen man Mitte Mai tatsächlich erwarten durfte, wenn man das Haus verließ – von fünf bis 18 Grad war so ziemlich alles möglich, Regen und Schnee inklusive. Heute jedoch hatte mich der freundliche Schein einer sommerlichen Sonne nicht nur zur Arbeit begleitet, sondern stellte auch sicher, mich die ganze Zeit über durch die große Fensterfront mit genügend Vitamin D zu versorgen.
Unter diesen Umständen ließ ich mir meinen Job bei Harrison Sports wirklich gefallen. Es war selten besonders spannend, in seinem Sportgeschäft zu kassieren. Ich musste nur hier stehen, Kunden freundlich anlächeln und ihnen das Geld abnehmen, das sie zu dieser Jahreszeit etwas bereitwilliger hereintrugen als noch vor zwei Monaten. Weil heute irgendwie trotzdem nichts los war, fühlte sich mein Job eher an wie ein Besuch in der Sonnenbank. Ich schloss die Augen, um die warmen Strahlen zu genießen, während ich mit einem Ohr meinem Chef beim Werkeln zuhörte. Man sah ihn erstaunlich selten, denn in seinem gewaltigen Lagerraum gab es offenbar immer etwas zu tun. Verließ er ihn dann doch mal, weil ein Kunde seine Beratung brauchte, erinnerte er mich immer an einen alten Bären, der schwerfällig aus seiner Höhle kam. Ich kannte Mr. Harrison, seit ich ein kleines Kind war. Das hatte mir letztlich auch meinen Job eingebracht. Er war ein Kollege meines Vaters aus seiner Zeit im Sägewerk und Dad hatte ein gutes Wort für mich eingelegt.
„Zwei neue Kartons.“
Ich zuckte zusammen, als Mr. Harrisons Stimme plötzlich neben mir ertönte. Ich hatte gar nicht gesehen, dass er neben den Tresen getreten war. Einen Moment lang fühlte ich mich beim Faulenzen ertappt, bis ich bemerkte, dass er eine Antwort erwartete.
„Wie bitte?“, fragte ich nach.
„Stell dir vor – sie haben zwei neue Kartons abgeladen“, tat Mr. Harrison bereitwillig kund. „Irgendwann zwischen gestern Abend und heute Mittag.“
„Oh“, machte ich. Jetzt hatte ich verstanden, was er sagen wollte. Sein Kleinkrieg mit dem fremden Geschäft war in die nächste Runde gegangen. Es musste gut vier Monate her sein, dass zum ersten Mal jemand seinen Müll einfach auf Mr. Harrisons Hinterhof abgestellt hatte. Seitdem fanden wir tageweise sogar mehr Abfall von diesem jemand als von Harrison Sports selbst. Was zuerst nur ein geringes Ärgernis für meinen Chef gewesen war, hatte sich seitdem zu einer wahren Fehde gegen einen unsichtbaren Feind entwickelt. Und wenn Mr. Harrison kämpfte, dann mit allen Mitteln. In den vergangenen Wochen hatte er so ziemlich jede Idee ausgeschöpft, die einem einfallen konnte. Von einem Fernglas zur Überwachung des Hofes bis zu der Mission, die Nacht im Laden zu verbringen, um die Übeltäter auf frischer Tat zu ertappen. Bisher hatte er nur leider keinen Erfolg gehabt.
„Haben sie denn nichts gesehen?“, wollte ich wissen. „Sie waren doch die ganze Zeit im Lager.“
„Das ist es ja“, schnaubte der alte Mann. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn, weil er vermutlich schwere Geräte gehoben hatte. Es konnte aber auch daran liegen, dass das Thermometer heute ohne Vorwarnung auf 16 Grad geklettert war.
„Ich war die ganze Zeit da und habe nichts gehört“, fluchte er. „Diese Verbrecher müssen so leise sein wie ein Geist.“
„Bestimmt finden sie sie irgendwann“, versuchte ich den alten Mann zu trösten. „Und dann kriegen die hoffentlich eine saftige Strafe.“
Meine Theorie war, dass es keine festen Zeiten gab, an denen das fremde Geschäft seinen Müll auf dem Hof meines Chefs ablud, denn so konnte man die Übeltäter nicht erwischen. Vermutlich taten sie es einfach spontan, wenn ihr eigener Container zu voll wurde. Privatleute konnten unmöglich so viele Kartons und Verpackungen ansammeln. Nur waren die immer unbeschriftet und deswegen nicht identifizierbar.
„Ich sage dir, es ist die verdammte Frittenbude“, schimpfte Mr. Harrison. „Nachdem die hier aufgemacht haben, hat das Theater begonnen.“
Dabei trottete er zum Getränkespender, um zwei Dosen zu ziehen. Eine Cola Light, weil seine Frau ihm echte verboten hatte, und eine Limonade für mich.
„Dankeschön“, sagte ich, als er sie auf den Tresen stellte. Mr. Harrison war ein traumhaft netter Chef, wenn er sich nicht gerade über illegal deponierten Abfall ärgerte. Aber das war auch irgendwie verständlich.
„Nur ohne Beweise kriegen wir sie nicht dran“, fügte ich hinzu, während ich den Verschluss aufschnappen ließ. Der erste Schluck der prickelnden Flüssigkeit machte mir bewusst, wie warm es hier drinnen tatsächlich geworden war.
„Ich weiß“, seufzte mein Gegenüber und schwieg kurz, um die Sache abzuschütteln. Dann streckte Mr. Harrison mit einem genussvollen Laut auf den Lippen seinen Rücken, bevor er einen Blick durch die Glasfront des Ladens warf.
„Ganz schön sonnig heute“, brummte er. Man hätte fast meinen können, das missfiel ihm, obwohl ich das Gegenteil wusste. Mr. Harrison war ein begnadeter Wanderer. Er liebte es, seine Freizeit draußen zu verbringen. Wann immer der Wetterbericht etwas Stabilität versprach, schnappte er seine Frau und sein Zelt verschwand irgendwo in die Wildnis. Vielleicht war das der Grund, wieso sein Gesicht mit seinen sechzig Jahren so wettergegerbt aussah, aber es verlieh ihm auch den Charme, der ihn so sympathisch machte.
„Ich glaube, heute kommt niemand mehr.“
Mr. Harrison rieb geschäftig seine Handflächen.
„Geh ruhig nach Hause, Ruby. Damit ein bisschen Sonne an dich kommt.“
„Sind sie sicher?“, wollte ich wissen. Eigentlich hatte der Laden noch eine Stunde geöffnet.
Mr. Harrison lachte.
„Ja“, versprach er. „Du bist doch noch jung. Bestimmt hast du an einem so schönen Tag wie heute was vor, oder?“
Irgendetwas an der Art, wie er das ausdrückte, machte mich verlegen.
„Eigentlich habe ich Dad versprochen, ihm mit dem Heu zu helfen“, gab ich zu.
Mr. Harrison seufzte.
„Ruby, du arbeitest zu viel“, tadelte er mich. „Die Schule, der Job, und dann hilfst du noch auf dem Hof. Und den Führerschein machst du auch bald.“
Seine Sorge entlockte mir ein trockenes Lachen.
„Das wird sowieso noch eine Weile dauern. Den Führerschein werde ich mir nie leisten können.“
Er war einer der Gründe, wieso ich den Job in Mr. Harrisons Laden angenommen hatte, um mir an den Samstagen etwas dazuzuverdienen. Ich schien jedoch nicht sehr gut darin, mein Geld zusammen zu halten. Meine Freundin Audrey war daran nicht unschuldig. Sie überredete mich einfach viel zu oft dazu, etwas mit ihr zu unternehmen. Durch die vielen Samstage der letzten Zeit hatte sich zwar trotzdem ein bisschen was auf meinem Sparkonto gesammelt, aber bis ich davon einen Führerschein und ein Auto bezahlen könnte, würden wohl noch hundert Jahre vergehen.
„Freust du dich eigentlich schon auf das Stadtfest?“
Oder auch zweihundert.
„Ja“, erwiderte ich gedehnt. „Gehen sie hin?“
Das Stadtfest war Shatterlakes größte Attraktion Ende Mai – und auch die einzige. Die meisten, die ich kannte, freuten sich das ganze Jahr darauf, Zuckerwatte von überteuerten Ständen zu essen und dabei Riesenrad zu fahren. Mich eingeschlossen. Im Gegensatz zu meinen Freunden hatte ich zwar Höhenangst, aber es reichte mir, das Ungetüm aus sicherer Entfernung zu beobachten. Auf dem Stadtfest gab es auch so genug Gelegenheiten, sein hart verdientes Geld unter die Leute zu bringen.
Mr. Harrison beugte sich vor, um auf den Kalender hinter mir zu spähen. Er zeigte wunderschöne, kanadische Wälder. Genau das, was man von Mr. Harrison auch erwartet hätte.
„Nein“, war seine Antwort. „Mary will in dieser Woche ihre Schwester besuchen.“
Ich machte große Augen.
„In Vancouver?“
Er nickte.
„Genau. Ich kann ihr ja immer nichts abschlagen.“
Das brachte mich zum Lächeln. Mr. Harrison war kein überaus geselliger Mensch, das hatte ich mittlerweile schon bemerkt. Er war nicht unfreundlich oder griesgrämig, wusste Zeit allein aber zu schätzen. Wahrscheinlich liebte er das Wandern deswegen so und verkroch sich lieber im Lagerraum seines Ladens, anstatt Geld zu sparen und Kunden selbst zu bedienen. Ich wusste, dass ich mich geschmeichelt fühlen konnte, weil er mich mochte. Sprach Mr. Harrison hingegen von seiner Frau Mary, lag in seinen Augen immer ein Leuchten. Man konnte nahezu sehen, dass er absolut alles für sie tun würde. Er bezahlte sogar einen teuren Flug, um eine Woche mit der Großfamilie ihrer Schwester zu verbringen. Wenn Mr. Harrison von ihr erzählte, hatte ich immer das Bedürfnis, das Kinn auf die Hände zu stützen und ihm zuzuhören.
„Soll ich ihnen Poutine mitbringen?“, fragte ich rhetorisch. Das brachte ihn dazu, laut und dumpf aufzulachen. Bei ihm klang das immer wie das Grollen eines Grizzlys.
„Nein, danke. Die kriege ich hier an jeder Ecke“, gab er belustigt zurück. „Und jetzt nimm deine Sachen und mach, dass du nach Hause kommst.“
„Okay“, gab ich mich geschlagen. „Dann bis nächsten Samstag.“
Der grelle Sonnenschein begrüßte mich wie der Scheinwerfer einer Konzertbühne, als ich durch die Schiebetür des Ladens trat. Die Straße war voller Leute, die ziemlich zufrieden aussahen, und vom anderen Ende des Bürgersteigs kam mir der Geruch frisch gemachter Pommes entgegen. Während ich meinen Pferdeschwanz zurechtrückte, warf ich unserem vermutlichen Erzfeind einen prüfenden Blick zu. Dann öffnete ich meine Jacke ein Stück und lief los.
Ohne Auto war man mehr oder weniger auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen. Der Bus war mein bester Freund. Er brachte mich zur Schule und nach Hause und auch zur Arbeit oder zu meinen Freunden, wenn Dad am Wochenende keine Zeit hatte, mich mit dem Pick-up zu fahren. Momentan war er vermutlich dabei, das Heu nach Hause zu transportieren, damit wir es dann später gemeinsam vom Hänger laden konnten. Romeo und Schneewittchen waren immer hungrig. Man hätte staunen können, was zwei Pferde so alles wegfraßen.
Eine dumpfe Vibration meines Telefons riss mich aus den Gedanken. Im Laden hatte ich es immer auf lautlos gestellt, damit es die Kunden nicht nervte, aber meistens vergaß ich, den Klingelton wieder zu aktivieren. Ein Blick auf das Display verriet, dass Audrey mir eine Nachricht geschrieben hatte.
Du und ich. Heute Abend.
Der simple Text brachte mich zum Lächeln.
Ich habe heute Heu in den Haaren, hast du das vergessen?, tippte ich. Die Antwort surrte so prompt unter meinen Fingern, als hätte Audrey das Fenster die ganze Zeit offen gelassen und gewartet.
Dann geh duschen!, schrieb sie zurück. Ich hole dich um 8 ab.
Ich seufzte. Das war wieder mal typisch. Audrey brauchte immer jemanden, der ihr am Wochenende die Zeit vertrieb. Von uns allen war sie auch diejenige, die am sehnlichsten auf die Ferien wartete, um sie in Shatterlakes schmuddeliger Disko oder eben mit uns zu verbringen. Eigentlich wusste sie, dass ich heute Abend keine Zeit hatte. Layla musste sie wohl versetzt haben und ich stand auf Platz zwei ihrer Liste.
Na gut.
Meine Antwort war kurz und knapp, aber das reichte auch aus. Audrey hätte sich ohnehin nicht von ihrem Plan abbringen lassen, selbst, wenn ich widersprochen hätte. Ich hoffte nur, dass sie mich nicht zu einem Diskobesuch überreden wollte. Ich war kein Partymuffel, aber in dieses Gebäude brachten mich keine zehn Pferde. Zu laut, zu klein, zu muffig. Ich hätte noch ewig so weitermachen können. Eine Minute lang wartete ich noch, ob Audrey antwortete, dann schloss ich die Tasche meines Telefons und ließ es wieder in meiner Jacke verschwinden. Dabei warf ich mehr zufällig einen Blick auf die kleinen Gassen, die mich umgaben, und blieb schließlich stehen.
Das undeutliche Stimmengewirr drang erst an meine Ohren, nachdem ich die Gruppe bemerkt hatte. Sie bestand aus fünf Personen, von denen sich einige an die dichten Hauswände lehnten, und wirkte auf jede mögliche Weise verdächtig. Das lag nicht nur daran, dass sie die einzigen Menschen in einer ansonsten völlig leeren Straße waren, sondern auch an ihrer Ausstrahlung. Ich konnte die aggressive Energie in der Unterhaltung der fünf Männer nahezu spüren. Sie mischte sich ihren undeutlichen Worten bei wie ein unangenehmer, schriller Ton, der Unheil verhieß. Es ließ sie bedrohlich wirken. Ein Anblick, der in einer Kleinstadt in Kanada zwar ungewöhnlich, aber auch nicht unmöglich war. Normalerweise hätte ich mich beeilt, einfach schnell zur Bushaltestelle zu kommen, um nicht am Ende noch die Aufmerksamkeit dieser Männer zu erregen.
Heute aber war das anders, denn vier von ihnen hatten den Fünften umzingelt. Ohne danebenzustehen war es unmöglich zu erraten, worüber sie genau sprachen. Trotzdem störte mich etwas an ihren geballten Fäusten. Sie weckten meine Zivilcourage. Der fünfte Mann hatte schwarzes Haar und hob mittlerweile abwehrend die Hände, bekam jedoch keine Gelegenheit, das Gespräch zu beenden. Zwei der vier Männer traten stattdessen noch einen Schritt näher, um ihn weiter unter Druck zu setzen.
Mit diesem unschönen Bild vor Augen nagte ich an meiner Unterlippe. Ich wog bereits meine Chancen ab. Es wäre das Beste, einfach zu gehen, aber ich wollte im Nachhinein auf keinen Fall etwas in der Zeitung lesen, was mir für den Rest meines Lebens leidtun würde. Man hörte immerhin Geschichten – über Gangs und Drogen und all das – und ich war der Überzeugung, dass es solche Dinge auch auf dem Land gab. Um die Polizei zu rufen war es vermutlich zu früh. Immerhin war ja noch nichts geschehen.
Noch nicht.
Ich schluckte. Ob Mr. Harrison noch im Laden war? Außer mir befand sich leider niemand auf dem Bürgersteig, den ich hätte ansprechen können. Andererseits wollte ich Mr. Harrison auch nicht in eine Sache reinziehen, die ihn gar nichts anging. Am Ende randalierten diese Kerle nachts noch in seinem Laden und schlugen die Scheiben ein. Leider hatte ich damit auch die letzte Idee ausgeschöpft, die mir spontan gekommen war. Eine Sekunde lang zögerte ich noch, mich ernsthaft in die Probleme fünf ausgewachsener Männer einzumischen. Dann sah ich, wie einer der Typen vortrat und den einzelnen Mann grob bei der Schulter packte, um ihm anschließend einen Stoß zu versetzen.
Das reicht.
Mit all dem Mut, den ich in meinem 17-jährigen Leben angesammelt hatte, streckte ich entschlossen meinen Rücken und eilte zu der Gruppe rüber. Dabei hoffte ich einfach, dass die Männer sich beruhigen und abziehen würden – und, dass meine Entscheidung kein Fehler war.
Ich erreichte die Bande gerade, als der Außenseiter sich wieder gefangen hatte. Er war durch den groben Schubs ins Stolpern geraten, wirkte aber noch immer ruhig und abwehrend. Als ich mich ihm näherte, trafen sich nur für den Bruchteil einer Sekunde unsere Blicke. Da war Wut, Abwehr und auch Hitze zu erkennen, doch was mir viel mehr auffiel, war das Blau seiner Augen. Es war so tief, wie ich es noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Wie der Ozean auf einem Poster oder einem Reisekatalog. Ein Detail, dass mich lange genug ablenkte, um mir beinahe mein Momentum zu nehmen.
Nun hatten sich vier ausgewachsene Männer vor mir aufgebaut, von denen sich zwei zu sehr im Hintergrund hielten, um sie genau zu erkennen. Ich sah nur Brillengläser und einen aschblonden Haarschopf hinter den beiden Kerlen hervorlugen, die offensichtlich die Anführer spielten. Einer von ihnen hatte dunkle Haut und war nahezu lächerlich muskulös. Seine Augen wirkten im Kern freundlich, aber unversöhnlich. Seine verschränkten Arme verstärkten diesen Eindruck noch. Bei dem zweiten Mann im Vordergrund handelte es sich um das Klischeebild eines Bandenchefs. Ein großbewachsener Typ mit rappelkurz geschorenen Haaren, einem Tattoo am Arm und zerschlissenen Jeans. Sein Blick wirkte feindselig und feurig. Ich hätte schwören können, dass er die Auseinandersetzung gesucht hatte, so kampflustig starrte er mir entgegen. Alles an seiner Gestalt wirkte hitzig und einschüchternd. Er war intensiv. Nichts umschrieb ihn besser. Die Luft um ihn herum schien auf eine Art und Weise zu lodern, die mir seltsam vorkam, und erst jetzt fiel mir auf, wie groß die beiden Männer direkt vor mir waren. Sie mussten die 1,90 m sprengen, denn sie überragten sogar meinen Vater.
In ihren Schatten schien ich augenblicklich um mehrere Zentimeter zu schrumpfen. Ich fühlte mich, als stünde ich vor zwei Wolkenkratzern, die im Begriff waren, auf mich niederzufallen. Der Klos in meinem Hals offenbarte mir dabei, dass das hier wohl doch eine dumme Idee gewesen war. Aber jetzt gab es auch kein Zurück mehr, ohne mich in noch größere Schwierigkeiten zu bringen. Allein konnte der schwarzhaarige Mann neben mir gegen diese Typen jedenfalls nicht bestehen.
„Gibt’s hier ein Problem?“, fragte ich schließlich so selbstbewusst wie möglich. Es erschreckte mich, wie heiser und rau meine Stimme war. Im ersten Moment befürchtete ich, dass sie mich gar nicht hören konnten. Deswegen zückte ich nun das Telefon aus meiner Tasche, um ein wenig Überzeugung in meine Worte zu legen. Meine Masche schien zu funktionieren. Kaum, dass ich das Handy anhob, warfen die beiden Frontmänner sich plötzlich einen Blick zu. Er wirkte viel weniger angriffslustig und beinahe nervös. Der junge Mann mit den blauen Augen öffnete derweil den Mund, um etwas zu sagen, entschied sich dann jedoch dagegen.
Die Stille zwischen uns war schneidend. Es fühlte sich an, als würde mir jemand den Atem aus den Lungen pressen, während ich auf die Antwort der Gruppe wartete. Es dauerte zwei und dann drei Sekunden, ehe ihre Schultern sich entspannten. Als ich das sah, begann mein Herz wie ein Presslufthammer zu poltern.
„Nein“, erwiderte der dunkelhäutige Mann. Dabei tat er eine Geste, als wollte er sich abwenden. Sein tätowierter Freund schien nicht ganz so schnell von seiner Wut ablassen zu wollen, denn er warf seinem Opfer einen Blick zu, der Bände sprach. Dann drehte auch er sich um.
„Hauen wir ab.“
Sein Wort schien Gesetz. Er hatte nicht einmal den ersten, bestiefelten Fuß vorangesetzt, da folgten ihm drei seiner Freunde so treu wie Gefolgsleute. Nur einer von ihnen war stehen geblieben – ein schmächtiger Junge mit aschblondem Haar, der so gar nicht in die Gruppe zu passen schien. Er trug unscheinbare Turnschuhe und Khakihosen und blickte den dreien reglos nach, bis er meine Augen auf sich zu spüren schien. Das brachte ihn dazu, sich zu uns umzudrehen. Ich wusste nicht, womit ich gerechnet hatte, doch bei seinem Anblick zuckte ich zusammen.
Das war kein normaler Junge. Es gab keinen echten Grund, wieso ich mir so sicher war, aber dieses Gefühl packte wie eine eisig kalte Hand nach meinem Nacken. Es musste die Art sein, wie starr er durch uns hindurchblickte. Als könnte er uns nicht sehen, oder als wären wir schlicht gar nicht da. Ich fragte mich, woher die tiefen Ringe unter seinen Augen stammten. Hatte er irgendeine Krankheit? Nur ganz kurz huschte sein Blick umher, als wollte er sich neu orientieren, und dann wanderte er schließlich irgendwo zwischen meinen Hals und mein Schlüsselbein.
„Ian!“, donnerte die Stimme des Anführers. Sie hallte durch die Gasse wie ein Hammerschlag und erschreckte mich zu Tode. Ian jedoch reagierte versetzt. Er sah noch eine Zeit lang vollkommen emotionslos durch uns hindurch, bis er schließlich kehrtmachte und seinen Freunden hinterher trottete.
Selbst, als sie bereits hinter der nächsten Ecke verschwunden waren, konnte ich meinen Blick nicht von ihnen lösen. Was um alles der Welt waren das für Typen? Mir fielen so viele Worte für sie ein, dass ich sie kaum greifen konnte, und doch schien keines davon wirklich auf sie zu passen. Sie wirkten auf eine seltsame Art anders. Bedrohlich. Ich konnte mich nicht daran erinnern, einen von ihnen je zuvor gesehen zu haben. Und nach diesem Treffen hoffte ich, dass es auch in Zukunft so bleiben würde.
„Nicht schlecht.“
Die Stimme des jungen Mannes erschreckte mich. Ich hatte ihn beinahe vergessen. Dabei war ich ihm ja zur Hilfe geeilt und hatte nur deswegen diese heroische, dumme Tat begangen. Ich spürte seinen Blick auf mir, als ich mich zu ihm umwandte. Plötzlich war ich seltsam befangen.
„Alles okay?“, wollte ich wissen.
„Ja“, bestätigte er und unterstrich seine Worte mit einem Nicken. „Hätte nicht gedacht, dass sie so schnell Reißaus nehmen, wenn sie ein Telefon sehen.“
Es war erstaunlich. Obwohl er bis eben von zwei hausgroßen Männern bedroht worden war, schien er kein bisschen angespannt zu sein. Ich sah es an seiner lockeren Körperhaltung.
„Danke“, fügte mein Gegenüber schließlich an und schenkte mir ein schiefes Lächeln. „Du bist ganz schön mutig.“
Ich spürte, wie ich errötete.
„Das täuscht“, gab ich zurück und deutete mit dem Daumen über meine Schulter. „Zwei Straßen weiter ist der Laden von meinem Boss. Dort gibt’s Baseballschläger.“
Das brachte ihn zum Lachen. Es war ein heller Ton, der mir wirklich gefiel. Bisher hatte ich ihn nur im Schatten dieser seltsamen Gestalten gesehen, doch jetzt, wo ich allein mit ihm war, konnte ich ihn genauer beäugen. Er trug dunkle Jeans und ein schlichtes Oberteil, welches das Blau seiner Augen noch mehr zum Leuchten brachte. Ein dunkles, warmes Blau, unterstrichen von dem blassesten Teint, den ich jemals bei einem Schwarzhaarigen gesehen hatte. Er musste älter sein als ich und tatsächlich gut 1,80 m groß. Diese Kolosse von eben ließen wohl jeden kleiner wirken, als er wirklich war.
„Hast du Stress mit denen?“, fragte ich ihn jetzt. Dafür, dass ich ihm geholfen hatte, durfte ich das. Zumindest sah ich das so.
Seine Antwort klang gedehnt.
„Nein. Ihnen hat wohl nur meine Nase nicht gefallen.“
Ich war nicht unbedingt jemand, der von sich behauptete, eine überdurchschnittliche Menschenkenntnis zu haben. Eigentlich war ich sogar ziemlich unbedarft, wenn ich es mir recht überlegte. Trotzdem sprang mir bei den Worten dieses jungen Mannes sofort ins Gesicht, dass das nicht alles war. Er hielt etwas zurück.
„Verstehe“, antwortete ich steif.
Aber das ging mich alles auch gar nichts an. Ich hatte ihm geholfen und meine Pflicht getan.
„Kommst du aus Shatterlake?“, fragte er. Mein Nicken genügte, damit sich seine dunklen Brauen besorgt wölbten.
„Dann lass mich dir trotzdem einen Tipp geben“, fuhr er fort. „Leg dich mit denen besser nicht an. Die sind … nicht ganz sauber.“
Seine einfachen Worte schienen den Kern der Sache viel zu gut zu treffen. Sie jagten mir einen Schauer über den Rücken, den ich nicht verstand. Wie ein kalter Windzug, der mich plötzlich erfasste, obwohl noch immer keine einzige Wolke am Himmel stand.
„Da hast du wohl recht“, entgegnete ich tonlos. Mir fiel wieder ein, dass ich im Begriff war, meinen Bus zu verpassen.
„Soll ich dich nach Hause bringen oder so?“, fragte ich deswegen. Ich war nicht ganz sicher, wie ich unser Gespräch beenden sollte. Aber darüber lachte er nur wieder auf diese angenehme, offene Art.
„Nein“, gab er gut gelaunt zurück. „Keine Sorge. Ich komme nach Hause.“
„Gut.“
Ich grinste.
„Dann kann ich ja jetzt mein Cape anziehen und dem nächsten Bürger in Not helfen.“
Darüber lachten wir beide.
„Pass auf dich auf“, sagte ich noch, bevor ich ihm den Rücken zuwandte und zur Haltestelle eilte.
„Du auch“, war seine Antwort. Aber sie kam so leise und gedämpft über seine Lippen, dass ich nicht sicher war, sie wirklich gehört zu haben.
Kapitel 2
„Schau dir das an. Wie aus Kübeln!“
Als Audrey eine Woche später gereizt aus ihrem Wohnzimmerfenster spähte, hatte Kanadas wechselhaftes Klima sich längst dazu entschieden, uns mal wieder so richtig das Wochenende zu vermiesen. Ich hatte meine Schicht im Harrison Sports schon vor einigen Stunden beendet und mich danach von Audrey abholen lassen, um mit ihr zu lernen. Jedenfalls offiziell. Inoffiziell hatten wir ein paar Stars im Internet angeschmachtet und dabei stolze eineinhalb Tüten Chips verdrückt.
„Du tust mir echt leid“, fügte Audrey kurz darauf an. Als sie sich zu mir umdrehte, um sich wieder auf das breite Sofa fallen zu lassen, war ihr Blick voller Mitgefühl.
„Danke“, erwiderte ich. „Ich mir auch.“
Es war eine grausame Fügung des Schicksals, dass ich die einzige in meinem Freundeskreis war, die noch mit dem Bus fahren musste. Das bedeutete nicht nur, den Großteil meiner Zeit immer wieder auf die schnaufende Hydraulik sich öffnender Bustüren warten zu müssen, sondern auch, bei jedem Wetter zur Haltestelle zu hetzen. Besonders heute fühlte sich das an wie eine Strafe. Layla war bereits vor über einer Stunde abgeholt worden, um mit ihren Eltern essen zu gehen, und Audreys Mutter steckte noch auf der Arbeit fest. Sogar Dad hatte sich Überstunden aufbrummen lassen – irgendein Notfall mit einem LKW. Er war mit zu viel Seele KFZ-Mechaniker, um in einem solchen Fall nicht zur Stelle zu sein. Für mich bedeutete das leider, dass ich die Sintflut der Himmel später zu Fuß durchqueren musste.
„Weißt du was?“, fragte Audrey irgendwann, während sie geräuschvoll ihren Laptop zuklappte. „Die Schule nervt.“
Ich lachte.
„Sei doch nicht so“, beschwichtigte ich sie.
„Nein, ehrlich“, maulte Audrey. „Wir sind junge, hübsche Mädels. Wir sollten draußen sein. Unsere zerbrechliche Haut braucht UV-Strahlung.“
„Damit wir schneller alt werden?“, riet ich.
„Hör auf, meine Träume zu zerstören!“, fuhr sie mich an. „Stattdessen sitzen wir hier und büffeln, bis wir schwarz werden.“
„Wir haben ja heute auch so viel gebüffelt“, gab ich sarkastisch zu. „Sobald Layla weg ist, läuft irgendwie gar nichts mehr.“
Sie war unsere Anstandsdame. Natürlich nahmen wir unseren Schulabschluss ernst, aber ich musste zugeben, dass das bisweilen schwierig sein konnte. Besonders, wenn Audrey einen dauernd ablenkte.
„Wir haben es ja bald geschafft“, sagte ich dann versöhnlich. „Bald sind Ferien und dann kommen auch schon die letzten Semester bis zur Graduation.“
„Ja, Ferien!“, jauchzte Audrey. Den Rest überhörte sie einfach. „Endlich. Und meine Mum fährt sogar mit mir weg.“
Jetzt machte ich große Augen.
„Echt?“, wollte ich wissen. „Wohin?“
Audrey kramte kurz in einem Stapel Dokumente, die unter dem Couchtisch aufbewahrt wurden, bevor sie mir ein Prospekt reichte. Es zeigte ein großes Gebäude mit Pool.
„Ein Wellness-Hotel?“, las ich vor. Es sah vielversprechend aus und war auch gar nicht so weit entfernt. Dafür aber höllisch teuer.
„Ja!“, freute sich Audrey. „Bist du neidisch?“
Ich schnitt ihr eine Grimasse.
„Na klar. Wir fahren fast nie weg, weil wir niemanden haben, der sich um die Pferde und die Hunde kümmert.“
„Es sind auch nur vier Tage“, gab Audrey zu bedenken. „Aber besser als nichts. Ich werde mir so lange Gurken auf die Augen legen, bis du meine Schönheit nicht mehr wiedererkennst.“
Ich kicherte, bevor ich einen Blick auf mein Handy warf.
„Es hilft nichts, ich muss los.“
Ich hatte Mum versprochen, ihr heute Abend Gesellschaft zu leisten. In der Küche warteten bereits Popcorn, Kakao und Taschentücher darauf, einen schwülstigen Liebesfilm mit uns zu schauen. Solche Frauenabende konnten wir meistens nur veranstalten, wenn Dad außer Haus war. Natürlich stand es ihm frei, sich solange an den Computer oder in seine Garage zu verziehen, um an seinem uralten Mercedes zu schrauben – doch sobald wir eine DVD einlegten, versüßte er unsere Filmerfahrung lieber mit sarkastischen Kommentaren. Keine Chance, ihn davon abzuhalten. Heute Abend hatten wir sozusagen sturmfrei.
„Ist gut“, sagte Audrey traurig. Sie wusste noch nicht, wann ihre Mutter heute nach Hause kommen würde. Ihr Vater hatte die Familie früh verlassen und sie war Einzelkind. Ihre Mum war leitende Angestellte in der Nachbarstadt, weshalb sie häufig erst spät abends nach Hause kam. Unter der Woche sah Audrey ihre Mum deswegen manchmal überhaupt nicht.
„Vergiss nicht, deinen Badeanzug anzuziehen“, witzelte sie, als sie mich umarmte. Dann brachte sie mich zur Tür.
„Und schreib mir eine Nachricht, wenn du heil zu Hause angekommen bist, klar?“, verlangte sie noch.
„Ja, Mama“, erwiderte ich brav, bevor sie mir geräuschvoll die Tür vor der Nase zuschlug. Einen Moment lang warf ich einen hoffnungsvollen Blick auf den düsteren Himmel, aber es sah nicht so aus, als würde der Regen bald nachlassen. Also zog ich die Kapuze meiner Jacke über den Kopf und den Reißverschluss richtig zu, bevor ich durch den Wolkenbruch eilte.
Von Audrey bis zur Haltestelle war es ein gutes Stück, das ich heute in einem Rekordtempo zurücklegte. Es war nicht immer ganz einfach, von hier aus nach Hause zu fahren. Zwar kam der Bus immer pünktlich, so lag doch beinahe der gesamte Weg am Waldrand. Ein fürchterliches Detail, wenn es schon dunkel war. In finsteren Wäldern beschlich mich seit meiner Kindheit ein mulmiges Gefühl. Keine direkte Panik – nur das Bedürfnis, auf solche Erfahrungen lieber zu verzichten. Das Wetter war schuld daran, dass der Himmel auch heute bereits weit dunkler aussah, als er es um diese Uhrzeit normalerweise getan hätte. Deswegen zog ich meinen Kragen enger, bevor ich noch einen Zahn zulegte.
Ich erreichte die Bushaltestelle natürlich zu früh. Sie war nur ein einfaches Schild ohne Überdachung, weswegen ich mir einen nahen Baum suchen musste, um mich unterzustellen. Seine Nadeln beschützten mich zumindest ein wenig vor der unfreiwilligen Dusche, der meine Jacke kaum gewachsen war. Heute Morgen hatte noch die Sonne vom Himmel gestrahlt, aber daran gewöhnte man sich, wenn man hier lebte. Auch, wenn man trotzdem noch griesgrämig aus der Wäsche schaute. Während ich mit dem Schuh Kreise in die Erde malte, warf ich immer wieder einen Blick auf die Straße, um den Bus rechtzeitig zu erkennen. Manche Busfahrer neigten dazu, gar nicht erst anzuhalten, wenn niemand am Schild wartete. Also lauerte ich wie ein Tiger im Gestrüpp und wartete auf meine Chance, nach vorn zu springen und nach Leibeskräften zu winken. Als nach fast fünfzehn Minuten jedoch immer noch kein Bus in Sicht war, runzelte ich besorgt die Stirn.
Er wird doch nicht …
Das fehlte mir noch. Wie häufig war es, dass ein Bus einfach ausfiel? In meiner Umgebung passierte das zumindest nicht sehr oft. Als Vielfahrer wusste ich das. Sicher hatte er sich nur etwas verspätet, weil das Wetter so ein riesengroßer Mist war. Er würde bald da sein.
Bestimmt.
Besorgt schritt ich zum Straßenrand, um noch zehn weitere Minuten mit dicken, kalten Tropfen begossen zu werden. Dann warf ich schließlich entnervt die Arme in die Luft.
„Auch das noch!“
Eine Sekunde lang wusste ich nicht, was ich machen sollte. Mums Auto war in der Werkstatt – sie konnte mich also nicht abholen. Aber laufen würde ich den weiten Weg auch nicht. Mir blieb wohl nichts anderes übrig, als zu Audrey zurückzugehen und darauf zu warten, dass der nächste Bus fuhr. Der dann hoffentlich auch kommen würde.
Ich war gerade im Begriff, meinen Ärger herunterzuschlucken und mich in Bewegung zu setzen, als mich plötzlich die Scheinwerfer eines Fahrzeuges trafen.
Das leise Quietschen der Bremsen ließ mich zuerst glauben, der Bus wäre doch noch gekommen. Ich bemerkte aber schnell, dass das Auto dafür viel zu klein war. Vor mir parkte ein grüner VW Jetta. Er wirkte nicht wie ein neues Modell, aber auch nicht unglaublich alt. Der Lack war gut gepflegt und an der Seitentür prangte ein Aufkleber des kanadischen Ahornblattes.
Mein erster Impuls war Flucht, denn mit Fremden in Autos sprach ich grundsätzlich nicht. Bevor ich dies in die Tat umsetzen konnte, fuhr der Fahrer jedoch das Fenster herunter.
Ich staunte nicht schlecht. Am Steuer saß der junge Mann mit den blauen Augen.
Er grinste wie ein Superheld, der gerade jemandem zur Hilfe geeilt war.
„Brauchst du eine Mitfahrgelegenheit?“, fragte er. Er musste sehr laut sprechen, um den Regen zu übertönen. Zudem schallte alternatives Metal aus seinem Radio.
In diesem Moment dachte ich nicht darüber nach, ihm zu misstrauen oder seine Absichten in Frage zu stellen. Ich spürte nur den eisigen Regen auf meinen Wangen, den Wind und wie unangenehm meine Jacke an meinem Rücken klebte, bevor ich die Tür öffnete und einstieg. Kaum hatte ich mich angeschnallt, fuhr der unbekannte Fremde an und rauschte mit mir davon.
Das böse Erwachen folgte erst etwas später – nämlich, als mein Hirn fünf Minuten Zeit zum Trocknen gehabt hatte.
War ich eigentlich wahnsinnig geworden?
Ich biss mir auf die Unterlippe. Wie lange kannte ich diese Person schon? Ich traute mich gar nicht, mir das selbst zu beantworten. Zeitgleich erinnerte ich mich an die Menge der Personen, die jedes Jahr vermisst wurden und nie wieder nach Hause kamen. Ein viel zu wirksames Gegengewicht, das eine gewisse Beklommenheit in mir aufsteigen ließ. Sie brachte mich dazu, einen vorsichtigen Blick in das Gesicht meines Fahrers zu werfen. Er schien mich im selben Moment beobachtet zu haben, denn unsere Blicke trafen sich kurz und intensiv. Dann ruckte sein Kopf ertappt nach vorn, um sich wieder auf die Straße zu konzentrieren.
„Also?“, fragte er dann. Er klang nervös und ich betete dafür, dass dies kein schlechtes Zeichen war. Was war nur in mich gefahren?
Gewaltverbrechen am Straßenrand.
Ich sah die Schlagseite in der Zeitung schon vor mir.
„W-Was?“, stammelte ich. Mein Mund war staubtrocken.
Nun lachte er.
„Wohin soll ich dich bringen?“
Ich war mir noch nie in meinem Leben so blöd vorgekommen.
Nachdem ich ihm die Adresse genannt hatte, blickte ich mich um. Das Auto wirkte auch von innen sehr gepflegt. Es war die günstigere Ausstattung ohne Leder, deren Sitzbezüge ganz in dunkel gehalten waren. Am Spiegel baumelte ein grünes Duftbäumchen, das erstaunlich gut zur Lackfarbe des Wagens passte. Es verströmte einen sanften, künstlichen Apfelduft, der dem Ambiente eher schadete. Das hier war definitiv kein Raucherauto.
„Danke“, sagte ich schließlich. Ich musste ein Gespräch starten, sonst wurde ich vor Angst noch wahnsinnig. „Fürs Mitnehmen, meine ich.“
Mein Satz entlockte ihm ein Lächeln, das mich sofort zurück an jenen Tag versetzte, an dem wir uns zum ersten Mal getroffen hatten. Ich sah die kleine Gasse vor mir und die bedrohlichen Typen, wie sie um die Ecke verschwanden. Mit dieser Erinnerung vor Augen entspannten sich meine Schultern etwas, denn verglichen mit ihnen wirkte mein Gegenüber sehr vertrauenserweckend.
„Kein Problem“, erwiderte der Mann. „Ich kam gerade vorbei und habe dich an der Haltestelle gesehen. Da dachte ich, revanchiere ich mich für deine Hilfe von neulich.“
Er hatte mich also auch noch nicht vergessen. Irgendwie fühlte ich mich geschmeichelt.
„Ist das dein Auto?“, fragte ich nach.
„Ja“, erwiderte er. Sein Blick blieb unablässig auf die Straße gerichtet. „Ich habe es heute gekauft.“
„Echt?“
„Du bist mein erster Passagier“, lachte er.
„Oh“, machte ich entsetzt. „Und ich tropfe dir schon mit meinen nassen Klamotten die Sitzbezüge voll!“
Ich machte Anstalten, mich aus meiner Jacke zu schälen, als er mir nun doch einen Blick zuwarf. Er war noch immer nervös, aber auch warm und einladend.
„Nein, nein. Keine Sorge“, sagte er schnell. „Du trocknest doch wieder.“
Mit seinen Worten drehte er die Heizung höher, als wollte er den Vorgang damit beschleunigen.
„Also kommst du gerade vom Autohaus“, stellte ich fest.
„Von einer Privatperson“, korrigierte er mich. „Ich habe gestern eine Zeitungsannonce gesehen, in der jemand in der Nachbarstadt sein Auto verkaufen will.“
Jetzt grinste er wieder.
„Und ich brauchte ein Auto. So kam eines zum anderen.“
Darüber musste ich lachen.
„Dann herzlichen Glückwunsch“, meinte ich. „So eins hätte ich auch gern als meinen ersten Wagen. Es ist echt gemütlich.“
Vielleicht nicht unbedingt die Limousine, die man sich für später erträumte, aber in unserem Alter reichte das vollkommen.
„Machst du gerade den Führerschein?“, erkundigte der junge Mann sich und ergriff meine Gesprächseinleitung damit sofort.
„Nein“, gab ich zurück. „Keine Kohle.“
Er gluckste.
„Mach dir nichts draus. Ich habe auch Jahre gespart, um mir den hier kaufen zu können. Mit viel Feilschen, versteht sich.“
Ich wollte ihn fragen, wie alt er war, aber das erschien mir zu persönlich. Ich hatte einfach keine Erfahrung mit sowas. Natürlich gab es Jungs in unserer Klasse, aber mit denen führte man nie so befangene Gespräche. Ihm gegenüber wusste ich hingegen kaum, was ich fragen durfte und was nicht. Seine Gegenwart machte mich irgendwie unsicher. Audrey hätte diese Gelegenheit sofort genutzt, um gemeine Lieder zu singen und mich damit auf die Schippe zu nehmen.
„Wie heißt du?“, war stattdessen meine Frage. Das war auch persönlich, klang aber nicht so nach einem Flirt.
„Josh“, erwiderte er. „Josh Grayson.“
Und so hatten die fremden, blauen Augen schließlich einen Namen bekommen. Josh.
„Ruby Bennington“, stellte ich mich vor.
„Schöner Name“, bemerkte Josh. „Wie der Edelstein.“
Ich spürte, wie ich errötete.
„Danke“, nuschelte ich.
Darauf folgte eine peinliche Stille. Keiner von uns schien zu wissen, wie er das Gespräch fortsetzen sollte. Ich konnte nicht behaupten, dass Antisympathie der Grund dafür war, denn Josh war wirklich nett. Ich mochte die selbstverständliche Art, mit der er neben mir saß. So als gehörte er dort schon ewig hin. Und natürlich war ich 17. Ich schaute romantische Filme mit meiner Mutter und träumte, wie jedes Mädchen in meinem Alter, von der ersten Liebe und all ihren Details. Nur leider hatte ich keine Ahnung, woran man merkte, ob man einander wirklich sympathisch war. Ich war einfach nicht gut darin.
Josh schien es genauso zu gehen, denn er kratzte in der kurzen Stille ganze zwei Mal nervös seinen Nacken. Ich fürchtete schon, bald so wortlos zu Hause wieder aus dem Jetta steigen zu müssen, als das Radio mir den rettenden Anker zuwarf: Einen Song, den ich kannte.
„Der ist gut“, sagte ich schnell. Ich spürte, wie Josh sich neben mir sichtlich entspannte.
„Du kennst ihn?“, wollte er wissen.
„Der war in den Charts, glaube ich.“
Ich hatte schon bemerkt, dass wir die ganze Zeit irgendein Album hörten. Die Instrumente waren hart und laut, aber die Texte teilweise viel tiefsinniger, als ich es ihnen zugetraut hätte. Ich hatte eine Vermutung gehegt, um welche Band es sich handelte, und mit dem jetzigen Song nun Gewissheit.
„Die sind gar nicht übel“, fügte ich an. Meine Worte schienen Josh zu gefallen.
„Ich mag sie auch. Meine Lieblingsband, denke ich“, gab er zu. „Die meisten finden sie kontrovers, aber ich finde, man muss ihnen nur mal zuhören.“
Er zuckte die Schultern.
„Es gibt echt viele, die sich über sowas aufregen, oder?“, fragte ich rhetorisch. „Dabei ist es doch nur Musik.“
Josh ließ für einen Moment nachdenklich das Lenkrad durch seine Hand gleiten, ehe er lächelte.
„Stimmt“, gab er zurück. „Das gefällt mir. Es ist nur Musik.“
Als wir an der kleinsten aller Seitenstraßen vorbeikamen, hob ich schließlich den Finger.
„Dort musst du reinfahren“, sagte ich. „Der Hof, auf dem ich wohne, ist noch ein ganzes Stück geradeaus im Nirgendwo.“
Während Josh einlenkte, runzelte er die Stirn. Dann sah er mir direkt ins Gesicht.
„Du bist das Mädchen vom Hof?“, fragte er, als wäre das etwas ganz besonders Eigenartiges. Ich konnte den Ton in seiner Stimme nicht recht interpretieren, aber er entrüstete mich. Was sollte das denn heißen? Das Mädchen vom Hof? Tratschte man etwa über uns?
„Ja“, erwiderte ich unsicher. „Wieso?“
Er sah aus, als hätte er sich am liebsten auf die Zunge gebissen.
„Nichts“, gab er zurück. „Ich habe mich nur gewundert, weil ich dachte, du wohnst in der Innenstadt.“
Sein Lächeln war entwaffnend.
„Ich glaube, ich habe dich schonmal irgendwo gesehen.“
„Ja, letzte Woche“, war meine Antwort. So ganz hatte ich ihn für den Kommentar von eben noch nicht vom Haken gelassen, aber ich wollte auch nicht so sein. Ihm war diese Situation genauso peinlich wie mir, das merkte man. Da sagte man dumme Sachen, oder?
Josh gluckste wieder.
„Du arbeitest bei Harrison’s, hast du gesagt?“, wollte er wissen. „Hat der auch Schuhe?“
„Ja.“
Ich nickte.
„Im Moment ist sogar Sale. Brauchst du welche?“
Josh dachte kurz nach.
„Eigentlich schon“, gab er zu. „Ich muss nur sehen, ob das Auto mir noch Budget lässt, das ich zusammenkratzen kann.“
Dafür erntete er mein ehrliches Mitgefühl. So ging es mir jeden Samstag vor dem Bäcker, der diese köstlichen Kuchen verkaufte.
„Vielleicht komme ich mal vorbei“, fügte Josh hinzu. Seine Stimme war versöhnlich, deswegen nahm ich nicht an, dass er das ernst meinte.
„Gern“, erwiderte ich trotzdem, um ihn nicht abzuschneiden. „Ich bin immer samstags da.“
Da wirkte er schon etwas ernster.
„In Ordnung.“
Ich ließ mich vor der Einfahrt absetzen und nicht direkt vor der Haustür. Das hatte zwei gute Gründe. Zum ersten wollte ich nicht, dass Josh sich möglicherweise auf unserem ungepflasterten Hof festfuhr, und zum zweiten musste ich unter allen Umständen verhindern, dass Mum ihn sah. Wenn das geschah, konnte ich für nichts mehr garantieren. Sie würde vermutlich nie mehr aufhören, mich zu löchern. Ich wollte es mir gar nicht ausmalen, also stieg ich geschwind aus dem Wagen, als Josh zum Stehen gekommen war.
„Vielen Dank nochmal“, sagte ich freundlich. Josh hatte die Scheibe heruntergekurbelt, um sich zu verabschieden.
„Gern geschehen“, erwiderte er. „Ich hoffe, du erkältest dich nicht.“
Das war sehr nett.
„Ach, ich bin hart im Nehmen“, gab ich zurück. Im gleichen Moment bemerkte ich eine Bewegung im Augenwinkel.
Es war die Gardine in der Küche. Mum hatte ihren Wachtposten am Fenster eingenommen.
Oh nein, schoss es mir durch den Kopf. Am liebsten hätte ich laut gestöhnt.
„Komm gut heim“, wünschte ich Josh, bevor ich mich aufrichtete und schließlich ins Haus ging. Es hatte immer noch nicht aufgehört zu regnen, doch das kalte Nass wirkte viel einladender als noch vorhin. Immerhin wusste ich jetzt, womit ich unweigerlich den Rest dieses Abends verbringen würde, sobald ich die Küche betrat: Damit, von Mum im Detail zu Josh befragt zu werden und mir den Kopf darüber zu zerbrechen, wer um alles in der Welt über uns tratschte.
Kapitel 3
Ich hatte nicht damit gerechnet, ihn noch einmal wiederzusehen.
Das lag auch daran, dass meine Ausrede gegenüber meiner Mutter so überzeugend gewesen war. Ich hatte ihr erklärt, Josh wäre ein entfernter Bekannter von Audrey, der mich freundlicherweise nach Hause gefahren hatte. Audrey stellte in dieser Hinsicht immer ein nützliches Alibi dar. Sie kannte haufenweise Leute, weil sie so viel ausging, und meine Mutter hatte nahezu augenblicklich das Interesse an dem Fremden im Auto verloren.
Josh mochte sein Erscheinen bei Harrison Sports zwar angekündigt haben, aber man sagte viel, wenn man eine Konversation nicht unschön enden lassen wollte. Ich hatte mir nie Hoffnungen gemacht, denn das alles erschien mir einfach viel zu unrealistisch. Ein Fremder, dem ich gleich zwei Mal zufällig begegnete, und der ein Paar Schuhe kaufen würde, um mich wiederzusehen? Ich musste zugeben, dass mich etwas an ihm faszinierte. Nicht nur seine Augen, sondern auch seine aufmerksame, vorsichtige Art. Aber ich wusste nicht einmal, wie viele Jahre älter er war oder ob er eine Freundin hatte. Deswegen tat ich das, was mir jedes Mädchenmagazin in diesem Land geraten hätte: Ich entschied mich, nicht weiter darüber nachzudenken.
Als Josh eine Woche später schließlich im Sportgeschäft erschien, traute ich meinen Augen kaum.
Ich war gerade dabei, eine Pyramide aus Paketen mit Tennisbällen zu bauen, die sich als mehr als störrisch erwies. An diesem Tag musste es mir wohl an Geschick mangeln, denn das Ding stürzte entweder in sich zusammen oder stand zu schief, um die Kunden nicht eher zu verjagen als einzuladen. Sogar Mr. Harrison schien das mitbekommen zu haben und fragte mich aus dem Lagerraum, ob ich Hilfe brauchte. Da drinnen war es so dunkel, dass sein Gesicht in der Luft schwebte wie ein Irrlicht. Ich wunderte mich immer wieder darüber, dass er unter der schummerigen alten Lampe überhaupt etwas sah.
„Nein danke“, rief ich, um ihn nicht weiter zu bemühen. „Bin nur gestolpert.“
Während ich die eilig wegrollenden Pakete einfing, öffneten sich die Türen hinter mir. Ich schenkte dem Kunden einen flüchtigen Blick – einen, wie ihn jeder bekam – und als sich Joshs und meine Augen begegneten, schien zwischen ihnen ein Funke zu schlagen. Das Gefühl war so intensiv, dass ich reflexartig den Kopf abwandte und meine Tennisbälle wieder fallen ließ.
Ich konnte es nicht fassen.
Er musste länger nicht beim Friseur gewesen sein, denn sein schwarzes Haar schien rebellisch. Es war lang genug, um ihm ein wenig in die Stirn zu fallen, doch das stand ihm viel besser als ein normaler Bürstenschnitt. Mein Blick huschte über seine Jeans, das dunkle Shirt und die ärmellose Weste, die er darüber trug, und richtete sich dann fast peinlich ertappt wieder auf meine Aufgabe. Josh bemerkte das. Er blieb stehen und sah nun seinerseits zu den umherrollenden Tennisbällen.
„Oh“, machte er. Ein simpler Laut, der offenbarte, dass ihm das Chaos gerade erst aufgefallen sein musste. „Warte, ich helfe dir.“
Das war das Schlimmste, das er hätte tun können. Anstatt ihm als alt eingesessene Kassiererin zu zeigen, wie professionell ich in meinem kleinen Nebenjob war, stolperte ich über Waren und ließ sie ihn aufheben. Mein Gesicht musste knallrot sein. Glücklicherweise fiel es Josh nicht auf. Oder vielleicht war er auch einfach zu höflich, um mich darauf anzusprechen.
„Danke“, sagte ich, nachdem er alle umliegenden Päckchen zusammengesammelt und am Rand aufgestellt hatte. „Den Rest schaffe ich selber.“
„Gern geschehen“, erwiderte Josh. Sein Satz war unverbindlich, aber sein Lächeln offen und herzlich. Und obwohl ich mich mit jeder Faser meines Körpers dagegen zu wehren versuchte, begann mein Herz plötzlich schneller zu schlagen.
Verdammt, dachte ich.
„Was machst du hier?“, wollte ich wissen, während ich die Pakete betont versiert übereinanderstapelte. Mittlerweile war es mir völlig egal, wie das Ergebnis aussah.
Er schien meine Frage nicht zu verstehen.
„Ich habe doch gesagt, dass ich Schuhe brauche. Weißt du noch?“, erinnerte er mich mit einem Grinsen. „Tja … Hier bin ich.“
„Oh.“
Jetzt war ich diejenige, die diesen überraschten Ton von sich gab. Einen Moment lang konnte ich mein Erstaunen nicht verbergen. Hatte er das wirklich ernst gemeint?
„Das Sale-Regal ist dort hinten.“
Meine Hand zeigte mechanisch über seine Schulter und an die linke Wand des Ladens.
„Soll ich dich beraten?“
„Gerne“, erwiderte Josh zufrieden.
Schon bevor ich ihm zum Schuhregal folgte, wusste ich, dass Mr. Harrison uns beobachtete. Ich konnte seinen Blick nahezu spüren. Er mochte sich den halben Tag in seinem Lager verkrümeln wie ein Mull, aber wenn etwas Interessantes geschah, aktivierte sich fast immer sein sechster Sinn. Ich machte mir nicht die Mühe, zu hoffen, heute eine Ausnahme zu erleben. Viel wichtiger war, wie ich das meinen Eltern erklären würde, sobald sie Mr. Harrison das nächste Mal beim Einkaufen begegneten.
„Was für eine Größe hast du?“, erkundigte ich mich. Irgendjemand hatte die Kartons mit den Nummern durcheinandergebracht, deswegen musste ich sie neu sortieren.
„Die im Angebot gibt’s nur noch von einer Marke und nur in Blau oder Rot“, fügte ich an.
„Ich habe neun“, gab Josh zurück. Er hatte sich auf den kleinen Hocker fallen lassen, der zum Anprobieren der Schuhe vor dem Regal stand. „Und Blau ist gut.“
Er beobachtete mich beim Zusammensuchen der richtigen Größen. Das war nicht ungewöhnlich, aber bei ihm machte es mich irgendwie nervös. Ich freute mich viel zu sehr darüber, dass er hierher gefunden hatte.
Josh war ein einfacher Kunde. Er musste nur eins der beiden Modelle anprobieren, um ein passendes zu finden, und entschied sich auch sofort dafür, es zu kaufen. Ich hatte schon die seltsamsten Leute erlebt, wenn es darum ging, ein Paar Schuhe auszuwählen – von Menschen, die ihre Größe nicht kannten, über Frauen, die stundenlang Modenschau liefen und dann doch nichts kauften. Dagegen war Josh die Offenbarung für jeden Verkäufer.
„Willst du sie gleich anbehalten?“, fragte ich, während ich den Preis in die Kasse tippte. Dabei beobachtete ich, wie er nickte und seine alten Turnschuhe in den Karton der Neuen verschwinden ließ. Weil ich den Deckel in der Hand hielt, verschloss ich ihn und warf mehr zufällig einen Blick auf Joshs vorheriges Modell. Ich hatte selten in meinem Leben so abgetragene Schuhe gesehen. Der Stoff auf der Oberseite sah aus, als wäre er mit etwas Scharfem bearbeitet worden. Sogar die Schnürsenkel zogen Fäden. Die Unterseite konnte ich nicht sehen, aber ich hätte wetten können, dass die Sohle völlig blank sein musste. Wie alt waren diese Schuhe? Josh sah mich an, als er mir das Geld reichte, und ich blickte schließlich zurück.
„Du bist nur samstags hier?“, wollte Josh wissen. Er lehnte am Tresen, als hätte er nicht vor, demnächst zu gehen. Das erfüllte mich zur gleichen Zeit mit Freude und Aufregung.
„Ja“, antwortete ich langsam. „Ich gehe noch zur Schule.“
„Verstehe.“
Josh dachte kurz nach.
„Wie alt bist du?“
Oh mein Gott, dachte ich. Hatte er wirklich Interesse an mir? Bis zum heutigen Tag war es einfach gewesen, sein Verhalten nicht weiter zu interpretieren. Aber hätte er nur Schuhe kaufen wollen, wäre er längst gegangen, oder? Ich spürte, dass meine Ohren heiß wurden, weil er mich so unverwandt ansah. Das Blau seiner Augen bildete einen einmaligen Kontrast mit seinem dunklen Haar. Ich war so vertieft darin, dass ich fast meine Antwort vergessen hätte.
„17“, stammelte ich. „Und du?“
Jetzt hatte ich zumindest eine Begründung, ihn zu fragen.
„Ich bin 21“, erwiderte Josh und lächelte schief.
„Oh“, gab ich zurück. „Dann arbeitest du schon? Oder was machst du?“
„Ich arbeite.“
Er kratzte sich am Kopf, als machte ihn das verlegen.
„Im Sägewerk am Rand von Shatterlake.“
Das erklärte wohl den Zustand seiner Turnschuhe. Zumindest vermutete ich das. Oder trug man dort Schutzkleidung? Das musste ich unbedingt meinen Vater fragen.
„Das ist ganz schön hart“, fiel mir auf.
Josh tat eine abwertende Geste mit der Hand.
„Eigentlich ist es ganz in Ordnung. Und man wird gut bezahlt.“
Ich musste lachen.
„Was tut man nicht alles für Geld, oder?“, wollte ich wissen. Josh öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber Mr. Harrison kam ihm zuvor.
„Ruby!“
Seine tiefe Stimme ließ mich fast aus der Haut fahren. Ich zuckte sichtlich zusammen, als Mr. Harrison meinen Namen aussprach. Der Blick meines Chefs wanderte intensiv über das Bild, das Josh und ich abgaben. Er hatte ja recht. Ich konnte mir vorstellen, wie das aussehen musste – mit mir hinter dem Tresen und Josh, der sich mit beiden Armen aufgestützt hatte, um mich besser zu verstehen. Ich sah es nicht nur in Mr. Harrisons Augen, sondern auch an der Art, wie entzückt sich plötzlich seine Lippen kräuselten.
„Zeit für eine Pause.“
Erst mit seinen Worten fiel mir auf, dass das Geschäft die ganzen letzten Minuten über leer geblieben war. Meine Aufmerksamkeit war derart von Josh beansprucht worden, dass ich vermutlich nicht einmal eine Schlange von Kunden hinter ihm bemerkt hätte. Das war mir nicht nur extrem peinlich, sondern auch nicht sehr professionell. Aber Mr. Harrison sah nicht aus, als machte er sich etwas daraus.
„Aber …“, begann ich, denn ich hatte meine Mittagspause für heute längst abgefeiert. Mein Chef wusste da, ignorierte meinen Einwand aber trotzdem.
„Du stehst schon den ganzen Tag hier drinnen“, gab er zu bedenken. „Ich mache die Pyramide fertig und du gehst frische Luft schnappen.“
Sein Ton war schroff. Das Nicken, welches er Josh zuwarf, ebenfalls. Es schien den blauäugigen Mann einen Moment lang ein wenig einzuschüchtern. Ich fürchtete schon, dass ihn Mr. Harrison damit nun endgültig verjagt hätte, bevor mir Josh schließlich einen vergnügten Blick zuwarf.
„Sollen wir was essen gehen?“, fragte er mich. „Ich habe sowieso Hunger.“
„Ja.“
Meine Antwort war nicht mehr als ein heiseres Kratzen.
Das durfte einfach nicht wahr sein. Hatte mir mein Boss gerade beim Flirten geholfen? Ich spürte seinen Blick im Nacken, als Josh und ich nebeneinander den Laden verließen, und vermied es bewusst, mich noch einmal umzudrehen. Nur für den Fall, dass Mr. Harrison mir irgendeine lautlose Durchhalteparole zukommen lassen würde.
Ich wusste wirklich nicht, wie ich das meinen Eltern erklären sollte.
Auf der Straße angekommen, sah Josh sich um.
„Worauf hast du Lust?“, wollte er wissen. Ich konnte seinen Magen brüllen hören, obwohl gerade ein Auto an uns vorbeifuhr. Das brachte mich zum Lachen.
„Hast du heute noch nichts gegessen?“, erwiderte ich. „Such es dir einfach aus.“
Ich war nicht wählerisch. Immerhin hatte ich das dreistöckige Sandwich schon verschlungen, das Mum mir heute mitgegeben hatte, und dazu eine Dose Limonade aus Mr. Harrisons Automaten. Und wie ich meine Selbstbeherrschung kannte, würde ich auf dem Weg zum Bus noch ein Stück Kuchen beim Bäcker kaufen. Meine heimliche Sucht.
Josh schien mit meinem Vorschlag einverstanden, denn er überquerte nun schnurstracks mit mir die Straße und eilte zum anderen Bürgersteig. Dort stellte er sich an die kleine Schlange der Imbissbude gegenüber vom Harrison Sports. Es war die, die sowohl Mr. Harrison als auch ich verdächtigten, ihren Müll bei uns abzuladen. Ich biss mir auf die Lippe.
Er wird doch nicht …, dachte ich mit einiger Besorgnis. Und weil ich es nicht lassen konnte, wandte ich mich um und warf einen nebensächlichen Blick in die Glasfront meiner Arbeitsstelle.
Ich behielt recht. Mr. Harrison stand am Fenster, eine Plastikdose mit Tennisbällen in seiner Hand. Er starrte mich an, als hätte ich soeben mein Vaterland verraten. Ich formte ein lautloses „Tut mir leid“, mit den Lippen und zuckte hilflos die Schultern, doch seine Miene blieb wie versteinert. Das brachte mich dazu, mich schnell wieder umzudrehen und diese unschöne Szene zu vergessen.
„Hier“, sagte Josh da auch schon. Bevor ich antworten konnte, drückte er mir eine Tüte mit Pommes in die Hand.
„Für dich“, fügte er an und ließ bereits die erste Fritte seiner eigenen Tüte zwischen den Lippen verschwinden. Ich konnte sehen, wie sie dampfte, aber Josh schien das nichts auszumachen.
Ich wurde knallrot.
„D-Du musst doch nicht …“, stammelte ich. Warum kaufte er mir Pommes?! Ich wollte nicht von jemandem eingeladen werden, der so abgetragene Schuhe besaß! Er war vermutlich genauso arm wie ich. Machte diese Geste unser unverbindliches Treffen zu einem Date? Meine Gedanken überschlugen sich.
„Ach was“, lachte Josh. „Das ist doch kein Problem.“
Er überging meine Scham so selbstverständlich, dass ich spürte, wie sich dankbar meine Schultern entspannten. Wir mussten nicht darüber reden – das gefiel mir. Also schob ich mir ebenfalls einen der frittierten Kartoffelstreifen zwischen die Zähne. Ich bereute es sofort. Er war so glühend heiß, dass ich zu husten anfing.
Joshs Tüte war derweil bereits zu einem guten Drittel geleert.
„Wie machst du das?“, fragte ich völlig baff. „Die Dinger sind pures Magma!“
„Ich weiß nicht“, antwortete er nachdenklich. „Ich bin da wohl unempfindlich.“
Das war die Untertreibung schlechthin.
Wir wanderten den Bürgersteig entlang, während wir aßen. Ich hatte meine Scham noch immer nicht überwunden, denn es war tatsächlich das erste Mal, dass ich etwas mit einem Jungen unternahm. Allein. Und noch dazu war Josh einer, der mir gefiel. Es brachte nichts, das noch weiter zu leugnen. Stattdessen fragte ich mich, ob das wohl auf Gegenseitigkeit beruhte. Jeder Blick, dem ich ihm zuwarf, wurde prompt erwidert, und mittlerweile war ich sicher, dass er keine Freundin haben musste. Ich kannte zumindest kein Mädchen, dass ihrem Freund für solch ein Treffen mit einer anderen nicht den Kopf von den Schultern gerissen hätte. Ohne noch weiter darauf zu achten, ob Mr. Harrison uns beobachtete, genoss ich die Zeit mit Josh und nutzte sie, um ihn auszufragen.
„Wo wohnst du?“, erkundigte ich mich. „Kommst du aus Shatterlake?“
Josh nickte.
„Ja. Mein Haus ist am Rand der Stadt, nicht weit von der Bushaltestelle, an der ich dich aufgegabelt habe.“
Er zerknüllte die Papiertüte, in der seine Pommes gewesen waren, und warf sie mit einem geschickten Wurf in den nächsten Mülleimer.
„Dein Haus“, wiederholte ich. Josh kratzte sich an der Wange.
„Das ist eine lange Geschichte.“
Nun, ich mochte lange Geschichten. Und ich hatte Zeit. Zur Not würde ich die als Überstunden abarbeiten. Bevor ich jedoch nachhaken konnte, fiel mir eine weit wichtigere Frage ein.
„Gehst du zum Stadtfest?“
Ich wollte nicht aufdringlich klingen und schon gar nicht so, als würde ich ihn anbaggern. Ich musste nur wissen, ob ich vielleicht die Chance hatte, ihn dort zu treffen. Nur theoretisch.
Josh zögerte. Meine Enttäuschung darüber kam so schnell, dass sie mich selbst überraschte.
„Eigentlich nicht“, erwiderte er gedehnt.
„Magst du keine Jahrmärkte?“, riet ich. Ich musste mich bemühen, nicht allzu traurig zu klingen.
„Doch, schon“, druckste Josh herum. „Aber …“
„Aber?“
Ich hatte das Gefühl, ihm alles aus der Nase ziehen zu müssen. Derweil mied Josh meinen Blick und beobachtete den Bürgersteig, als gäbe es dort etwas außerordentlich Interessantes zu sehen.
„Ich kenne niemanden, mit dem ich hingehen könnte. Allein ist es langweilig.“
„Wir könnten zusammen gehen.“
Mein Vorschlag kam wie aus der Pistole geschossen und völlig ohne nachzudenken. Am liebsten hätte ich mir auf die Zunge gebissen. Hoffentlich verstand er das nicht falsch.
Doch. Er musste das einfach falsch verstehen! Es klang, als würde ich ihn anmachen. Ich war mir noch nie so plump vorgekommen. Gedanklich wünschte ich mir, in irgendeinem Erdloch zu versinken. Aber als ich widerwillig den Blick hob und seinem begegnete, sah ich in Joshs Augen nur Freude. Sie war nicht nur unsicher, sondern auch so ehrlich, dass sich plötzlich ein brennender Knoten in meiner Magengrube bildete. Nein, er verurteilte mich nicht. Im Gegenteil. Er freute sich darüber, dass ich ihn gefragt hatte.
„Gern“, gab Josh zurück. Sein Lächeln hinterließ in mir eine angenehme Zufriedenheit. „Sollen wir uns dort treffen? Oder soll ich dich abholen?“
Beim Gedanken daran glühte ich wie eine Signallampe.
„Nein“, antwortete ich schnell. Dieses Mal würde ich Josh nicht dem Beobachtungsposten namens Küchenfenster preisgeben. Mum konnte sich hinter den Orchideen viel zu gut verstecken, um nicht jedes Mal rauszugucken, wenn mich jemand abholte.
„Wir treffen uns lieber dort.“
Josh nickte. Einen Moment lang schien er nicht zu wissen, was er darauf antworten sollte, ehe ihm etwas einfiel.
„Oh“, machte er. „Hast du ein Telefon?“
Ich lachte.
„Natürlich“, entgegnete ich. Wer in unserem Alter hatte keines?
„Dann gebe ich dir meine Nummer, falls wir uns nicht finden“, ergänzte Josh schnell. Als er sein Handy aus der Tasche seiner Jeans zog, war die Bewegung fahrig und nervös. Ich sah es genau und erlaubte mir trotzdem nicht, es zu glauben. Ich konnte einfach nicht fassen, dass er wegen mir so nervös sein könnte.
Ich würde nie mehr schlafen.
„Wenn du nichts dagegen hast, heißt das“, fügte Josh an. Sein Ton wurde zurückhaltender – vermutlich, weil ich ihn anstarrte, anstatt mein eigenes Telefon hervorzuholen.
„Nein, natürlich nicht“, sagte ich schnell. Es dauerte nicht lange, Joshs Nummer zu speichern. Sein Name auf meiner Kontaktliste gab mir das seltsame Gefühl, eine Trophäe erjagt zu haben. Audrey würden die Augen aus dem Kopf fallen, wenn sie das sah. Ich war kein Mädchen, dass mit ihren männlichen Bekannten angab, aber Audrey war einfach ein zu gutes Opfer, um es nicht zu tun. Sie liebte verruchte Liebesgeschichten. Selbst, wenn es gar keine waren.
Beim Gedanken daran schwitzten meine Finger.
Ich hatte gar nicht bemerkt, wie weit wir inzwischen gewandert waren. Josh offenbar auch nicht, denn als ich ihm sein Telefon zurückgab, warf er zur Orientierung einen Blick umher. Ich ahnte schon, dass es Zeit wurde, meine ungerechtfertigte Pause langsam zu beenden und zurückzugehen. Zumindest fiel es mir nun nicht mehr so schwer, denn ich hatte ja Joshs Nummer.
„Hast du heute frei?“, wollte ich von ihm wissen, als wir umkehrten. Dabei aß ich an meinen Pommes. Die Aufregung hatte mir auf den Magen geschlagen und sie waren immer noch heiß genug, um ewig pusten zu müssen. Josh musste einen Magen aus Stahl haben.
„Nein. Ich habe heute nur etwas früher Feierabend gemacht, damit ich es noch in deinen Laden schaffe.“
„Oh“, piepste ich. Er hatte extra früher mit der Arbeit aufgehört, um mich zu besuchen? Es war eigenartig, wie frei er das zugab. Es klang nicht so, als wollte er damit angeben. Es klang nur … ehrlich.
„Ich freue mich, dass du vorbeigekommen bist“, erwiderte ich steif. „Arbeitest du jeden Tag so lange?“
Josh nickte.
„Meistens“, gab er zu. „Ich werde pro Stunde bezahlt, die ich arbeite. Deswegen versuche ich jeden Tag möglichst viele Stunden unterzubringen.“
„Verstehe.“
Er hatte wohl nicht sehr viel Freizeit. Dad wäre bestimmt begeistert, einen so fleißigen jungen Mann kennenzulernen.
Josh war gerade im Begriff, noch etwas anzuhängen, als sich plötzlich sein Hals streckte. Ich sah diese Geste nur aus dem Augenwinkel – so als hätte er etwas entdeckt und wollte einen genaueren Blick darauf werfen. Als ich mich zu ihm umwandte, hatte sich seine Energie völlig verändert. Auf einmal wirkte er starr, emotionslos und still, während er den Horizont fixierte. Ich beobachtete ihn, weil diese Anwandlung mich erschreckte. Was war denn los?
„Josh …?“, fragte ich. Nachdem er gut zehn Sekunden lang nicht reagiert hatte, huschte sein Blick endlich in meine Richtung.
Ich hatte keine Ahnung, was zwischen uns geschehen war, doch die Elektrizität schien verschwunden. Josh hatte etwas um sich herum aufgebaut, dass sich wie eine eisig kalte Wand anfühlte. Sie hielt mich auf Distanz und gab mir keine Chance mehr, dichter an ihn heranzukommen. Es war verrückt. Der Josh von eben und der, welcher nun vor mir stand, schienen völlig andere Personen zu sein.
„Tut mir leid“, sagte Josh gehetzt. Er stammelte, als müsste er sich seine Worte gut zurechtlegen.
„Ich muss gehen. Ich habe … etwas vergessen.“
„Was?“, fragte ich. Weniger, um Details zu erfahren, sondern einfach aus Verwirrung. Währenddessen hatte Josh bereits kehrtgemacht und eilte davon, ohne zu antworten. Ich brauchte nicht lange, um mich verstört nach ihm umzudrehen, doch da war er schon hinter einer Ecke verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben.
Es dauerte, bis ich mich wieder bewegen konnte. Ich war so irritiert und vor den Kopf gestoßen, dass ich meine Gedanken sortieren musste. Weil sich das als unmöglich offenbarte, drehte ich schließlich den Kopf. Es war purer Instinkt, der mich dazu anleitete, den Horizont abzusuchen.
Ich behielt recht. Am anderen Ende des Bürgersteiges, etwa fünfzehn Meter von mir entfernt, lief eine Gruppe von jungen Männern. Sie schienen Spaß zu haben und schubsten sich gegenseitig. Es sah grob aus, auch wenn ich sie lachen hören konnte. Dass es dieselben waren, mit denen Josh sich vor zwei Wochen angelegt hatte, wurde mir erst kurz darauf klar.
Von einer Sekunde auf die andere fühlte ich mich krank. Der Klos in meinem Magen verwandelte sich in ein tonnenschweres Gewicht, das Übelkeit in mir aufsteigen ließ, während ich die Rücken der Typen beobachtete. Dabei stampfte ich beinahe schon automatisch zum Mülleimer.
Lügner, dachte ich. Meine dumpfe Vermutung bei unserer ersten Begegnung war richtig gewesen.
Josh hatte Probleme mit diesen Typen. Deswegen war er eben geflohen, als er sie erkannt hatte. Als ich darüber nachdachte, spürte ich so viel ungebändigte Wut in mir aufsteigen, dass ich die restlichen Pommes einfach wegwarf. Mir war der Hunger vergangen. Was für Probleme hatte er? Streit mit einer Gang? Probleme mit Drogen? Was ich mir auch ausmalte, es machte meine Enttäuschung nicht besser. Stattdessen eilte ich zurück zu Harrison Sports und fühlte mich immer verbitterter, je öfter ich an Joshs Telefonnummer in meinem Handy dachte. Ich wusste, dass man sich mit solchen Leuten nicht einlassen durfte. Und es ärgerte mich noch mehr, dass es mir so naheging.
Ich mochte ihn. Aber das tat jetzt wohl nichts mehr zur Sache.
„Wer ist der junge Mann?“, wollte Mr. Harrison wissen, nachdem ich zurück in den Laden getreten war. Ich hatte seine Stimme noch nie so sanft erlebt. Er fragte mich, als wäre ich seine Tochter, die gerade erwachsen wurde.
„Niemand“, erwiderte ich und die Verbitterung in meiner Stimme sorgte dafür, dass er sofort schwieg.
„Nur ein riesengroßer Idiot.“
Kapitel 4
In der folgenden Zeit meldete ich mich nicht bei Josh, obwohl ich seine Nummer hatte. Nicht nur, weil ich mich nicht aufdrängen wollte, sondern auch, weil ich beleidigt war. Er hätte mir zumindest einen Hinweis geben können. Irgendetwas, das darauf schließen ließ, dass er mir die Sache erklären wollte. Aber er war einfach davongerauscht und hatte mich stehenlassen. Ich war noch nie von einem Mann enttäuscht worden und fest entschlossen, das nicht zur Gewohnheit werden zu lassen. Aus diesem Grund hatte ich – ob ich wollte oder nicht – mit Josh abgeschlossen. Nur seine Nummer befand sich noch immer auf meinem Handy. Für den Fall, dass er doch noch mit mir reden würde.
Ich wartete einen Tag und dann eine Woche, in der ich viel zu oft an ihn dachte. Leider schien das nicht auf Gegenseitigkeit zu beruhen, denn das Telefon blieb stumm.
Man hatte mich abserviert. Ich konnte mich nicht daran erinnern, mich jemals so schlecht gefühlt zu haben.
„Mach dir nichts draus, Ruby.“
Audrey war immer da, wenn ich sie brauchte. Sie mochte mit ihrer wilden Art manchmal übers Ziel hinausschießen, doch das änderte nichts daran, dass sie meine beste Freundin war. Ich hatte mich an diesem Abend selbst bei ihr eingeladen, um mich umfassend trösten zu lassen. Und weil ich Liebeskummer hatte, war sogar Layla gekommen.
„Ich habe keinen Liebeskummer“, sagte ich schnippisch und hielt mich an dem Kübel Eis mit Karamellsoße fest, den ich bereits zur Hälfte geleert hatte. Ich mochte dünn sein, aber ich konnte sehr viel essen. Zumindest, wenn es mich nicht kümmerte, ob mir danach übel wurde.
„Das musst du ja auch nicht“, erwiderte Layla sanft und tätschelte meine Schulter. Sie trug ihren Pyjama, weil sie hier übernachten würde, und hatte ihr kastanienbraunes Haar zusammengeflochten. Audreys Mutter war mal wieder auf Geschäftsreise, deswegen hatten wir das Haus für uns.
„Aber es tut weh, wenn man so stehengelassen wird. Da wäre jeder traurig“, fügte Layla an. Sie fand immer die richtigen Worte für das, was wir nicht ausdrücken konnten. Ich sagte ihr immer, sie solle Autor werden oder sowas.
„Ja“, antwortete ich zerknirscht.
So wenig ich es auch zugeben wollte, so sehr hatte Joshs Verhalten mich getroffen. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich jemandem begegnet, mit dem ich mir mehr vorstellen konnte, und er verhielt sich ausgerechnet so. Es tat weh, mich an die intensiven Blicke zu erinnern, die wir miteinander getauscht hatten. Aber ich war auch eine Frau und deswegen fiel es mir leicht, mich schlecht zu machen. Ich war zu jung für ihn und vielleicht auch nicht hübsch genug. Oder möglicherweise hatte er einfach so schlimmen Ärger am Hals, dass ihm in letzter Sekunde eingefallen war, wie leichtsinnig eine Freundin wäre.
Was es auch war, es ließ mich den Löffel mit all meiner Macht tiefer in das Eis tauchen. Nimm das, Josh!
Ich hatte es noch nie zuvor ausprobiert und musste zugeben, dass die Mädchenmagazine recht hatten – es gab nichts Heilsameres als einen Abend mit zwei guten Freundinnen, kiloweise Eis und einem Gruselfilm. Bisher waren wir zu sehr damit beschäftigt gewesen, Josh zu verurteilen. Weil es mir langsam besserging, konnten wir nun auch auf den Film achten. Es war ein alter Schinken aus der Videothek, in dem schlecht gemachte Werwölfe Soldaten fraßen. Genau die richtige Unterhaltung, um mit einem Auge hinzuschauen und dabei nach Herzenslust zu tratschen.
„Habt ihr gesehen, was Tiffany gestern wieder anhatte?“, wechselte Layla irgendwann das Thema. „Die Pailletten auf ihrem Oberteil waren augenkrebserregend.“
Layla mochte die Gefühlvolle von uns sein. Sie war allerdings auch die größte Klatschtante.
Audrey schlug vor Freunde die Beine übereinander und biss in einen Schokoladenhasen, der noch von Ostern übriggeblieben war.
„Die hat doch sowieso keinen Geschmack“, knurrte sie. Ihre Worte brachten mich zum Lächeln, denn ich kannte die Geschichte hinter Audreys Missgunst. Tiffany war ein Mädchen aus unserer Klasse, das vor vielen Jahren einmal Audreys beste Freundin gewesen war. Mit dem Älterwerden hatte sie allerdings eine kleine Clique um sich geschart und Audrey irgendwann kurzerhand verstoßen. Seitdem hatten wir drei uns gegen sie verbündet und unsererseits eine Clique gegründet, um Tiffany die Stirn zu bieten. Es war nicht so, dass wir uns offensichtlich bekriegten. Dafür waren wir zu alt. Aber Tiffany hatte mir vor zwei Jahren tatsächlich einmal gesagt, dass ich ihre abgetragene Kleidung aufheben würde – und damit natürlich Audrey gemeint. Das war etwas, das ich ihr nie verzeihen würde. Und mit Nie meinte ich auch Nie, denn ich war eine Frau. An solche Schändlichkeiten erinnerten wir uns noch nach einhundert Jahren.
„Ich bin mal gespannt, mit welchem Typen sie dieses Jahr wieder beim Stadtfest aufkreuzt“, überlegte Layla, während sie an ihrer Cola nippte. „Die wechselt die ja wie Unterwäsche.“
Audrey prustete, aber mir versetzte dieser Kommentar einen schmerzhaften Stich in die Magengrube. Er ließ mich daran denken, dass ich mit meiner Begleitung beim Stadtfest nicht mehr zu rechnen brauchte. Es war so verdammt ätzend, verletzt zu sein.
„Kein Wunder“, meinte Audrey. „Wenn die Typen merken, was für ein Ungeheuer sie sich da an Land gezogen haben, werfen sie es schnell wieder ins Wasser.“
Darüber kicherten wir zu dritt.
Als es kurz nach zehn war, streckte ich schließlich meinen Rücken.
„So, Mädels“, seufzte ich. „Es wird Zeit für mich.“
Layla und Audrey sahen untröstlich aus.
„Bist du sicher, dass du nicht noch bleiben kannst?“, fragte Audrey. Ihre blonden Strähnen hingen ihr wild ins Gesicht, weil sie gerade dabei war, sich die Haare zu kämmen.
„Leider nicht“, gab ich zurück und schob mein Telefon in die Tasche meiner Jeans. „Die Hunde müssen bestimmt aufs Klo und sind schon am Verhungern.“
Es gefiel mir genauso wenig wie meinen Freundinnen, die Nacht allein zu Hause verbringen zu müssen. Aber Mum und Dad waren vormittags in den Wagen meiner Mutter gesprungen, um zu einem Konzert zu fahren. Irgendeine von diesen 70ger Jahre Bands, die Eltern gerne hörten. Weil sie dort ein Hotelzimmer gemietet hatten, würden sie erst Sonntagabend zurück sein, und ich hatte meinen ganzen Kummer zwei Tage lang für mich. Irgendjemand musste ja auf die Hunde und auf die Pferde aufpassen. Ich hatte zumindest die beiden Fleischfresser unter ihnen schon zu lange alleingelassen.
„Kommt ihr morgen vorbei?“, wollte ich wissen.
„Na klar!“, versprach Audrey mit wirrem Haar. „Wir verlagern die Party zu dir.“
Darüber lachte ich.
„Okay. Ich habe vier Tüten Chips im Haus. Die müssen geleert werden.“
„Verlass dich auf uns“, sagte Layla und drückte mich. „Und mach dir nicht so viele Gedanken.“
„Ich doch nicht“, log ich. „Das ist schon vergessen.“
Als die Tür von Audreys Haus hinter mir zufiel, blickte ich kurz in den Himmel. Die Nacht war sternenklar und dieses Mal gab es keine Spur von Regen, der mir den Heimweg zur Hölle machen würde. Dafür strahlte ein wunderschöner, blassweißer Mond vom Himmel. Er war so hell, dass er selbst die dünn gesäten Straßenlaternen unnötig machte, denn er leuchtete meinen Weg aus wie eine Taschenlampe. Die Luft war kühl, deswegen schob ich die Nase in den Kragen meiner Jacke und eilte Richtung Bushaltestelle.
Ich hatte es schon wieder getan. Anstatt an den Rückweg zu denken, der vor mir lag, war ich wie so oft zuvor der Versuchung erlegen, mir einen Gruselfilm anzuschauen. Ich wusste nicht, wieso es Audrey, Layla und mich immer zu denen zog. Aber die beiden mussten danach ja auch nicht im Dunkeln zu Fuß zur Bushaltestelle. Ich verbot mir, den Wald um mich herum allzu sehr im Auge zu behalten, während ich mit schnellen Schritten den Bürgersteig entlangwanderte. Stattdessen dachte ich lieber an etwas anderes. Zum Beispiel an die Hunde, die schon sehnsüchtig auf ihr Abendessen warteten, an die Graduation und die Hausaufgaben, um die ich mich bis Montag noch kümmern musste.
Es war purer Zufall, dass mir dabei irgendwann das Auto am Straßenrand auffiel. Es ließ mich die Stirn runzeln, denn wir befanden uns schon lange nicht mehr im dichteren Wohngebiet. Ich hatte die Häuser mittlerweile hinter mir gelassen, weswegen sich das Auto nur noch mit mir und unzähligen Bäumen die Gegend teilte. Genau deswegen ließ der Anblick des Wagens Beklommenheit in mir aufsteigen.
Dad hatte mich als junges Mädchen in einen Selbstverteidigungskurs gesteckt. Abgesehen von saftigen Tritten zwischen die Beine hatten wir dort gelernt, uns deeskalierend zu verhalten. Das bedeutete, nicht allein auf große Gruppen von Männern zuzugehen, wenn man ein schlechtes Gefühl bekam und eben solche Sachen. Ich wusste nicht wieso, aber dieses einsame Auto weckte eine Missgunst in mir, die sich hartnäckig als Klos in meinem Hals bemerkbar machte. Dort parkte niemand einfach so.
Reflexartig warf ich einen Blick nach hinten. Folgte mir jemand? Ich konnte niemanden entdecken, also zwang ich mich, mich wieder zu entspannen. Ich mochte allein sein, aber das hier war Kanada. Und Shatterlake war nicht gerade der Ort mit der höchsten Verbrechensrate des Landes. Vermutlich hatte einfach nur ein junges Paar sein Auto geparkt, um sich ein paar Stunden Zweisamkeit zu erkaufen. Mit dieser Begründung ging es mir schon viel besser. Ich nickte für mich selbst und hastete schließlich vorbei.
Der Auspuff dampfte noch, so als wäre das Auto gerade erst zum Stillstand gekommen. Ich hatte es kaum fünf Meter hinter mir gelassen, als ich das Klappen der Autotür hörte. Jeder Muskel in meinem Körper spannte sich in diesem Moment an. Jede Alarmglocke schrillte und stellte meine Nackenhaare auf, im Falle der Unbekannte mir hinterherzurennen begann. Ich wusste, ich musste flüchten, und suchte unbewusst bereits nach einem Ausweg. Zurück zu Audrey und an ihm vorbei? Weiter zur verlassenen Haltestelle? Ich spürte schon den Schweiß auf meine Stirn treten, als mir bewusstwurde, dass der Mann mir nicht folgte. Seine Umrisse machten offensichtlich, dass es keine Frau sein konnte. Statt sich fortzubewegen, kauerte er an seinem Fahrzeug, stützte sich mit einem Arm auf der Motorhaube ab und krümmte sich.
Oh nein, dachte ich. Auch das noch! Der Typ musste völlig betrunken sein und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Bevor ich noch Zeuge davon wurde, wie er den Whiskey am Waldrand wieder an die frische Luft beförderte, wollte ich mich wieder umdrehen. Es war derselbe Moment, in welcher der Mann sich aufrichtete und das Licht der Straßenlaterne auf seine Züge fiel.
Ich erstarrte noch in meiner Bewegung zur Salzsäule, denn es handelte sich um Josh.
Er sah unglaublich krank aus. Zumindest, soweit ich ihn erkennen konnte. Es sah aus, als versuchte er zu gehen, doch er musste sich immer wieder an seinem Auto abstützen, um nicht auf die Knie zu sinken. Mit dem durchgeschwitzten Haar und seiner schmutzigen Kleidung wirkte er, als hätte er sich im Dreck gewälzt. Außerdem fiel mir auf, dass er keine Schuhe trug.
Der Anblick versetzte mir einen schmerzhaften Stich ins Herz. Das konnte unmöglich der aufrechte, junge Mann sein, der noch vor einer Woche mit mir Pommes gegessen hatte. Was war mit ihm geschehen? Ich erkannte ihn kaum wieder. Plötzlich wirkte er völlig anders. Er schien kaum mehr Herr seiner Sinne zu sein.
Einige Minuten lang stand ich nur da und starrte auf das Bild, das sich mir bot. Josh krümmte immer wieder seinen Rücken und packte sich an die Schulter, als hätte er große Schmerzen. Die kalte Nachtluft trug das leise Stöhnen auf seinen Lippen bis zu mir, mit dem er sich schließlich abstieß. Er torkelte Richtung Wald, mit unrhythmischen, unsicheren Schritten, und ich erwartete, ihn jede Sekunde fallen zu sehen. Einen Herzschlag später war er in der Dunkelheit verschwunden.
Ich wusste nicht, wie lange ich wie angewurzelt auf der Stelle verharrte. Wie auch schon zuvor umgaben mich jetzt nur noch dunkle Baumwipfel und kalte Streifen aus Mondlicht, die der Asphalt in meine Augen warf. Keine Stimme hallte über die einsame Straße. Kein Auto war in Sicht. Es erschien mir völlig unreal, Josh schon wieder zufällig über den Weg gelaufen zu sein. Dieses Mal fühlte es sich überhaupt nicht mehr wie eine glückliche Fügung des Schicksals an.
Viel mehr war mir, als hätte mir irgendetwas eine Warnung zukommen lassen, mich nicht weiter mit ihm abzugeben.
Sein Verhalten von eben hatte mich bis auf die Knochen durchweicht. Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals zuvor so gefroren zu haben. Und das lag nicht an der kühlen Böe, die der Wind unter meine Jacke trieb. Tausend Gedanken rotierten in meinem Kopf, alle durchweg beschäftigt mit Josh, und ich ertappte mich dabei, mich um ihn zu sorgen.
Er ist nur betrunken.
Dieser Satz war einfach und erklärte alles. Ich wiederholte ihn immer und immer wieder, doch er vermochte in meinem Inneren nicht zu wirken. So sehr ich mich auch bemühte, ich konnte den Josh von neulich und diesen hier nicht miteinander in Einklang bringen. Es schienen zwei verschiedene Personen zu sein – ein Zwillingspaar, das sich charakterlich von Grund auf unterschied. Anstatt mich besser zu fühlen, sorgte ich mich nun noch mehr.
War er drogenabhängig? Ich wusste nicht, wie sich Menschen benahmen, die ihre nächste Dosis nicht bekommen hatten. Ich wusste nur, dass sich alles in mir davor sträubte, Josh überhaupt in diese Schublade zu stecken. Stattdessen dachte ich an die ehrlichen Blicke, die wir miteinander getauscht hatten, wie verantwortungsbewusst Josh Auto fuhr und daran, wie reflexartig er letzte Woche geflüchtet war.
Ja, dachte ich. Da musste mehr dahinterstecken.
Nun sah ich keine Drogen und auch keinen Alkohol mehr – ich sah die drohenden Schatten jener gewaltbereiten Männer, mit denen Josh sich angelegt hatte. Mein ungutes Gefühl bezüglich seiner Antwort vor zwei Wochen meldete sich wieder in meiner Magengegend. Wer wusste schon, woher er sie kannte?
Und ob sie ihn nicht schließlich erwischt hatten.
Mit einem Schlag standen mir die Haare zu Berge. Ich hatte schon genügend ferngesehen, um all die Geschichten über solche Streitigkeiten zu kennen. Was, wenn sie Josh abgepasst und zusammengeschlagen hatten?
Oder wenn er angeschossen worden war?
Die Art, wie er eben seine Schulter umklammert hatte, bereitete mir eine Gänsehaut. Ohne noch weiter darüber nachzudenken, was letztlich der Grund für sein seltsames Benehmen war, warf ich meine Vorsicht über Bord und setzte mich in Bewegung, um ihm zu folgen.
„Josh!“
Wenn ich es nicht war, der ihm heute Nacht half, dann würde es sicher niemand tun.
Er schien den Verstand verloren zu haben.
Anstatt in die Innenstadt zu eilen, um so schnell wie möglich Hilfe zu bekommen, schleppte Josh sich immer tiefer in den Wald. Ich konnte seine dunklen Umrisse sehen, weil sich der Mond so hartnäckig durch die wenigen Baumkronen kämpfte. Wenn er das Dickicht erreichte, konnte ich ihn jederzeit aus den Augen verlieren. Ich lief so schnell ich konnte, ohne mir im Gestrüpp die Beine zu brechen. Dabei rief ich immer wieder seinen Namen.
„Josh! Warte!“
Aber Josh reagierte überhaupt nicht auf mich. Er schien mich nicht zu hören. Er humpelte nur immer weiter und sah zwischendurch aus, als würde er jeden Augenblick zusammenbrechen. Ihn so zu sehen schmerzte mich weit mehr, als in diesem Moment gut für mich gewesen wäre. Eine Zeit lang glaubte ich, die Nerven zu verlieren und suchte im dunklen Gras nach Blutspuren. Was, wenn er ohnmächtig wurde und ich ihn nicht zum Auto tragen konnte? Er beeilte sich so sehr, dass ich nicht einmal die Gelegenheit bekam, mein Handy zu zücken und einen Krankenwagen zu rufen. Ich war vollauf damit beschäftigt, ihm zu folgen.
„Josh!“
Irgendwann endete seine Flucht so unvermittelt sie begonnen hatte. Zwischen zwei Schritten blieb er auf einmal stehen, streckte sich zu voller Größe und starrte in den Abendhimmel. Damit jagte er mir eine Heidenangst ein, aber ich hatte keine Zeit dafür, am Waldboden festzuwachsen. Stattdessen preschte ich nach vorn, meine Chance vor Augen, und berührte nun endlich seine Schulter.
„Josh“, keuchte ich. Wir waren weiter gelaufen, als ich bemerkt hatte. „Warte.“
Als er meine Berührung spürte, verkrampfte sich sein Körper. Er erstarrte so abrupt, dass ich das Flimmern seiner Muskulatur in meinen Fingern spürte. Seine Haut war kochend heiß und strahlte wie ein Hochofen, obwohl er ein T-Shirt trug – eine fiebrige Hitze, die ihn völlig durchweicht zu haben schien. Als er sich zu mir umdrehte, war seine Bewegung fahrig und schlug meine Hand von seiner Schulter. Viel mehr als das entsetzte mich jedoch der erste Blick in sein Gesicht.
Ich hatte noch nie in meinem Leben ein Bild solchen Elends gesehen. Joshs Haut war leichenblass und gab seinem nassen Haar den Kontrast von Teer. Der Schweiß perlte ihm von der Stirn, als hätte er gerade einen Marathon hinter sich gebracht, und seine dunkel untermalten Augen waren so glasig wie bei einem Fieberschub. Sein Anblick löschte binnen einer Sekunde jeden sinnvollen Gedanken aus meinem Kopf. Selbst der hastige Atem auf meinen Lippen erstarb.
Was war mit ihm geschehen?
Er schien einen Moment zu brauchen, um mich überhaupt zu erkennen. Dann weiteten sich seine wässrigen Augen und jegliche Miene wich aus seinem Gesicht. Es war ein Bild blanken Entsetzens.
„Ruby“, flüsterte er. Er sprach nicht, sondern würgte seine Worte hervor.
„Ja“, gab ich zurück. Meine Lippen zitterten. „Du musst zum Arzt.“
Es dauerte wieder eine Sekunde, ehe sein Verstand hinterherkam. Ich konnte sehen, wie es in ihm arbeitete. Derweil fürchtete ich, ihn gleich vor mir zusammenbrechen zu sehen. Meine Finger zitterten vor Angst.
„Nein“, gab er zurück. „Ruby …“
Er rang nach Luft.
„Geh!“, rief er dann. Sein Ton hallte eindringlich durch die Baumkronen. Für den Bruchteil einer Sekunde hätte ich seiner Anweisung beinahe Folge geleistet. Alles in mir forderte mich dazu auf, auf der Stelle zu flüchten. Ich vernahm das dumpfe Gefühl einer Gefahr in meinem Nacken. Eines, das ich schon einmal wahrgenommen hatte. Doch ich konnte es nicht interpretieren. Ich sah nur einen elenden Josh, der dringend meine Hilfe brauchte. Wenn er wirklich angeschossen worden war, stand sein Leben auf dem Spiel.
„Josh, bitte“, flehte ich. Meine Verzweiflung raubte mir jegliche Überzeugungskraft. „Du brauchst Hilfe! Ich bringe dich …-“
„Ruby.“
Er fiel mir ins Wort. Mein Name auf seinen Lippen verwandelte dabei sich in ein dunkles Grollen. Es kam aus seiner Kehle und erfüllte seinen Brustkorb wie das Knurren eines Bären. Mir stockte der Atem. Nun erkannte ich plötzlich die Finsternis, die Josh umgab. Sie schlug in Wogen um seinen Körper – wie die Wellen eines düsteren Meeres, die sich über seinem Kopf brachen – und ohne einen weiteren Gedanken stolperte ich auf Abstand. Meine Beine taten es von allein. Joshs gesamte Umgebung flammte vor Hitze und brannte in meinen Lungen.
„Lauf!“
Während Josh das letzte Wort an diesem Abend über seine Lippen brachte, hob er den Arm. Gleich darauf platzten seine Schultern und bedeckten ihn mit Fell.
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Wird Ruby eine Beziehung zu Josh aufbauen können? Und was lauert unter seiner Haut? Erfahre es in 26 weiteren, spannenden Kapiteln!
Deine Ellen Hunter / Virginia E. Gray
Tag der Veröffentlichung: 15.05.2018
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