Repeat
>> Ich werde warten auf dich... auch wenn du nicht mehr kommst...<<
Die Regenwolken hingen schwer in der Vollmondnacht über dem dunklen Himmel Tokios, als sich ein junges Mädchen in mitten der menschenleeren Straßen, auf dem nassen Asphalt wiederfand.
Kalter Asphalt, der ihren Körper umgab, der Geschmack von Blut in ihrem Mund, das brennen von Verletzungen, die ihren Körper zeichneten und dieser eine Gedanken
>>Was ist geschehen...?<<
-1- First
Sie richtete sich langsam auf und sah sich um. Noch immer umgab Lynn der dunkle Dachboden, auf den sie geflüchtet war, nachdem einige Soldaten sie verfolgt hatten. Es war wieder Vollmond und sie hatte von jener Nacht vor einem Jahr geträumt, an der sie sich in den menschenleeren Straßen Tokios wiedergefunden hatte. >>Ich sollte schauen, ob die Soldaten noch in der Nähe sind...<< Dachte Lynn, und bemühte sich aufzustehen. Das Holz auf dem sie gelegen hatte, war von ihren nassen Sachen durchweicht, ein modriger Geruch hing schwer in der Luft und vermischte sich mit der Feuchtigkeit des Dachbodens. Lynn`s Braune Haare klebten ihr im Gesicht, und sie strich sie beiseite, während sie aus einem der Fenster, wieder hinaus auf das Dach kletterte, durch das sie auf den Dachboden gelangt war. Sie strengte ihre Augen an um in der Dunkelheit etwas auf der Straße unter sich sehen zu können, aber Niemand war mehr dort. Der Mond stand hell über der Stadt und es war nichts zu hören, außer Schüsse in der Ferne und der Wind, der zwischen den Häusern umher pfiff. >>... ich habe mal wieder Glück gehabt...<< Dachte sie erleichtert und ließ sich von den Ziegeln des Daches, hinunter in eine Gasse, fallen. Ihre Schritte waren kaum hörbar, als sie an einer Mauer entlang schlich. >>...ich muss hier verschwinden...<< Dachte sie. Ihre Muskeln waren angespannt, sie traute sich kaum zu atmen, aber sie wusste, dass sie von diesem Ort verschwinden müsste, denn ihre Verfolger waren nicht weit.
Erneut drangen Schüsse durch die engen Straßen, vom anderen Ende der Stadt her. Lynn zuckte zusammen, sah sich um, und rannte schließlich in die Dunkelheit.
„Was meinst du, sollten wir Scharfschützen am Komplex D positionieren?“ Fragte Tetsuya ungeduldig, und strich sich nervös mit der Hand durch seine braunen Haare. Sein gegenüber schüttelte den Kopf. „Ich denke nicht, dass wir mit vielen Wachen zu rechnen haben.“ Entgegnete ihm ein grauhaariger, wesentlich älterer Mann, während er einige Schusswaffen, in einen schwarzen Lieferwagen packte. „Dakon?“ Fragte Tetsuya, und sah ihn ungeduldig an. Dakon ließ von den Waffen ab, und betrachtete Tetsuya ebenfalls für einige Sekunden nachdenklich, ehe sich seine alten Gesichtszüge wieder entspannten: „Mach dir keine Sorgen, bisher war jede unserer Befreiungsaktionen erfolgreich.“ sagte er schließlich kühl, mit dunkler Stimme, und widmete sich wieder einigen Gewehren. Tetsuya nickte, noch immer beunruhigt, dass in dieser Nacht etwas fehlschlagen könnte.
Lynn saß auf einem Vordach, und sah dem letzten Licht hinterher, welches die Dunkelheit am Horizont allmählich verschlang. Sie war in der letzten Nacht noch gut durch gekommen, es gab keine weiteren Zwischenfälle mehr mit Soldaten.
Seit einem Jahr lebte sie nun so und sie hatte sich damit arrangiert, Nachts mit Einbrüchen ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Es war nicht einfach, aber sie kam nur selten in Schwierigkeiten. Dem Kontakt zu anderen Menschen war sie jedoch seither immer mehr ausgewichen. Es war zu gefährlich. Sie hatte keine Ahnung, was vor einem Jahr geschehen war. Sie konnte sich an nichts erinnern, was vor dieser Nacht geschehen war, lediglich die Sachen die sie am Leib trug, beinhalteten einen Sektorpass, mit ihrem Foto und dem Namen „Lynn Sakahashy“ . Wen hätte sie fragen sollen, wen hätte sie um Hilfe bitten sollen... brauchte sie überhaupt Hilfe?
Lynn atmete kräftig in die Dunkelheit aus, und stand auf. Die Sonne war nun komplett untergegangen. Vor ihr erstreckte sich die dunkle Stadt. Nach Einbruch der Dunkelheit sollte Niemand mehr auf der Straße sein, das hatte ihr der Arzt gesagt, den sie einige Tage nach ihrem Erwachen, wegen einiger Verletzungen aufgesucht hatte. Er hatte ihr auch nahegelegt, sich einen Job zu suchen, und eine Unterkunft, da Nachts in der Stadt eine Ausgangssperre verhängt wurde, aufgrund der hohen Kriminalitätsrate. Es wäre kein guter Ort für ein Mädchen, hatte er gesagt. Lynn hatte sich zwei Tage darauf einen Job in einem Kurierdienst gesucht. Sie war nur etwa einen Monat dort gewesen, und kam mit einigen Leuten in Kontakt, aber als Soldaten eines Tages nach ihr fragten, und das Unternehmen durchsuchen ließen, hielt sie es für besser nicht mehr dort aufzutauchen. Sie brauchte nicht lange um festzustellen, dass jemand nach ihr suchte. Der Doktor, den sie zweimal besucht hatte, war einige Wochen später tot aufgefunden worden und Lynn`s Patientenakte war nirgends mehr zu finden gewesen. Sie war, nachdem sie davon gehört hatte, Nachts, nochmals zu seiner Praxis zurück gekehrt, um ihre Unterlagen zu holen, aber sie hatte nichts finden können. Irgendjemand suchte sie, aber sie wusste nicht wer. Dieser Umstand zwang sie schließlich dazu, sich in einem der leerstehenden Häuser einzurichten. Es gab viele, die das taten, aber es war illegal. Letztendlich verdiente sie das, was sie zum leben brauchte mit ihren nächtlichen Einbrüchen. Der Job, den sie in dem Kurrierdienst hatte, trug Nützliches dazu bei, denn dadurch kannte sie die Stadt wie ihre Westentasche.
„Sir, wir fangen in einer Stunde mit der Operation an!“ Sagte ein junger Mann zu Dakon, der vor drei geladenen Transportern stand und in die Ferne blickte.
„Alles wie besprochen, gehen Sie die Pläne und die Positionierungen noch einmal durch.“ antwortete Dakon kühl, und zog an seiner Zigarette, ehe er seinen Mantel auszog, und seine Waffe nachlud.
„Aber Sir, leiten sie heute nicht die Operation?“ Fragte der junge Mann verwirrt und nahm Dakon seine restlichen Waffen ab. Er zog nochmals an der Zigarette und lies den Qualm gelassen aus seiner Nase strömen: „Tetsuya wird sich heute darum kümmern, ich habe noch etwas zu erledigen.“ erwiderte Dakon.
Lynn saß auf ihrem schwarzen Motorrad und der Wind blies ihr durch die Haare, als sie durch eine enge Gasse raste, und am Ende zum stehen kam. Sie hatte schnell einsehen müssen, dass die Wege durch die Stadt zu Fuß viel zu gefährlich waren, woraufhin sie sich bei einem Einbruch ein Motorrad besorgt hatte. Schon oft war sie so den Soldaten und der Sektorpolizei entkommen.
>>...dann hoffen wir mal, das heute alles gut geht...<< Dachte Lynn nachdem sie abgestiegen war. Die Umgebung war ruhig und sie atmete tief ein, ehe sie Anlauf nahm und eine Mauer am Ende der Gasse erklimmte. Es war trocken in dieser Nacht, aber kühl, wie fast das ganze letzte Jahr über. Der Doktor hatte ihr erzählt, dass es früher wärmer gewesen wäre, aber im laufe der Jahre, die Temperaturen so abgefallen seien, dass man meinen könne, es wäre ständig Herbst. Es gab Augenblicke in denen Lynn versuchte sich an etwas zu erinnern, etwas das vor jener Nacht geschehen war, aber ihr blieben oft nur verwirrenden Fragmente, die sie nicht zuordnen konnte. Es war, als hätte sie vorher nie gelebt, als wäre da nichts, nur tiefes Schwarz.
Innerhalb von wenigen Sekunden, hatte Lynn das Schloss einer Haustür, die in ein Hochhaus im Bankenviertel führte, geknackt. Sie betrat die riesige Eingangshalle deren Foyer mit roten Teppichen ausgelegt war. An der Anmeldung war Niemand zu sehen. Ein Licht brannte schwach neben dem Aufzug, und es roch nach neuer Farbe. Ihre lautlosen Schritte führten Lynn die ersten beiden Treppen hinauf, in die erste Etage. Der gesamte Komplex schien wie ausgestorben. Es waren weder Stimmen, noch anderweitige Geräusche wahrzunehmen. >>...vielleicht wohnt hier Niemand mehr...vielleicht wird das Haus gerade renoviert...<< Lynn dachte darüber nach kehrt zu machen und ihr Glück woanders zu versuchen, entschied sich jedoch, noch drei Etagen hoch zu laufen.
Als sie angekommen war, erstrecke sich vor ihr lediglich ein langer Flur, und sechs Türen. Lynn schlich lautlos zur ersten Tür, und lauschte einen Moment. Es war rein gar nichts zu hören, und sie zückte wieder ein kleines Messer, und begann sich am Schloss zu schaffen zu machen. Nach einigen Sekunden ging die Tür nach innen auf, und Lynn schlich in das große Apartment. Es brannte kein Licht, und absolute Stille lag in der Luft. Es brauchte kein Licht, damit Lynn etwas sehen konnte. Ihre Augen waren ausgezeichnet, der Doktor hatte gesagt, sie wäre nicht normal, und hätte einige außerordentliche Fähigkeiten, die er noch nie zuvor gesehen hätte, aber Lynn konnte nicht verstehen wovon er sprach.
Auf einer Kommode konnte sie eine große, silberne Armbanduhr liegen sehen, und sie nahm sie freudig in die Hand. >>...die kann ich locker für 3000 verkaufen...<< Dachte sie, und steckte sie ein. Für einen Moment blieb ihr die Luft weg, denn sie glaubte etwas gehört zu haben, bemerkte aber, dass es nur ein Vorhang war, der im Wind des offene Fensters wehte. Es hatte wieder begonnen zu regnen. >>...na toll...<< Dachte Lynn, und schloss ihre Schwarze Weste, als sie eine große Schublade, an einer der Kommoden bemerkte, die mit einem kleinen Schloss versehen war. Ihre Augen blitzten auf, und sie zückte ihr Messer. >>Wollen wir mal sehen, was es da wert ist, eingeschlossen zu werden.<< Es dauerte einen Moment, ehe sie das Schloss in der Hand hielt, und die Schublade erwartungsvoll aufzog. Darin befand sich ein kleiner Umschlag. Sie fasste hinein, und hielt ein Bündel Scheine in der Hand, sowie einige Wertpapiere. >>Die Scheine reichen mir schon...<< Dachte sie heiter, und ließ das Geld ebenfalls in einer ihrer Westentaschen verschwinden. Sie wollte weiter suchen, als sie von draußen Schüsse vernahm und zum Fenster rannte, um einen Blick auf die Straße werfen zu können, auf der einige Soldaten sich versammelt hatten. >>...Mist...<< Dachte Lynn, als sie aber schnell bemerkte, dass ein Oberkommandant den anderen Befehle gab und diese dann in verschiedene Richtungen, weg von dem Komplex, davon liefen. Der Regen war stärker geworden und Lynn entschied sich noch einige Minuten zu warten, ehe sie sich wieder auf den Heimweg machen würde.
„Sir, hier Team Delta, wir haben den Komplex umstellt und die Wachen eliminiert, warten auf weitere Anweisungen!“ Ertönte eine männliche Stimme aus Tetsuya`s Funkgerät, der angespannt in einem der Transporter saß, die am Ende der Stadt in einem Industriegebiet geparkt hatten.
„Hier Zentrale, beginnt jetzt mit der Übernahme der Geiseln.“ Funkte er nervös zurück und blickte auf einem der Bildschirme vor sich, um die Positionen seiner Männer zu kontrollieren. „Verstanden.“ Funkte sein Team zurück, und die grünen Punkte auf dem Radar fingen an sich allmählich in Richtung des Gebäudeinneren zu bewegen. Tetsuya ließ sich zurück fallen und dachte darüber nach was Dakon wohl gerade tun würde, und warum er bei so einer wichtigen Operation nicht da war. >>...er wird schon wissen was er tut...<< Dachte er und funkte erneut an eines seiner Teams.
Lynn war bereits wieder aus dem Gebäude gelangt. Von den Soldaten war keine Spur mehr. Sie lief durch den Regen, in die Richtung ihres Motorrads. Ihre Jeans war bereits nach den ersten Metern vom Regen völlig durchnässt. >>...ich hasse Regen...<< Dachte sie, und schloss für einige Sekunden die Augen, als sie ein ungutes Gefühl überkam. >>...sind das Erinnerungen...<< Fragte sie sich, als sie plötzlich den Geruch von Zigarettenqualm wahrnahm. Sie lieb kurz stehen, blickte sich hektisch um und flüchtete dann in eine dunkel Gasse. >>...hat mich etwa Jemand verfolgt...?<< Sie lehnte sich dicht an die nasse Mauer eines Hauses und sah um die Ecke, in die Straße, durch sie gerade eben noch gelaufen war, als sie plötzlich, von hinten, den Lauf einer Waffe an ihrer Schläfe spürte!
>>...nein...<<
„Wenn du dich bewegst, erschieße ich dich.“ Hörte sie eine dunkle Männerstimme, aber entgegen der Warnung, drehte sie sich blitzschnell um, und schlug mit aller Kraft zu. Sie Traf etwas und hörte ein Keuchen, ehe sie nochmals zu schlug, jedoch ins Leere. Sie konnte nicht so schnell reagieren, wie ihr Gegenüber ihr einen heftigen Schlag in den Bauch versetzte, der sie keuchend zu Boden sinken ließ. „Dakon!“ Hörte sie entfernt eine Stimme schreien, aber als sie sich schmerzvoll wieder aufrichten wollte, spürte sie einen weiteren heftigen Tritt in ihren Bauch, der sie ohnmächtig werden ließ.
-2- Finders Keepers
„Was hast du dir dabei gedacht, Jin? Wie alt ist sie? 19? Ein Mädchen zu Boden zu Schlagen und das ,obwohl sie schon schwer genug Verletzt war!“ Dakon war außer sich, das hatte Tetsuya bereits mitbekommen, als sie wieder in ihrem Unterschlupf, in Nagoya angekommen waren.
„Was war los?“ Fragte Tetsuya und blieb im Rahmen zum Wohnzimmer stehen, wo Dakon, Jin gegenüberstand, einem etwas kleinerem jüngeren Mann, als sie beide es waren. Jin sah nur stumm zu Boden und es war keine Regung in seiner Miene zu sehen, während Tetsuya bei Dakon eine klare Falte zwischen seinen Augenbrauen erkennen konnte.
„Antwortest du mir jetzt?“ Fragte Dakon wütend und zündete sich eine Zigarette an. Jin blieb jedoch weiterhin wie angewurzelt stehen, unfähig Dakon in die Augen zu sehen.
„Ich fasse es nicht.“ Sagte Dakon resignierend und ließ Jin stehen, der hilfesuchend zu Tetsuya hinüber sah, der noch immer im Türrahmen stand. „Was siehst du mich an, ich hab keine Ahnung, worum es geht...“ Sagte Tetsuya leichtfertig und begegnete dem wütenden Blick von Dakon, der an ihm vorbei lief. „Komm mit.“
>>... „Wir haben keinen Platz für Jemanden, der Schwäche zulässt!“
„Aber Sir, sie ist gerade operiert worden.“
„Das ist mir egal, sie wird noch heute Nacht eingesetzt.“
„Und wenn sie es nicht überlebt?“
„Dann ist das Projekt vorerst beendet!“<<
>>...mein Kopf... Mein Körper... was ist passiert... mein Mund ist voller Blut...<< Lynn versuchte die Augen zu öffnen, aber sie konnte nicht. Alles an ihr fühlte sich wie gelähmt an. >>Was haben die mit mir gemacht...<< Alles drehte sich und sie hatte Mühe, klare Gedanken zu fassen. >>...ich kann nicht hier bleiben...ich muss hier weg... weg...ich muss....<< Ihre Hände fühlten sich beinahe Taub an. Nach einigen Minuten des stummen Fäuste ballens schaffte sie es schließlich, sich zu bewegen und ihre müden Augen zu öffnen. Sie lag bereits seit einigen Stunden in einem kaum beleuchteten Zimmer, auf einem Sofa. >>...wo zum Teufel bin ich...?<< Fragte sie sich und fasste sich an den Kopf. Sie hatte eine Platzwunde an der Stirn, von dem Aufprall auf den Asphalt, das konnte sie fühlen. Ihre Hände tasteten unkoordiniert zu ihrem Bauch hinunter, an dem sie etwas Weiches spürte. Sie Zog ihr Shirt hoch und sah, dass sie einen dicken Verband trug. >>...was zum Teufel...<< Sie versuchte auszustehen und zuckte bei dem Schmerz zusammen, der von ihren Rippen ausging und ihren ganzen Körper durchfuhr. Ihre Weste lag neben ihr auf einem kleinen Tisch, und sie griff danach, um zu sehen ob ihre Sachen noch darin waren. Man hatte ihr nichts weggenommen. Der Raum roch nach Anästhetikum und Zigarettenqualm, er war nicht groß, und in einer der Ecken standen einige Kisten. Ansonsten befand sich nur ein großes Fenster und das Sofa auf dem sie lag, darin. Eine Kleine Lampe , vor der Tür, erhellte das dunkle Zimmer ein wenig. Lynn stand vorsichtig auf, als plötzlich die Tür aufging und Dakon und Tetsuya hereinkamen, die sie ungläubig ansahen und sofort inne hielten:
„Wie viel hast du ihr gegeben?“ Fragte Tetsuya und sah Lynn voller Fassungslosigkeit an.
„Fünf Einheiten... sie müsste zwei Tage durchschlafen...“ erwiderte Dakon unverständlich und griff geistesgegenwärtig nach seiner Waffe, die in seiner Manteltasche gesteckt hatte.
„Du hast gesagt, sie hätte drei Rippen gebrochen...“ Stammelte Tetsuya und bewegte sich langsam auf Lynn zu, die ihn ungläubig ansah und Mühe hatte sich auf den Beinen zu halten.
„ Ja.“ erwiderte Dakon langsam und gequält ruhig. Er ging ebenfalls einige langsame Schritte auf Lynn zu, die ihre Weste in den Händen hielt und Dakon nur verständnislos und wütend anblickte:. „Was haben Sie mit mir gemacht?“ Fragte sie sichtlich gereizt.
„Du solltest dich besser wieder hinlegen.“ Sagte Dakon bestimmend, ohne auf ihre Frage einzugehen. Er hielt noch immer seine Waffe in der Hand, als er hinter sich die Schritte von Jin hörte, der in den Raum trat und Lynn herausfordernd ansah.
>>...er war es...<<
Ehe einer der Männer reagieren konnte, sprintete Lynn blitzschnell durch den Raum, auf Jin zu. Er wollte ausweichen, hatte aber keinerlei Chance Lynn`s schnellem Schlag zu entgehen und wurde gegen die Flurwand geschleudert. „Tetsuya!“ Rief Dakon, als dieser seine Waffe zog und auf Lynn zielte , die keuchend vor Jin stand:
„Das nächste mal, bringe ich dich sofort um..“ flüsterte sie atemlos und wollte einen Schritt zurück gehen, als sie gegen Jemanden stieß und unter ihrem eignen Gewicht zusammensackte. Sie spürte, wie sie Jemand behutsam festhielt und drehte sich erschöpft um.
>>...Du bist es....<<
Lynn sah in tief blaue Augen und in das markante Gesicht eines Mannes, der sie so kühl ansah, dass es ihr weh tat. Sie spürte die Wärme seiner Hände, die noch immer ihren Körper auf den Beinen hielten. Jin hatte sich während dessen wieder aufgerichtet und hustete atmen los.
„Lass es gut sein.“ Sagte Dakon, der mit Tetsuya versucht hatte, das Geschehen zu verfolgen. Lynn lag noch immer dem fremden Mann in den Händen und sah ihn benommen an. Etwas in ihr sagte ihr, dass sie keine Angst haben brauchte. Sie war sich in diesem Moment sicher, diese Augen schon einmal gesehen zu haben. Als das Klicken einer entsicherten Waffe jedoch die Stille durchbrach kehrte Lynn in die Realität zurück und nahm zügig Abstand von dem Fremden, der ihr mit seinem Blick folgte.
>>...nein...<< sie taumelte und lief schwach in eines der Zimmer, das an den Flur grenzte.
„JIN!“ Hörte sie einen der Männer Schreien, und ein Kugel schoss an ihrem Kopf vorbei!
>>...nein...nicht noch einmal...<< Voller Todesangst rannte sie los.
„NEIN!“ schrie Dakon, den er sah, dass sie direkt auf das verschlossene Fenster zu rannte. Sie sprang vom Boden ab, und durchbrach mit voller Kraft die Scheibe.
„VERDAMMT!“ Schrie Tetsuya und rannte zu dem Fenster, dessen Scherben unter seinen Schritten laut brachen. Er sah hinunter auf die Straße und konnte gerade noch erkennen, wie Lynn in der Dunkelheit verschwand.
„...das ist nicht möglich...wir sind hier im fünften Stock...“ Stammelte er ungläubig und drehte sich zu Dakon und den anderen um, die nur sprachlos auf das kaputte Fenster blickten.
Zwei ganze Tage waren vergangen, in denen Lynn regungslos auf ihrer Matratze in der kleinen Wohnung unter dem Dach gelegen hatte. Jede Bewegung hatte sie geschmerzt und das Atmen viel ihr unendlich schwer. Das Geld und die Uhr, die ihr von dem Einbruch geblieben waren ,lagen vor ihr, auf einem kleinen Holztisch. Der Weg zu ihrer Wohnung hatte sie beinahe einen Tag gekostet. Die Männer hatten sie in eine andere Stadt gebracht, und nach Lynn`s Urteil zu folge, war das auch ihr Quartier gewesen. Mitten im Zentrum von Nagoya. Erst in Tokio, an einer Sektorkontrolle war ihr aufgefallen, dass ihr Ausweis fehlte. Die Männer mussten ihn dabehalten haben. Ohne war es ihr fast unmöglich gewesen, sich durch die Stadt zu bewegen, da es nicht möglich war, ohne Sektorpass an den Grenzkontrollen vorbei zu gelangen. Sie hatte viel klettern müssen, und das eine mal, lag sie auf der Ladefläche eines Transporters. >>...ich muss noch einmal zurück...ich brauche meinen Pass...<< Dachte sie und krümmte sich vor Schmerzen, bei dem Gedanken daran, erneut kämpfen zu müssen.
„Und du meinst, es ist dich richtige Entscheidung?“ Fragte Tetsuya, der neben Dakon saß. Er nickte. „Jemanden der sich in meinem Team so verhält, kann ich nicht dulden. Es war nicht nur unprofessionell, es war einfach unmenschlich.“ Sagte er sauer, und zog an seiner Zigarette, während er Gas gab, und den schwarzen Transporter über eine Landstraße steuerte.
„Jin gehört schon so lange zu unserem Team... gibt es keine andere Lösung?“ Dakon sah zu Tetsuya rüber und bremste. Der Wagen hielt mitten auf der Straße.
„Er hätte sie fast getötet.“ Sagte er dann und schnippte seine Zigarette aus dem Fenster. „Ich denke, da ist eine Versetzung in ein anderes Team noch milde.“ Tetsuya sah wieder die Falte auf Dakon`s Stirn und nickte nur zustimmend. „Die andere Sache jedoch ist, dass dieses Mädchen, wer, oder viel besser, was auch immer sie ist, jetzt unseren Unterschlupf kennt, und ich nicht weiß, was sie nun tun wird.“ Fügte Dakon angespannt hinzu und fuhr wieder los.
„Wenn du mich fragst, stellt sie keine Gefahr dar.“ Sagte Tetsuya unbekümmert und sah in die untergehende Sonne. „Ach nein? Sie hat mich mit einem ziemlich harten Schlag erwischt, hat fünf Einheiten Geomas weggesteckt, als wären es Brausetabletten und anschließend Jin zu Boden geschlagen. Und du willst mir sagen, sie wäre keine Gefahr?“ Tetsuya schluckte, als ihm das Bild wieder in den Sinn kam, wie sie Jin mit nur einem Schlag beinahe außer Gefecht gesetzt hatte. „Ach ja, und nicht zu vergessen, der Sprung aus dem Fünften Stock!“ Dakon war sichtlich aufgebracht, bei dem Gedanken daran, dass jemand wissen könnte, wo sie ihren Unterschlupf hatten. „Du hast recht.“ Sagte Tetsuya, der nun ebenfalls beunruhigt war. „Würde es hierbei nur um mich gehen, wäre alles halb so schlimm, aber ich trage die Verantwortung für dir gesamte Einheit dieser Organisation und ich kann nicht zulassen, dass sie durch irgendetwas, oder irgendjemandem gefährdet wird.“
„Was schlägst du also vor?“
„Wir müssen sie finden.“
Der Regen war wieder über die Stadt gekommen, wie ein Unwetter, ohne Ankündigung. Lynn saß auf dem nassen Dach ihres Apartments und sah in die Ferne. Sie würde noch eine halbe Stunde warten, ehe sie sich auf den Weg nach Nagoya machen würde. Es würde schwierig werden an den Sektorkontrollen vorbei zu kommen, aber sie würde es schon schaffen.
>>...dieser Mann...seine Augen...sein Geruch...<< Lynn schüttelte den Kopf. Sie hatte die letzten beiden Nächte an nichts anderes denken können, als an den Mann, der sie auf den Beinen gehalten hatte. Sie konnte nicht sagen warum, aber tief in ihr, war etwas ,dass den Gedanken daran nicht loslassen wollte.
>>Ich mach mich besser jetzt schon auf den Weg, um den Kopf frei zu bekommen...<< Dachte Lynn, und verließ das Dach wieder, um ihre Sachen zusammen zu packen.
Die Nacht war kalt und nass, und Lynn zuckte bei jeder Unebenheit der Straßen zusammen, die sie mit ihrem Motorrad überfuhr. Sie würde in einer Stunde in Nagoya sein. Trotzdem sie an jenem Abend so benommen von den Schmerzmitteln war, hatte sie den Weg noch klar vor Augen. Ihr Orientierungssinn war enorm, weswegen sie in dem Kurierdienst auch eine menge Geld hatte machen können.
Dakon und Tetsuya saßen zusammen im Wohnzimmer und studierten die Baupläne einer alten Fabrikanlage. „Und du meinst, die VCO hält dort noch mehr Geiseln fest?“ Fragte Tetsuya und lehnte sich erschöpft zurück.
„Definitiv. Sakuya war letzte Nacht dort und hat sich einen Überblick verschafft. Mindestens ein Dutzend unserer Leute werden dort gefangen gehalten. Es wird Zeit, dass wir sie herausholen.“ Erklärte Dakon ernst und zündete sich eine Zigarette an.
„Da ist noch etwas, was mir Sorgen bereitet....“ Sagte Tetsuya plötzlich und Dakon sah von den Bauplänen auf.
„Ist dir aufgefallen, dass Sakuya sich seit dieser Begegnung noch mehr zurück zieht?“ Dakon sah Tetsuya verwirrt an.
„Was meinst du?“ Fragte er dann und zog kräftig an seiner Zigarette. „Ich meine, seit dem Zwischenfall mit diesem Mädchen... Lynn, oder was stand auf ihrem Sektorpass? Jedenfalls habe ich das Gefühl, dass er sich seither noch mehr zurück zieht.“ Dakon sah Tetsuya noch immer an und sein Blick wurde ernst:
„Ted, wie lange arbeitest du jetzt mit Sakuya zusammen?“ Tetsuya schluckte, er hatte nicht damit gerechnet, dass Dakon so ernst auf diese Sache reagieren würde.
„Seit circa drei Jahren... warum?“
„Ich kenne Sakuya jetzt bereits mein halbes Leben lang, und ich sage dir, mach dir keine Sorgen um Angelegenheiten, die dich nichts angehen und von denen du keine Ahnung hast.“
Lynn hatte Nagoya erreicht. An der letzten Sektorkontrolle hatte sie sich mit zwei Soldaten herumschlagen müssen, konnte aber beide zur Bewusstlosigkeit bringen, ehe sie an die Zentrale funken konnten um Verstärkung anzufordern. Lynn stand vor dem großen Gebäude und vor den Scherben, die sie vor vier Tagen verursacht hatte, und die noch immer vor dem Haus auf der Straße lagen. In Nagoya waren weniger Soldaten unterwegs, als in Tokio, das mochte daran liegen, dass Nagoya weiter außerhalb lag, dachte Lynn und zückte ihr Messer um sich an der Tür zu schaffen zu machen.
„Was hatte Jin eigentlich zu seiner Versetzung gesagt?“ Fragte Tetsuya, Dakon vom Arbeitszimmer aus. „Was soll er schon gesagt haben, er war natürlich wütend, aber das ist nicht mein Problem. Wir können nicht einerseits einer Organisation angehören, die Leben rettet, und uns dann völlig entgegen gesetzt verhalten.“ Rief Dakon von seinem Laptop im Wohnzimmer aus. „Ich frage mich, warum er so reagiert hat.“ Entgegnete Tetsuya, während er mit einem Kaffee wieder zurück zu Dakon kam.
„Er hatte viele Probleme in letzter Zeit, ich denke, es war einfach alles zu viel für ihn.“ erwiderte Dakon und hielt plötzlich inne.
Tetsuya sah sein angespanntes Gesicht, mit dem er hinter ihn in den Raum blickte und blieb wie angewurzelt, mit dem Kaffee in der Hand, stehen. „Was...?“ Fragte er nur angespannt und mit der Sicherheit, dass die Antwort nichts gutes verheißen würde. Dakon blieb stumm und nahm nur langsam seine Waffe vom Tisch, entsicherte sie und stand auf.
„Wenn du dich bewegst, dann bringe ich dich um.“ Sagte Lynn ruhig, die Tetsuya den Lauf einer Waffe an den Kopf hielt, die sie unbemerkt im Nebenzimmer gefunden hatte.
„Ich will meinen Sektorpass zurück. Sofort.“ Sagte sie bestimmend und trat einige Schritte näher an Tetsuya heran, der vor Angst starr zu sein schien.
„Ich hol ihn dir.“ Sagte Dakon ruhig, hielt aber dennoch seine Waffe in der Hand.
„Lass Tetsuya da raus, er hat nichts damit zu tun.“ Erklärte Dakon, während er sich vom Sofa weg, auf Lynn zubewegte, die ihm mit ihren blauen Augen folgte.
„Bist du nur hier, wegen deinem Sektorpass?“ Fragte Tetsuya leicht zittrig.
„Ja.“ Antwortete Lynn kühl. Dakon stand fast neben ihr und sie sah ihm wachsam zu, wie er an ihr vorbei ging, noch immer mit seiner Waffe in der Hand. Als er den Raum verlassen hatte, sah Lynn sich unsicher um, während sie Tetsuya noch immer die Waffe an den Kopf hielt.
„Dein Sprung war sehr beeindruckend...“ Begann Tetsuya zu stammeln.
„Sei Still.“ Sagte Lynn ernst und entdeckte die Baupläne, die auf dem Tisch lagen. Sie konnte jedes Detail erkennen, dank ihrer außerordentlichen Augen. Sie sah, dass es etwas außerhalb von Nagoya war und das es sich dabei um ein altes Werksgelände handelte. Es waren Truppenposten eingezeichnet, sowie verschiedene Fluchtwege. Als Lynn Schritte hinter sich hörte, nahm sie die Waffe herunter und drehte sich um. Dakon stand direkt vor ihr und hielt ihren Sektorpass in den Händen.
„Was machen deine Verletzungen?“ Fragte er ernst, aber ehe Lynn antworten konnte, spürte sie den Lauf einer Waffe an ihrem Hinterkopf. Tetsuya hatte sie gezogen als er sich umgedreht hatte und hielt sie ihr nun an den Kopf. Lynn blieb zu seinem erstaunen völlig entspannt und sah Dakon in die Augen, der ein kleines Stück größer war als sie. „Nimm die Waffe runter.“ befahl sie. Sie spürte wie sich in ihr alles aufbäumte und ihr Herz begann zu rasen.
„Nimm sie runter!“ Sagte sie nochmals, aber nun ein wenig lauter. Noch immer sah sie Dakon an, der ihr ebenfalls in die Augen sah. Tetsuya dachte nicht daran, die Waffe zu senken, schließlich war sie eine Fremde in ihrem Unterschlupf, aber ehe er den Gedankengang beenden konnte, spürte er einen eisigen kalten Luftzug und blitzartigen Schmerz in seiner Lendengegend. Er konnte nicht so schnell reagieren, wie Lynn ihm die Waffe aus der Hand geschlagen und ihm einen Triff in die Bauchgegend verpasst hatte, der ihn nun wanken ließ. Die Waffe lag einige Meter entfernt auf dem Boden und Lynn hatte sich wieder zu Dakon umgedreht, der noch immer ungewöhnlich ruhig und diplomatisch vor ihr stand.
„Deine Verletzungen werden so nie heilen.“ Sagte er gelassen und sah sie weiterhin an.
„Damit kann ich Leben. Kann ich jetzt meinen Pass haben?“ Erwiderte sie kühl. Dakon nickte und hielt ihn ihr hin, als ihr Blick von seinem abwich und an ihm vorbei, zur Tür ging. >>...du bist es...<< Und wieder spürte Lynn dieses eigenartige Gefühl in sich. >>...mir wird schwindelig...<< Dakon drehte sich verwundert um und sah, dass Sakuya in der Tür stand, der Lynn voller Ruhe zu beobachten schien. Tetsuya stand stöhnend wieder vom Boden auf und wollte gerade seine Waffe heben, als Dakon ihn nur kopfschüttelnd anblickte. Lynn sah Sakuya noch immer an und spürte wie ihre Beine nachgaben. Sie hatte Mühe stehen zu bleiben. Tetsuya sah es und wollte einige Schritte auf sie zu machen, als sie sagte:
„Fass mich nicht an...“ Ohne ihren Blick von Sakuya abzuwenden.
„Ich kann dir was gegen die Schmerzen geben.“ Sagte Dakon unsicher, denn Lynn hatte einen Ausdruck in den Augen, den er nicht einschätzen konnte. Sie wandte ihren Blick endlich wieder von Sakuya ab und sah in Dakon`s nachdenkliches Gesicht.
„Warum sollten Sie mir helfen?“ Fragte sie Atemlos.
„Vielleicht kannst du mir helfen.“ Sagte er dann. Lynn sah wieder zu Tür aber Sakuya war bereits verschwunden.
-3- Favors
„Was meinen Sie damit?“ Fragte Lynn und ging vorsichtig zu einem Tisch, an dem sie sich festhielt.
„In deinem Zustand solltest du heute Nacht nicht mehr unterwegs sein.“ Sagte Tetsuya und rieb sich den Bauch vor Schmerzen.
„Du kannst die Nacht über hier bleiben, ich gebe dir was gegen die Schmerzen und du sagst mir, was du da neulich im Bankenviertel gemacht hast.“ erklärte Dakon ruhig.
„Es geht Sie aber nichts an.“ antwortete Lynn hart.
„Ich denke schon, dass es mich was angeht, wenn du zwei meiner Leute verletzt hast.“ erwiderte er und Lynn schluckte. Daran hatte sie nicht gedacht. Sie hatte nicht daran gedacht, dass sie Jin und auch Tetsuya verletzt hatte.
„Vielleicht sollte ich bleiben....“ Sagte sie unsicher und sah auf ihre zitternden Hände, mit denen sie sich noch immer an dem Tisch festhielt. Dakon nickte zufrieden und packte seine Waffe weg. Würde sie bei ihnen bleiben, hätte er nach der anstehenden Mission noch immer genug Zeit herauszufinden wer sie war und ob sie eine Gefahr darstellen würde.
Lynn stand vor dem Fenster, das sie einige Nächte zuvor zerstört hatte und blickte hinaus in die Nacht. Der Regen dauerte noch immer an, und die feuchte Luft zog durch das Wohnzimmer, in dem Tetsuya auf dem Sofa saß und Dakon eine Zigarette rauchte, während er Lynn musterte.
„Sie sind also der Leiter der UEF?“ Fragte sie, und sah zu Dakon rüber, der ernst nickte. „Ja, die Efrafar Force wurde vor ca. Neun Jahren gegründet, als der Krieg zwischen den beiden Welten ausbrach.“ Lynn schüttelte unverständlich den Kopf.
„Efrafar und Valvar....“ Wiederholte sie leise die beiden Namen der Welten, die Dakon versucht hatte ihr zu beschreiben.
„Und das hier, ist die Zwischenwelt?“ Fragte sie dann und drehte sich zu Tetsuya, der sich noch immer den Bauch hielt, und tief einatmete.
„Es ist eine lange Geschichte, was damals zu dem Krieg geführt hat, der uns nun daran hindert, zurück in unsere Welt zu kehren.“ Fuhr Dakon fort und machte seine Zigarette in einem Aschenbecher aus, der auf dem großen Holztisch, vor ihm stand.
„Ich kann kaum glauben, was Sie gerade eben versuchen mir zu beschreiben.“ Sagte Lynn und sah wieder aus dem Fenster auf die menschenleeren Straßen vor dem Haus.
„Aber keiner der Menschen, die ich getroffen habe, hat jemals etwas davon erwähnt....“ Sprach sie leise weiter, und dachte an den Doktor, der ihr viel über die Sektorpolizei erzählt hatte.
„Natürlich nicht.“ Sagte Tetsuya und stand auf, um einige Schritte auf Lynn zu zugehen. Sie sah ihn verwundert an:
„Was meinst du damit?“ Tetsuya strich sich durch die Haare.
„Ich meine damit, dass es keiner weiß. Wir sind eine Untergrund Einheit. Es wissen nur wenige von unserer Existenz, genauso wenig, wie über die Existenz der zwei Welten. Efrafar und Valvar sind quasi nicht existent für normale Menschen.“
„Aber ich verstehe nicht...“
„Es gibt Dinge auf dieser Welt, die nicht begreifbar sind, zumindest nicht für die Bewohner, dieser Welt. Es gibt noch so vieles mehr da draußen, aber sie werden auf ewig in Unklarheit bleiben, denn sie haben nicht den den Sinn um die Barrieren zu überschreiten die die drei Welten voneinander Trennen.“ Dakon lief durch den Raum und griff nach seinem Handy, dass neben seinem PC auf dem Tisch lag. „Wären unsere Welten nicht im Krieg, dann wären wir nicht hier. Wir wären noch immer in Efrafar, in unserer Welt, aber Valvar hat unsere Welt so in den Krieg gestürzt, dass wir es uns zur Aufgabe gemacht haben, unseres Gleichen zu retten und in den Kampf gegen Valvar zu ziehen.“ Noch immer sah Lynn aus dem Fenster, während Tetsuya ihr diese Unfassbarkeiten darlegte. >>...drei Welten... und das hier ist nur eine davon... ich kann nicht glauben, was er mir da gerade erzählt....<<
„Dakon?“ Durchbrach Tetsuya plötzlich Lynn`s Gedanken. „Alles in Ordnung?“ Dakon hatte seinen Mantel von dem Sofa genommen und lud seine Waffe nach. „Nein, Sakuya`s Team hat Schwierigkeiten!“ Sagte er hektisch, und Tetsuya griff zügig nach seiner Waffe, die ebenfalls auf dem Tisch gelegen hatte. „Was ist los?“ Fragte Lynn, denn sie spürte die plötzliche Anspannung im Raum.
„Eines meiner Teams hat Schwierigkeiten bei einem Einsatz.“ Rief Dakon, während er zur Tür hinaus stürmte.
„Lynn, du bleibst da!“ Rief er, und auch Tetsuya stürmte hinaus. „Aber...“ Bevor sie den Satz beenden konnte, waren beide Männer verschwunden. „.. was soll ich denn jetzt tun...“ Flüsterte sie leise und sah wieder aus dem Fenster, auf die Straße, wo sie Tetsuya und Dakon in einen schwarzen Transporter steigen sah.
>>...vielleicht sollte ich ihnen einfach folgen...<< Dachte sie unsicher und sah sich in dem großen Raum um. Noch immer lagen die Grundrisse der alten Fabrik, außerhalb von Nagoya, auf dem Tisch. Lynn sah einen Moment darauf, und dachte dann an ihr Motorrad, das noch immer vor der Tür stand. >> Vielleicht sollte ich einfach zurück nach Tokio...ich habe meinen Sektorpass und somit alles was ich wollte...aber... diese Menschen... vielleicht kann ich ihnen irgendwie helfen...schließlich vertrauen sie mir...indem sie mich hier lassen... und sie haben meine Verletzungen behandelt...sie hätten mich auch einfach töten können....<<
Lynn packte ihren Sektorpass, der auf dem Tisch lag, zog den Reißverschluss ihrer Jacke zu und machte sich auf den Weg.
Der Himmel war so schwarz, dass ein normaler Mensch seine Hand nicht vor Augen hätte erkennen können, aber Lynn sah bereits in weiter Ferne einen parkenden Konvoi von schwarzen Transportern hinter einer Baumgruppe stehen. >>...gut getarnt haben sie es nicht sonderlich...<< Dachte Lynn und gab Gas. >>...ich habe keine Ahnung was mich erwartet...<<
Sie stieg von ihrem Motorrad und sah sich um. In der Ferne konnte sie einige Lagerhallen auf einem weitläufigen Industriegelände erkennen. >>...ich sollte mich versteckt halten...<< Dachte sie, als sie durch einen lauten Funkspruch aus einem der Transporter zusammen zuckte:
„Hier Team Delta, wir brauchen unbedingt Unterstützung, wir haben zwei Verletzte Teammitglieder! Zentrale bitte kommen!“ Im Hintergrund waren laute Schüsse zu hören. Lynn nährte sich vorsichtig dem Wagen. Sie erkannte, dass der Wagen leer war und öffnete leise die Fahrertür, als sie zurück sprang. „Oh Gott...“ Fluchte sie leise, als ein bewusstloser Mann zu ihren Füßen fiel. >>...was ist hier los...?<< Sie beugte sich zaghaft zu ihm hinunter und legte ihre Finger an seinen warmen Hals. Er lebte noch, aber eine heftige Platzwunde zierte seine Schläfe. >>...ob das diese andere Organisation war... was sagte Dakon...die Valvar Cooperation?<< Lynn zögerte noch einen Moment und überlegte ob sie zurück funken sollte, entschloss sich dann jedoch dazu, sich sofort auf den Weg zu dem entfernten Industriegelände zu machen.
„Dakon!“ Rief Tetsuya leise und kroch auf einer Dachschräge zu ihm hinüber. Die beiden Männer lagen auf dem Dach einer großen Lagerhalle und Dakon hielt angespannt seine Waffe in der Hand, und zielte unruhig in die Dunkelheit. „Verdammt, ich kann absolut nichts erkennen...“ Fluchte er leise. „Es ist wieder still...“ Bemerkte Tetsuya, denn die Schüsse in einigen Metern Tiefe unter ihnen, hatte aufgehört. „Ich weiß nicht, ob das unbedingt gut ist...“ erwiderte Dakon unruhig und hielt inne. „Die Zentrale meldet sich auch nicht mehr.“ bemerkte Tetsuya schließlich nachdenklich. „Ich weiß, irgendwas ist schief gelaufen, aber ich kann noch nicht sagen was....“ Flüsterte Dakon, denn er hatte etwas auf der anderen Seite des Daches gesehen. Tetsuya zielte mit seiner Waffe in die Dunkelheit. „Lass, es ist nur Sakuya.“ stellte Dakon nach einigen Sekunden erleichtert fest, als er einen großen schwarzhaarigen Mann erkannte, der mit einem Scharfschützengewehr, gegenüber von ihnen Lag. „Seine Fähigkeiten sind um einiges besser, um mit der Nacht fertig zu werden...“ gestand sich Tetsuya ein und packte seine Waffe wieder weg. Dakon nickte lediglich zustimmend und versuchte schließlich erneut, an seine Leute zu funken.
>>...die Schüsse haben aufgehört...<< Dachte Lynn und lief lautlos, nahe an einem großen Container, entlang. Dahinter lag die Lagerhalle, die sie auf den Bauplänen erkannt hatte. >>ich sollte alles nur beobachten und im Hinterhalt bleiben...<< redete sie sich gespielt ruhig selbst ins Gewissen. Sie hatte den Gedanken kaum beendet, als sie hinter einer Ecke das rauschen eines Funkgerätes hören konnte. „Hier Team Alpha, Dakon und zwei seiner Leute befinden sich auf Dach B, im hinteren Teil, schickt zwei Scharfschützen los!“ Sprach ein Soldat, in einer schwarzen Uniform leise in sein Funkgerät. Lynn blickte angespannt um die Ecke, ihn an, denn er hatte ihr den Rücken zu gekehrt. Auf der Uniform waren in deutlicher Schrift die Letter „VCO“ zu lesen, hinterlegt, von zwei ineinander geschwungenen Tieren, die Lynn noch nie zuvor gesehen hatte. >>...ich sollte kehrt machen...<< alarmiert durch die augenscheinliche Gefahr spürte sie, wie ihr Puls begann zu rasen und sie innerlich zu verbrennen schien. >>...oder...<< Der Soldat wurde prompt von einem Tritt getroffen und gegen eine Containerwand befördert. Ehe er nach seinem Gewehr greifen konnte, verpasste Lynn ihm einen gezielten Schlag gegen den Hals und er sank bewusstlos zu Boden. Nur sein Funkgerät rauschte noch leise vor sich hin. Lynn hob es auf und bewegte sich schließlich weiter in die Richtung der Lagerhalle.
Dakon lag noch immer auf dem Dach und versuchte an sein Team zu funken. Tetsuya hatte eine der Leitern genommen und war hinunter geklettert, um sich einen Überklick über die Lage am Boden verschaffen zu können. Er stieg die verrosteten Eisensprossen langsam hinunter, zwischen den großen Stahlträgern hindurch, als er plötzlich unter sich Schritte wahrnahm. Sein Herz schlug ihm bis Hals, als er das Klicken einer Waffe hörte:
„Keine Bewegung.“ Flüsterte eine Stimme und er sah langsam hinunter zum Boden, auf dem, in etwa einem Meter Entfernung, ein Soldat der VCO stand und mit einem Gewehr auf ihn zielte.
„...das ist nicht gut...“ stammelte er nur und wollte gerade hektisch nach seiner Waffe greifen, als er aus dem Augenwinkel eine schwarze Gestalt sah, die mit zwei gezielten Schlägen den Soldaten zu Boden riss. >>...was zum Teufel...<< Er ließ sich von der Leiter auf den staubigen Untergrund falle und blickte in Lynn`s verschwitztes Gesicht.
„Keine Ursache...“ Keuchte sie und fuhr sich mit dem Handrücken über ihre Stirn.
„Was tust du hier...?“ Flüsterte er aufgebracht und wandte den Blick von ihr ab, um nach weiteren Soldaten Ausschau zu halten. „Ich dachte ihr könntet Hilfe gebrauchen...“ antwortete sie und Tetsuya sah sie einige Sekunden nachdenklich an: „Bleib im Hintergrund, ich werde dir keine Waffe geben.“ Entgegnete er ihr. Lynn blieb stumm, denn sie hatte damit auch nicht gerechnet.
„Oh man, Dakon wird uns den Kopf abreißen...“ Murmelte Tetsuya und sah sich erneut um.
„Bleib in meiner Nähe.“ befahl er ihr schließlich und lief in die Dunkelheit. Lynn folgte ihm auf den Schritt und sah sich immer wieder wachsam um. Die beiden liefen unter einigen Gasrohren entlang und an einer alten Kesselanlage vorbei, als Lynn plötzlich stehen blieb und Tetsuya zurück hielt:
„Warte...“ Flüsterte sie, und strengte ihre Augen an. „Was ist?“ Fragte Tetsuya und versuchte in der Dunkelheit ihre Mimik zu entschlüsseln. „Da vorne stehen zwei Soldaten...“ Murmelte sie und sah Tetsuya an, der erneut seine Waffe gezogen hatte und sie eng an seine Brust hielt. „Bist du dir sicher?“ Fragte er und versuchte etwas zu erkennen. Lynn nickte. „Kannst du sie etwa nicht sehen?“ Fragte sie verwundert und Tetsuya schüttelte den Kopf. „Nein...wie weit sind sie entfernt?“
„Circa 300 Yard.“ Antwortete Lynn und sah Entsetzten in Tetsuya`s blassem Gesicht. „Okay, du wartest hier...“ Sagte er und machte sich langsam auf, in die Richtung in der er meinte, dass dort die beiden Soldaten seien. >>...er kann sie nicht sehen...<< Dachte Lynn verwundert und missachtete seine Aufforderung dort zu bleiben.
Dakon hatte nur zwei seiner Leute erreichen können und er war beunruhigt über die neusten Informationen. Drei seiner Männer waren so schwer verletzt, dass sie nicht mehr kampfbereit waren und weitere fünf Männer waren gefangen genommen worden. Er dachte darüber nach, wie sie am besten aus der ganzen Sache herauskommen würden, als er plötzlich unter sich eine dunkle Gestalt wahrnahm und Tetsuya der voraus lief. Dakon zielte mit seiner Waffe, aber ehe er schoss, konnte er erkennen, dass es Lynn war. Sie folgte lautlos Tetsuya und Dakon erkannte, dass sie auf eine Gruppe Soldaten zuliefen. Er zückte sein Funkgerät, sah aber ein, dass er somit die Aufmerksamkeit auf Tetsuya lenken würde, wenn er ihn jetzt an funken würde. Dakon blickte schließlich auf das vor ihm liegende Dach, zu Sakuya, der noch immer mit seinem Scharfschützengewehr nach unten zielte. Sakuya sah ebenfalls zu Dakon, und die Blicke der beiden Männer trafen sich für einen Augenblick.
Tetsuya drehte sich zu Lynn um, nicht sicher, ob sie ihn sehen konnte, denn er hatte keine Ahnung dass sie ihm gefolgt war, aber ehe er sie in der Ferne erkennen konnte, hörte er bereits vor sich laute Schreie.
„Tetsuya!“ Rief Lynn erschrocken und er spürte wie eine Kugel an seinem Kopf vorbeizog! Lynn warf sich gegen ihn, und er stürzte mit ihr zu Boden, während zwei weitere Kugeln über den beiden hinweg zischten. >>...sie werden uns erschießen....<< Lynn rollte sich zur Seite weg und sprang wieder auf, um auf die Soldaten zu zustürzen. Ehe sie den ersten erreicht hatte, vielen bereits zwei Soldaten durch Sakuyas präzise Schüsse, oberhalb des Daches. Lynn holte aus und schlug einem der verbleibenden Soldaten mit voller Kraft ins Gesicht. Er taumelte für einige Sekunden und versuchte sein Gewehr zu heben, um auf Lynn zu zielen. Von einem der Dächer ertönte ein weiterer Schuss und noch einer der Soldaten ging zu Boden. Lynn holte erneut aus und trat ihrem Gegenüber mit voller Wucht gegen sein Knie, das Lautstark brach. Der Soldat viel zu Boden und Lynn wollte erneut zuschlagen, als sie den festen Druck zweier Arme um ihre Kehle spürte. Einer der Soldaten war wieder aufgestanden und versuchte nun sie zu würgen. Lynn ächzte laut und griff nach den Händen ihres Angreifers, als sie sah, wie Tetsuya aus einer Ecke gerannt kam und dem Soldaten vor ihr in die Brust schoss. Lynn keuchte, schaffte es aber, ihren Angreifer mit aller Kraft über sich zu befördern, und ihn mit einem Schlag bewusstlos zu Boden sinken zu lassen.
Tetsuya sah sie fassungslos an, während sie sich atemlos umsah. „Tetsuya, was ist da unten los?“ Hörten sie plötzlich Dakon`s Stimme aus Tetsuya`s Funkgerät. „Uns geht es gut.“ Antwortete Tetsuya, und ließ die Augen nicht von Lynn, die sich weiter umsah und der, der Schweiß auf der Stirn stand. „Sakuya gibt euch weiterhin Feuerschutz, bewegt euch in Richtung Westen!“ Gab Dakon durch. Lynn sah zwischen den maroden Etagen und dem zum Teil eingestürzten Dach, nach oben in den Himmel. Es waren kaum Sterne zu sehen, aber die paar, die sie finden konnte, reichten ihr zur Orientierung. Tetsuya wollte soeben zurück funken und die Richtung des genannten Westens erfragen als Lynn ihm bereits die Richtung andeutete. Er nickte nur verwundert und ließ das Funkgerät dann wieder in seine Westentasche zurückgleiten. Aufmerksam folgte er Lynn.
„Sakuya, hast du die beiden im Visier?“ Flüsterte Dakon in seine Funkgerät und sah auf die andere Seite des Daches, wo Sakuya ruhig nickte. Er lag schon seit einer Stunde da und hatte sich nicht bewegt. Stetig den Blick auf Lynn und Tetsuya gerichtet, die ein ganzes Stück vorwärts gekommen waren. „Ich werde jetzt nach Unten gehen.“ Funkte Dakon und verließ seine Position.
Tetsuya kauerte neben Lynn auf einem Vorsprung, in etwa zwei Metern Höhe, den sie über eine Feuerleiter erreicht hatten. Die beiden sahen zu einer Gruppe feindlicher Soldaten, die sich gerade organisierten. „Was jetzt?“ Fragte Tetsuya ratlos. „Wenn wir sie angreifen, merken sie es noch bevor wir den ersten von ihnen erreicht haben...“ Flüsterte Lynn nachdenklich. Tetsuya nickte zustimmend und sah sie wieder an. Ihre braunen Haare klebten an ihrem schweißnassen Gesicht und ihre blauen Augen hatten die Gruppe Soldaten vor ihnen fixiert. Tetsuya sah an ihr hinunter, wie sie auf dem kalten Stahl lag, mit dem blutgetränkten Verband unter ihrer Jacke, die ein wenig hochgerutscht war. Sie atmete entspannt, aber Tetsuya vermochte sich nicht vorzustellen, was für Schmerzen sie haben musste. Ihre dünnen Finger umklammerten den Vorsprung des Stahls, auf dem sie lagen und ihre Knöchel waren nlutig von den Schlägen die sie ausgeteilt hatte. Die Luft lag feucht und kalt zwischen den beiden, während sie darauf warteten, dass sich die Soldatengruppe auflösen würde. >>...ich liege hier...mitten in der Nacht, in einer Lagerhalle und bin gerade zweimal dem Tod nur knapp entkommen...was zu Hölle tue ich hier eigentlich...?<< Lynn sah zu Tetsuya rüber, der angestrengt in die Dunkelheit blickte. Er sah erschöpft aus und trotzdem er einen durchtrainierten Eindruck machte, schien ihm die Anspannung an die Substanz zu gehen. Lynn schätze ihn auf Ende Zwanzig und sie fragte sich, ob er auch aus dieser anderen Welt, von der Dakon erzählt hatte, stammen würde. Sie sah wieder zu den Soldaten, als sie plötzlich gegenüber, in der Höhe der Stahlträger etwas bemerkte. Es war Dakon, der sich unauffällig der Gruppe nährte. Lynn konnte erkennen, dass er sie auch gesehen hatte und nun gab er ihnen ein Zeichen, dass er die Soldaten aus dem Hinterhalt angreifen würde, damit sie zuschlagen konnten. Lynn nickte und beobachtete weiter, wie Dakon sich mühevoll, eine Leiter hinunterfallen ließ und begann zu schießen.
„Los!“ befahl Lynn und Tetsuya und sie sprangen von der Anhöhe. Tetsuya wollte noch etwas zu ihr sagen, aber er konnte nicht so schnell reagieren, wie sie schon weg war und der erste Soldat durch ihren harten Schlag zu Boden ging. Tetsuya zielte und feuerte, um Lynn Schutz zu geben. Dakon schoss, und einer nach dem anderen ging zu Boden, als Lynn plötzlich weitere Schüsse hallen hörte und sah, wie eine weitere Gruppe Soldaten auf sie zugestürmt kam. >>Das sind zu viele...<< dachte sie und hatte Mühe, den Schüssen auszuweichen. Ein Soldat stand plötzlich hinter ihr und stach mit einem Messer nach ihr. Sie entging ihm nur knapp und beförderte ihn mit einem gezielten Tritt zu Boden. >>...das ist nicht zu schaffen...<< Dachte sie und spürte wieder den stechenden Schmerz ihrer Rippen. „Dakon!“ Schrie Tetsuya aufgelöst und erschoss einen Soldaten der sich ihm genährt hatte. Dakon stand inmitten von Soldaten und schoss so präzise er konnte, um immer wieder Schutz hinter einem alten Kessel zu suchen. „SAKUYA!“ Dakons Schrei hatte das Stöhnen und das Knallen der Waffen völlig übertönt. Und plötzlich wurde es für einige Sekunden still, als plötzlich ein großer Mann das Sachlachfeld betrat und seine Waffe hob. „Sakuya...“ Wiederholte Tetsuya völlig außer Atem und lud erleichtert sein Magazin nach, während er zwei Soldaten gleichzeitig zu Boden schlug. Lynn wollte sich gerade umdrehen und Schutz hinter einigen Gasrohren suchen, als sie plötzlich in das Gesicht eines Soldaten sah und ihr der Gedanke daran kam, ob er wohl Angehörige hatte. Prompt bekam sie einen Schlag von ihm ins Gesicht ab. Nur für wenige Sekunden war sie unachtsam gewesen und nun fiel sie keuchend zu Boden und spürte einen heftigen Tritt in ihren Unterleib. Sie krümmte sich vor Schmerzen, nicht fähig sich zu bewegen, als sie plötzlich den festen Druck zweier Hände um ihre Taille spürte. Sie machte benommen die Augen auf und sah wieder in diese vertrauten blauen Augen. >>...du bist es doch...<< Ihre Gedanken waren benebelt und die Schreie und Schüsse schienen plötzlich in einer anderen Realität stattzufinden. Sie spürte die Wärme eines Mannes an ihrem Körper und hörte das erste mal seine tiefe, klare Stimme : „Beweg` dich jetzt nicht.“
Das Schaukeln des Transporters, in dem Lynn lag, weckte sie wieder auf und der Schmerz in ihr. >>...was ist passiert...<< Ihr Kopf dröhnte und als sie die Augen öffnete sah sie in Tetsuya`s Gesicht, der sie sorgenvoll beobachtete: „Du hast ganz schön was abbekommen...“ Sagte er bestürzt und deutete auf ihr Gesicht. Lynn wischte sich über die Lippen und betrachtete danach das Blut an ihren Fingern. „Halb so schlimm...“ Murmelte sie und versuchte sich aufzusetzen. „Bleib liegen.“ Empfahl ihr Tetsuya, der ihr gegenüber, auf einer Bank, im Laderaum saß. „Was ist passiert...? Sind alle wohl auf...?“ Fragte sie schwach und sah sich um. Sie stellte fest, dass der Laderaum des Transporters umgebaut war und sich Spinde mit Waffen und Uniformen darin befanden. „Ja, wir sind alle heile raus gekommen. Aber fünf von unserem Team wurden gefangen genommen. Wir konnten nichts mehr tun.“ Sagte Tetsuya nachdenklich. „War das die VCO?“ Fragte Lynn und setzte sich auf. „Ja. Der Einsatz war nicht so geplant. Irgendwer hat uns verraten, die VCO hat uns überrascht. Es hätten nicht so viele Einheiten dort sein dürfen. Dakon versucht gerade herauszufinden was passiert ist.“ Lynn schloss für einen Moment wieder die Augen. >>...dieser Mann...Sakuya... er hat mich gerettet...<< Sie sah erneut Tetsuya an, der sich gerade eine Spritze in die Pulsadern seines rechten Armes setzte. „Wäre Sakuya nicht gewesen, wärst du jetzt nicht mehr hier...“ Sagte er angestrengtstellte er angestrengt fest, um kurz danach entspannt zurück gegen einen Spind fallen zu können. „Sakuya...“ Flüsterte Lynn den Namen des fremden Mannes. „Aber Dakon wird uns die Hölle heiß machen.“ Lynn hob ihr Gesicht um Tetsuya genauer ansehen zu können. Er war verschwitzt, aber er hatte wieder etwas Farbe im Gesicht. „Warum dir?“ Fragte sie schließlich ausdruckslos. „Weil ich dich nicht aufgehalten habe.“ antwortete er bestimmend. „...du hättest sowieso keine Chance gehabt...“ Stöhnte Lynn mit einem Lächeln im Gesicht und Tetsuya lächelte ebenfalls. „Du hast mir heute Nacht das Leben gerettet. Ohne dich wäre ich wohl diesem Soldaten an der Treppe nicht entgangen.“ Lynn wurde wieder ernst und schloss die Augen. „Das war ich euch doch Schuldig.“ erwiderte sie schließlich, und atmete erleichtert aus.
Die Sonne ging bereits wieder unter, als Lynn verschwitzt aufwachte und sich erschrocken umsah. Sie hatte einen wirren Traum gehabt, in dem sie gegen etliche Soldaten gekämpft hatte, die sie bei einem ihrer Einbrüche überrascht hatten. Sie hatte den Doktor wiedergesehen und er hatte sie vor dem Mann mit den blauen Augen, vor Sakuya, gewarnt. >>...was hat das alles zu bedeuten...<< Sie rieb sich die Stirn und stand dann auf. Dakon hatte ihr, nach ihrer Ankunft in seinem Quartier, nahe gelegt, die Nacht dort zu bleiben, da es zu gefährlich für sie in ihrem Zustand sei, zurück nach Tokio zu fahren. Ihr Motorrad hatte Tetsuya in einem der Transporter, zurück nach Nagoya ,bringen lassen.
„Und du bist dir sicher, dass du sie in unsere Einheit aufnehmen willst?“ Fragte Tetsuya, und sah Dakon nachdenklich an, der draußen auf dem Balkon stand und einen Schluck Kaffee aus einem schwarzen Becher trank. Er antwortete nicht und machte sich eine Zigarette an. Es regnete nicht, aber die Luft war dennoch kühl und feucht. „Ich bin der Meinung, sie wäre uns eine Hilfe und wir können jede Hilfe gebrauchen. Das weißt du auch.“ antwortete Dakon ernst und sah nach unten auf die Straße, die schon fast wieder in völliger Dunkelheit lag.
„Was wenn sie uns verrät?“ Fragte ein anderer Mann, der auf dem Sofa saß und seine Brille abnahm, um sie auf den Tisch zu legen. „Ich denke nicht, dass sie uns verraten wird. Ich denke eher, bei ihr liegt auch etwas im Argen, vielleicht wäre es für sie ebenfalls eine gute Chance.“ Ergänzte Tetsuya und klappte einen Laptop zu, der vor ihm auf einem Tisch stand. „Ich werde sie bei unserem nächsten Einsatz mitnehmen, wir werden sehen“ fügte Dakon hinzu und kam herein, als er Lynn in der Tür stehen sah, die ihn mit ihren großen blauen Augen nachdenklich ansah. Tetsuya drehte sich um, und musterte sie. Er empfand sie noch kleiner, als am Tag zuvor. Der kurze schwarze Pullover den sie trug, konnte nicht den Verband verdecken, der ihre Hüften bedeckte. „Wie geht es dir?“ Fragte Tetsuya, und Lynn ging einige Schritte auf Dakon zu. „...gut...“ Murmelte sie abwesend und musterte Dakon angespannt : „Warum sollte ich Ihnen helfen...“ Fragte sie schließlich unsicher. „Wir können jede Hilfe gebrauchen.“ antwortete er und hielt ihrem Blick stand. Er war ein ganzes Stück größer als sie. Lynn vermutete dass er um die 50 sein musste, vielleicht ein paar Jahre mehr. Er hatte graue Augen, die ernst und kalt wirkten. „...ich weiß nicht, was du dir letzte Nacht dabei gedacht hast uns zu folgen, aber du hast deine Sache gut gemacht.“ Sagte er langsam. Tetsuya betrachtete die beiden angespannt. Dakon war das Oberhaupt der UEF und somit der Leiter einer riesigen Organisation. Lynn stand da, als wollte sie ihn provozieren. Dakon war mindestens eineinhalb Köpfe größer als sie und wesentlich breiter. „Ich weiß nicht recht, ob ich Ihnen eine große Hilfe wäre...“ erwiderte Lynn dann plötzlich zögerlich. Dakon`s Gesichtsausdruck veränderte sich und er sah ihr nachdenklich in die Augen: „Ich biete dir an, für mich zu Arbeiten. Sei Teil meines Teams. Für die Risiken die auf dich zukommen, erhältst du eine angemessene Summe.“ Lynn schluckte und sah weg. „Vergiss deinen Job in Tokio, die Sektorkontrollen dort sind enorm und die VCO ist nirgendwo präsenter als dort.“ Erklärte Dakon ruhig. Lynn sah zu Tetsuya rüber, der sie ausdruckslos ansah. „Ich gebe dir einen Tag, um über das Angebot nachzudenken. Wenn du es ausschlägst, gibt es kein weiteres. Wenn du es annimmst, leite ich alles andere in die Wege.“ Dakon wandte den Blick von Lynn ab, drückte seine Zigarette aus und nahm sein Handy vom Tisch: „Wenn du mit Jemandem sprechen willst...“ sagte er ruhig und hielt Lynn das Telefon hin. Sie sah erst das Handy und dann wieder Dakon an : „Ich habe Niemanden.“ Dakon blickte sie verwundert an: „Niemanden?“ fragte er dann und verstand langsam, warum sie ihnen gefolgt war, warum sie wiedergekommen war und warum sie nun so unsicher vor ihm stand. „...ich werde für Sie arbeiten...“ entschied sie leise, und drehte sich zu Tetsuya um, der sie sorgenvoll ansah : „... Somit bist du jetzt ein Mitglied der Untergrund Efrafar Force.“ Sagte er und zwang sich zum Lächeln. Ehe Lynn noch weiter Fragen stellen konnte, verließ Dakon den Raum und begann mit seinen Informanten zu telefonieren.
Es war eine Angewohnheit, die sie nur schwer ablegen konnte und so hatte Lynn sich, nachdem sie sich im Hauptquartier umgesehen hatte, den Dachboden entdeckt und den Weg aufs Dach gefunden, auf dem sie nun saß und über die Dächer der Stadt blickte. Der Vollmond stand hell am Himmel und Lynn dachte über das Angebot von Dakon nach. Er hatte gesagt, er würde ihr eine angemessene Summe zukommen lassen und sie fragte sich, um wie viel Geld es sich handeln würde. Tetsuya hatte ihr gesagt, dass sie sich um ihre Unterkunft keine Sorgen machen müsse, da er sie ihr stellen würde. Ebenfalls die Uniform der UEF, diverse Waffen, Medikamente und natürlich die tägliche Verpflegung. >>Ich frage mich, was genau ich für ihn tun soll und was er von mir erwartet. Ich hätte ihn gestern in ziemliche Schwierigkeiten bringen können und dennoch macht er mir dieses Angebot... ich denke nicht, dass er mich an die Verraten würde, die hinter mir her sind... und ich kann nur hoffen, dass sie nicht auch hier auftauchen...bisher war ich alleine immer am sichersten, jetzt, wo ich hier bin, bringe ich auch andere in Gefahr...<< Lynn hörte das Rauschen einiger Autos, die durch die Straße fuhren und verließ das Dach wieder.
Die Nacht war vorübergezogen. Lynn hatte Dakon nicht mehr gesehen, lediglich Tetsuya hatte sie mitten in der Nacht noch gestört und ihr gesagt, dass Dakon am nächsten Tag mit ihr Nach Tokio ihre Sachen holen fahren wolle. Sie hatte in dem Raum mit dem großen Fenster geschlafen, auf dem Sofa auf dem sie schon einmal in der ersten Nacht wachgeworden war. Es war nur vorübergehend, hatte Tetsuya gesagt, bis Jin seine Sache abgeholt hätte, da er ja nun in einem anderen Team stationiert worden war.
Es roch nach Kaffee und Zigarettenqualm, als Lynn das Wohnzimmer betrat, in dem Dakon vor seinem Laptop saß und aufsah, als er ihre Schritte hörte. „Bist du soweit?“ Fragte er müde und rieb sich die Augen. Lynn nickte und fragte sich, ob er wohl die ganze Nacht dort gesessen hatte. Er hatte tiefe Ränder unter den Augen und seine Haut sah blass und fahl aus. >>..er hat viel zu tun, schließlich ist er der Leiter einer ganzen Organisation...<< Dachte Lynn und zog ihre Jacke an, die sie bis eben noch in den Händen gehalten hatte. Dakon stand schwermütig auf und griff nach seinem Mantel, der neben ihm auf dem Sofa gelegen hatte. „Ich hätte auch alleine fahren können...“ Sagte Lynn plötzlich und Dakon drehte sich unbeeindruckt zu ihr um. „Mit meinem Sektorpass können wir direkt durchfahren und habe keinen langen Wartezeiten an den Sektorkontrollen.“ erklärte er und griff nach seinem Portemonnaie, das ebenfalls auf dem Sofa gelegen hatte.
Tetsuya saß in Dakon`s schwarzem Transporter, auf dem Rücksitz. Er hatte zu Dakon gesagt, er müsse noch etwas in Tokio erledigen und könne es somit auf diesem weg tun. Lynn blickte aus dem Fenster und sah zu, wie der Nachmittagshimmel vorbeizog. Dakon beobachtete sie nur ab und an, durch den Rückspiegel, aber es war mehr Besorgnis darüber, dass sie ihm keine Fragen stellte. Auch Tetsuya fand, dass es ihr ziemlich gleichgültig schien, ob sie nun für Dakon arbeitete oder eben nicht. Beide Männer konnten sich das nicht erklären.
-4- No Identity
„Da vorne müssen wir Links...“ erklärte Lynn und deutete auf eine enge Seitenstraße. „Hier wohnst du...?“ Fragte Tetsuya verwirrt, denn er sah nur marode und einsturzgefährdete Häuser. „Ja.“ erwiderte Lynn entschlossen und löste ihren Gurt. „Ich beeile mich.“ fügte sie hinzu und die beiden Männer nickten, während Dakon den Wagen vor einem Hochhaus parkte, dass nur durch zwei Seitenstraßen zu erreichen war. Die Wagentür fiel ins Schloss und die beiden Männer sahen Lynn hinterher, wie sie zügig zum Eingang lief.
„Sie hat nicht eine Frage gestellt...“ Wollte Tetsuya gerade das Gespräch mit Dakon anfangen als er ihn abwinkte : „Ich weiß. Irgendetwas stimmt da nicht.“ bemerkte Dakon nachdenklich und Tetsuya sah ihn im Rückspiegel verwundert an: „Was meinst du?“ Fragte er skeptisch und Dakon zündete sich eine Zigarette an: „Sie ist nirgendwo registriert. Ich habe die ganze Nacht in den Datenbanken gesucht, um ihr eine neue Identität zu verschaffen, aber sie hatte bis jetzt keine. Es scheint als würde sie nicht existieren.“ Tetsuya schluckte. „Aber sie hat einen Sektorpass...“ Versuchte Tetsuya das ganze zu ergänzen. „Ja, der natürlich gefälscht ist! Ich habe die ganze Nacht telefoniert, um rauszubekommen wo er herkommt und wer ihn ausgestellt hat, aber keiner meiner Informanten hatte dafür die geringste Erklärung.“
„Hast du in Efrafar die Datenbanken ebenfalls durchsucht?“ Dakon nickte und zog an seiner Zigarette. „Fehlanzeige, aber das hätte mich auch gewundert. Sie scheint keine Ahnung zu haben, wer wir sind und was wir tun.“
Lynn lief durch ihre Wohnung und packte ihre Sachen zusammen. Außer zwei Jeanshosen und drei Pullovern, waren es neben Socken und Unterwäsche nicht mehr sonderlich viele Dinge. Im Badezimmer griff sie noch nach den Tabletten, die ihr der Doktor einmal mitgegeben hatte. Sie hatte keine Ahnung wofür sie waren, aber sie bemerkte ab und an leichtes Zittern in ihren Händen und wenn sie eine davon nahm, wurde sie wieder ruhiger und es hörte auf. >>...ich weiß nicht, ob ich gerade die richtige Entscheidung treffe...<< Dachte sie, während sie noch einmal zum Fenster ging, dass auf den Hinterhof blicken ließ. Sie hielt den Rucksack mit ihren Sachen fest in der Hand, als sie plötzlich zusammen zuckte. >>...nein...<<
Sie konnte sehen wie sich drei schwarze Lieferwagen nährten und langsam zum stehen kamen. Nach einigen Sekunden stiegen einige Schwarzgekleidete Soldaten aus, die Gewehre mit sich trugen.
Dakon sah unruhig auf seine Uhr. „Wo bleibt sie solange...“ Fragte er angespannt und Tetsuya zuckte mit den Achseln: „Frauen eben...“ antwortete er unbekümmert, aber Dakon`s angespannter Gesichtsausdruck verriet ihm, dass er wirklich in Sorge war. „Da stimmt etwas nicht.“ stellte er nervös fest und wollte gerade aussteigen, als Lynn bereits aus dem Hauseingang gesprintet kam und auf den Wagen zu rannte : „Wir müssen hier weg!“ Rief sie hektisch, und sprang in den Wagen, dessen Motor Dakon bereits angelassen hatte. Er trat das Gaspedal durch und riss an der Schaltung, als er sah wie einige Soldaten aus dem Hauseingang gestürmt kamen. „LOS!“ Rief Tetsuya und griff nach seiner Waffe. Dakon wendete mit quietschenden Reifen. „Was sind das für Männer?“ Rief er angespannt. „Ich weiß nicht!“ Schrie Lynn und einige Kugeln bohrten sich mit einem ohrenbetäubendem Hämmern in die Beifahrertür, „Verdammt!“ Tetsuya zuckte zusammen und zielte dann auf einen der Soldaten der auf sie zu gerannt kam. „Schieß!“ Befahl im Dakon lautstark und Tetsuya drückte ab. Das Beifahrerfenster zersprang und Lynn versuchte sich vor den umherfliegenden Scherben zu schützen. Der Soldat ging zu Boden und ehe die anderen ihren Wagen erreichen konnten, verließ Dakon bereits mit Vollgas die Seitenstraße, durch die sie gekommen waren.
Verschwitzt ließ sich Lynn zurück in den Sitz fallen und wollte gerade erleichtert ihre Augen schließen, als sie sah wie Dakon sie aufgebracht Beobachtete : „ Was waren das für Männer?“ Fragte er erneut, noch immer mit Unruhe in seiner Stimme. „Ich weiß es nicht.“ Gab Lynn angespannt zurück. „Dann haben wir jetzt ein Problem.“
>>...ich weiß es doch nicht...<< Lynn stand angespannt an einer kleinen Brücke und die beiden Männer ihr gegenüber. Sie hatten Tokio ohne weitere Komplikationen verlassen können und standen nun außerhalb, auf einer Landstraße am Seitenstreifen. Sie Sonne war bereits untergegangen. Dakon telefonierte angespannt und als er nach fünf Minuten auflegte, trat er wütend Lynn gegenüber, die ihm hilflos entgegen blickte. „Warum sucht dich die VCO?“ Fragte er dann fassungslos. „Ich weiß es nicht...“ Murmelte Lynn und sah zu Boden, auf das hohe Gras zu ihren Füssen. „Ich habe die ganze Letzte Nacht damit verbracht alle Datenbanken nach dir zu durchsuchen, um dir eine neue Identität zu verschaffen. Keiner von uns taucht mehr darin auf, nur ich habe nichts, absolut nichts, über dich finden können.“ Lynn sah zu ihm auf und sah die Anstrengung in seinem Gesicht. „...ich weiß nichts...“ Murmelte Lynn erneut Leise und sah wieder zu Boden. Tetsuya trat einige Schritte zurück und beobachtete Dakon, wie er sich eine Zigarette anzündete und nervös auf und ab lief. „Lynn Sakahashy. Ist das dein richtiger Name?“ Fragte er schließlich, ein wenig ruhiger. Lynn zuckte mit ihren Schultern. „Lynn?“ Wiederholte Dakon angespannt und sah sie an. „Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung.“ Ihre Stimme klang unsicher und voller Abwehr. „Es ist einige Zeit her...“ Fügte sie zögerlich hinzu und sah in die Ferne. Der Wind wehte ihr einige Haarsträhnen aus dem Gesicht und Dakon konnte die Verzweiflung in ihrem Gesicht sehen. „Du hast keinerlei Angehörige, oder?“ Fragte Dakon dann ein wenig leiser und Lynn schüttelte den Kopf. „Nein... und ich habe keine Ahnung, wer ich bin, oder was vor einem Jahr geschehen ist...“ Tetsuya fasste sich an den Kopf und atmete verblüfft aus.
„Es ist jetzt fast ein Jahr her... seit ich Nachts auf einer menschenleeren Straße aufgewacht bin. Ich hatte nur die Dinge, ich ich an mir trug, unter anderem meinen Sektorpass. Ich weiß nicht was davor geschehen ist...alles fehlt, oder ist so verschwommen, dass ich es nicht einordnen kann. Ich habe danach etwa eine Woche, in einem verlassen Haus Unterschlupf gesucht, bis diese Männer kamen und ich flüchtete. Danach habe ich mich so durchgeschlagen, zwischenzeitlich hatte ich einen Job bei einem Kureierdienst, aber nachdem diese Soldaten auch dort aufgetaucht waren habe ich mich mit Einbrüchen über Wasser gehalten.“
Dakon nickte verständnisvoll : „Deshalb hattest du die Uhr und das Geld dabei, als Jin dich überrascht hat?!“ Rekonstruierte Tetsuya verblüfft, und Lynn nickte. „Hattest du mit noch jemandem Kontakt?“ Fragte Dakon dann. „Ja, ein Doktor, ich hatte ihn wegen meiner Verletzungen aufgesucht, mit denen ich wachgeworden war. Ich war aber nur zweimal bei ihm, weil es nicht lange gedauert hatte, bis diese Männer auch dort auftauchten und ihn erschossen.“ „Wie war der Name des Doktors?“ Fragte Dakon ernst und zückte sein Handy. „Dr. Shiba.“ Antwortete Lynn und Dakon wandte sich ab, um zu telefonieren. Tetsuya sah sie fassungslos an. „Warum hast du nichts gesagt?“ Fragte er sie vorsichtig und sie zuckte mit den Schultern: „Was hätte ich sagen sollen?“ Sprach sie langsam und sah ihn an. „Wir hätten dir doch direkt geholfen...“ Sprach Tetsuya, aber Lynn schüttelte den Kopf und sah zu Dakon rüber, der heftig am gestikulieren war, während er telefonierte. „...ich glaube nicht, dass Dakon noch möchte, dass ich für ihn arbeite...“ Tetsuya sah sie verwundert an „Ich stelle ein zu großes Risiko für alle anderen da...“ Dakon hatte das Gespräch beendet und lief zielstrebig auf Lynn zu. „Sind dort noch Unterlagen von dir zu finden?“ Fragte er angespannt, aber Lynn schüttete den Kopf: „Nein, ich war kurz danach nochmal bei ihm und wollte sie mitnehmen, aber sie waren nicht mehr da.“ Tetsuya sah das Irgendetwas Dakon zu beunruhigen schien. „Gut.“ Sagte er schließlich, aber die Falten auf seiner Stirn verschwanden dennoch nicht: „Wir sollten weiterfahren, in einer Stunde beginnt die Ausgangssperre.“
Jin`s Zimmer erwies sich als recht klein. Außer einer Kommode und einem Bett, befand sich nichts darin, aber es wäre ohnehin nicht für mehr Platz gewesen. Nur ein Fenster das den Blick auf eine gegenüberliegende Hauswand zuließ, war noch gegenüber der Tür. Dakon hatte die gesamte Rückfahrt nicht mehr viel mit Lynn gesprochen. Sie fragte sich, ob es daran lag, dass sie erst jetzt mit der Sprache raus gekommen war, nachdem es fast zu spät gewesen wäre, oder ob es daran lag, dass sie durch ihre Undurchsichtigkeit eine Gefahr für die Organisation darstellte. Beides schien ihr nicht abwegig zu sein, aber dennoch hatte Dakon ihr den Platz in seinem Team nicht verweigert.
Lynn sah aus dem Fenster, die Sonne schien schwach durch die Wolken durch. Ein Klopfen riss sie aus ihren Gedanken. „Ja?“ Fragte sie nur laut und drehte sich zur Tür um, die von Tetsuya geöffnet wurde : „ Ich muss zu einem Freund ein paar Dinge abholen. Willst du mich begleiten?“ Fragte er erwartungsvoll. Lynn sah ihn verwundert an und nickte schließlich. Tetsuya blickte sie erleichtert an: „Ich warte in zehn Minuten unten“.
Warum wollte er sie mitnehmen, fragte sie sich als sie den Reißverschluss ihrer schwarzen Weste schloss. Er machte einen unbekümmerten Eindruck als er unten an seinem schwarzen Geländewagen auf sie wartete, und sie musterte. Sie Sonne schien ihr ins Gesicht und Tetsuya fragte sich wie alt sie wohl sein würde. Er vermutete, dass sie ihm auf die Frage keine Antwort geben könne, daher schätze er sie auf Anfang Zwanzig.
Als sie sich neben ihn in den Wagen setzte fiel sein Blick auf ihre Hüften, die nicht ganz von der Weste bedeckt wurden. Der Verband war verschwunden. „Wie fühlst du dich?“ Fragte er sie und ließ den Motor an. „Gut.“ antwortete sie und lächelte ihn an. Lynns Lippen waren voll, und ihr lächeln strahlend. Tetsuya sah sie einige Sekunden an. „Ist etwas?“ Fragte sie verwundert, aber er schüttelte nur den Kopf und fuhr dann los.
„Es ist nur das erste mal, dass ich dich im Hellen sehe.“ erklärte er und lächelte. Die Beiden fuhren durch einige Straßen und anschließend durch das Stadtinnere von Nagoya. Tetsuya umfuhr großzügig die Sektorpässe, denn er wusste nicht, ob man Lynn vielleicht auch dort suchte. „Wir fahren zu einem guten Freund. Rin, er wird dir einen anderen Sektorpass verschaffen. Dakon ist sich nicht sicher, ob sie dich durch den Sektorpass aufspüren wollen.“ Erklärte Tetsuya, während Lynn neugierig nach draußen sah. Sie antwortete nicht, was hätte sie auch sagen sollen.
Der Wagen hielt vor einem kleinen, unscheinbarem Café außerhalb des Stadtzentrums. „Wir sind da.“ Sagte Tetsuya und stieg aus. Lynn musterte beim Aussteigen die umgebenen Geschäfte und Häuser. „Du warst hier noch nie, oder?“ Fragte Tetsuya ruhig während sich die Beiden auf das Café zubewegten. „Ich glaube nicht...“ Antwortete Lynn abwesend. >>Vielleicht war ich hier schon... vielleicht komme ich von hier.... vielleicht habe ich hier mal gewohnt... aber ich kann mich nicht erinnern.<< Die Tür des Ladens öffnete mit einem leisen Quietschen. Innen war es dunkel, nur einige Kerzen brannten auf den vereinzelten, runden Tischen. An der Theke blieb Tetsuya stehen und hinter ihm Lynn die sich weiter umsah. Es war niemand dort, außer dem Chef der gerade aus einer Tür in den Gastraum trat und Tetsuya freudig begrüße : „Tetsuya! Schön dich zu sehen.“ Sagte er und kam auf die Beiden zu. Er schien arabischer Herkunft zu sein, fand Lynn und blieb einige Zentimeter hinter Tetsuya stehen. „Arash!“ Begrüße in Tetsuya und die Beiden Männer umarmten sich. „Wen hast du da mitgebracht?“ Fragte der Mann dann freundlich und musterte Lynn, die einige Schritte hinter Tetsuya vortrat. „Arash, das ist Lynn, ein neues Mitglied der UEF.“ Lynn nickte, und während Arash sich eine Zigarette anzündete sagte er: „Du bist bestimmt wegen Rin hier, nicht?“ Tetsuya nickte, und Arash machte mit der Zigarette im Mund eine Geste dass sie ihm folgen sollten. Er führte die Beiden in eines der Hinterzimmer, in dem, im Gegensatz zum Gastraum, einige Männer an den Tischen saßen und sich unterhielten. Als Lynn den Raum betrat wurde es jedoch stiller und einige von ihnen sahen auf. „Warum schauen sie mich so an?“ Fragte Lynn Tetsuya, der noch immer Arash folgte. „Frauen kommen eher selten hierher“ Gab er leise zurück. „Und so hübsche ganz besonders.“ Sagte Arash lächelnd. An einem der Tische vor ihnen saß ein junger Mann mit hellbraunen Haaren, vor seinem Laptop. Als er die Drei auf sich zukommen sah klappte er ihn zu und nahm seine Brille ab. „Ted, schön dich zu sehen“ Sagte er und stand auf.. „Wenn ihr etwas braucht, ihr findet mich vorne“ Verabschiedete sich Arash und ließ die drei allein. Tetsuya umarmte den Mann und drehte sich dann zu Lynn: „Das ist Rin. Ebenfalls ein Mitglied der UEF“. Sagte er dann und Lynn sah ihn ruhig an. „Das ist also Lynn...“ Sagte Rin leise und hielt ihr die Hand hin. Sie gab sie ihm und er drückte sie sanft. „Wollt ihr etwas trinken?“ Fragte Rin dann, während sie sich setzten. Beide schüttelten den Kopf. „Was führt euch zu mir?“ Fragte Rin dann während er seinen Laptop wieder aufklappte und sich eine Zigarette anzündete. „Hat Dakon dir nicht Bescheid gesagt?“ Fragte Tetsuya dann ein wenig verwundert. Rin überlegte kurz und sah Lynn an, die aber ihren Blick durch den Raum gleiten ließ und es schien als wären seine Gedanken irgendwo anders. „Rin?“ Fragte Tetsuya erneut etwas verwundert und er sah ihn verwirrt an: „Ja...Dakon. Ja, klar, er hatte mir Bescheid gesagt. Ich habe den Pass hier.“ Sagte er dann und legte etwas aus seiner Manteltasche auf den Tisch. Lynn sah darauf und entdeckte ihr Foto auf dem Sektorpass. Aber es war anders. Sie trug darauf schwarze Kleidung und ihre Augen waren grün. „Was ist das für ein Foto?“ Fragte sie dann und Rin zog seine Brille wieder auf. „Ich musste es bearbeiten, ich weiß nicht in wie weit sie die Möglichkeit haben über die Gesichtserkennung deinen alten Pass aufzurufen. Da er jedoch in keinem ihrer Systeme zu finden ist dürfte es jedoch nicht möglich sein. Aber wir wollten auf Nummer sicher gehen.“Erklärte Rin freundlich. „Yusuri Hah Shoyi?“ Fragte Tetsuya und nahm den Pass in seine Hände um ihn genauer zu betrachten. Rin lachte und sah Lynn an die geistesabwesend zu einer Tür schaute. „Ja, der Name taucht bisher nur in Verbindung mit einer Bewohnerin aus Tokio auf. Nichts auffälliges und keine Einträge in den Datenbanken.“ Tetsuya nickte zufrieden und schob ihn Lynn rüber. „Wo kann ich mich kurz frisch machen?“ Fragte Lynn dann und nahm den Sektorpass. „Dort drüben.“ Sagte Rin verwundert und zeigte auf eine Tür hinter einigen Tischen an denen weitere Männer saßen und sich unterhielten. „Danke.“ Sagte Lynn erleichtert und lächelte während sie aufstand und Rin und Tetsuya zurückließ. Die beiden sahen ihr nach. „Und Dakon ist sich sicher mit ihr?“ Fragte Rin dann, nachdem Lynn außer Reichweite war. Tetsuya nickte und griff nach Rins Zigaretten die auf dem Tisch lagen. Er reichte ihm ein Feuerzeug. „Ja. Er vermutet zwar dass irgendetwas mit ihrer Person nicht stimmt, aber von ihr selbst geht keine Gefahr aus.“ Rin nickte und ließ sich zurück in den Stuhl fallen. „Und wie kam es nun, dass Jin versetzt wurde?“
Lynns Gesicht erschien durch das grelle Neonlicht blass im Spiegel über dem Waschbecken. Auch das Wasser nütze nichts. Ihre Hände zitterten leicht als sie den Wasserhahn wieder zudrehte. >>Sie sind alle so bemüht.... und ich kann nichts tun. Ich kann nur abwarten, bis sie mich brauchen...<< Aus ihrer Westentasche holte sie eine kleine Packung mit Tabletten die sie aus ihrer Wohnung mitgenommen hatte. Zwei davon nahm sie. >>Das zittern sollte gleich aufhören..<< Dachte sie und sah wieder in den Spiegel.
„Er hat absolut überreagiert. Aber Jin war doch sonst nicht der Typ für solche Aktionen...“ Bemerkte Rin nachdem Tetsuya ihm von den letzten Geschehnissen erzählt hatte. „Das stimmt, aber er war in letzter Zeit ziemlich neben der Spur. Ich nehme an die Trennung von Arashi hat ihm zu schaffen gemacht.“ Erwiderte Tetsuya nachdenklich. „Ja, das kann gut sein.“ Stimmte Rin zu und sah einen Moment zu einem anderen Tisch rüber. „Sie ist schon zehn Minuten weg... ob was passiert ist?“ Fragte Tetsuya sich dann und wollte gerade aufstehen, als Rin nach seiner Hand griff: „Warte ab. Nachdem was du mir erzählt hast, kann sie gut auf sich alleine aufpassen.“ Erwiderte Rin und Tetsuya setzte sich wieder und sah ihn nachdenklich an. „Hast du sie dir mal genau angeschaut?“ Fragte Rin dann und er sah ihn verwundert an: „Ja, warum?“ Fragte Tetsuya und drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus. „ Ich meine ja nur.“ Fügte er hinzu und lächelte. „Vergiss es. Sie ist viel zu jung.“ Erwiderte Tetsuya leicht angespannt, als er sah wie Lynn zu ihrem Tisch zurück kam. Sie setzte sich und sah die beiden Männer fragend an. „Ist etwas?“ Fragte sie lächelnd aber beide schüttelten den Kopf.
Die Sonne ging bereits unter, als Lynn und Tetsuya das Café wieder verließen. Sie hatten noch lange über Einsätze die noch bevorstanden gesprochen und über die einzelnen Teammitglieder. Lynn hatte erfahren dass auch Rin und Tetsuya schon einige Operationen der UEF durchgeführt und geplant hatten. Sie hatten viel Erfahrung bei solchen Einsätzen und beinahe jeder folgten den selben militärischen Regeln. Lynn hatte aufmerksam zugehört und sich gefragt ob Dakon ihr wohl auch irgendwann die Verantwortung für einen solchen Einsatz übertragen würde. Bei all den Mitgliedsnamen der UEF hatte Lynn jedoch nur einen einzigen Weiblichen Namen gehört : „Arashi“. Sie war die Freundin von Jin gewesen, aus einer anderen Einheit. Die beiden hatten sich jedoch vor kurzer Zeit trennen müssen, da Dakon strickt gegen Beziehungen innerhalb seines Teams war. Vielleicht waren Arashi und Jin nun wieder zusammen, schließlich musste Jin Dakons Einheit verlassen, dachte Lynn. Es schien um die zwanzig Einheiten im Umkreis von Nagoya und Tokio zu geben. Von Einheiten Außerhalb Japans war jedoch keine Rede gewesen. Auch Rin war aus Efrafar, ebenfalls wie Tetsuya. Wieder hatten sie über den „achten Sinn“ gesprochen und Lynn fragte sich wie sie wohl herausfinden würde, ob sie ihn auch hätte.
Es war dunkel, als Lynn wieder zu Tetsuya ins Auto stieg und ihn lächelnd ansah. Er wunderte sich und sah sie fragend an. „Danke, es war schön, dass ich dich begleiten konnte.“ Sagte sie und sah ihn erleichtert an. „Rin war sehr angetan von dir.“ Sagte Tetsuya und lächelte während er den Motor anließ. Lynn lächelte ebenfalls und schwieg dann einige Zeit. Nachdem sie wieder auf einer der Hauptstraßen durch das Zentrum Nagoyas fuhren fragte Lynn dann : „Warum bist du zur UEF gekommen?“ Tetsuya sah ruhig auf die Straße vor sich und zündete sich dann eine Zigarette an. „In Efrafar, als noch alles in Ordnung war, zumindest in der Stadt in der ich lebte, fing es eines Tages an auch ungemütlich zu werden.“ „Auch?“ Unterbrach ihn Lynn. „Ja, dass die andere Welt, Valvar schon so lange wir denken können versucht Efrafar zu übernehmen ist schon seit Generationen so. Dort wo ich herkomme hatten wir aber Glück und blieben lange verschont. Eines Nachts jedoch kamen sie. Es begann mit Schüssen. Ich schlief neben meiner Freundin, Rei, wir hatten an dem Abend lange unsere Hochzeit geplant, als die Soldaten der VCO uns überraschten. Sie brachen in unsere Wohnung ein und nahmen uns fest. Wir hatten keine Chance. Sie sperrten uns getrennt voneinander in riesige Transporter und überfuhren uns dann in diese Welt, irgendwohin zwischen Tokio und Nagoya, zu einem ihrer Quartiere. Ich war ungefähr zwei Wochen mit unzähligen anderen dort.“ Tetsuya hielt inne und warf seine Zigarette aus dem Fenster. Lynn hörte ihm bestürzt zu. „Es war Glück, dass Dakon damals bereits mit einigen Wiederstandskämpfern die Anfänge der UEF gegründet hatte. Sie kamen und befreiten uns. Der Großteil von uns schloss sich ihnen an, gewillt unsere Welt vor dem Untergang zu bewahren und mit dem Ziel die VCO ein für alle mal zu erledigen. Aus diesen Wiederstandkämpfern etablierte sich dann nach und nach die UEF.“ Lynn nickte stumm und sah auf die Straße. Sie waren fast an ihrem Unterschlupf angekommen. „Was ist mit Rei geschehen?“ Fragte sie dann vorsichtig. „Ich habe sie nie wieder gesehen.“ Antwortete Tetsuya ruhig.
Dakon saß im Wohnzimmer vor zwei Laptops und sah auf, als Lynn und Tetsuya den Raum betraten. „Hat alles geklappt?“ Fragte er dann und stand auf. Lynn nickte und ging einige Schritte auf ihn zu, um ihm den neuen Sektorpass zu geben. Er betrachtete ihn zufrieden: „Es ist ein Jammer um deine blauen Augen.“ bemerkte er und sah in Lynns Gesicht, die ihn ernst ansah. „Er musste es bearbeiten.“ Erwiderte sie und steckte den Pass wieder ein. „Was hat Rin wegen den Zero-Projekten gesagt?“ Fuhr Dakon dann fort und wandte sich zu Tetsuya der sich auf das Sofa fallen ließ. „Keinerlei Neuigkeiten“ Erwiderte er und machte sich eine Zigarette an. Dakon nickte unzufrieden.
>>Zero-Projekte...<< Wiederholte Lynn in Gedanken. Die Beiden Männer hatten im Café darüber kurz gesprochen, hielten sich jedoch so kurz, so dass sie nicht verstand worum es sich dabei handelte. Sie lag auf dem Bett und sah seitlich durch das Fenster in die Dunkelheit.
„Lynn!“ Rief Jemand ihren Namen und sie machte schläfrig die Augen auf. Sie blickte in Tetsuya`s Gesicht der vor ihr am Bett stand. „Zieh dich an, eine andere Einheit wurde gefangen genommen!“ Ehe sie antworten konnte war Tetsuya bereits wieder raus gestürmt. Sie hörte Stimmen hinter der Tür, die er halb offen gelassen hatte. Lynn sah nach draußen, es war noch immer dunkel. Sie zog nur ihre Weste an, da sie mit ihren Sachen eingeschlafen war. Als sie ins Wohnzimmer kam, sah sie bereits Dakon mit seinem Handy, der unruhig auf und ab lief. Tetsuya holte aus einer Schublade zwei Waffen vom Kaliber fünf und Lud sie nach. „Wir sind unterwegs.“ Sprach Dakon nervös in sein Handy und legte auf um Lynn anzusehen. Die beiden Männer trugen die dunkelblaue Uniform der UEF. „Geht schon mal runter, ich und Sakuya kommen sofort!“ Sagte Dakon zu Tetsuya und sah zur Tür, in der ein großer Mann mit schwarzen Haaren lehnte, der eine Zigarette rauchte. Er sah Lynn an und sie hielt einigen Sekunden seinem Blick stand. Er trug keine Uniform und war schwarz gekleidet. Lynn kam nicht umhin an ihm vorbeizugehen um Tetsuya zu folgen der sich auf den Weg in den Flur machte. Sakuya sah Lynn noch immer an, er war weitaus größer als sie und Dakon. >>...Sakuya...<< Sie wandte erst im letzten Augenblick ihren Blick von ihm ab und spürte noch im weitergehen seinen.
„Ist alles okay?“ Fragte Tetsuya sie angespannt als sie ins Auto stieg. Sie nickte geistesabwesend, noch immer Sakuya`s Blick vor Augen. „Das gerade war Sakuya Kira. Du erinnerst dich doch an ihn...?“ Sagte Tetsuya und ließ den Wagen an. Lynn nickte sagte jedoch nichts. >> Wie könnte ich diese Augen vergessen...<<
Sie waren lange gefahren, etwa zwei Stunden verriet Lynn der Blick auf die Uhr. Lynn schien mitten im Nirgendwo auszusteigen. In der Dunkelheit konnte sie weit entfernt einen Hafen vermuten. Sie konnte bereits das Salzwasser des Meeres riechen. „Wo sind wir?“ Fragte sie unsicher und sah zu Tetsuya rüber der an sein Handy ging. „Dakon, wir sind da!“ Sagte er angespannt und wartete auf eine Antwort, ehe er wieder auflegte. „Dakon und einige andere Einheiten nähern sich von Westen. Wir werden von hier aus gehen. Umso kleiner die Gruppen sind, umso kleiner ist die Gefahr überwältigt zu werden.“ Erklärte er entschlossen während er den Kofferraum seines Geländewagens öffnete. Lynn nickte wortlos und ging zu Tetsuya der ihr ein riesiges Scharfschützengewehr hinhielt. „Ich weiß nicht wie man damit umgeht...“ Sagte Lynn leicht verunsichert und nahm es. „Dakon sagte, du wirst schon wissen was zu tun ist.“ Erwiderte ihr Tetsuya und holte ein zweites heraus. >>...was soll das heißen...<< Fragte sich Lynn und nachdem Tetsuya den Kofferraum wieder geschlossen hatte folgte sie ihm stumm. „Unser Informant sagte, dass sie auf einen der Tanker Leute der UEF verladen, die vor einiger Zeit gefangen genommen wurden. Der Tanker soll morgen früh auslaufen, wir müssen das verhindern. Die VCO ist dieses mal zahlreich, einer ihrer Hauptmänner, an dem wir schon länger dran sind, Shariv, ist ebenfalls daran beteiligt.“ Erklärte Tetsuya während sie losliefen. Es herrschte einige Minuten stille, und während sie näher kamen, konnte Lynn die ersten Container und Kräne des Hafens entdecken. „Hier, Dakon will dass auch du eins hast!“ Tetsuya gab Lynn ein Funkgerät. Sie nahm es und steckte es in ihren Hosenbund. „Was soll ich tun?“ Fragte sie und hatte mühe mit dem riesigen Gewehr durch das Hohe Gras zu rennen. „Dakon wird dir alles erklären, wenn du auf deinem Posten bist!“ Erwiderte Tetsuya ein wenig außer Atem.
Die Beiden hatten sich unbemerkt an unzähligen Containern vorbei bewegt und konnten nun den riesigen Tanker am Dock erkennen um den es nur von Soldaten der VCO wimmelte. Lynn vernahm ein Rauschen und griff hinter einem der Container nach ihrem Funkgerät: „Lynn, dreh dich um.“ Hörte sie Dakons Stimme. Sie drehte sich um und sah nach oben, auf einen weiteren Container, der eine gute Sicht über das ganze Geschehen bieten würde. „Ich sehe den Container.“ Gab sie zurück. „Das ist dein Posten. Geh nach oben, und gib mir und Tetsuya Feuerschutz. Du verlässt den Posten erst, wenn ich dich dazu auffordere.“ Erklärte Dakon angespannt weiter. „Verstanden.“ Gab Lynn zurück und sah in Tetsuya`s verwundertes Gesicht. „Was?“ Fragte sie, aber er schüttelte nur den Kopf und rannte dann los, weiter zum Dock. „Pass auf dich auf!“ Sagte er noch hastig und ließ Lynn stehen.
-5- Shariv
Sie kletterte einige Minuten und hatte Mühe das Gewehr dabei nicht fallen zu lassen. Als sie auf dem Container angekommen war, begab sie sich auf alle Viere und kletterte vorsichtig bis zum Rand, von wo aus sie den Kompletten Hafen überblicken konnte. Sie sah Dakon, der hinter einigen Containern unbemerkt in sein Funkgerät sprach und Tetsuya der ihn nun auch erreicht hatte. Es gestaltete sich nicht sonderlich schwer für Lynn dass Scharfschützengewehr fachgerecht zu positionieren und zu laden. Durch das Ziel-objektiv konnte sie jede Kleinigkeit erkennen. Sie richtete ihren Kopf wieder auf und sah durch die Dunkelheit. Auf einem der Container ihr gegenüber entdeckte sie dann Sakuya, der in der selben Haltung wie sie, mit einem Gewehr zu Dakon rüber sah. Er griff nach seinem Funkgerät und auch Lynn konnte Dakons Stimme hören. „Wir warten noch, bis unsere restlichen Männer hier sind.“ Funkte Dakon angespannt.
„Meinst du es ist eine gute Idee gewesen sie mit hier her zu nehmen?“ Fragte Tetsuya während er sich eine Zigarette anmachte und mit Dakon den Tanker und die VCO aus dem Hinterhalt beobachtete. Dakon nickte und sah angestrengt aus: „Glaub mir. Ich habe sie kämpfen sehen. Du auch. Was auch immer mit ihr passiert ist, ich bin mir sicher, sie hat eine militärische Ausbildung genossen. Sie weiß es nur nicht mehr.“
Ihr Atem war ruhig und flach, und sie spürte das kalte Metall an ihren Hüften, als sie etwas hinter sich rascheln hörte und ein junger Mann in der Uniform der UEF auf den Container kletterte. Sie sah wieder rüber zu Dakon, der noch immer mit Tetsuya sprach. Der Mann nährte sich ihr und hockte sich einige Meter entfernt von ihr hin, um sein Scharfschützengewehr zu laden. Nach einigen Sekunden sah er zu ihr rüber. Lynn vermutete dass er sie nicht richtig sehen konnte, da es zu dunkel für ihn war. Sie blieb auf ihrer Position und sah wieder zu Sakuya, auf die andere Seite des Geländes, rüber. Er rauchte und sie konnte eine weitere Waffe neben seinen Händen erkennen. „Haltet auch bereit, wir fangen an.“ Funkte Dakon dann und riss Lynn aus ihren Gedanken. Nur zu gerne hätte sie mehr über Sakuya gewusst. >>Er hat mir das Leben gerettet... ich war vorhin außer Stande mich zu bedanken... es war so... so...<< Lynn schüttelte den Kopf und sah durch das Visier um Dakon und Tetsuya zu fixieren. Sie verbot sich weitere Gedanken an andere Dinge, sie hatten einen Befehl erhalten und sie würde ich nun ausführen. Ihr Blick folgte scharfsinnig Tetsuya`s und Dakon`s Schritten. Die beiden nährten sich unauffällig einer Gruppe von feindlichen Soldaten. Lynn konnte ihren Herzschlag vor Aufregung spüren, als sie sah wie Dakon und Tetsuya aus dem Hinterhalt mit ihren Waffen auf die Soldaten zielten. Es folgten zwei leise Schüsse und zwei von ihnen gingen zu Boden. Noch ehe der Mann neben ihr schießen konnte, hatte sie bereits zwei weitere Soldaten niedergeschossen. Der Rest von ihnen wollte augenblicklich fliehen, jedoch feuerte Sakuya drei weitere Schüsse ab und sie gingen zu Boden. „Gut gemacht.“ Funkte Dakon und er und Tetsuya liefen ein ganzes Stück weiter, an den Leichen der feindlichen Männer, vorbei. Jetzt konnte Lynn noch weitere UEF Kämpfer sehen, die sich gegenüber von Dakon und Tetsuya in Richtung des Tankers bewegten. >>...ich habe gerade zwei Menschen getötet...<< Schoss es Lynn plötzlich durch den Kopf. >>...aber ich fühle nichts...<< Obwohl ihr Herz laut vor Anspannung schlug waren ihre Hände völlig ruhig und entspannt. Es kam ihr vor, als hätte sie in ihrem Leben nie etwas anderes getan. Sakuya lag ebenfalls noch ruhig gegenüber von ihr auf dem Dach, als sie plötzlich hinter sich das Rauschen eines Funkgerätes hörte. „Sir, wir haben sie!“ Ertönte eine unbekannte stimme voller Aufregung und Lynn drehte sich blitzschnell um. Zwei Soldaten kamen auf den Container geklettert und wollten gerade ihre Waffen ziehen, als Lynn bereits aufgesprungen war und einem von ihnen auf das Dach zog, um ihn mit zwei gezielten Schlägen zur Bewusstlosigkeit zu bringen. Der Mann blieb regungslos liegen und der andere Soldat der UEF, der mit Lynn auf dem Container lag, hatte seine Waffe gezogen und wollte gerade schießen, als Lynn den anderen Soldaten bereits mit einem so heftigen Tritt in die Magengegend erwischte, dass er wortlos zu Boden sackte und reglos liegen blieb. „Verdammt...“ Fluchte der Fremde und widmete sich wieder Dakon und den anderen weiter unten. „Alles klar?“ Flüsterte er leise als Lynn sich wieder hinlegte. „Mir geht es gut.“ Erwiderte sie kühl und sah zu ihm rüber. Er sah sie verwirrt und fassungslos an. >>...dachte er etwa ich wäre ein Mann...<< Fragte sie sich und schwieg einige Sekunden ehe sie wieder ihr Visier auf Dakon fokussierte. Sakuya hatte kurz zu ihnen rüber gesehen und sah nun ebenfalls weiter zu Dakon, nachdem er sich eine weitere Zigarette angemacht hatte.
Es war einige Zeit vergangen und die Sonne ging nun langsam über dem Wasser auf. Noch immer hatte Lynn sich keinen Millimeter bewegt, nur gezielte Schüsse abgegeben, damit die Gruppe der UEF ohne Probleme zu dem Tanker vordringen konnte. Dakon hatte nicht weiter gefunkt. Lynn hatte bemerkt wie der Soldat neben ihr noch einige Male zu ihr rüber gesehen hatte, aber er hatte nichts gesagt. Sakuya war nicht mehr gegenüber von ihr. Er musste verschwunden sein, als sie gerade einige Soldaten erschossen hatte.
Sie war in Gedanken versunken als laute Schüsse sie wieder in die Realität zurückholten. Dakon und die anderen der UEF waren unerwartet auf einige Soldaten der VCO getroffen, in einem Bereich den Lynn nicht einsehen konnte. Sie wurde unruhig und dann konnte sie aus ihrem Funkgerät Schreie hören. >> Ich muss ihnen helfen...<< Dachte Lynn und legte ihr Gewehr bei Seite. „Hey, Dakon hat keine Anweisung dazu gegeben!“ Rief der Mann neben ihr. Sie schüttelte nur den Kopf : „Wenn er tot ist wird er auch nie wieder welche geben!“ Gab sie zurück und steckte das Funkgerät wieder in ihren Hosenbund. „Du kannst nicht einfach deinen Posten verlassen!“ Erwiderte ihr der Mann und sah sie verwirrt an. Aber Lynn kümmerte sich nicht weiter darum und rannte zum Ende des Containers um sich in die Tiefe fallen zu lassen und los zu sprinten. >>Sakuya ist auch nicht mehr auf seinem Posten!<< Dachte sie und rannte hinter einigen Containern entlang, ehe die Schüsse und das Geschrei immer näher kamen, als hinter ihr plötzlich ein Geschoss einschlug und alles mit einem ohrenbetäubenden Knall in Flammen aufging.
Die Explosion warf Lynn gegen eine Wand und sie richtete sich erschrocken wieder auf, während reichlich Aluminium Teilchen durch die Luft gewirbelt wurden. Der Container hinter ihr stand in Flammen und dahinter waren noch zwei weitere Containerreihen völlig zerfetzt und verbeult. Sie rannte einige Meter zurück durch die Flammen und fand den Mann, der mit ihr geschossen hatte, leblos auf dem Boden. Sie beugte sich hinunter und fühlte nach seinem Puls, aber er war tot. >>... das hätte ich sein können...<< Dachte sie erschrocken, begab sich dann jedoch wieder durch die Flammen in die Richtung von Dakon.
Tetsuya und Dakon hatten Mühe dem Feuer der VCO standzuhalten. Sie schossen mit Granatwerfern und Gewehren auf die Mitglieder UEF. Tetsuya zuckte zusammen als er die Explosion im hinteren Teil des Hafens bemerkte. „LYNN!“ Schrie er nur und Dakon drehte sich voller Entsetzen um, um dann ebenfalls zu sehen, dass Lynn`s Posten in Flammen stand. „Verdammt!“ Fluchte Dakon und sah wieder nach vorne um die Ecke, um einige Männer der VCO sehen zu können. Ihre Männer hatten ebenfalls hinter einigen Frachtcontainern Feuerschutz gesucht. Dakon dachte darüber nach, an Lynn zu funken, aber es wäre zu gefährlich gewesen, sich jetzt etwas anderem zu widmen. Verluste gab es immer. Aber hier ging es um weitaus mehr, als nur um ein Menschenleben. Es wurde ruhiger und Tetsuya zog Dakon ein Stück zurück, um ihn zum Rückzug bewegen. Er schüttelte jedoch nur stumm den Kopf. Sie waren so nah dran. Es verstrichen einige Augenblicke, als Dakon plötzlich laute Schüsse hinter sich hören konnte. Während vor ihm eine Einheit der UEF weiter vorrückte und ein erneutes Gefecht mit den VCO Soldaten ausbrach, folgte Dakon Tetsuya, der zum hinteren Ende des Containers rannte. Er sah plötzlich Lynn und Sakuya, die nebeneinander standen und mit etlichen Soldaten kämpften. Sakuya verschoss konzentriert eine Kugel nach der anderen, während Lynn alle Soldaten die zu nah an die beiden herankamen mit gezielten Schlägen und Tritten außer Gefecht setzte. Tetsuya konnte nicht glauben was er sah. Die Beiden waren so schnell, dass er es kaum begreifen konnte. „Tetsuya!“ Riss ihn Dakon aus seinem Staunen und die beiden Männer begannen Lynn und Sakuya weitere Soldaten aus dem Hinterhalt vom Leib zu halten.
„Dakon, hier ist Shariv.“ Hörte Dakon schließlich, nach einige mInuten die in einem Handgemenge verstrichen waren, eine bekannte Stimme aus seinem Funkgerät. Er hielt inne. Lynn und Sakuya hatten die letzten Soldaten der VCO soeben zu Boden gebracht, als auch sie zu Dakon herüber sahen „Shariv.“ Sprach er nur völlig angespannt in sein Funkgerät. „Du fragst dich bestimmt wie ich an eines deiner Funkgeräte komme.“ Hörte er die dunkle und unliebsame Stimme eines der Kommandanten der VCO. „Was willst du?“ Fragte Dakon kühl. „Hm. Deine Frau und deine Tochter habe ich bereits. Wie wäre es heute mal mit Sakuya Kira?“ Lachte die Stimme am anderen Ende. Dakon drehte sich zu Sakuya um, der ihm nur ernst entgegen blickte. Lynn stockte der Atem und sie sah zu ihm hoch. Er stand noch immer neben ihr. Sein Blick galt nur Dakon. Sie konnte ihn nicht entschlüsseln. Er sah nur stumm und ernst Dakon an, während der Wind seine schwarzen Haare aus seinem Gesicht wehte. „Oder wie wäre es einfach mit ganz Efrafar?“ Lachte Shariv weiter. Lynn begann sich umzusehen und entfernte sich einige Schritte. Tetsuya sah ihr atemlos nach und steckte seine Waffe weg. Es war still geworden an dem Hafen. Es waren keine Schüsse mehr zu hören. „Verschwindet einfach von hier. Der Tanker wird auslaufen. Dagegen könnt ihr nichts mehr unternehmen.“ Wurde Shariv plötzlich ernster. „Du und deine ganze verkommende Rasse, ihr werdet damit nicht durchkommen. Nicht bevor ihr alle von uns vernichtet habt.“ Sprach Dakon ruhig, und sah sich ebenfalls um. Lynn konnte nirgends jemanden entdecken, als sie etwas hinter den Kränen in der aufgehenden Sonne, aufblitzen sah. Sie kniff ihre geblendeten Augen zusammen und sah dann, dass es die Uhr eines fremden Mannes war. Seine Kleidung verriet ihr, dass er nicht zur UEF gehörte, da war sie sich sicher. Er hielt etwas in der Hand und zielte damit genau auf Dakon. „nein...“ stammelte Lynn und sah hektisch zu Dakon rüber der noch immer in sein Funkgerät sprach. „DAKON!“ Schrie sie voller Entsetzen und mit der Gewissheit, dass man jeden Moment auf ihn schießen würde. Lynn rannte los, um ihn mit voller Wucht beiseite zu werfen! Er stöhnte bei dem Aufprall auf und das Funkgerät rutsche über den Boden, bis an Tetsuya`s Füße der die beiden nur erschrocken ansah, als plötzlich ein Schuss neben ihnen ertönte und direkt in die Containerwand hinter Dakon und Lynn einschlug .Es folgte ein weiterer Schuss. Lynn richtete sich von Dakon auf und drehte sich um, als sie Sakuya mit ausgestrecktem Arm da stehen sah, aus dessen Lauf es noch Qualmte. Er hatte den Schützen erwischt. Das Signal von Shariv verschwand aus dem Funkgerät und es wurde wieder still. Das hätte auch schiefgehen können, da war sich Lynn sicher, während sie ihre Sachen von dem Dreck des Bodens befreite. Tetsuya half Dakon hoch und er richtete sich mühselig wider auf. Er sah zu Sakuya rüber,der ihn ernst ansah, und dann sah er Lynn an, die ihn mit dem selben ernsten Ausdruck stumm anblickte. Auch Tetsuya sah zu Dakon und sein Gesicht verriet pure Erleichterung, darüber, dass Lynn schlimmeres mit ihrem waghalsigen Sprung hatte abwenden können. „Wir ziehen uns zurück.“
Es dämmerte bereits, als Lynn schon die Straße und ihr Quartier vermuten konnte. Tetsuya saß erschöpft neben ihr und hatte bis jetzt noch kein Wort gesagt als er sie plötzlich ansah: „Ich dachte du wärst tot.“ Sagte er erschüttert. Lynn sah ihn verwundert an. Sie sah aus, als käme sie von einem Spaziergang, fand er. „Ich habe mich Dakon`s Anweisung widersetzt. Der Soldat der den Posten mit mir hatte, hatte nicht so viel Glück.“
„Es war ein Bekannter von mir.“ Tetsuya sah wieder auf die Straße.
„Das tut mir leid.“ Erwiderte Lynn. Tetsuya nickte nur und zündete sich eine Zigarette an. „Du hast Dakon heute wahrscheinlich das Leben gerettet.“ Fuhr er fort, aber Lynn schüttelte den Kopf. „Nein. Es war Sakuya.“ Tetsuya sah sie wieder an: „Ja, vielleicht.“
Lynn hatte geduscht und ging nun leise durch den Flur, als sie sah, dass hinter der angelehnten Tür zum Wohnzimmer noch Licht brannte. Sie konnte Tetsuya und Dakon reden hören.
„Du hast es doch auch gesehen Dakon?“
„Ich weiß nicht was du meinst.“ Erwiderte er kühl und abweisend. Lynn konnte das Geräusch eines Gasfeuerzeuges hören. „Du hast doch gesehen wie sie zusammen gekämpft haben...“ Wiederholte Tetsuya nun etwas ruhiger. „Das ändert alles nichts daran, dass wir heute einen ziemlichen Rückschritt machen mussten.“
Die Luft war kühl und Lynn drehte sich auf die andere Seite, als sie im Bett lag. >>Shariv hatte gesagt, er hätte bereits Dakon`s Frau und seine Tochter... was hat er damit gemeint? Sind sie etwa auch der VCO zum Opfer gefallen, so wie Tetsuya`s Freundin? Heute sind so viele Menschen gestorben... aber es war als hätte ich das alles schon einmal gesehen... Sakuya Kira... sein Blick geht mir nicht aus dem Kopf...<< Noch immer waren hinter zwei Wänden Dakon`s und Tetsuya`s Stimmen zu hören, die miteinander diskutierten. Lynn drehte sich auf die andere Seite um dann festzustellen dass sie bereits seit zwei Stunden so auf dem Bett lag und nicht schlafen konnte. >>Tokio fehlt mir... die nächtlichen leeren Straßen... das Geräusch meines Motorrads wenn ich nicht schlafen konnte...<< Noch einige Minuten dachte sie nach, stand dann auf und zog ihre Schuhe an, um leise das Zimmer und schließlich das Apartment zu verlassen.
>> Tetsuya sagte mein Motorrad würde im Parkhaus unter dem Apartment stehen...<< erinnerte sie sich an seine Worte und fuhr mit dem Aufzug hinunter in den Keller. Er öffnete sich und sie lief in die dunkle Tiefgarage, als sie bereits ihr schwarzes Motorrad neben einer weiter, größeren Maschine stehen sah.
Der Wind wehte ihr die Haare aus dem Gesicht, und sie zog eine verdunkelte Sonnenbrille auf, während sie Gas gab und durch die leeren Straßen Nagoyas fuhr. >>Es fühlt sich gut an...<<
Im Regen des Morgengrauens schloss Lynn leise die Türe des Apartments auf und betrat den Flur. Es roch nach Kaffee und als sie an der Küche vorbeilief sah sie Dakon, der sie mit einer Tasse Kaffee in der Hand sauer anblickte: „Wo warst du die ganze Nacht?“ Fragte er sie und stellte die Tasse auf die Spüle um sich eine Zigarette anzuzünden. Ihre braunen Haare klebten an Lynn`s Gesicht und einige Wassertropfen rannen über ihre schwarze Lederjacke und über ihre dunkle Jeans. „Unterwegs.“ Provokation lag in ihrer Stimme. Sie steckte ihre Sonnenbrille in die Jackentasche. Dakon musterte sie zweifelnd, ehe Lynn weiterging und ihr Zimmer betrat.
Die folgenden Wochen waren für Lynn nicht sonderlich aufregend. Dakon hatte sie noch zwei weiteren Einsätzen zugeteilt. Einer davon fand mit einem anderen Team der UEF statt. Lynn`s Aufgaben beschränkten sich meist auf Feuerschutz bei denen sie sich auf einigen Dächern positionierte. Dakon war zufrieden mit ihren Leistungen, es gab keine Zwischenfälle und Lynn erledigte die Aufgaben stets überdurchschnittlich gut. Ihre Präsenz in der UEF und ihre Fähigkeiten hatten bald auch andere Teams erreicht und Lynn wurde zu einer gefragten Schützin. Tetsuya und sie verstanden sich immer besser, Sakuya hatte sie nicht mehr gesehen.
Das einzige was Dakon Kopfzerbrechen bereitete waren Lynn`s nächtliche Ausflüge. Er vermutete, dass sie einen Ausgleich brauchte, konnte sich jedoch nur schwer erklären wie sie die Nächte unterwegs und bei den Aufträgen absolut konzentriert sein konnte. Sie hatte ihm gesagt sie käme mit wenig Schlaf aus, aber er hatte Sorge, dass daraus bald ein Problem werden könnte.
Die Sonne war bereits untergegangen und von Dakon und Tetsuya war keine Spur, als Lynn geduscht das Bad verließ. Sie wickelte sich ein Handtuch um und ging ins Wohnzimmer um eine Tasse mit Tee vom Tisch zu nehmen, als sie Schritte hinter sich vernahm und sich erschrocken umdrehte. Rin stand ihr gegenüber und sah sie verwundert an. Sie stellte die Tasse wieder auf den Tisch. „Sind Dakon und Tetsuya nicht hier?“ Fragte er verwundert und sah in Lynn`s nasses Gesicht. Ihre blauen Augen leuchteten und sie sah ihn fragend an : „Nein, sie sind vor drei Stunden losgefahren...“ erwiderte sie und legte ihre Hände auf ihre Brüste damit das Handtuch nicht verrutschte. „Sie wollten eigentlich längst wieder hier sein.“ Stellte Rin fest und sein Blick glitt über Lynn`s lange, nasse Beine. Sie war sehr schmal, hatte jedoch wohl geformte Hüften. Rin fand dass sie beinahe zu dünn aussah, als sein Blick auf die hervorstehenden Knochen an ihrem am Hals fiel. Es verstrichen einige Sekunden als die beiden einen Schlüssel an der Haustür hörten und kurz darauf Tetsuya und Dakon den Raum betraten. „Was ist hier los?“ Fragte Dakon der Lynn in dem Duschtuch vor Rin stehen sah. „Ich habe euch gesucht.“ Gab Rin nüchtern zurück und Tetsuya sah Lynn besorgt an. „Geh dir was anziehen.“ Befahl Dakon ruhig und Lynn folgte seinem Aufruf.
„Wartest du schon lange?“ Fragte Dakon und die drei setzten sich. Er reichte Rin eine Zigarette und zündete sie an. „Nein. Tut mir leid, dass ich hier so herein geplatzt bin.“ Erwiderte er und sah Tetsuya an, der sich zurück gelehnt hatte und ihn nur ruhig betrachtete. „Was gibt es neues?“ Fragte Dakon schließlich und lehnte sich ebenfalls zurück. „Einer der Informanten von Furgosons Team hat erfahren dass Shariv heute Nacht in der Villa Dumont eine Feier gibt. Angeblich irgendein charity Event um Gelder für die Staatskontrollen und ihre Obermänner zu bekommen, aber wir glauben es geht sich dabei um den Austausch von den Lageplänen des neuen VCO Komplexes, unten in Tokio.“ Dakon nickte. „Wie wahrscheinlich ist es dort Soldaten zu treffen?“ Fragte Tetsuya. „Nicht sehr wahrscheinlich, vereinzelte Bewachungsposten sind mit Sicherheit dort, aber wir haben kein größeres Aufgebot zu erwarten. Zumal das ganze unter der Staatspolizei von Shariv getarnt wird, sollten wohl kaum Soldaten der VCO dort sein.“ Dakon nickte zufrieden aufgrund dieser detaillierten Informationen. „Es wäre eine Gute Chance für uns, etwas über den neuen Komplex in Erfahrung zu bringen und vielleicht können wir noch an weitere Informationen drankommen.“ Ergänzte Rin und sah fragend zu Dakon, der nachdenklich aus dem Fenster sah. „Wir werden dort sein.“ Entschloss sich Dakon dann und wollte gerade aufstehen als Rin ihn unterbrach: „Wenn willst du hinschicken?“ Dakon überlegte kurz, mit der Frage hatte er nicht gerechnet, aber er hatte bereits einen Plan: „Lynn. Sie wird am wenigsten dort auffallen.“ „Lynn hat keinerlei Erfahrung in solchen Einsätzen...“ Gab Rin zu bedenken, aber Dakon schüttelte nur den Kopf und stand nun doch auf: „Ich werde Tetsuya und Sakuya mit ihr schicken.“ „Aber Shariv kennt Sakuya Kira.“ Widersprach Tetsuya dann und Dakon drehte sich von ihm weg. „Mach dir um Sakuya`s Fähigkeiten unbemerkt zu bleiben mal keine Sorgen, Ted.“
Lynn hatte sich gerade ihre Schuhe angezogen als Dakon an ihre Tür klopfte. „Ja?“ Dakon sah sie ernst an, trat ein, und schloss hinter sich die Türe wieder. Aufgrund seiner Haltung nahm Lynn sofort war, dass er ihr etwas wichtiges zu sagen hatte. „Du fährst heute Abend zusammen mit Tetsuya und Sakuya zu einem charity Event der Staatspolizei. Shariv wird ebenfalls dort sein.“ Lynn war gerade noch dabei ihren zweiten Schuh zuzuschnüren als sie sich verwundert umdrehte. „Was soll ich tun?“ Fragte sie nüchtern und stellte sich wieder aufrecht hin um Dakon in die Augen sehen zu können. „Du wirst uns die Lagepläne über einen neuen VCO Komplex besorgen.“ Lynn nickte aufmerksam. „Ich und Rin, wir werden in der Nähe sein und das Ganze von außerhalb beobachten, wir würden sonst sofort auffallen.“ Lynn wollte sich gerade wieder ihren Schuhen widmen als Dakon hinzufügte : „Da ist noch etwas.“ Er holte einen Umschlag aus seiner Jackentasche und hielt ihn Lynn hin. „Was ist das?“ Fragte sie verwundert und nahm ihn. „Eine kleine Entschädigung für die Risiken. Wie vereinbart.“ Lynn sah in den Umschlag der voller Geldscheine war. >>...das ist viel zu viel...<< Dachte sie bei dem Anblick und schätze den Wert auf ca. 25.000 Dollar. „Ich habe dir viel zugemutet. Eine Sache davon ist, dass du hier wohnst. Es ist dir freigestellt, wenn du deine Privatsphäre haben möchtest und dir eine Wohnung nimmst.“ erklärte Dakon ruhig und Lynn sah ihn ernst an: „Ist es ein Problem für euch, dass ich hier bin?“ Fragte sie und legte den Umschlag abweisend auf ihr Bett. „Nein. Ich habe nur so viel Vertrauen zu dir, dass es dir überlassen bleibt.“ Erwiderte Dakon gelassen. Lynn nickte und er verließ ihr Zimmer.
„Hast du ihr jetzt das Kleid von Arashi gegeben?“ Fragte Rin und zündete sich eine weitere Zigarette an, als die drei Männer vor dem Haus warteten. „Ja, es sollte ihr passen.“ Erwiderte Dakon, und drehte sich um als er die lauten, klackenden Schritte von Lynn hinter sich hören konnte. Tetsuya stieg aus dem Wagen uns sah überrascht zu Lynn, die ihnen in einem schwarzen, langen Abendkleid, auf hohen schwarzen Schuhen entgegengelaufen kam. Ihre schulterlangen braunen Haare hingen lockig einige Zentimeter über ihren Schultern und ihre Lippen glänzten in einem zarten Rosè Ton, der das blau ihrer großen Augen noch mehr zur Geltung brachte. „Ach Ted, ich beneide dich, dass ich nicht mit ihr das Haus teile...“ Schwärmte Rin und konnte den Blick nicht von Lynn lassen. „Hast du alles?“ Fragte Dakon sie ernst und sie nickte, ehe die vier in den schwarzen Transporter stiegen und losfuhren.
Sie waren einige Zeit gefahren, ehe sie außerhalb von Nagoya auf einer Landstraße rechts ran fuhren und hielten. Lynn spürte Dakons Blick durch den Rückspiegel und sah zu ihm auf. „Rin gibt euch zwei Mikros, Lynn du bringst es am besten direkt vor dem Gehörgang in deinem Ohr an.“ Erklärte Dakon während Rin, der neben Lynn auf der Rückbank saß, ihr einen kleinen silbernen Knopf in die Hand gab. Sie nickte und sah zu Tetsuya vor ihr rüber, der es sich direkt ins Ohr steckte. „Damit habe ich die Möglichkeit euch gegebenenfalls Anweisungen von hier aus zu geben und euch orten zu können, falls es irgendwelche Zwischenfälle geben sollte.“ Ein leises klicken ertönte, als Tetsuya seine Waffe lud. „Habt ihr alles verstanden?“ versicherte sich Dakon und sah wieder nach hinten auf die Rückbank. Lynn nickte und spürte wie ihr Puls begann zu rasen und dann stieg sie zusammen mit Tetsuya aus. „Ein Fahrer wird euch hier abholen, ihr fahrt noch etwa 10 Minuten, Sakuya Kira wird vor dem Anwesen auf euch warten.“
Die Luft war kühl und Tetsuya hatte das Beifahrerfenster hinunter gekurbelt um sich eine Zigarette anzuzünden. Der Fahrer war verhältnismäßig jung. Sie fuhren an dem riesigen Parkplatz des Anwesens vorbei und kamen direkt davor zum stehen. Das große weiße Haus im Kolonialstil verfügte über mehrere Etagen und einer großen Eingangshalle, deren Besucher bereits durch die offenen Türen zu sehen waren. Einige Kellner drängten sich mit Sektgläsern durch die Masse der Menschen. >>...es ist sehr voll...<< dachte Lynn und wurde von dem Fahrer der ihre Tür öffnete aus dem Staunen gerissen. Sie dankte ihm mit einem Nicken und stieg dann aus dem Wagen, als sie bereits einige Meter entfernt einen großen Mann stehen sah, der eine Zigarette rauchte und ihnen den Rücken gekehrt hatte. Er trug einen langen schwarzen Mantel aus Wolle und eine schwarze Anzughose. Lynn sah Tetsuya an, der nur zustimmend nickte und damit Lynn`s Vermutung, dass es Sakuya sei, bestätigte. Sie Beide gingen einige Stufen dem Mann entgegen, der sich langsam umdrehte. Er sah Lynn an und sie blieb beinahe atemlos stehen. >>Sakuya... << Tetsuya blieb vor ihm stehen und nickte, aber Sakuya hatte seinen Blick wieder abgewandt und widmete sich nun voll und ganz Lynn, die noch immer einige Meter entfernt stand und ihn stumm ansah. „Können wir?“ Fragte Tetsuya ungeduldig, und Sakuya nickte, ehe auch Lynn losging und den beiden Männern in die Eingangshalle folgte.
>>... es ist so voll hier...<< Lynn lief mit einem Sektglas durch die Menschenmenge die sich in der Eingangshalle versammelt hatten, als Tetsuya sie am Arm griff: „Hast du Shariv schon gesehen?“ Fragte er sie leise, während sie sich umsah und ihr Blick die Treppen hinauf zur ersten Etage glitt. „Nein.“ Antwortete sie ihm leise und sah ihn wieder an. „Es ist noch früh, vielleicht ist er noch nicht hier...“ Vermutete Lynn als sie plötzlich Sakuya draußen auf der Terrasse entdeckte wie er mit einer dunkelhaarigen Frau sprach und eine Zigarette rauchte. Die Frau lachte beschämt als Sakuya etwas zu ihr sagte, aber sein Gesichtsausdruck blieb ernst, das konnte Lynn deutlich sehen. „Was ist wenn Shariv Sakuya entdeckt....“ Fragte Lynn leise und wollte sich zu Tetsuya umdrehen, aber er war bereits wieder zwischen den Menschen verschwunden. Lynn dröhnte der Kopf, die vielen Stimmen um sie herum machten ihr Kopfschmerzen. >> Wenn er nicht bald kommt, halte ich es nicht länger aus...<< Dachte sie und sah auf ihre Hände die begonnen hatten leicht zu zittern. Ihr Blick glitt nochmals über die Gesichter der Menschen um sie herum, ehe sie wieder nach draußen auf die Terrasse sah, wo Sakuya nun alleine stand und sie beobachtete. >>...mein Herz schlägt plötzlich so schnell...<< Als hätte sie die Kontrolle über ihren eigenen Körper verloren, trugen sie ihre Füße mit Leichtigkeit in seine Richtung, als eine junge Frau ihr plötzlich ihr Glas über den Arm schüttete. „Bitte entschuldigen Sie!“ Entschuldigte sie sich und Lynn sah auf ihren Arm, an dem Sekt hinunter lief und auf den Boden tropfte. „Es ist nichts passiert.“ Sagte Lynn lächelnd und wollte gerade wieder auf die Terrasse sehen, jedoch war Sakuya bereits verschwunden.
Lynn stand vor dem Spiegel auf der Damentoilette und zog zitternd ihren Lippenstift nach, als plötzlich die Türe aufging und ein Mann den Raum betrat und sie verwundert ansah: „Entschuldigen Sie, ich dachte es wäre das Herrenklo!“ Sprach er abgehackt und plötzlich traf es Lynn wie ein Stich: >>Shariv!<< Sie erinnerte sich an seine Stimme, die sie bereits am Hafen gehört hatte. Sein arabischer Akzent war unverkennbar. Ehe sie ihm antworten konnte hatte er schon lächelnd die Damentoilette verlassen, als Lynn eine leise Stimme in ihrem Ohr hörte: „Lynn häng dich an ihn dran. Er geht sicherlich gleich hoch und übergibt die Lagepläne dem Chef der Staatspolizei. Er ist vor einer viertel Stunde eingetroffen.“ Sprach Dakon ruhig. „Ja, Sir.“ Gab Lynn zurück und wunderte sich über ihre eigenen Worte, die ihr ohne Nachdenken von den Lippen gekommen waren. Wie ein Reflex.
Tetsuya lief durch einige lange Flure und verschwand dann am Ende der ersten Etage durch eine Tür in einen kleinen Raum. Das Licht war gedimmt und in der Mitte, gegenüber von einer verglasten Tür durch die man auf einen angrenzenden Balkon blicken konnte, befand sich ein riesiger Schreibtisch auf dem ein Laptop stand und einige Disketten lagen. „Das ist ein Anfang...“ Zufrieden begab sich Tetsuya zu dem Laptop.
Lynn wartete einige Meter von der Herrentoilette entfernt und nahm sich ein weiteres Glas Sekt von einem der Kellner, als Shariv zur Tür hinauskam. Ihm folgte ein weiterer Mann im Anzug und die beiden gingen lachend eine der beiden Treppen hinauf. Lynn verfolgte die beiden Männer mit ihrem Blick und folgte ihnen nach einigen Sekunden unauffällig die Treppe hinauf. Sie wartete kurz, als die Männer durch einen langen Flur der mit einem dunkelroten Teppich ausgelegt war liefen, um dann eine weitere Treppe nach oben zu gehen.
Tetsuya hatte währenddessen einige Disketten in seinem Jackett verschwinden lassen und wollte gerade den Raum wieder verlassen als er Schritte und laute Stimmen vor der Tür vernahm und sich auf den Balkon flüchtete um sich einige Zentimeter hinter der Außenwand zu ducken und inne zu halten. Er zog leise seine Waffe und wartete angespannt ab, was als nächstes geschehen würde.
Lynn stand eng an eine Wand gelehnt und blickte um eine Ecke, als Shariv und der Fremde durch eine der Türen, im dritten Stock, verschwanden. „Sie treffen sich jetzt um die Pläne auszutauschen.“ Flüsterte Lynn leise. „Gut. Bleib in der Nähe und achte darauf, ob sie mit den Plänen wieder herauskommen. Wenn nicht warte bis sie weg sind, und verschaff dir dann Zutritt.“ Erwiderte Dakon nervös. „Verstanden.“ Sagte Lynn leise und blickte konzentriert in den langen Flur. Es verstrich einige Zeit, ehe sich die Tür des Raumes wieder öffnete und die beiden Männer lachend herauskamen. „Eure Unterstützung bei meinem Projekt bedeutet mir viel.“ Sprach Shariv und gab dem Fremden lächelnd die Hand. „Wir werden sehen wie sich die Dinge entwickeln.“ Erwiderte sein Gegenüber und ergriff dankend seine Hand. >>...Was hat Shariv ihm nur erzählt... wenn er wirklich der Chef der Staatspolizei von Nagoya ist, kann er ihm unmöglich die Wahrheit über die VCO erzählt haben... oder die gesamte Staatspolizei ist dabei mit involviert...Korruption... und Geld....<< Lynn lief lautlos einige Stufen die Treppe hinauf, bis die beiden Männer die Treppe wieder nach unten in die Stockwerke nahmen. Anschließend schlich sie leise den Flur entlang und betrat den Raum den Shariv und der Mann zuvor verlassen hatten. Sie suchte einige Minuten nach den Plänen und stellte dann fest dass sie in dem verschlossenen Fach des Schreibtisches liegen mussten. Der Raum war groß und gegenüber der Tür befand sich eine verglaste Fensterwand. Lynn sah sich um und fand einen altmodischen Brieföffner mit dem sie innerhalb von Sekunden das Schloss der Schublade geknackt hatte und die Baupläne hinaus holte. „Ich habe sie.“ Sagte sie leise. „Gut. Stecke sie ein und verlass das Anwesen so schnell wie möglich.“ Erwiderte Dakon voller Anspannung. Lynn rollte die Pläne zusammen, als sie plötzlich hörte wie Jemand die Tür öffnete und wie erstarrt beim Anblick von Lynn stehen blieb. Der Chef der Staatspolizei war zurück gekehrt und blickte Lynn nun direkt in ihre überraschten Augen.
Tetsuya kauerte noch immer mit gezogener Waffe, angespannt hinter einer Mauer auf dem Balkon im ersten Stock. Es verstrichen noch einige Minuten nachdem er die Tür im inneren des Raumes wieder zufallen hörte und es still wurde. Er atmete erleichtert aus. Wer auch immer reingekommen war, hatte keinen Verdacht geschöpft und ihn nicht bemerkt. Mit einem erleichterten Aufstöhnen richtete sich Tetsuya wieder auf und steckte seine Waffe weg, als ihn ein lautes Klirren von Glas zusammen zucken ließ. Es folgte ein gequälter männlicher Schrei und Tetsuya ging hastig in Deckung um von den herabfallenden Glassplittern nicht getroffen zu werden . Er stand erschrocken auf und wollte gerade nach oben sehen als neben ihm der Leblose Körper des Polizeichefs, mit einem dumpfen Knall aufprallte. „Dakon, wir haben ein Problem!“ Rief er und sah erschrocken in das blutende Gesicht des Mannes.
„Lynn was ist da los?“ Rief Dakon außer sich, bekam jedoch keinerlei Antwort. Lynn kniete auf dem Boden und wischte sich das Blut einer Platzwunde, an ihren Lippen, aus dem Gesicht. >>...verdammt...<< Sie stand wackelig auf und hatte für einige Sekunden Mühe sich auf den Beinen zu halten als bereits wieder die Tür aufsprang und drei Wachmänner in den Raum stürmten. „Ihr wollt also auch streben...“ fragte sie ruhig und begab sich in Kampfstellung. Eine ungeahnte Selbstsicherheit überkam sie, denn sie war sich in diesem Augenblick sicher, es mit jedem aufnehmen zu können. Die Wachmänner zogen ihre Waffen und begannen auf Lynn zu schießen, die den Kugeln jedoch gekonnt auswich, die Distanz zu ihnen mit einem gekonnten Sprung überbrückte und mit einigen gezielten Schlägen die Männer zur Bewusstlosigkeit brachte. Es dauerte nur wenige Sekunden bis weitere Wachmänner in das Zimmer stürmten und begannen auf Lynn zu schießen die ihnen blutbeschmiert und außer Atem gegenüber stand. >>Ich werde euch alle töten<< Es war als hätte ihr Kopf aufgehört zu denken, als wären ihre Gefühle von irgendetwas überschattet worden. Es gab nur noch den einen Gedanken: Kämpfen. Und plötzlich sah sie in Sharivs Augen, der ihr direkt gegenüber stand. „Wer zum Teufel bist du?“ Schrie er sie an und wollte sie am Hals packen, aber sie konnte ausweichen und blieb ein Stück entfernt von ihm Kampfbereit stehen, um ihn anzusehen: „Ich wüsste nicht was Sie das angeht.“ Sagte sie nüchtern und wischte sich erneut das Blut von den Lippen. Shariv blieb entgegen ihrer Erwartung ruhig und lief durch den Raum, als noch weitere Wachmänner hinzukamen. Lynn folgte seinen Schritten konzentriert. „Bist du eine von der Sorte Auftragskiller, oder wie soll ich das alles verstehen?“ Fragte er mit leichtem arabischen Akzent und musterte sie abschätzig: „Wer auch immer dich geschickt hat muss absolut naiv sein. Meinst du, du spazierst hier in deinem schicken Kleid rein, lächelst ein bisschen und stiehlst dann meine Unterlagen?“ Shariev lachte und ging wieder einige Schritte zur anderen Seite des Raumes, während die Männer hinter ihm mit ihren Waffen auf Lynn zielten, die noch immer Kampfbereit und ruhig im Raum stand. >>ich kann keinen klaren Gedanken fassen<< Ein schlichtes Durcheinander herrschte in Lynns Kopf, als sie plötzlich Schüsse hörte und zusah wie ein Wachmann nach dem anderen zu Boden fiel. Shariv wurde unruhig und wollte gerade zur Tür rennen, als Lynn eine Satz machte, über den Tisch sprang und ihm mit voller Wucht in den Bauch schlug, so dass er keuchend gegen eine Wand taumelte. „Wer zum Teufel bist du?“ Hustete er und richtete sich wieder auf um seine Waffe zu ziehen. Er schoss, aber Lynn wich aus. Er konnte nicht so schnell realisieren, wie Lynn plötzlich hinter ihm stand und begann ihn zu würgen , um ihn anschließend über ihre Schultern zu Boden zu werfen. Er keuchte laut und stöhnte beim dem Aufprall auf, dann richtete er sich mühevoll auf und wollte erneut schießen als er hinter Lynn plötzlich Sakuya sah, der durch die toten Wachmänner gelaufen kam und seine Waffe auf ihn gerichtet hatte. „Sakuya Kira... jetzt wird mir einiges klar...“ Hustete Shariv und ließ seine Waffe sinken. „Wo sind die Pläne?“ Fragte Sakuya kühl und sah Shariv ungeduldig an. „SAKUYA!“ Schrie Tetsuya und kam angerannt. Lynn drehte sich um und in dem Moment packte Shariv nach ihr und hielt ihr die Waffe an den Kopf. Tetsuya kam erschrocken und völlig außer Atem in dem Raum neben Sakuya zum stehen. „LASS SIE LOS!“ Schrie er und richtete nun seine Waffe ebenfalls auf Shariv, der mit Lynn langsam, rückwärts, zum Fenster ging. Lynn spürte seinen Herzschlag an ihrem Rücken und sah Sakuya an, der ihren Blick erwiderte. Nichts außer Erbarmungslosigkeit und absolute Professionalität lag in seinen blauen Augen. >>... ich kenne diese Augen...<< Dachte Lynn kurz, aber da überkam sie wieder der Gedanke des Tötens, und sie drehte sich blitzschnell um und trat Shariv weg, der hart gegen das Fenster prallte. „LYNN!“ Schrie Tetsuya, als er sah dass Shariv wieder mit seiner Waffe auf sie zielen wollte, aber sie nahm Schwung und trat mit voller Wucht nach ihm,so dass er mit einem lauten Klirren durch eine noch unversehrte Scheibe hindurch brach und in den dunklen Abgrund der Nacht stürzte. „Tetsuya! Die Pläne. Wir verschwinden.“ Forderte Sakuya ihn dann auf und steckte seine Waffe weg, während Tetsuya jedoch wie angewurzelt stehen blieb und Lynn betrachtete. Keuchend stand sie vor ihm und wischte sich beiläufig das Blut aus dem Gesicht, während sie ihm gebar, endlich zu verschwinden.
Die Drei hatten sich durch einen Hinterausgang in die Nacht flüchten können, zusammen mit den Lageplänen., als mit quietschenden Reifen bereits Dakon und Rin vorgefahren kamen. Während Sakuya zu Dakon ging und ihm etwas gab sah Tetsuya Lynn an, deren Blick stumm Sakuyas Schritten folgte. „Kannst du mir verraten was da gerade eben los war?“ Tetsuya schien sich von seinem anfänglichen Schock erholt zu haben, und endlich seine Worte wiedergefunden zu haben „Ich weiß nicht was du meinst.“ Erwiderte Lynn kalt, noch immer Sakuyas Bewegungen folgend. „Und der Polizeichef... das warst du, oder?“ Fügte Tetsuya hinzu und sah sie noch immer an. „Vermutlich...“ Murmelte sie während Sakuya sich in einigen Metern Entfernung umgedreht hatte und zu ihr herüber sah, während er sich eine Zigarette anzündete und mit Dakon sprach, der aus dem Auto stieg und nun ebenfalls zu Lynn sah. >>...Sakuya...<< „Hey? Gibst du mir mal eine Antwort?“ fragte Tetsuya sauer. Lynn schüttelte jedoch nur den Kopf und ging dann zu Rin der die Hintertür des Wagens für sie geöffnet hatte. >>...was soll ich ihm sagen... dass mein Kopf anscheinend in solchen Situationen aussetzt...<< „Du blutest.“ Stellte Rin fest und setzte sich vor sie auf den Beifahrersitz. Er reichte ihr ein Taschentuch. „Danke.“ erwiderte sie leise und sah aus dem Fenster wie Tetsuya Dakon die Pläne überreichte. Es verstrichen einige Minuten ehe Sakuya in der Dunkelheit verschwand und Dakon und Tetsuya sich wieder in das Auto setzten.
Lynn stand unter der Dusche und konnte Dakon und Tetsuya diskutieren hören, nachdem sie das Wasser abgeschaltet hatte: „Das spielt doch keine Rolle. Er kennt jetzt jedenfalls auch ihr Gesicht.“ Tetsuya klang sauer. „Das ändert nichts daran, dass der Einsatz erfolgreich war und die UEF jetzt ein ganzes Stück weiter ist.“ Erwiderte Dakon ruhig und etwas leiser. „Aber um welchen Preis? Was wäre gewesen wenn er Lynn erschossen hätte?“ Das klicken eines Feuerzeugs war zu hören. „Ted, bringst du da nicht gerade etwas durcheinander?“ Antwortete Dakon noch immer ruhig. „Lynn ist nicht Rei. Du kannst nicht ungeschehen machen was passiert ist. Sie kann gut auf sich alleine aufpassen. Hör auf, dich in meine Einsatzführung einzumischen.“
Lynn stellte das Wasser wieder an und dachte nach.
Es waren einige Tage vergangen und Lynn hatte ihre Sachen in einen Rucksack gepackt. Sie sah sich noch einmal um und ging dann ins Wohnzimmer wo Dakon verwundert zu ihr aufblickte: „Du gehst?“ Lynn nickte: „Tetsuya wartet bereits unten.“ Dakon überlegte einen Moment, stand dann jedoch auf und zündete sich eine Zigarette an: „Hast du das Handy auch?“ fragte er schließlich und ging zu einem der Schränke. „Ja.“ Erwiderte sie und folgte seiner Bewegung, mit der er etwas aus einem Schrank holte. „Sie ist für dich.“ Dakon hielt Lynn eine dunkelblaue Jacke hin. „Die Uniform der UEF?“ Fragte sie verwundert. Dakon nickte. „Und ich möchte, dass du das hier ebenfalls nimmst.“ Er gab ihr eine schwarze, sieben Millimeter, Magnum.
Tetsuya hielt nach einer Viertelstunde Fahrt an einem heruntergekommenen Hochhaus an. „Es wird ruhig sein ohne dich.“ Er sah Lynn an, die seinen fragenden Blick erwiderte: „Ja, ohne euch auch.“ antwortete sie und sah einen kurzen Moment aus dem Fenster.
„Und die Wohnung ist nicht registriert?“ Tetsuya schüttelte den Kopf. „Sie taucht in keinem System auf. Die Leute die hier leben sind Wohnungsbesetzter. Mit Schmiergeldern an die Staatspolizei bei ihren Kontrollen gibt es keine Probleme.“ „Das ist gut.“ Lynn griff zufrieden nach ihrem Rucksack von der Rückbank. „Dakon hat sie mir gegeben, aber ich möchte, dass du sie nimmst.“ Lynn gab Tetsuya die Magnum. „Aber-“ „Nichts aber. Ich habe meine eigenen Waffen.“ Unterbrach sie ihn und Tetsuya sah sie kritisch an. „Ich weiß.“ Sagte er schließlich lächelnd und Lynn stieg aus.
Das kleine Apartment erwies sich als ziemlich heruntergekommen. Lynn stand an der kleinen Küchenzeile die direkt ins Wohnzimmer überging und kochte einige Kessel mit heißem Wasser. >>...zumindest der Herd funktioniert...<< dachte sie und ging mit dem kochenden Wasser durchs Wohnzimmer in ihr Bad ,um es in die Badewanne zu schütten, die bereits halb voll war. Heißes Wasser aus dem Harn gab es nicht. Der Putz bröckelte bereits von den Wänden, und die hinterlassenen Möbel waren in einem schlechten Zustand. Wer auch immer vor ihr an diesem Ort gelebt hatte, hatte sich nicht viel aus Sauberkeit gemacht. Bei der suche nach einem Glas, in den Küchenschränken, war sie auf ein Sixpack Bier und einen verschimmelten Laib Brot gestoßen.
Als sie nach einer Stunde ihre Sachen auszog, um endlich in die mühevoll mit gekochtem Wasser gefüllte Badewanne zu steigen, betrachtete sie sich noch kurz im Spiegel. Ihr stand der Schweiß auf der Stirn und als sie sich wegdrehen wollte bemerkte sie etwas auf ihrem linken Schulterblatt. Etwas, das sie noch nie zuvor gesehen hatte. >>Was ist das?<< In einem hellen Blau sah sie ein verblasstes Muster zweier Tiere die umeinander geschlungen waren. „... ist das etwa ein Tattoo...“ Fragte sie sich leise und als sie mit ihren Fingern darüber tastete, begann es für einige Sekunden schwach zu leuchten. >>...eigenartig... das ist mir vorher noch nie aufgefallen...<< Dachte Lynn, wandte sich dann ab und stieg in das heiße Badewasser um sich dann entspannt zurück zu lehnen. Wahrscheinlich hatte sie dieses Zeichen bereits ihr Leben lang schon gehabt, es war ihr nur entfallen, wie auch vieles andere. Auch wenn ihr die beiden Tiere bekannt vorkamen, verwarf sie weitere Gedanken daran. In diesem Moment könnte sie sowieso nichts daran ändern.
>>Es war kalt und Lynn blinzelte, denn der Regen fiel ihr genau ins Gesicht, als sie eine verschwommene schwarz gekleidete Person vor sich erkennen konnte. >>Wo bin ich?<< Ihre Beine fühlten sich an wie gelähmt und sie hatte mühe vorwärts zu kommen. Nach einigen Sekunden war sie der Person nur noch wenige Zentimeter entfernt. Die Umgebung lag in dichtem Nebel, und Lynn spürte wie der Regen ihre Kleidung durchdrang, als die Person vor ihr sich langsam umdrehte. >>... du bist es...<< <<
„Sakuya.“ Sagte Lynn laut und erschrak vor ihrer eigenen Stimme die die Stille durchbrach. Sie lag noch immer in der Badewanne, und war eingeschlafen.
-6- Habor Lights
Der Wind war kalt und wehte Lynn ihre Haare aus dem Gesicht, als sie auf die Stadt hinunter sah. Sie saß in der Dunkelheit auf einem Hochhaus und blickte in Gedanken versunken über die Lichter der Stadt die weit unten vor ihr lag, als das Klingeln ihres Handys sie aufschrecken ließ: „Lynn, bist du zu Hause?“ Hörte sie Dakons dunkle Stimme am anderen Ende angestrengt. „Nein.“ Erwiderte sie kurz und hörte einige Sekunden im Hintergrund das Geräusch eines Motorrads. „Wir treffen uns in einer Stunde am Habor Lights Medical!“ Noch ehe Lynn Antworten konnte, ertönten ihm Hintergrund laute Stimmen und Dakon legte prompt auf. >>...warum will er mich am Krankenhaus treffen...?<< Fragte sich Lynn leise und sah auf das Handy das schwach in der Dunkelheit aufleuchtete. >>Er hat mir die Adresse geschickt...<< Es hatte begonnen zu regnen und Lynn stand langsam auf, um ihre schwarze Jacke, die neben ihr auf dem Dach lag, wieder anzuziehen und das Dach zu verlassen, um mit dem Motorrad in den endlosen Weiten der Straßen zu verschwinden.
Es war viertel vor zwölf als Sie langsam mit ihrem Motorrad auf den Parkplatz des Habor Lights Medical rollte und ihre Sonnenbrille abnahm, um sich umzusehen. In einigen Metern Ferne konnte sie einen schwarzen Geländewagen erkennen, aus dem Dakon ausstieg. Sie stieg vom Motorrad und ließ es auf einem Parkplatz stehen um sich Dakon zu nähern. Warum hatte er sie hierher bestellt? Wo waren die anderen? Um sie herum standen weitere Autos, aber nur ab und an sah man einen Pfleger über den Parkplatz laufen. „Lynn.“ Sagte Dakon nur und sie spürte die Anspannung in seiner Stimme. Sie sah ihn mit ihren großen blauen Augen ernst an, aber er konnte ihrem Blick nicht standhalten. Er wirkte aufgelöst. „Hör zu, du musst etwas für mich tun. Tetsuya wurde gestern Nacht bei einer Schießerei in Stadtzentrum schwer verletzt.“
Wie geht es ihm..?“ Fragte sie unsicher, aber Dakon schüttelte nur den Kopf.
„Du musst ihn da raus holen. Die VCO hat Scharfschützen auf ihn angesetzt.“ Dakon deutete mit einer unauffälligen Geste auf ein Dach in der Ferne, gegenüber des Krankenhauses:
„Sakuya kümmert sich um sie. Aber dich brauche ich drinnen. Die Gesichtserkennung im Eingangsbereich macht mir und Sakuya einen Zugang unmöglich, warum spielt jetzt keine Rolle.“ Erklärte er und sah immer wieder zu dem Dach gegenüber des Krankenhauses. Lynn stand noch immer ernst vor Dakon und überlegte kurz. „Was soll ich tun?“ Fragte sie dann.
„Du begibst dich rein, aber nicht durch den Haupteingang.“ Erwiderte Dakon ihr und sie beobachtete wie er seine Waffe zog und sie nachlud.
„Lynn, es geht leider nicht anders.“ Sagte er und drückte ab.
Sie spürte einen stechenden Schmerz unter ihrer Brust und hielt sich den Bauch, ehe sie spürte wie ihr warmes Blut über ihre Finger rann. Ihr Blick wurde leerer und sie stand stumm vor Dakon der sich angestrengt den Schweiß von der Stirn wischte und sich hilfesuchend umsah:
„HILFE! HIER IST JEMAND SCHWER VERLETZT!“ Schrie er laut und sah Lynn dann nochmals an, die sich vor Schmerzen krümmte und dann auf die Knie fiel.
„...Warum...“ Murmelte sie nur heiser und rollte sich hilflos auf den Rücken. Dakon sah verzweifelt in ihr schmerzverzerrtes Gesicht und als Lynn Männerstimmen hören konnte, stieg er in sein Auto und fuhr einfach davon.
>>...warum...<<
Lynn wurde von den Erschütterungen der Bahre auf die sie durch den Flur von einigen Ärzten geschoben wurde, wieder wach. „Können Sie mich hören Miss?“ Fragte sie angespannt ein Arzt der sie schob. Die hellen Neonröhren in den Fluren blendeten sie und die Stimmen hallten in ihrem Kopf.
„Was ist passiert...“ Murmelte sie benommen und versuchte sich aufzurichten, wurde jedoch sofort von einem der Ärzte wieder in die Bahre gedrückt: „Sie dürfen sich jetzt nicht bewegen Miss!“ Rief einer der Männer hektisch. „Wir müssen sofort die Blutung stillen!“ Hörte sie einen weiteren rufen und sah wie sie in einen OP-Saal geschoben wurde. >>...nein... keine Operationen mehr...<< In Lynn bäumte sich ein Gefühl auf, dass sie noch nie zuvor empfunden hatte. Sie kam zum stehen und die Ärzte hatten mühe sie hinunter zu drücken, denn sie versuchte mit aller Kraft aufzustehen. „MISS!“ Schrie sie einer der Männer hektisch an, als sie auch schon eine Nadel in ihrem Arm spürte. „NEIN!“ Rief sie schwach und trat zwei Männer von sich weg, die zu Boden fielen. Zwei weitere versuchten währenddessen ihre Hände zu fixieren, aber Lynn befreite sich blitzschnell aus ihren Griffen und riss sich die Nadel aus dem Arm. „Fasst mich nicht an!“ Rief sie leise, zu stark waren die Schmerzen ihres Körpers. „SIE WERDEN STERBEN WERNN SIE UNS NICHT UNSERE ARBEIT MACHEN LASSEN!“ Schrie einer der Ärzte neben ihrem Kopf. >>NEIN<<
Innerhalb von wenigen Sekunden hatte Lynn all ihre Kraft zusammengenommen und war aufgestanden, während die Ärzte sie nur entsetzt ansahen und Abstand von ihr nahmen. „MISS, ich bitte Sie jetzt noch einmal zu ihrer eigenen Sicherheit sonst-“ Der Mann konnte den Satz nicht beenden, denn er lag bereits bewusstlos an einer Wand während Zwei weitere rennend, und voller Panik den OP verließen. Der weitere der ihr gegenüberstand fand sich mit schmerzverzerrtem Gesicht zwischen einigen Operationsutensilien auf dem Boden wieder, als er noch kurz sah wie Lynn die Bahre anhob und sie mit aller Kraft nach ihm warf.
Mit einem lauten Poltern blieb sie neben ihm liegen und der Arzt sah ihr mit weit aufgerissenen Augen voller Angst nach, wie sie zügig den OP verließ.
Auf dem Flur konnte Lynn laute Rufe hören und einige Schwestern kamen ihr am Ende des Ganges entgegen, ehe sie umdrehte und zur anderen Seite rannte, um von dort aus eine Treppe in die höheren Stockwerke zu nehmen. Sie hatte für einen mächtigen Aufruhr mit ihrer unkontrollierten Aktion gesorgt, das war ihr bereits klar. >>...Ich muss hier weg...<< Dachte Lynn während sie mit aller Kraft die letzten Stufen hoch rannte. Im Flur hallten die lauten Rufe der Pfleger. Lynn trat eine Tür auf, und stand dann in einem Dunklen Flur, der aussah als würde man das Stockwerk neu sanieren. >>Dunkelheit!<< Erleichtert hastete sie weiter in einen kleinen Raum am Ende des Flures. Die Stimmen waren kaum mehr zu hören und sie zog mit schmerzverzerrtem Gesicht ihre Jacke hoch, als sie bereits sah, wie das Blut auf den Boden tropfte. >>Ich muss hier weg... aber Tetsuya...ich muss Tetsuya finden!<< In dem dunklen Raum konnte sie einige Tupfer und Verbände auf einem Tisch erkennen und nahm sie, um sie unter ihre Brust zu pressen und sich dann langsam wieder in den Flur zu bewegen.
„Dakon, was ist hier los?“ Fragte Rin entsetzt als er mit seinem Wagen neben Dakon parkte, der in einigen Straßen weiter das Treiben vor dem Krankenhaus beobachtete. Einige Wagen der Staatspolizei kamen vorgefahren und schwer bewaffnete Polizisten stiegen aus.
„Es ging nicht anders.“ Sagte Dakon angespannt und rauchte eine Zigarette. Rin schüttelte ungläubig den Kopf. „Wo ist Sakuya?“ Fragte er dann und Dakon deutete auf ein Dach in der Ferne, auf dem immer wieder helle Lichtfunken zu sehen waren. Mit Mühe versuchte Rin die Situation zu deuten. „Er kümmert sich um die Scharfschützen.“ Erwiderte Dakon und drehte sich zu Rin um, der ihn im schwachen Schein einer Leuchtreklame nur sprachlos ansah. Er hatte doch nicht etwa Lynn in das Krankenhaus geschickt, damit sie Tetsuya zurück holen würde?
„Wie hast du Sie dort rein bekommen?“ Fragte er entsetzt, nach einigen Sekunden der Stille, nach denen er seine Worte wiedergefunden hatte.
„Durch die Notaufnahme.“ Antwortete Dakon und Rin konnte die Überwindung in Dakons Gesicht sehen. „Du hast sie verletzt?“ Fragte Rin aufgebracht und Dakon nickte:
„Rin, was hätte ich sonst tun sollen? Auch sie wäre nicht durch die Gesichtserkennung gekommen. Seit dem Einsatz für die Lagepläne ist auch sie bekannt.“ Erklärte er, aber Rin merkte dass es ihn einiges an Überwindung gekostet haben musste. „Warum hast du niemand anderes Geschickt?“ Fragte Rin und beobachtete weiter die Soldaten vor dem Krankenhaus. „Weil ich weiß, dass sie mit Tetsuya dort wieder raus kommen wird.“
Lynn war währenddessen voller Mühe einen Schacht für Krankenwäsche hinunter geklettert, und landete nun hart auf den Fliesen im vierten Stock. Alles um sie herum drehte sich und sie kniff die Augen zusammen um einen Moment, taub vor Schmerz, auf dem Boden liegen zu bleiben. >>Tetsuya...<< Auf dem Flur, hinter der Tür war es verhältnismäßig still. Lynn stand mühevoll auf und griff nach einem Krankenhaushemd und einer weißen Hose um sie anzuziehen. Ihre Sachen ließ sie in einem der vielen weißen Schränke verschwinden und steckte ihr Handy in der elastischen Hosenbund. Dann wurden ihre Bemühungen von einem lauten Rattern gestört und Lynn sah erschrocken in die Ecke des Raumes, wo ein Schreibtisch stand, auf dem einige Patientenakten lagen und ein großer Monitor stand, während ein Fax aus dem Faxgerät daneben kam. >>Vielleicht finde ich Tetsuya im System...<< Dachte Lynn und begab sich an den PC. Sie gab nur seinen Vornahmen ein und sofort wurde ihr ein Zimmer in dem Stockwerk angezeigt. >>Er muss dort sein...<< Dachte sie und drehte sich wieder um, als die Tür aufging und eine Pflegerin hineinkam. Sie blieb erschrocken stehen, als sie Lynn bemerkte: „Entschuldigung, aber der Zutritt ist nur für das Personal.“ Sagte sie ernst und musterte Lynn, die schweißnass und blass vor ihr stand.
„Ich werde einen Pfleger rufen.“ Sagte die Frau dann und wollte sich gerade umdrehen, als Lynn einen Satz über den Schreibtisch machte und ihr gegen den Brustkorb schlug, sodass sie bewusstlos zu Boden sank. >>Pflegerkleidung...<< Dachte sie erleichtert.
„Aber um welchen Preis?“ Fragte Rin und setzte sich in seinen Wagen um aus dem Handschuhfach eine Zigarette zu nehmen. „Rin, vergiss nicht wer du bist. Ich weiß was ich tue.“ Gab Dakon ärgerlich zurück und drehte sich zu ihm um. Rin nahm die Zigarette wieder aus dem Mund und schwieg einige Sekunden. „Ja, ich weiß.“ Lenkte er dann ruhig ein und sah wieder zu dem Krankenhaus. Es war töricht Dakons Entscheidungen anzuzweifeln, das hatte Rin einmal mehr bemerkt. Es war aussichtslos. Dakon hatte sich das Vertrauen seiner Leute lange erkämpft und sie würden ihm gegenüber Loyal bis in den Tod bleiben. Er war es, der die UEF etabliert hatte, der dem Zorn und der Verzweiflung über die Verluste von Familie und Freunden eine neue Aufgabe zugeteilt hatte.
Tetsuya wurde von einem festen Griff um seinen Arm geweckt, und spürte den ziehenden Schmerz von einer Kanüle in seinem Arm. Als er erschrocken seine Augen öffnete sah er Lynn neben seinem Bett stehen. „Lynn...“ Murmelte er nur verwundert und sie half ihm sich aufzusetzen. „Was machst du hier...?“ Hustete er noch benommen von den Schmerzmitteln die man ihm zuvor gegeben hatte. Lynn hatte sich von ihm weg gedreht und zog eine Spritze auf. „Lynn?“ Wiederholte er eine Frage nun etwas klarer, als er sah wie an ihren Füßen einige Blutstropfen den Boden bedeckten. Sie drehte sich schnell um und sah ihm ins Gesicht: „Das wird jetzt weh tun!“ Sagte sie knapp und ehe er realisieren konnte was geschah spürte er einen stechenden Schmerz in seiner Brust. Er schnappte nach Luft und hatte das Gefühl nicht mehr atmen zu können, als Lynn auf ihn fiel und mit Mühe die Spritze voller Adrenalin wieder aus seiner Brust zog. Er rang nach Luft, es fühlte sich an als müsste er sterben, als wäre ein Elektroschock durch seinen Körper gefahren, der sämtliche Venen augenblicklich zur Verengung bewegt hatte. Lynn drehte sich kraftlos von ihm hinunter und blieb einige Sekunden keuchend neben Tetsuya auf dem Bett liegen. Die Aktion hatte sie ihre letzten kräfte gekostet. Das reichlich verlorene Blut ihres Körpers forderte allmählich seinen Tribut. Im Flur konnte man laute Stimmen hören die näher kamen. „Wir müssen hier weg...“ Keuchte Lynn und stand langsam auf. Tetsuya`s Atmung hatte sich wieder gelegt und er stand ebenfalls langsam und schwerfällig auf. „Verdammt! War das Adrenalin?“ Sagte er aufgebracht und betrachtete die blutige Spritze, die vor ihm auf dem Bett lag. Lynn nickte und hielt sich ihre rechte Hüfte, als Tetsuya das Blut sah, das unter ihrer Hand hervoquoll. „Komm schon!“ Stöhnte sie und zog ihn in die Richtung der Tür.
„Überall sind Soldaten.“ Sagte Sakuya ruhig. „Ich weiß.“ Bestätigte Dakon angespannt am Handy. „Um die Scharfschützen brauchst du dir keine Gedanken mehr zu machen.“ Antwortete Sakuya dann kühl und blickte von dem anliegenden Dach, hinunter auf das Krankenhaus. „Danke Sakuya.“ Wollte Dakon hinzufügen aber er hatte bereits aufgelegt.
Lynn und Tetsuya standen vor einem der Aufzüge: „Wir müssen durch den Keller raus! Das komplette Krankenhaus ist mit Soldaten umstellt!“ Keuchte Lynn nachdem sie unentdeckt durch einige Flure entkommen konnten, während sie die Vibration ihres Handys an der Hüfte spürte. „Dakon?“ Sprach sie verwirrt in den Hörer. „Ihr müsst aufs Dach.“ Hörte sie eine dunkle Männerstimme ruhig sagen. >>...Sakuya...<< „Wir kommen.“ Gab sie konzentriert zurück und sah Tetsuya an, der ihr zunickte: „Wir nehmen besser die Treppen!“ Sagte er und folgte rasch Lynn, die den Gang zum Treppenhaus entlang rannte. Er hatte Probleme mit ihrer Geschwindigkeit mitzuhalten. Im Treppenhaus hörten sie bereits die Stimmen der Staatspolizei. „Komm!“ Rief Tetsuya als er sah dass Lynn stehengeblieben war. „Lauf vor, ich mach das schon!“ Rief sie und sah entschlossen die Treppen hinunter. „LYNN!“ Rief Tetsuya als er sah wie eine kleine Gruppe Soldaten die Treppen hoch kamen und auf Lynn zustürzten. Sie holte jedoch aus und trat den ersten von ihnen in das Gedränge der anderen zurück. Lynn ergriff blitzschnell die Chance und trat einem von ihnen gezielt ins Gesicht und er blieb bewusstlos liegen. „Hier!“ Rief Lynn und griff nach seiner Waffe um sie Tetsuya zuzuwerfen. Er fing sie und schoss unkontrolliert auf die restlichen Männer, die mit lauten Rufen zurückwichen. „Komm!“ Rief Tetsuya aufgelöst und Lynn folgte ihm hektisch die Treppen hinauf. Als sie erneut vor der Tür zu dem sanierten Stockwerk standen stieß Tetsuya sie mühevoll auf und die Beiden rannten durch die Dunkelheit zum Dachausstieg. „Tetsuya!“ Rief Lynn leise, als sie sah, dass er langsamer wurde und kaum Luft bekam. Er blieb stehen und stützte sich kurz an einer Wand ab um nach Luft zu schnappen, als knapp neben ihm in der Wand ein Projektil einschlug und er zusammenzuckte. Lynn drehte sich schlagartig in die Richtung des Schützen um, als sie in dem dunklen Licht Shariv erkennen konnte der mit der Waffe langsam auf sie zu gelaufen kam:
„So sieht man sich wieder.“ Sagte er gelassen und sah Lynn an, die gebeugt und außer Atem ihm gegenüber stand. Er kam weitere Schritte näher, und zielte mit seiner Waffe direkt auf Lynns Kopf. Tetsuya hingegen stand noch immer keuchend an der Wand und beobachtete die Beiden während er nach Luft rang. Shariev schien keinerlei Interesse an ihm zu haben. „Was zum Teufel tust du hier schon wieder...?“ Murmelte Shariv und entsicherte seine Waffe, mit einer Hand. Lynn sah ihn wütend an, und Tetsuya konnte die Anstrengung in Lynns Augen erkennen. Er fragte sich, wie lange sie es noch schaffen würde, sie trotz des immensen Blutverlustes auf den Beinen zu halten.
„Was wollen sie von mir...“ Lynn verzog unmittelbar gefolgt von ihrer Frage, schmerzvoll das Gesicht. Um keinen Preis hätte sie gewollt, dass Shariev sieht, in welchem erbärmlichen Zustand sie sich befand, aber ihr Körper schien sich gegen sie verschworen zu haben.
„Dein letzter Auftritt war äußerst spektakulär.“ Erwiderte er und blieb nun zwei Meter von Lynn entfernt, stehen. Ein schmutziges Grinsen ging über seine Lippen. „Ich weiß was du bist.“ Sagte er dann, zügig und mit einer provozierenden Leichtigkeit. Lynn gefror das Blut in den Adern. >> ...was ich bin...?<<
Tetsuya sah verwirrt zu Lynn, die Kampfbereit vor Shariv stand und ihn nun noch wütender ansah. Was hatte er mit der Aussage gemeint?
„Wie kommt es aber, dass du für die UEF arbeitest...“ wollte Shariv gerade fortfahren, als er laute Schüsse hinter sich hörte, die ihn scheinbar aus dem Konzept brachten.
„Wo ist Sakuya?“ Rief Rin und kam auf Dakon zu gerannt, nachdem er mit einem Informanten der UEF telefoniert hatte. Dakon deutete über das Krankenhaus, über dem ein schwarzer Nachrichtenhelikopter kreiste. „Aber wie...?“ Dakon drehte sich zu Rin um: „Auch Mitglieder der UEF arbeiten beim Nachrichtendienst.“ Erwiderte er ruhig und sah wieder zu dem Helikopter.
Tetsuya sah wie einige Soldaten hinter Shariv angerannt kamen, dieser sich jedoch augenblicklich umdrehte und einen nach dem anderen niederschoss.
„TED!“ Rief Lynn laut und zog ihn mit sich, eine kleine Leiter hinauf, aufs Dach. Tetsuya hielt sich die Ohren zu, denn der Helikopter war dermaßen laut, dass er das Gefühl hatte, dass ihm das Dröhnen das Trommelfell zerreißen würde. Er sah Sakuya mit einer Waffe in der offenen Türe knien. „KOMM!“ Rief er laut und hielt ihm die Hand hin. Aber Tetsuya drehte sich nur voller Panik zu Lynn um, der Shariv auf das Dach gefolgt war und der auf sie schoss. Lynn rannte so schnell sie konnte. Sie stürzte nach einigen Metern, denn scheinbar hatte Shariv ihr ins Bein geschossen. Hilflos blieb sie am Boden liegen und wandt sich vor schmerzen. „TETSUYA!“ Rief Sakuya erneut und griff nach seiner Hand, um ihn in den Helikopter zu ziehen. Der Pilot schwenkte kurz ab und flog eine Runde über das Dach. „Sakuya er wird sie umbringen!“ Rief Tetsuya aber Sakuya zielte bereits mit seiner Waffe auf Shariv, der sich Lynn nährte, die versuchte wieder aufzustehen. „Der REGEN IST ZU STARK!“ Schrie der Pilot von vorne und hatte Mühe den Helikopter wieder näher an das Dach zu bringen.
Shariv hatte Lynn erreicht und wollte gerade auf sie schießen, als Sakuya ihn mit einer Kugel im Arm traf und er zurückgeschleudert wurde. „ICH WERDE DICH UND SAKUYA ZURÜCKBRINGEN!“ Schrie er voller Wut und taumelte erneut auf Lynn zu, die sich jedoch mit letzter Kraft umgedreht hatte und ihm die Waffe aus der Hand trat. „NUR WENN ICH TOT BIN!“ Schrie ihm Lynn entgegen und bekam einen heftigen Tritt in den Bauch ab, der sie erneut zu Boden warf. >> oh mein Gott...<< Der Schmerz durchströmte ihren ganzen Körper und dann hörte sie einen lauten Schuss und sah wie Shariv vor ihr zu Boden ging. >>...ich strebe...<< Dachte sie und spürte wie der Regen wie Messerstiche auf ihren Körper prasselte während sie den Geschmack von Blut im Mund hatte und sich nicht mehr in der Lage spürte zu atmen.
Tetsuya beobachtete erschöpft wie Sakuya aus dem Helikopter sprang und zu Lynn rannte die in dem Gemisch aus Blut und Wasser auf dem Boden lag und sich schon seit einigen Minuten nicht mehr bewegte.
>>Mein Körper... alles dreht sich...<< Lynn öffnete benommen die Augen und ihr wurde schwindelig. „Versuch ruhig zu atmen.“ Hörte sie eine vertraute dunkle Stimme. >>...bist du das... Sakuya....<< Sie wollte etwas sagen aber ihr Gesicht fühlte sich taub an. Noch immer hatte sie den Eisengeschmack von Blut im Mund. Sie versuchte erneut die Augen zu öffnen, aber alles war verschwommen. „Es wird vorüber gehen.“ Hörte sie wieder diese Stimme, die sich tausendmal in Ihrem Kopf wiederholte, wie ein Echo. >>Sakuya....<<
Es waren zwei Tage vergangen als Lynn in der Abenddämmerung ihrer Wohnung auf dem Sofa aufwachte. >>...was ist passiert, wo bin ich...<< Dachte sie und öffnete ihre Augen. Sie sah auf ihren Tisch der vor dem Sofa stand und ihr Handy lag darauf. Es war still und sie konnte durch das Fenster sehen, dass die Sonne fast untergegangen war. Als sie versuchte sich aufzurichten zuckte sie bei dem Schmerz, der ihre Glieder durchfuhr, stöhnend zusammen. Sie verharrte einige Minuten in einer zusammen gekrümmten Position als sie das Geräusch eines Schlüssels in der Haustür hören konnte. Mit Mühe richtete sie sich auf und stellte fest, dass sie nur ein Unterhemd und ihre Unterwäsche trug. Unter ihrer Brust ertastete sie einen strammen Verband.
„Lynn?“ Hörte sie Tetsuya`s Stimme und sah zur Tür als er hereinkam und sie verwundert ansah: „Du bist schon wach?“ Bemerkte er und legte ein Paket Tabletten vor sie auf den Tisch. „Was ist passiert...?“ Murmelte sie leise und sah auf den Verband an seinen Arm. „Eins nach dem anderen.“ erwiderte er mit Erleichterung darüber, dass Lynn endlich ansprechbar war. In den Tagen in denen sie bewusstlos gewesen war, war er immer wieder zu ihr gekommen, hatte ihr den Verband gewechselt und sich darum gekümmert, dass sie im Halbschlaf etwas trank. Zumindest das war er ihr schuldig gewesen, dachte er, nachdem sie ihn vor einem wahrscheinlichen Tod durch die Scharfschützen der VCO bewahrt hatte.
Er ging zügig zu der Küchenzeile: „Wie fühlst du dich?“ Fragte er und sah zu ihr rüber, wie sie ihm nachsah. „Beschissen...“ Lachte sie Kraftlos.
„Das wundert mich nicht.“ Pflichtete er ihr bei und kam mit einem Glas Wasser wieder zurück zu ihr. „Wer war das?“ Fragte Lynn während sie Tetsuya das Wasser abnahm. Mal wieder hatte man sie ärztlich versorgt und ihre Wunden behandelt. „Ich.“ antwortete er und setzte sich auf das andere Ende des Sofas. „Danke.“ Erwiderte Lynn lächelnd und nahm einen Schluck Wasser. „Ist Shariv tot?“ Fragte sie dann und stellte das Glas auf den Tisch. Tetsuya`s Gesichtsausdruck wechselte von Besorgnis zu Ernsthaftigkeit: „Eine Pflegerin, die ebenfalls der UEF angehört, hatte am Morgen Schicht. Sie hatte nichts von einem Toten mitbekommen.“ Erklärte er und legte seine Zigaretten auf den Tisch. „Wie bin ich hierher gekommen?“ Fragte Lynn dann und dachte über Sharivs Worte nach. „Sakuya hat dich hergebracht.“ Lynn sah verwirrt Tetsuya an. >>Dann habe ich wirklich seine Stimme gehört....<<
„Warum?“ Fragte Lynn dann ernst und Tetsuya sah plötzlich Wut in Lynns Augen. Warum hatte Dakon ausgerechnet sie angeschossen? Warum hatte er ihr solche Schmerzen zugefügt? Sein Plan hätte ebensogut schief gehen können, und dann wären jetzt sowohl Tetsuya als auch sie selbst tod. Er zögerte und sah aus dem Fenster, spürte aber dennoch Lynn`s angespannten Blick auf seinem verhärteten Gesicht:
„Dakon soll es dir selbst sagen.“ Antwortete er schließlich knapp. >>Er wird mich belügen... er wird mir nicht sagen, warum er ausgerechnet mich dort hineingeschickt hat...warum er mich angeschossen hat...<< Ehe Lynn noch weiter nachdenken konnte öffnete Dakon bereits ihre Haustür und trat in den Raum. Seine Haare waren grauer geworden und er hatte eine Platzwunde an der Stirn. Tetsuya wollte gerade etwas sagen, als Lynn bereist aufgestanden war und Dakon in Unterwäsche gegenüber stand, um ihm stumm und voller Wut entgegen zu blicken.
„Tetsuya, lass uns alleine.“ befahl er ernst, und Tetsuya stand, ohne zu zögern, auf und verließ das Apartment. „Willst du dir nicht was anziehen?“ Fragte Dakon und betrachtete Lynn. „Bevor ich dich töte?“ Sagte sie nüchtern und auch Dakon spürte die Wut in ihr. „Du hast allen Grund dazu.“ Erwiderte er und ging einige Schritte an ihr vorbei zum Fenster. Er wirkte nicht so, als hätte er Angst, fand Lynn, während sie seiner Bewegung mit ihrem Blick folgte.
„Shariv hatte seine Leute auf Tetsuya angesetzt. Bei unserem letzten Einsatz ist ihm nicht entgangen, dass auch Tetsuya der UEF angehört. Sie hatten ihn abgefangen, als er auf dem Weg zu Rin war. Shariv hatte ihn angeschossen, aber noch bevor schlimmeres passieren konnte hatten Anwohner die Schüsse bemerkt und einen Krankenwagen gerufen. Sie brachten Tetsuya in das Habor Light.“ Dakon hatte sich wieder zu Lynn umgedreht, die aufmerksam einige Meter von ihm entfernt stand und ihm mit ihrem Blick fixiert hatte:
„Ja und was hatte ich damit zu tun?“ Fragte sie angespannt. Dakon sah sie ernst an :
„Wäre ich dort hineingegangen, hätte Shariv mit mir und Tetsuya leichtes Spiel gehabt. Ich bezweifle, dass er uns sofort getötet hätte. Er hätte versucht alles über die Aktivitäten der UEF aus uns herauszubekommen.“ Lynn nickte verständnislos: „Achja. Und somit war also ich das Kanonenfutter?“ Dakon sah sie für einige Sekunden stumm an. „Nein. Du bist die einzige die kaum Informationen über die Organisation hat. Ich war mir sicher, dass du Tetsuya dort hinaus holst. Aber selbst wenn-“ Er brach den Satz ab und ging einige Schritte auf Lynn zu: „Aber selbst wenn sie dich bekommen hätten, wäre die UEF nicht gefährdet gewesen.“ Beendete Dakon seinen Satz und sah Lynn in die Augen, die vor ihm stand und ein Stück zu ihm hoch blickte. „Du hast deine Loyalität bewiesen Lynn. Ich weiß, dass ich dir vertrauen kann. Um jeden Preis.“ Lynn schüttelte den Kopf und wandte ihren Blick ab.
„So läuft das aber nicht.“ Sagte sie und ging dann einige Schritte durch das Wohnzimmer. Das Zeichen an ihrer Schulter leuchtete in schwachem Blau. Dakon hatte es gesehen „Du hättest mir das vorher sagen können. Ich bin doch kein Hund den man abrichten kann.“ Sagte sie und drehte sich wieder zu Dakon um, der sie noch immer ansah: „Du weißt, dass du angemessen für den Auftrag entlohnt wirst.“
„Ich will kein Geld. Ich will Informationen, ich will wissen für was ich mein Leben riskiere.“ Dakon war etwas verwundert über ihre Aussage. Er fragte sich woher plötzlich ihr Sinneswandel gekommen war. Sie wirkte verändert, stärker als zuvor. Auch wie sie vor ihm stand. Fest entschlossen, angespannt. In ihren Augen war noch immer die Wut. „Gut.“ Sagte Dakon. „Aber alles zu seiner Zeit. Wenn dir das nicht reicht, dann kannst du die UEF jederzeit verlassen. Und wenn du die Sache nicht vergessen kannst, steht es dir frei, in ein anderes Team zu wechseln. Furgoson würde sich über deine Verstärkung sicherlich freuen.“
-7- Out of Control
Es waren einige Tage vergangen und Lynn hatte nichts mehr von Dakon, bis zu diesem Morgen, gehört. Sie war sich unsicher, ob sie mit zu dem Einsatz fahren sollte, den Dakon ihr übermittelt hatte. Die Lagepläne hatte Tetsuya ihr gebracht und sie lagen noch immer ausgebreitet auf ihrem Wohnzimmertisch. “Ich weiß, dass ich dir vertrauen kann, Lynn.“ Hörte sie noch immer Dakons Stimme von jenem Tag in ihrem Kopf. >>Er hat mir misstraut... << Dachte sie während sie ihre Schulter im Spiegel betrachtete, als draußen bereits die Sonne hinter Nagoyas Hochhäusern langsam verschwand. Das Zeichen auf Lynns Schulter hatte in der Nacht zuvor wieder begonnen schwach zu leuchten und sie zog ihre schwarze Jacke darüber. >>Aber warum hätte er mir auch einfach vertrauen sollen.... ich hätte alles sein können... eine Spionin der VCO, eine Agentin von Shariv... eine Auftragskillerin, die auf den perfekten Zeitpunkt gewartet hat...<< Lynn ging zum Tisch und rollte die Lagepläne wieder zusammen. >>Er war eine gefährliche Situation in der sich Tetsuya befand... Dakon hat getan was er konnte. Er hat nur die UEF und ihre Informationen beschützt. Er hat nur beschützt was ihm über alle Maßen wichtig ist. Seine Heimat.<< Die Sonne war untergegangen und Lynn steckte eines ihrer Messer, das ihr von den Einbrüchen geblieben war, in einen Gurt, den sie um die Hüfte trug. Sie sah auf das Sofa, wo eine kugelsichere Weste und die Uniform der UEF lagen. >>...nicht heute. Nicht solange ich mir nicht sicher bin.<< Dachte sie und verließ leise das Apartment mit den Lageplänen.
Die Nacht war kalt und es regnete in Strömen als Lynn mit ihrem Motorrad weit abseits der Stadt, in einen kleinen Waldweg einbog. In der Ferne konnte sie trotz der Dunkelheit bereits einige Transporter der UEF erkennen.
„Wo bleibt Lynn?“ Fragte Tetsuya und sah sich ungeduldig um. „Sie kommt, wenn sie kommt.“ Sagte Dakon nur kühl und zog an einer Zigarette. „Behalte sie im Auge.“ Befahl er Tetsuya dann, der ihn verwundert im schwachen Licht der parkenden Autos ansah. „Sie ist noch immer angeschlagen, ich möchte nicht dass sie heute zu großen Risiken ausgesetzt ist.“ Fügte Dakon hinzu, als er bereits leise Schritte hinter sich hörte: „Mir geht es gut.“ Sagte Lynn laut und Dakon drehte sich zu ihr um. Er trug die dunkelblaue Hose der Uniform und ein weißes T-shirt über das er eine Kugelsichere Weste gelegt hatte. „Hast du die Lagepläne?“ Fragte er dann ernst. Lynn nickte und holte zwei große Karten aus ihrem Jackeninneren. „Tetsuya wird dich begleiten. Furgoson ist mit seinem Team bereits dabei das Gelände abzusuchen.“
„Wachen?“ unterbrach ihn Lynn und sah an Tetsuya vorbei zu Sakuya der aus der Dunkelheit auf sie zugelaufen kam. „Die Satellitenbilder zeigen nur vereinzelte Staatspolizisten, die das Gelände bewachen.“ Lynn versuchte Dakon weiter zuzuhören aber sie konnte Ihren Blick nicht von Sakuyas lassen, der neben Dakon stehen blieb. >>...mit wird heiß...<< Dachte sie und hielt es für besser die Männer alleine zu lassen, widerstand jedoch dann dem Gedanken der Flucht und sah Dakon wieder ernst an. „Die Gefangenen müssen hier sein. Ich will dass ihr jeden Stein umdreht, hinter jede Tür guckt und jeden Raum durchsucht.“
„Ja Sir.“ Murmelte Lynn abwesend und sah wieder zu Sakuya der sie noch immer mit seinem ernsten Blick betrachtete. Schwarze glänzende Strähnen hingen ihm in die Stirn. Seine blauen Augen wirkten kalt, wie immer. Erbarmungslosigkeit. Er verkörperte pure Abwehr und Distanz.
„Es tut mir leid, dass du wegen mir, das alles mitmachen musstest.“ Sagte Tetsuya leise, und Lynn sah ihn an während sie sich einiger alter Lagerhallen nährten. „Du kannst am allerwenigsten dafür...“ Murmelte Lynn leise und trat blitzschnell um eine Ecke, um einen Wachmann zu Boden zu schlagen. „Wärst du nicht gewesen...hätte Shariv mich wahrscheinlich getötet.“ Sprach Tetsuya weiter und blickte ungläubig auf den zwei Zentner Wachmann der bewusstlos vor Lynns Füßen lag. „Du hättest das selbe für mich getan.“ Gab sie dann beiläufig zurück und bückte sich um nach der Waffe des Wachmanns zu greifen. Die Routiniertheit mit der sie das tat verblüffte Tetsuya einmal mehr. Noch bevor er etwas antworten konnte stand Lynn wieder auf und sah ihn fragend mit einer Waffe in der Hand an: „Seit ihr euch sicher, dass hier nur die Staatspolizei ist?“ Tetsuya betrachtete sie Waffe und sah dann Lynn fragend an, die ihn mit ihren blauen Augen verwirrt musterte.
„Ja...“ Erwiderte er.
„Warum?“
„Das hier ist ein Scharfschützengewehr mit Hohlmantelgeschossen.“ Ehe Tetsuya antworten konnte, hatte Lynn das Gewehr zerlegt und hielt ihm die Patronen hin.
„Und?“ Fragte er fasziniert davon, wie schnell sie die Waffe entladen hatte.
„So etwas tragen keine Wachmänner.“ Erwiderte sie angespannt.
„Rin, was sagen die Satellitenbilder?“ Fragte Tetsuya ungeduldig während er aus einigen Metern hinter einer Mauer beobachtete wie Lynn blitzschnell eine Gruppe von drei Wachleuten erledigte. „Vor euch ist alles frei.“ Gab Rin aus einem der Transporter konzentriert zurück in sein Handy. Tetsuya legte auf und rannte unauffällig zu Lynn hinüber, die bereits erneut die bewusstlosen Männer untersuchte.
„Und?“ Fragte er außer Atem, aber Lynn drehte sich zu ihm um, um ihm erneut schwere Munition zu präsentieren, die er jedoch nie zuvor gesehen hatte. „Wieder Hohlmantelgeschosse.“ Sagte sie ernst und ließ sie fallen. „Woher weißt du so etwas?“ Fragte er sie verwirrt, aber sie drückte ihn mit einem mal eng in eine kleine Ecke. „Sei still!“ Er hielt inne und spürte wie sein Herz begann zu rasen, während Lynn sich neben ihm eng an die Wand geschmiegt hatte und aufmerksam in die Dunkelheit sah. >>Ich kann nichts sehen...<< Dachte er nur, wurde jedoch von einem lauten Stöhnen aus seiner Anstrengung herausgerissen und sah gerade noch wie Lynn nach einem vorbeilaufenden Wachmann griff und ihn würgte, bis er zu Boden sank. „Lynn?“ Fragte er verwundert und sie sah ihn erleichtert an:
„Mir geht es gut.Los, weiter.“
Die beiden waren in eine alte Lagerhalle vorgedrungen und konnten in einiger Entfernung Stimmen hören. „... ob das die Gefangenen sind?“ Fragte Tetsuya leise aber Lynn machte ihm mit einer Handbewegung klar, dass er still sein solle und er hielt inne. Es war im inneren so dunkel dass Lynn sich nur noch auf ihr Gehör verlassen konnte, als sie plötzlich ein Stöhnen hinter sich vernahm und sah wie Jemand Tetsuya wegzog. >>Eine Falle<< Dachte Lynn panisch und wollte den Geräuschen folgen, als sie plötzlich gepackt wurde und um eine Ecke, in einen stillgelegten Schaltraum gezogen wurde. Sie hatte keine Chance sich zu wehren, der Mann der sich packte war zu stark. >>Nein.Nein!<< Mit aller Kraft riss sie einen ihrer Arme los und holte mich voller Wucht aus, als ihr Schlag von einer Hand gebremst wurde: „Beruhig dich.“ Hörte sie eine tiefe klare Stimme sagen und spürte wie ihr gegenüber sie losließ. >>...Sakuya...<< Sie fühlte sich wie gelähmt und ihr Herz raste, als sie ihn durch die Flamme des Feuerzeugs, mit dem er sich eine Zigarette anzündete, erkannte. Es waren nur wenige Sekunden der Helligkeit, aber Lynn bemerkte, dass er ein großes Gewehr bei sich trug. „Es war eine Falle.“ Ruhig ging zu einem dunklen Fenster in den Raum, aus dem er in die Lagerhalle sehen konnte, wo einige Soldaten der VCO standen und sich Zeichen gaben. „Ja, Hohlmantelgeschosse sind untypisch für Wachmänner.“ Gab Lynn zurück und ging lautlos über den Schotter am Boden, ebenfalls zu dem Sichtfenster.
„Wo ist Lynn zum Teufel?“ Fluchte Dakon und sah Tetsuya angespannt an. „Sie stand direkt hinter mir.“ Erwiderte Tetsuya und sah mit Dakon auf die Lagerhalle, aus der Dakon ihn gezogen hatte, da auch er bemerkt hatte, dass es sich um versteckte VCO Einheiten gehandelt hatte. „Ich habe so allmählich das Gefühl, dass Shariv einem unserer Leute Informationen zuspielt und wir falschen Satellitenbilder folgen.“ Sagte er wütend und sah zu Rin rüber, der ihn fragend ansah: „Meinst du einen Maulwurf?“ Fragte er fassungslos und Dakon nickte während er sich eine Zigarette anzündete . „Hast du eine Vermutung?“ Fragte Tetsuya und Dakon nickte ernst.
>>Da vorne ist der Mann der mich in der letzten Nacht der Einbrüche verletzt hatte....<< Dachte Lynn und sah ungläubig zu den VCO Soldaten rüber, denen er etwas in die Hand gab. >>Das sind Pläne der UEF...<< Bemerkte sie. >>...aber er war doch ein Mitglied aus Dakons Team... er wurde doch versetzt....er hieß Jin...<< Noch bevor sie ihre Gedanken geordnet hatte, hörte sie hinter sich das laute Klicken eines Magazins, das in eine Waffe einrastete. Sie drehte sich um und konnte schwach erkennen wie Sakuya sein Gewehr lud. „Sakuya...“ sagte sie leise, aber er hatte bereits den Raum verlassen und das Feuer eröffnet.
„Was ist da drinnen los?“ Rief Dakon und rannte auf Tetsuya zu, der mit einem Nachtsichtgerät die Lagerhalle beobachtete. „Lynn ist noch darin, oder?“ Rief Rin besorgt und kam ebenfalls angelaufen. „Ja und Sakuya ist auch nicht wieder aufgetaucht!“ Rief Tetsuya ihm entgegen. „Er kann auf sich alleine aufpassen!“ Sagte Dakon angespannt und nahm Tetsuya das Nachtsichtgerät ab, um selbst einen Blick auf die Halle haben zu können. „Dakon, Team Alpha greift jetzt zu!“ Hörte Dakon Furgosons Stimme aus seinem Funkgerät. „Verstanden!“ Funkte Dakon zurück und sah Tetsuya und Rin an: „Worauf wartet ihr noch!“
>>Mein Kopf... alles verschwimmt...<< Dachte Lynn während sie wie in Trance ihre Arme bewegte. >>Sakuya... ich kann deine Stimme hören...als wäre sie in meinen Kopf... was geschieht hier... wo bin ich... alles sieht so verschwommen aus... ich spüre meinen Körper nicht mehr...Blut...so viel Blut....<<
„LYNN!“ Schrie Dakon und kam auf sie zu gerannt. Tetsuya und Rin folgten ihm und auch Furgosons Team war eingetroffen und fand nur noch ein Schlachtfeld aus Toten Soldaten der VCO vor. >>...ich höre Stimmen...<< Dachte Lynn.
„Was ist hier passiert...?“ Fragte einer der Männer aus Furgosons Team und nährte sich erschrocken den Leichen, zwischen denen Lynn stand, die stumm in die Dunkelheit blickte. „Lynn?“ Wiederholte Dakon ihren Namen und nährte sich ihr vorsichtig, bemüht auf keine der Leichen zu treten, als Lynn sich langsam umdrehte und ihn verwirrt ansah. „Mir geht es gut...“ erwiderte sie heiser und langsam, und sah in das helle Licht einer Taschenlampe. Ihr Gesicht war voller Blut und in ihren Händen heilt sie das Messer, das sie in Ihrem Apartment eingesteckt hatte. „Was ist passiert?“ Fragte Dakon ernst und leuchtete auf das Blutverschmierte Messer in Lynns Hand, dass sie augenblicklich fallen ließ. >>...was ist passiert... es war wie ein Traum... wie ein Traum der mich befriedigt hat... ein leichter, angenehmer Traum... wir haben gekämpft...oder? Sakuya...?<< Lynn sah sich zu Dakons Erstaunen plötzlich suchend um. Es herrschte einige Sekunden Stille. >>... er ist nicht hier...<<
„Ein Kampf...“ Sagte Lynn schließlich unsicher und sah an dem Licht von Dakons Taschenlampe vorbei. „Mir geht es gut.“ bestätigte sie nochmals. Was auch immer sie dazu gebracht hatte, alles zu vergessen und dieses Blutbad anzurichten, es hatte sie auf eine seltsame Art und Weise befriedigt.
„Und du sagst es war definitiv Jin?“ Wiederholte Tetsuya Lynns Worte. Sie nickte nachdenklich und sah aus dem Fenster, in Dakons Apartment.
„Also haben wir den Maulwurf.“ Sagte Rin bestürzt und sah zu Dakon, der jedoch nur angespannt auf sein Handy sah.
„Es waren nie Gefangene dort, oder?“ Fragte Lynn dann, und drehte sich zu Dakon um, der jedoch noch immer auf sein Handy starrte. Tetsuya schüttelte den Kopf: „Nein. Es war eine Falle.“ Erwiderte er und musterte Lynn, wie sie in ihrer schwarzen Lederjacke und in einer dunkelblauen Jeans vor ihm stand. >>Was ist mit Sakuya...<< Lynn wollte gerade nach ihm fragend, als sie sich zur Tür drehte und er da stand und sie ansah. Er betrachtete Lynns schmales Gesicht und ihr Blick glitt über seine blauen Augen und seine Lippen, bis hin zu dem schwarzen Hemd das er trug, dessen oberster Knopf geöffnet war. Tetsuya betrachtete den Blickwechsel der beiden kurz und unterbrach dann die Stille: „Sakuya wo warst du?“ Fragte er, bekam jedoch keine Antwort, als Dakon endlich von seinem Handy abließ und aufstand: „Komm, wir gehen zum Wagen.“ Sagte er und ging auf Sakuya zu, der seinen Blick von Lynn abwandte und schließlich Dakon ansah. „Was sollen wir jetzt tun?“ Fragte Rin und Dakon drehte sich nochmals um: „Fahrt nach Hause, bis wir wissen wo Jin momentan ist.“ Lynn nickte und betrachtete Sakuya der sich eine Zigarette anmachte, ehe er sie nein letztes Mal ansah und schließlich mit Dakon das Apartment verließ.
Es war noch einige Zeit vergangen und die Sonne war bereits aufgegangen als Rin das Apartment verließ. Tetsuya blieb auf dem Sofa zurück und sah noch immer Lynn an, die nachdenklich am Fenster stand.
„Was ist da vorhin passiert?“ Fragte er und lehnte sich entspannt zurück. Die Frage war ihm bereits die ganze Zeit durch den Kopf geschossen. Wie war es möglich gewesen, dass Lynn eine ganze Gruppe, professionell ausgebildeter Soldaten mit nur einem Messer erledigen konnte? Zudem stand sie nun, vor ihm, am Fenster, als wäre nie etwas gewesen. Nicht eine Schramme hatte sie abbekommen. Und Reue schien sie schon gar nicht zu empfinden. Vor allem nicht über den Tod von etlichen Menschen, seien es nun ihre Feinde, oder nicht. Er sah dass Lynn mit den Schultern zuckte. Es verstrichen einige Minuten ehe sie sich umdrehte und ihn ernst ansah: „Ted, ich kann es dir nicht sagen.“ Verwunderung kam über Tetsuya. Lynn`s Gesichtsausdruck wirkte plötzlich angespannt.
„Was meinst du damit?“
„Ich meine, ich kann euch nicht mehr sagen, als das letzte woran ich mich erinnern kann, das Geräusch von Sakuya`s Gewehr.“ Tetsuya richtete sich wieder auf und nahm eine aufmerksamere Position ein. Die Antwort ließ ihn unzufrieden erscheinen, fand Lynn. „Willst du wissen was ich glaube?“ Fragte er dann und Lynn nickte stumm. „Ich denke du bist eine Soldatin. Ich weiß nicht wer, oder wo man dich ausgebildet hat, aber jemanden wie dich habe ich noch nie gesehen.“ Lynn schluckte und ihr Magen zog sich zusammen. „Es ist, als wärst du nicht normal. Als wäre da eine Art Instinkt in dir, wenn du kämpfst.“ Tetsuya stand langsam auf und streckte sich. „Und so oft wie ich Sakuya habe kämpfen sehen, glaub mir, er hat den selben Blick dabei wie du.“ Lynn zuckte zusammen und sah Tetsuya verwirrt an. „Ich habe keine Ahnung was er für eine Ausbildung er genossen hat, aber er schlägt uns alle um Längen. Vielleicht gibt es etwas was euch verbindet?“ Lynn ging einige Schritte durch den Raum und schüttelte den Kopf. „Nein.“ Sagte sie ungläubig und begegnete Tetsuya`s verwunderten Blick. „Ich bin müde. Ich werde jetzt fahren.“ Sagte sie leise und ließ Tetsuya im Apartment stehen.
>>Etwas das uns verbindet...<< Dachte sie während sie auf ihrem Motorrad durch die nächtlichen Straßen fuhr. >>Sakuya Kira...<<
Wäre da etwas gewesen, was sie mit diesem Mann verbinden würde, hätte sie es doch bereits gemerkt. Tetsuya bildete sich da etwas ein, da war sie sich sicher. Natürlich war da etwas, was ihr vertraut erschien, an diesem Mann, aber wahrscheinlich erinnerte er sie nur an Jemanden, den sie getroffen hatte, bevor sie ihr Gedächtnis verloren hatte.
Die Sonne war den ganzen Tag nicht zu sehen gewesen und Lynn stand angespannt am Fenster und sah hinunter auf die Straße vor den Wohnblock, als endlich Dakons schwarzer Geländewagen vorgefahren kam. Sie sah Tetsuya am Steuer sitzen, ansonsten war der Wagen leer. Ihr Handy piepte kurz und sie nahm ihr Scharfschützengewehr sowie eine Pistole von dem Sofa, um dann ihr Apartment zu verlassen.
„Hast du die Waffen?“ Fragte Tetsuya angespannt, als Lynn etwas auf dem Rücksitz verstaute. „Nein, ich lege meine Plüschtiere auf die Rückbank.“ Gab sie zurück und sah ihn dann an. Er lächelte. „Wo fahren wir hin?“ Fragte sie schließlich und setzte sich neben Tetsuya auf den Beifahrersitz. „Ogaki. Ein Stadtteil von Nagoya im Westen. Dakon sagt er hat Jin ausfindig gemacht.“ Er konnte in Lynns Augen Ungeduld erkennen: „Worauf waren wir dann noch?“ Fragte sie harsch aber er unterbrach sie: „Hör mal, ich wollte dich nicht verärgern mit dem was ich neulich gesagt habe. Bezüglich dem Militär oder Sakuya und dir.“ Sagte er ruhig. „Aber ich sehe doch wie er dich immer ansieht.“ Führte er fort, als Lynn tief einatmete und ihn ernst ansah: „Es ist in Ordnung. Du hast mich nicht verärgert. Es sind nur die vielen ungelösten Rätsel in meinem Kopf.“ Tetsuya nickte summ und zündete sich dann eine Zigarette an, ehe die beiden losfuhren.
„Was ist wenn das eine Falle ist?“ Fragte Lynn während sie aus dem Fenster die Lichter der Stadt betrachtete. „Dakon hat das bedacht, deshalb gilt heute die oberste Sicherheitsstufe.“ Antwortete Tetsuya und griff auf den Rücksitz um Lynn eine Kugelsichere Weste zu reichen. >>...was mich wohl erwarten wird...<<
Die Beiden saßen stumm im Auto als sie endlich sahen, wie Dakon die kleine Gasse betrat und auf sie zulief. Auch er trug eine Kugelsichere Weste unter der Uniform der UEF. „Steigt aus.“ Sagte er laut und die beiden verließen das Auto. „Rin und Sakuya sind bereits in dem Hotel, wo Jin heute morgen eingecheckt hat.“ Lynn nickte und entsicherte die Pistole. „Tetsuya, wir werden den Beiden Feuerschutz geben. Lynn du wirst Rin helfen das ganze von außen zu observieren. Ich will wissen wenn Jemand das Hotel betritt oder verlässt.“ Sagte er und sah ernst Lynn an, die ihn verwirrt anblickte. „Warum lässt du sie nicht reingehen?“ Wollte Tetsuya gerade verwundert fragen, aber Dakon unterbrach ihn: „Habe ich mich irgendwie unklar ausgedrückt?“ Erwiderte Dakon angespannt und Tetsuya schüttelte den Kopf. Lynn brauchte nicht lange um zu bemerken, wie sehr Dakon es hasste, wenn jemand seine Entscheidungen in Frage stellte. Er war der geborene Anführer.
„Was kann ich tun?“ Fragte Lynn als sie zu Rin auf das Dach des Hochhauses kam, auf dem er in der Dunkelheit lag. Neben ihm stand ein kleiner Laptop und er trug ein Nachtsichtgerät. „Komm neben mich.“ Sagte er konzentriert ohne seinen Blick von dem gegenüberliegenden Hotelfenster abzuwenden. Er reichte ihr ein Nachtsichtgerät als sie sich neben ihn gelegt hatte, aber sie verneinte. „Ich kann auch so alles sehen.“ Sagte sie und Rin sah sie verwundert an. „Dann nimm aber wenigstens die.“ Befahl er und gab ihr zwei Ohrstöpsel die das Signal von den drei Männern im Hotelinneren Empfingen. „Kannst du schon was sehen Rin?“ Hörte sie Dakons Stimme nachdem sie einen in ihrem Ohr platziert hatte. „Negativ, Boss.“ Gab Rin zurück. „Er muss im dritten Stock sein, haltet die Augen weiter offen.“ Befahl Dakon leise. Lynn musterte die einzelnen Zimmer des Hotels. In einigen brannte Licht, andere waren komplett dunkel. In einigen Zimmern konnte sie Menschen erkennen, bei den unterschiedlichsten Tätigkeiten. „Wir betreten jetzt den dritten Stock.“ Sagte Dakon und Lynn konnte Tetsuya`s Stimme im Hintergrund hören. Rin zündete sich gerade eine Zigarette an, als Lynn sagte: „Er ist im vierten Stock.“ Rin sah verwundert zu ihr rüber, wie sie konzentriert eines der Fenster in der vierten Etage beobachtete. „Wo?“ Frage er und legte seine Zigarette bei Seite um aus einer Tasche neben ihm, ein Scharfschützengewehr hervorzuholen. „Im Westen.“ Erwiderte Lynn und holte ihre Pistole hervor um damit auf das Zimmer zu zielen. „Boss, wir haben Jin entdeckt, ihr seit im falschen Stockwerk!“ Sagte Rin hektisch. „Verstanden Rin.“ Erwiderte Dakon. „Ja, er ist es.“ Sagte Rin fasziniert von Lynns Fähigkeiten. „Sie sollten sich beeilen, Jin sieht aus als wollte er verschwinden.“ Sagte Lynn angespannt. „Boss, er will abhauen!“
„Dakon, ich gehe jetzt rein.“ Hörte Lynn plötzlich Sakuyas ernste Stimme.
„Sag ihm, dass ich Jin im Ziel habe.“ Sagte Lynn leise und zielte durch das Visier der Pistole auf Jins Kopf, der einige Sachen vor dem Bett in eine Tasche packte.
„Wir haben ihn im Visier, Dakon.“ Sprach Rin konzentriert, als Beide durch Schüssen zusammenzuckten. „Tetsuya!“ Schrie Dakon in Lynns Ohr und sie zuckte nochmals zusammen.
„Was ist da los Boss?“ Rief Rin verwirrt und sah zu Lynn rüber, die noch immer konzentriert durch ihr Visier sah. „Sie haben uns erwartet!“ Schrie Dakon und weitere Schüsse folgten. Lynn konnte sehen wie Sakuya das Zimmer von Jin betrat.
„Du wirst das Hotel nicht lebend verlassen.“ Hörte sie Sakuyas dunkle Stimme.
„Ach ja?“ lachte Jin und setzte sich entspannt auf das Bett. Sakuya hatte seine Waffe gezogen und zielte damit auf Jin der ihn lächelnd ansah.
„Ja.“ bestätigte Sakuya ernst seine Drohung und ging einige Schritte auf ihn zu.
„Willst du nicht wissen warum das alles?“ Fragte Jin dann und stand auf.
„Warum ich das alles getan habe?“ Fügte er hinzu. „Euch an die VCO verraten habe?“ Er lief zum Fenster und sah hinaus.
„Nein.“ Erwiderte Sakuya nur ruhig.
„In diesem Moment müssten sie gerade euer Hauptquartier auseinander nehmen.“ Lachte Jin.
„Und wen stört das?“ Erwiderte Sakuya noch immer voller Ruhe.
„Wo ist deine kleine Freundin eigentlich?“ Fragte Jin dann plötzlich und Lynn konnte aus der Ferne den Ärger in Sakuyas Gesicht erkennen. „Du bist ein toter Mann.“ Entgegnete Sakuya ihm und entsicherte seine Waffe. „Eigentlich hatte ich sie erwartet. Die Nummer eins in Dakons Team. Nun denn...ausgenommen von dir. Aber du Sakuya Kira, du bist ja auch kein wahres Mitglied.“ Fuhr Jin provozierend fort und zog ebenfalls seine Waffe. In Lynn zog sich derweilen alles zusammen, die beiden Männer standen sich direkt gegenüber, würden sie auf Jin schießen, würden sie Sakuya ebenfalls verletzten.
„Die VCO hat heute Nacht fast alles bekommen was sie wollte. Aber wie gesagt, Dakons Nummer Eins fehlt noch auf der Liste.“
„Was zum Teufel erzählt der da?“ Fragte Rin und sah verwirrt zu Lynn rüber. „Ich werde jetzt schießen.“ Sagte Rin aber Lynn schüttelte den Kopf: „Nein, wir würden Sakuya direkt mit töten.“
„Keiner von euch wird schießen!“ Schrie Dakon. „Überlasst das Sakuya!“
„Weißt du wie unbeschreiblich das Gefühl war, als ich sie endlich gefunden hatte? Als sie endlich im Hauptquartier war? Wie sie so schwach war? Ein Anruf und die VCO hätte sie gehabt. Aber Dakon war ja so verbissen, mich aus dem Team zu befördern, dass jede andere Reaktion meine Tarnung gefährdet hätte. Verstehst du Sakuya? Die Übergaben in der Lagerhalle, die Gefangenen am Hafen. Alles nur Tricks um sie Shariv näher zu bringen.“
„Du bist ein Toter Mann. Egal was du noch sagst.“ Erwiderte Sakuya. Er schien sich von Jin nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, und zielte noch immer konzentriert und voller Entschlossenheit auf dessen Kopf.„Sakuya du musst da weg gehen, sonst können wir nicht schießen.“ Sagte Rin, aber Sakuya bewegte sich keinen Millimeter. >>Was tut er da...<< Dachte Lynn während sie ihn von dem Hochhaus aus beobachtete.
„Jemand aus Valvar wird sich niemals ergeben. Wir sind treu bis in alle Ewigkeit. Semper Fie, weißt du.“ Sagte Jin langsam und zündete sich eine Zigarette an. >> Warum zögert er solange....<< Dachte Lynn angespannt, als sie bemerkte, wie Sakuyas Blick über Jins Schulter hinaus zu ihr schwiff. Sie sah klar und deutlich dass Sakuya sie in diesem Moment ansah.
„Was nun, Sakuya Kira? Glaubst du ich weiß nicht, dass sie das Hotel observieren? Meinst du, ich habe nicht lange genug für Dakon gearbeitet, als dass ich nicht wüsste, wo er seine Leute positioniert? Du kannst dir in diesem Moment sicher sein, dass bereits ein Tötungskommando der VCO auf dem Weg zu ihr ist.“ Jin lächelte noch immer. „Sakuya, entscheide dich. Rettest du ihr Leben, oder erschießt du mich?“
Rin drehte sich verwirrt zu Lynn um und sah wie ihre Hände beim zielen mit der Waffe zitterten.
„Keiner wird schießen!“ Rief Dakon erneut und noch immer waren Schüsse im Hintergrund zu hören.
„Boss was ist da los?“ Rief Rin, aber Lynn sah wie in Zeitlupe, dass Sakuya den Sender aus seinem Ohr nahm, als sie hinter sich Schüsse hörte und sich blitzschnell umdrehte. Einige Soldaten der VCO kamen direkt auf sie zu gerannt. Sie drehte sich ein letztes mal um und sah wie Sakuya Jin direkt in den Kopf schoss und er tot zu Boden fiel.
„Lynn!“ Schrie Rin, auf dem einer der Soldaten lag und mit einer Waffe auf ihn zielte, ehe Lynn sich zügig umdrehte und ihn von Rin hinunter trat. Zwei weitere Männer zielten auf Lynn aber sie wich geschickt aus und zog ihre Waffe. „Schieß- in Gottes Namen!“ Schrie Rin verzweifelt und versuchte nach seinem Gewehr zu greifen. Es hallten drei Schüsse durch die Nacht und die feindlichen Soldaten gingen zu Boden. Rin blieb erleichtert und außer Atem auf dem Grund des Daches liegen und sah zu Lynn rüber die ihre Waffe langsam senkte. „Danke...“ Stöhnte er. „Wir sollten verschwinden.“ erwiderte Lynn nur kühl und sie packten ihre Ausrüstung zusammen.
Tetsuya, dessen Arm blutete, wurde von Dakon gestützt als sie auf den Wagen zugerannt kamen. „Was ist passiert?“ Rief Rin und warf hektisch seine Ausrüstung in den Kofferraum. „Sie haben auf uns gewartet.“ Stöhnte Tetsuya vor Schmerzen. „Seit still.“ Rief Dakon sauer und taxierte sie in den Wagen. „Wo ist Sakuya?“ Fragte Rin und sah sich schnell um. „Er kommt nach!“ Schrie Dakon als er bereits einige VCO Soldaten in die Gasse einbiegen sah. „LOS!“
„Wie geht es ihm?“ Fragte Rin, als Dakon aus dem kleinen Krankenzimmer kam. Sie hatten Tetsuya zu einer vertrauten Ärztin in der Stadt gebracht. Ihre Praxis lag im Keller einer kleinen Gasse. >>... hier bereitet mir alles Unbehagen...<< dachte Lynn und sah geistesabwesend auf einige technische Instrumente die hinter ihr im Raum standen. Das Licht war grell und Tetsuya sah blass darin aus, als er mit der Ärztin zusammen aus dem Untersuchungsraum kam. „Er wir in ein paar Tagen wieder Einsatzbereit sein.“ stellte sie fest und sah dann Lynn an, die sich langsam zu ihr umdrehte und sie musterte. Die Frau hatte ihre langen blonden Haare zu einem Zopf zusammen gebunden und trug einen weißes Kittel unter dem ein geblümtes Kleid hervor blitzte. „Ist sie das?“ Fragte die Ärztin und drehte sich zu Dakon um, der sich eine Zigarette angemacht hatte während er nachdenklich Tetsuya`s schmerzverzerrtes Gesicht betrachtete. „Das ist Lynn.“ Erwiderte Dakon. >>...was...<< „Und sie soll ich mir ansehen?“ fragte die Ärztin nüchtern. Dakon nickte: „Lynn, das ist Dr. Shenker.“ Lynn war bereits einige Schritte zurück gewichen. Rin hatte ihre Reaktion mit Sorge beobachtet. „Mir geht es bestens.“ Lynns Stimme enthielt pure Abwehr, das spürten alle Anwesenden. „Du wurdest bereits öfters verwundet. Es ist besser das einmal überprüfen zu lassen.“ Rechtfertigte Dakon sein Vorhaben aber Lynn schüttelte nur langsam den Kopf und ging noch weitere Schritte zurück. „Lasst sie in ruhe.“ Ertönte Sakuyas dunkle Stimme, der mit schweren Schritten die Praxis betrat. „Sakuya Kira.“begrüßte die Ärztin ihn höflich und ging einige Schritte auf ihn zu um ihn die Hand hinzuhalten. Er sah ihr in die Augen und einige Sekunden vergingen, in denen Sakuya jedoch keinerlei Anstalten machte, ihr ebenfalls seine Hand zu reichen. „Ich halte es für angebracht.“ beharrte Dakon auf seinem Anliegen. Doktor Shenker zog ihre Hand wieder zurück, nachdem Sakuya ihre Geste nicht erwidert hatte. „Hast du vergessen was im Krankenhaus passiert ist?“ Fragte Sakuya. Dakon dachte einige Sekunden nach. „Wir fahren.“ Entschied er schließlich. Lynn war es ein Rätsel, wie Dakon zu Sakuya stand. Von Niemandem schien er sich Vorschriften machen zu lassen, aber Sakuyas Wort schien mehr Wert zu haben. Während Rin und Tetsuya die Praxis verließen, bedankte sich Dakon bei Doktor Shenker und Lynn fiel auf, dass er sie auf die Wange küsste.
Sie standen am Auto als Dakon endlich zusammen mit Sakuya die Praxis verlassen hatte. Die Sonne ging bereits langsam wieder auf, und Lynn sah Sakuyas blaue Augen leuchten, als er auf sie zu lief. Seine schwarzen Haare vielen ihm ins Gesicht und er zündete sich voller Gelassenheit eine Zigarette an. „Wir werden bei Rin bleiben.“ Sagte Dakon und sah Tetsuya an der nickte, und Mühe hatte mit seinem Arm, der in einem Verband steckte, sich eine Zigarette anzuzünden. Rin holte sein Feuer aus der Hosentasche hervor und half ihm. „Was ist mit den Daten der UEF?“ Fragte Rin, und Dakon zog eine Festplatte aus seiner Jackentasche. „Glaubst du ich mache das seit gestern?“ Fragte er und Rin lachte. „Lynn willst du den Weg alleine zurück?“ Fragte Dakon schließlich und sah zu ihr rüber, aber sie sah Sakuya an, und schien in Gedanken versunken. „Lynn?“ Wiederholte er und sie wandte ihren Blick ab. „Ja.“ Dakon nicke und setzte sich in seinen Wagen. Rin und Tetsuya folgten ihm. Lynn jedoch sah noch immer Sakuya an, der ihrem Blick standhielt: „Danke.“ Sagte sie schließlich leise und er nickte stumm.
„Was hat Jin gemeint als er sagte, dass er darauf gewartet hätte Lynn an die VCO auszuliefern?“ Fragte Rin und sah Dakon an, der konzentriert auf die Straße sah. „Ich weiß es nicht.“ Erwiderte er kühl und sah in den Rückspiegel Lynn an, die Tetsuya betrachtete wie er neben ihr, auf der Rückbank, eingeschlafen war. „Er war aus Valvar. Ich hätte das wissen sollen.“ Fügte Dakon hinzu. Lynn sah nach vorne zu ihm und sie bemerkte wie verärgert er war.
Ohne nur ein Wort, hatte Sakuya einmal mehr gerettet. Was wäre geschehen, wenn er nicht gekommen wäre? Aus irgendeinem Grund konnte Lynn Ärzte nicht ausstehen, aber sie wusste nicht woher dieses Unbehagen in ihr kam. Aber es war ein wichtiger Schritt gewesen, ihm endlich einmal zu Danken. Auch wenn Sakuya nicht geantwortet hatte, so war sich Lynn sicher, dass er wusste, dass ihr Dank all dem galt, was er für die bereits getan hatte.
Tetsuya sah zu Lynn rüber, die angespannt vor dem Fenster stand und mit den Achseln zuckte: „Ich wäre froh wenn ich mich an irgendetwas erinnern könnte.“ Sagte sie leise und drehte sich zu Tetsuya, um ihn ansehen zu können: „Bei unserem ersten Treffen hatte er mir nur gedroht, dass er mich erschießen würde. Ich hatte nicht auf Jin gehört und es kam zum Kampf. Danach wachte ich bei euch in Nagoya auf. Den Rest der Geschichte kennst du.“ Tetsuya hatte sich eine Zigarette angezündet und den Blick nachdenklich von Lynn abgewandt. „Kannst du dir irgendeinen Grund vorstellen, warum die VCO dich suchen sollte?“ Fragte er dann und sah sie wieder an. „Nein.“ erwiderte sie entschlossen, aber in ihrem Inneren machte sich eine leichte Unruhe bemerkbar. „Vielleicht bist du ja...“ Tetsuya sprach nicht weiter und Lynn sah ihn ausdruckslos an: „Von ihnen?“ Für einige Sekunden herrschte Stille zwischen den Beiden. „Vergiss es. Es war nur so ein Gedanke.“ Sagte Tetsuya dann und stand von Rins Sofa auf.
„Wie fühlst du dich?“ Fragte Lynn schließlich und sah in Tetsuya`s schmerzverzerrtes Gesicht. „Es geht schon.“ Lachte er und Lynn lachte auch.
„Also war Jin der Maulwurf, der alle unsere Informationen an die VCO weitergeleitet hatte... Ich bin froh dass Dakon so um die Sicherung unserer Informationen bemüht war. Sie konnten keinen großen Schaden anrichten.“
Noch eine Weile stand Lynn am Fenster und dachte nach. Natürlich hätte sie bemerken müssen, dass Jin der Maulwurf war, aber wie? Sie hatte ja kaum Kontakt zu ihm gehabt. Rückblickend betrachtet jedoch, kam es ihr reichlich eigenwillig vor, nicht nach Dakons Anweisungen zu handeln, wie er es getan hatte, und sie nieder zu schlagen. Fast stand, dass die VCO nach ihr suchte, allem voran Shariev. Aber warum?
-8- Family Matters
Es waren einige Tage vergangen und Lynn fuhr auf ihrem Motorrad durch die Stadt als sie das Klingen ihres Handys hellhörig werden ließ.
„Wir treffen uns in einer halben Stunde an der siebten Ecke.“ Erklang Dakons angespannte Stimme. Etwas stimmte nicht, das konnte sie bereits nach der kurzen Zeit, die sie nun in seinem Team arbeitete, vermuten.
Als Lynn die siebte Ecke erreicht hatte und mit ihrem Motorrad in die Straße einbog, konnte sie Dakon bereits vor einem kleinen Restaurant stehen sehen. Die Sonne würde in wenigen Minuten untergegangen sein und Dakon drehte sich zu Lynn um, die von ihrem Motorrad stieg und ihre braune Sonnenbrille erwartungsvoll abnahm. Er trug seinen langen schwarzen Wollmantel und eines seiner blauen Hemden darunter. Sein Kleidungsstil wirkte wie er selbst: Authoritär.
„Wo sind die anderen?“ Fragte Lynn verwundert.
„Sie werden heute nicht kommen.“ erwiderte Dakon und bestätigte Damit Lynn`s Vermutung, dass etwas nicht stimmte.
„Warum bin ich dann hier?“
„Es geht um eine Privatangelegenheit, die du für mich erledigen sollst.“ Ausdruckslos zündete Dakon sich eine Zigarette an:
„Lass uns ein Stück gehen.“ Lynn nickte stumm und folgte ihm schließlich, die kleine Straße entlang. Die Geschäfte an denen sie vorbei kamen, hatten bereits geschlossen und Lynn betrachtete die wenigen Menschen, die ihnen im Sonnenuntergang von der Arbeit entgegen kamen, und in deren Gesichtern die Hoffnung auf den Feierabend deutlich zu erkennen war. Die Leuchtreklamen über den Geschäfften waren noch eingeschaltet, spätestens wenn um 23 Uhr die Ausgangssperre in Kraft treten würde, würde man sie jedoch abschlaten.
„Es geht um meine Frau und meine Tochter.“ Begann Dakon das Gespräch. Lynn sah ihn verwundert an. Nur einmal hatte sie bereits von seiner Familie gehört; als Shariev davon berichtete, dass er bereits Dakons Frau und seine Tochter in seiner Gewalt hätte. Wo waren die Beiden also? Und was war geschehen?
„Ich habe einen Hinweis bekommen, dass sie noch am Leben sind.“ Sprach er weiter.
„Eine Falle?“ schoss es Lynn aufgrund der jüngsten Ereignisse durch den Kopf. Dakon schüttelte unbeeindruckt den Kopf und zog an seiner Zigarette, während sie an einigen Obdachlosen vorbei gingen. Die Straße war bereits in das dunkelrot der Abendsonne getaucht worden und immer wieder fuhren vereinzelt Autos an den beiden vorbei.
„Ein Informant von Furgoson hat sich in Sharivs Laptop hacken können. Er hat es natürlich kurz darauf bemerkt, jedoch hatte unser Informant für kurze Zeit Zugang zu Sharievs Mails. In einer davon verabredete er die Übergabe eines Gefangenencontainers mit Mitgliedern der UEF. Im Anhang war eine Liste mit den Namen der Mitgliedern.“
„Wann?“ Fragte Lynn konzentriert, und mit der Sicherheit, dass die Namen von Dakons Frau und seiner Tochter mit darauf gestanden haben würden. Dakon blieb stehen um Lynn anzusehen:
„In einer Stunde.“ Sie nicke mit der stummen Gewissheit, Dakon sein Anliegen um jeden Preis zu erfüllen, schließlich wusste sie, wie es war etwas zu vermissen. Auch wen sie keine Ahnung hatte, was genau sie vermisste, wusste sie doch, dass es schrecklich war, wenn etwas fehlte. Lynn wollte weitergehen, als Dakon sie am Arm festhielt. Sie stoppte und sah auf seine Hand, die er langsam wieder von ihr nahm. „Wie heißen sie?“ Fragte Lynn.
„Serah und Miku.“ antwortete Dakon und Lynn konnte den Schmerz in seinen grauen Augen deutlich erkennen.
„Warum ich?“ Frage sie schließlich, aber Dakon blieb stumm.
„Es kann sein, dass es eine Falle ist. Dass Shariv den Hafen und die Übergabezeit geändert hat, nachdem er entdeckt hatte, dass wir in sein System eingedrungen sind.“ Lynn nickte: „Du willst nicht, dass die anderen gehen, weil du dir nicht sicher bist?“ Fragte sie vorsichtig.
„Lynn, ich glaube an deine Fähigkeiten. Und ich glaube daran, dass du dich unter die Gefangenen mischen kannst und unbemerkt bleibst. Es ist eine Familienangelegenheit. Es wäre egoistisch alle dafür zu gefährden.“
„Ich verstehe.“ Sagte sie leise und tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Es war also egoistisch alle für diese Angelegenheit zu gefährden, aber Lynn konnte man dorthin schicken? Würde sie es nicht schaffen, würde schließlich niemand um sie weinen. Entsetzt von ihren eigenen Gedanken widmete sie sich den Argumenten die dafür sprachen; war nicht sie es, die sich nichts mehr als eine Familie und Zugehörigkeit wünschte? Vor ihr stand ein Mann, der all das verloren hatte. Und Lynn glaubte an sich selbst. Wäre sie nicht in der Lage, das schlechthin Gute zu erbringen und Dakon das zurück zu geben, was er für sie selbst getan hatte? War er es nicht gewesen, der ihr einen Job gegeben hatte, mit dem ihre Sorgen endlich ein Ende gehabt hatten? War es nicht Dakon gewesen, der ihr scheinbar so sehr vertraute, dass er ihr seine Familiäre anvertrauen wollte? Und war es nicht Dakon und sein Team gewesen, bei dem Lynn sich endlich zugehörig fühlte? Menschen die sie schätzten und sie akzeptierten?
„Du kannst dich auf mich verlassen, Dakon, Sir.“ Fügte sie hinzu und sah in Dakons ernste Augen.
Der schwarze Geländewagen in dem Dakon und Lynn saßen, stand weit abseits von den Docks. „Woher weiß ich, wie die Beiden aussehen? Falls sie dort sind...“ Fragte Lynn zaghaft und Dakon holte seine Brieftasche aus dem Handschuhfach um ihr ein Foto zu geben. >>Die Beiden sind wunderschön...<< Dachte sie, während sie die Frau mit den schwarzen Haaren und das jüngere Mädchen betrachtete. Sie hatten beide blaue Augen, und das Mädchen sah Dakon sehr ähnlich. „Ich werde sie zurückbringen.“ Sagte Lynn entschlossen und wollte gerade den Wagen verlassen als Dakon sie aufhielt: „Lynn?“ Sie hielt inne und sah in sein besorgtes Gesicht. „Pass auf dich auf.“
Lynn saß angespannt mit gezogener Waffe zwischen zwei riesigen Frachtcontainern, als sie einen älteren Mann wahrnahm, auf den Dakon`s Beschreibung zutraf. >>Das ist der Empfänger...<< Dachte sie und sah wie er sich einem anderen Mann nährte, um ihm in der Dunkelheit einen Umschlag zu übergeben. „Semper Fie.“ Antwortete der Mann, der den Umschlag entgegennahm, ehe die Beiden zwischen den Containern verschwanden. „Er hat ihm soeben das Geld gegeben.“ berichtete Lynn leise und folgte den beiden Männern unauffällig. „Sehr gut, bleib an ihnen dran.“ Sagte Dakon angespannt, der zwischen zwei weiteren Containern stand und Lynn Deckung gab.
Die beiden Männer liefen an einigen weiteren Containern vorbei, weiter auf eines der Docks zu, an dem ein großes Transportschiff lag. >>Einer der Container dort muss es sein...<< Dachte Lynn und blieb hinter einem Container stehen, als auch die beiden Männer stehen blieben. Sie hörte wie Dakon hinter ihr seine Waffe entsicherte. „Shariv scheint nicht hier zu sein.“ stellte Lynn leise fest. „Das dachte ich mir. Er lässt seine Handlanger die Drecksarbeit machen.“ Antwortete Dakon. „Ich schaue mal, ob ich von hinten an den Container herankomme.“ Entgegnete Lynn ihm. „Warte!“ Sagte Dakon und sie blieb stehen um zu den beiden Männern rüber zu sehen, von denen einer auf den großen Tanker am Dock deutete. Lynn strengte sich an, um hören zu können was die Männer sagten.
„In 5A sind die Waffen die Shariv haben wollte. Der andere Teil ist bereits auf dem Schiff.“ Sagte der Mann der den Umschlag entgegen genommen hatte.
>>Der andere Teil... als wären diese Menschen Ware...<< dachte Lynn wütend und drehte sich zu Dakon um. An seinem Gesichtsausdruck erkannte sie, dass er die beiden Männer ebenfalls gehört hatte. „Meinst du, du schaffst es unbemerkt auf den Tanker?“ Fragte er schließlich voller Hoffnung und sah nachdenklich in Lynns blaue Augen. Sie nickte. „Ich kümmere mich um die beiden.“ Fügte Dakon schließlich hinzu und sah zu, wie Lynn lautlos in der Dunkelheit verschwand.
Sie war einige Minuten gelaufen, ehe sie das Wasser rauschen hören konnte und unmittelbar vor dem Tanker stand. Zwei Wachmänner standen in der Nähe des schmales Stegs der in das Innere des Schiffes führte. >>Das lässt sich machen...<< Dachte Lynn, während sie überlegte wie sie die Beiden am besten bei Seite räumen könnte. Der Tanker war nicht sehr voll beladen, nur einige Container waren auf dem Deck zu sehen.
Lynn war langsam aus dem Schatten getreten und lief nun geradewegs auf die beiden Männer zu, die Augenblicklich ihr Gespräch unterbrachen und sie ansahen. „Hey, du hast hier nichts zu suchen!“ Rief einer von ihnen wütend. „Ich hätte eine kurze Frage.“ Antwortete Lynn lautstark und die beiden Männer wechselten verwirrt ihre Blicke. „Wir können dir nicht helfen!“ Entgegnete ihr der andere mit einem arabischen Akzent und voller Abwehr. Während Lynn noch immer gelassen auf die Beiden zulief , öffnete sie langsam den Reißverschluss ihrer Lederjacke. „Vielleicht doch. Wenn zwei so gutgebaute Männer mal auf Landgang sind...“ Erwiderte sie langsam und stand den Männern nun direkt gegenüber. „Was meinst du?“ Fragte der Mann mit dem arabischen Akzent ungeduldig und Lynn fasste sich spielerisch in die Haare: „Ich meine für ein paar Dollar könnte ich euch Beiden noch ein paar schöne Stunden bereiten...“. Die Männer wechselten erneut ihre Blicke. „Wir haben keine Zeit für so etwas.“ Zischte der Araber und zog seine Waffe, als der andere ihn unterbrach: „Wie viel willst du?“ Fragte er angeregt und ließ seinen Blick über Lynns schmales Gesicht und ihre Lippen, hinunter über ihr Shirt und ihre Jeans gleiten. „Hundert Dollar und ich mach euch glücklich.“ Sagte sie leichtfertig und mit einem blassen Lächeln. Sie trat einen weiteren Schritt an die Männer heran um dem Araber in die Augen schauen zu können. „Gut.“ Sagte der andere und Lynn sah im Augenwinkel wie er seine Waffe wegsteckte um nach seinem Portemonnaie zu greifen. „Und du?“ Fragte sie den Araber dann langsam und leise und ließ den Blick nicht von seinen Augen. Nach einigen Sekunden steckte auch er seine Waffe weg und wollte gerade nach seinem Geld greifen, als Lynn mit aller Kraft ausholte und ihm gegen die Brust schlug. Der andere war nicht schnell genug, denn Lynn Trat ihn mit solch einer Wucht in den Unterleib, dass er zu Boden geschleudert wurde und keuchend liegen blieb. Mit verdrehten Augen rang er hilflos nach Luft. „Perverses Arschloch.“ fügte sie hinzu und trat nochmals mit voller Wucht zu, so dass er bewusstlos liegen blieb. „Und jetzt zu dir.“ Sagte sie ruhig und drehte sich zu dem Araber um, der keuchend auf dem Boden lag und sie mit seinen braunen Augen hilflos ansah: „In welchem Container sind die Gefangenen?“ Fragte sie laut und beugte sich zu ihm hinunter. „Ich weiß es nicht...“ Keuchte er und kniff die Augen zusammen als ihm bereits Blut aus dem Mund lief. „Ich werde dich töten. Wo?“ Fragte sie erneut, aber lauter. Der Mann schüttelte nur schmerzvoll den Kopf, aber Lynn zog ihre Waffe und zielte auf ihn. „Welcher Container?“ Fragte sie nochmals und ihre blauen Augen blitzen ihn voller Gefahr an, aber der Mann hustete nur und gab ihr keine Antwort. „Ich weiß es wirklich nicht...“ keuchte er dann nach einigen Sekunden unverständlich und Lynn schoss ihm ins Bein. Er schrie auf und drehte sich wimmernd, vor ihren Füßen, von links nach Rechts. „Ja...Ja!“ Er schrie und Lynn lud ihre Waffe nach, die sie währenddessen noch immer auf ihn richtete. „A43!“ Schrie er kraftlos. Lynn beugte sich nochmals zu ihm hinunter und verpasste ihm einen festen Schlag ins Gesicht, so dass er bewusstlos am Boden liegen blieb. >>A43<< Wiederholte Lynn in Gedanken und sah sich noch kurz um, ob Jemand etwas mitbekommen hatte, ehe sie den Weg in den Tanker suchte.
Es stankt nach Diesel und Motoröl als sie durch den Maschinenraum lief und schließlich eine lange Treppe zum Deck nahm. >>Es ist erstaunlich still hier...vielleicht ist die Crew noch im Hafen...<< Dachte sie und sah erwartungsvoll in den nächtlichen Himmel. Es war bewölkt und hatte angefangen zu regnen. Das Meer rauschte leise, während Lynn sich behutsam und lautlos dem großen Container nährte, als sie Schritte hinter sich hörte und schnell hinter einigen Fässern Deckung suchte. Ein schwer bewaffneter Soldat der VCO lief an ihr vorbei, um den Container herum. Es verstrichen einige Minuten in denen Lynn gespannt darauf hoffte, dass er wieder verschwinden würde, als sie auf der anderen Seite des Decks einen jungen Mann sah, der mit einem Gewehr eine Frau vor sich herschob und etwas in sein Funkgerät sprach. >>...ich kann ihn nicht verstehen...<< Dachte sie und begab sich leise aus ihrer Deckung um näher an die Beiden heran zu kommen. „Ich bring sie jetzt zu Ihnen hoch, Sir.“ Konnte sie noch den letzten Satz verstehen, als sie den Lichtstrahl einer Taschenlampe direkt neben sich bemerkte und sich eng an den Container schmiegte um inne zu halten. Es waren noch weitere Soldaten der VCO hinzugekommen, die nun über das Deck leuchteten und an den beiden Containern entlang gingen.
„Alles sauber!“ Rief einer von ihnen den anderen zu und blieb wenige Meter von Lynn entfernt stehen um ebenfalls einen Funkspruch durchzugeben: „Dakon ist nicht hier.“ Hörte sie den Mann sagen und atmete tief ein. >>Ob das eine Fall war...?<< Der Mann der sein Gewehr auf die Frau gerichtete hatte bewegte sich mit ihr in die Richtung der Treppe zu den Maschinenräumen, und als einer Soldaten den Beiden ins Gesicht leuchtete, konnte Lynn deutlich erkennen das es Serah war, die zitternd vor dem Mann herlief. >>Sie benutzen Serah als Druckmittel um an Dakon heran zu kommen! Das ist ekelhaft.<< Dachte Lynn und ihr Magen zog sich zusammen als sie hörte wie sich ein Soldat nährte. Blitzschnell holte sie aus und schlug zu. Er ging lautlos zu Boden. Der Rest der Soldaten bewegte sich ebenfalls wieder in die Richtung der Maschinenräume, und Lynn zog schnell ihre Jacke aus, um die Jacke des Soldaten anzuziehen und ihm seine Cappy abzuziehen. Auch seine Hose zog sie ihm aus und über Ihre Jeans, um ihn anschließend noch seine Waffen und die Taschenlampe abzunehmen. >>Ich muss sie daraus holen!<< Dachte Lynn und rannte zügig den anderen hinterher. Die Soldaten verteilten sich im Maschinenraum in unterschiedliche Richtungen, aber Lynn folgte dem unbekannten Mann und Serah unauffällig. >>Sie hat solche Angst... vielleicht weiß sie gar nicht ob Dakon noch lebt. Wo ist ihre Tochter?<< Lynn wartete einige Sekunden, als die Beiden eine Treppe hinaufgingen, und folgte ihnen dann weiter in einen langen Gang. Immer wieder hallten die Funksprüche der anderen Soldaten durch den Gang. „Lauf schneller!“ Befahl der Mann Serah und drückte ihr das Gewehr in den Rücken. Sie stöhnte leise auf und Lynn konnte sehen, dass sie Mühe hatte zu gehen. >>Was ihr wohl alles geschehen ist, in der ganzen Zeit...<< Dachte Lynn, als sie plötzlich Schritte hörte die ihnen entgegenkamen. „Ihr solltet alleine kommen!“ Hörte sie Sharivs unliebsame Stimme, und Lynn senkte ihren Kopf, damit er ihr Gesicht nicht sehen konnte. „Egal, kommt mit, es kann nicht mehr lange dauern, bis Dakon hier auftaucht.“ Sagte er angespannt, und als er Dakons Namen ausgesprochen hatte, begann Serah leise zu weinen. Shariv führte die Drei eine weitere Treppe hinauf und sie gelangten in die Führerkabine des Tankers. Der Raum war groß und ausgestattet mit allerhand Technik. Ein riesiges Steuerpult lag vor einer verglasten Fensterfront, von der aus man über das gesamte Deck sehen konnte, auf das jedoch nur sperrlich Licht geworfen wurde. „Setz sie darüber!“ Sagte Shariv genervt und sah ungeduldig auf das Meer hinaus. „Hat ihn schon jemand gesehen?“ Funkte Shariv dann an seine Soldaten. „Nein, Sir.“ Antworteten die Soldaten. Shariv zündete sich nervös eine Zigarette an und drehte sich zu Serah um, während Lynn sich in eine Ecke gestellt hatte und noch immer stumm zu Boden sah. „Dein Mann scheint nicht allzu viel Sehnsucht zu haben, was?“ Fragte Shariv lächelnd, aber Serah schwieg. „Gib Antwort wenn er mit dir spricht!“ Ermahnte sie der Mann mit dem Gewehr der noch immer neben ihrem Stuhl stand. Serah blieb stumm, sie wirkte traumatisiert, und ein fester Schlag in ihr Gesicht ließ sie nur weinen. „Ich frage mich was ein Mann wie Dakon mit einer wie dir will!“ Rief Shariv dann verachtend und spuckte vor Serah auf den Boden. „Was willst du hier eigentlich? Ihr sollt Dakon endlich ausfindig machen!“ Wandte er dann sein Wort an Lynn, die noch immer den Kopf gesenkt hatte. „Hey, ich sprech mit dir!“ Rief er etwas lauter und zog seine Waffe. „Verzeihung Sir.“ Sagte sie leise und drehe ihm den Rücken zu um den Raum wieder verlassen zu können, als er rief: „Stehen bleiben! Dreh dich um!“ Serah hatte währenddessen wieder aufgehört zu weinen und sah verwirrt zu Lynn die sich langsam umdrehte. >>Was tue ich hier...<< Fragte sie sich, während sie allmählich das Gefühl überkam, dass ihr Plan nach hinten losgehen würde, als Shariv einen rettenden Funkspruch erhielt: „Wir haben ihn, er ist am Dock in C4!“ Shariv senkte seine Waffe, abgelenkt von seinem Funkgerät und Lynn ergriff blitzschnell die Chance und machte einen Satz auf ihn zu. Er konnte nicht so schnell reagieren wie sie ihm ihre Waffe an den Kopf hielt und er seine Fallen ließ. „Lass sie gehen!“ Sagte Lynn leise und bestimmend, aber Shariv antwortete nur: „Erschieße sie!“
Lynn konnte hinter sich etwas poltern hören und bekam einen Schlag von Shariv direkt ins Gesicht ab, der sie zu Boden beförderte. Sie rollte sich ab und stand wieder auf , um seine Waffe, nach der er sich gerade bücken wollte, wegzutreten. Er holte aus und stürmte auf sie zu und während sie sich wegducke riss er ihr die Mütze vom Kopf. Er sah flüchtig in ihr Gesicht und erkannte sie sofort, aber Lynn trat mit aller Kraft nach ihm und er wurde gegen das Steuerpult geschleudert. Lynn nutze den Moment und wollte Serah helfen, als sie sah, dass die junge Frau auf dem Mann mit dem Gewehr saß und es ihm an den Hinterkopf hielt. „Serah! Wir müssen hier raus!“ Rief Lynn hastig und sie nicke, als wüsste sie, dass Lynn zu ihrem Mann gehörte. Shariv war gerade dabei wieder auf die Beine zu kommen als Lynn Serah mit aus dem Raum riss und mit ihr die Treppen hinunter rannte. „Linnai ist hier! Holt sie euch!“ keuchte Shariv oben in sein Funkgerät und holte hektisch seine Waffe: „Sie hat die Frau!“
„Serah, kommen Sie!“ Rief Lynn als sie bereits hörte wie Soldaten aus allen Richtungen auf sie zukamen. Serah stand jedoch völlig außer Atem an einer Wand und stützte sich ab. „Wir müssen nur noch Miku holen!“ Sagte Lynn und versuchte in Serahs Gesicht zu sehen aber sie schüttelte nur weinend den Kopf: „Miku ist tot...“ Keuchte sie kraftlos. >>...nein...<< Die Stimmen kamen bereits immer näher und Lynn packte Serahs Arm und zog sie durch eine Tür um dann einen weiteren Gang entlang zu rennen und dann eine Treppe hinauf. Sie hatte jetzt keine Zeit darüber nachzudenken was Serah da gerade eben gesagt hatte. Sie mussten verschwinden und sie mussten am Leben bleiben „Wo sind die anderen Gefangenen?“ Fragte Lynn, aber Serah schüttelte wieder nur den Kopf während sie rannten: „Es gibt keine Gefangenen“ Keuche sie und zuckte zusammen, als sich zwei Geschossen neben ihr in den Boden bohrten. Einige Soldaten waren ebenfalls auf das Deck gelangt und schossen nun auf die Beiden. Lynn hatte Mühe Serah mitzuziehen und sie rannte weiter mit ihr über das Deck zum Bug des Schiffes. „Vertrauen sie mir!“ Rief sie dann und blieb mit ihr an der Reling stehen. Serah sah verwirrt Lynn an und dann hinab in die Tiefe. Sie konnte das Wasser nur hören, es war zu Dunkel um es zu sehen. Zwei Soldaten waren bereits hinter einem der Container aufgetaucht und schossen auf die beiden Frauen. „Springen Sie!“ Befahl ihr Lynn hektisch aber Serah schüttelte nur den Kopf. „Verdammt! Springen Sie!“ wiederholte sie ungehalten, als ein weiterer Schuss direkt neben ihnen ein leeres Ölfass durchdrang. >>Verzeih mir Dakon!<< Lynn packte Serah und warf sie mit aller Kraft in die Tiefe. „DA IST SIE!“ Schrie ein Soldat der auf Lynn zu gerannt kam, aber sie hatte ihre Waffe bereits gezogen und gab drei präzise Schüsse ab. Die Soldaten waren tot, und weitere kamen aus der Dunkelheit. >>...ich muss hier weg...<< Lynn nahm Anlauf und sprang schließlich gekonnt in die Tiefen der Finsternis und des Wassers.
„Es tut mir leid.“ keuchte Lynn und half Serah aus dem eiskalten Wasser hinaus auf einige Steine, die unmittelbar an eine Straße des Ufers grenzten. Serah schwieg und stand völlig durchnässt und zitternd vor Lynn. „Dakon...“ Sagte sie leise und sah Lynn verzweifelt an, die ihr Handy in der Hand hielt, um festzustellen dass es nicht mehr zu gebrauchen war. „Er wird sicher gleich kommen...“ murmelte Lynn aufgelöst und sah sich verzweifelt um. Der Regen war stärker geworden, und sie konnte nur eine lange Landstraße und zwei Scheinwerfer in der Ferne erkennen.
Lynn ging zu ihrem Motorrad und drehte sich nochmals zu Dakon und Serah um, die in seinem schwarzen Geländewagen saßen und sich fest umarmten. Dakon hatte die Fahrt über keinen Ton gesagt. Er hatte immer wieder Serah angesehen die neben ihm saß und fest seine Hand umklammert hatte. >>Nicht ein Wort...<< Dachte Lynn und stieg auf ihr Motorrad um den Motor anzustellen. Was hatte sie erwartet? Seine Tochter war tot. Es war Glück, dass er sie gefunden hatte, nachdem er einen Soldaten getötet und durch die Funksprüche herausgefunden hatte, dass die Beiden von dem Tanker ins Meer gesprungen waren.
Es gab nur zwei Möglichkeiten wo sie wieder an Land hätten kommen können und er hatte sich für die bessere entschieden. >>Ich hatte wieder die Möglichkeit Shariv zu töten...<< Dachte Lynn frustriert während sie losfuhr. >>Und wieder hatte ich keine Chance...<<
Die Straßen waren leer, und sie hatte in der Zeit in Nagoya gelernt die Sektorpässe gekonnt zu umfahren Trotz ihres Ausweises wollte sie nicht riskieren, dass man vielleicht ihr Gesicht wiedererkennen könnte. Sie konnte nicht mehr einschätzten, wer von der Staatspolizei mit der VCO zusammenarbeitete.
Es war still und spät nach Mitternacht als Lynn endlich ihre nassen Sachen loswurde und die geklaute Jacke des VCO Soldaten auf das Sofa legte. >>...ist das etwa...<< Sie drehte sie verwundert um, und sah im inneren, in das Futter genäht, ein Wappen. >>Aber das kann nicht sein<< Sie zog ihr Oberteil aus und hastete zum Badezimmerspiegel um sich ihre Schulter anzusehen. Es war das gleiche Zeichen. Es war das Zeichen, der Beiden ineinander verschlungenen Tiere, das in einem schwachen hellblau leuchtete. >>Nein...<<
Lynn starte einige Minuten ungläubig auf die Jacke die noch immer vor ihr lag. „Ich bin keine von denen... ich bin nicht solch ein Monster...“ Sagte sie leise.
Es waren zwei Stunden vergangen nachdem sie geduscht hatte und nun lag Lynn, noch immer wach, auf dem Bett und sah rüber in das Wohnzimmer wo die Jacke der VCO auf dem Sofa lag. Ihre Gedanken überschlugen sich. >>Ich kann es unmöglich Jemandem zeigen... vielleicht Tetsuya... aber nein, sie alle haben durch die VCO ihre Familien und ihr Land verloren... sie haben ihnen alles genommen...und ich soll ein Teil davon sein. Das kann alles nicht sein. Das muss ein Traum sein. Wenn sie es herausfinden, werden sie mich töten... sie werden keine Sekunde überlegen... ich bin für sie eine tickende Zeitbombe... warum sollten sie mir auch trauen... Shariv wusste es die ganze Zeit... er kennt mich... er weiß vielleicht wer ich bin, oder wer ich war...<< Lynn schreckte aus ihren Gedanken hoch, als sie ein Rascheln, draußen im Flur, vernahm und hielt inne. >>Tetsuya...Dakon...<< Sie schlug die Decke um, und stand lautlos auf. >>Wer kommt so spät in der Nacht noch von ihnen? Ich muss mir was anziehen...<< Lynn ging zu einer der Kommoden in dem kleinen Zimmer, und wollte gerade ein Hose herausholen, als sie das leise Summen eines Funkgerätes im Flur hören konnte. >>Keiner von ihnen trägt außerhalb von Einsätzen ein Funkgerät bei sich...das ist Niemand von uns!<< Lynn ließ von der Kommode ab und hastete zum Wohnzimmerfenster um vor den Wohnblock, auf die Straße sehen zu können. Drei schwarze Transporter standen auf dem Parkplatz, und zwei Soldaten waren am Steuer zu erkennen. >>Das sind keine Leute der UEF!<< Lynn wollte gerade nach ihrer Waffe auf dem Tisch greifen, als sich bereits ihre Wohnungstür öffnete und eine Gruppe Soldaten hereingestürmt kam. „VERDAMMT!“ Fluchte Lynn und rannte ins Badezimmer um die Tür hinter sich abzuschließen, als sie bereits Schüsse hörte. Sie stürmte zu dem kleinen Fenster und schob es auf. Die Soldaten hatten begonnen gegen die Türe zu treten und Lynn konnte sie sagen hören: „Sir wir haben sie!“ >>Das hättet ihr wohl gerne<< Dachte Lynn und sprang aus dem kleinen Fenster um auf einem Vordach zu landen und los zu hasten. Hinter sich hörte sie einen lauten knall und dann folgten Schüsse unmittelbar in ihre Richtung. Sie hatten die Badezimmertür aufgebrochen und schossen nun aus dem Badezimmerfenster auf sie. >>Verdammt!<< Sie ließ sich am Ende des Daches in eine Gasse fallen und rannte so schnell sie konnte weiter.
>>Ich muss Dakon anrufen!<< Dachte Lynn völlig außer Atem und drehte sich zu allen Seiten um. Sie war weit gerannt und stand nun im Regen und im Schutze der Dunkelheit in einer kleinen Gasse an einem Münztelefon. >>...ich hab noch nicht mal Geld...<< Resigniert schlug sie einige Male fest gegen das Telefon, bis sie einige Münzen in den Auswurf fallen hörte. >>Geht doch...<<
„Der gewünschte Teilnehmer ist momentan leider nicht zu erreichen. Sie werden weitergeleitet.“ Sagte die elektronische Frauenstimme am anderen Ende. >>Dakon hat bestimmt genug mit Serah zu tun...<< Dachte Lynn nach, als Jemand plötzlich am anderen Ende abnahm und sie Schüsse hören konnte: „Lynn, was ist los?“ Schrie Tetsuya völlig außer Atem in den Hörer. „Ted, es tut mir leid, ich muss verschwinden, sie haben mich gefunden! Wo bist du?“ Rief Lynn verwirrt über den Lärm im Hintergrund. „Ich bin mit Rin in einem Einsatz! Ruf Dakon an!“ Schrie er weiter. „Sein Handy hat mich zu dir weitergeleitet!“ Sagte Lynn und sah sich nochmals nervös um. „Wo bist du jetzt?“ Rief Tetsuya angestrengt und es schien als würde er gerade einige Schüsse abgeben. „Ecke Hanabura.“ Sagte Lynn. „Ich kann dir nicht helfen, aber Sakuya hat in der Nähe ein Apartment! Im „Takado Inn“, an der Dritten! Bei ihm bist du erst mal sicher!“ Rief Tetsuya. „Danke!“ Gab Lynn zurück, aber das letzte Geld war bereits durchgefallen und der Anruf wurde automatisch beendet. Lynn stand zitternd vor dem Münzsprecher und sah sich verzweifelt um. >>Ich habe noch nicht mal was etwas zum anziehen...<<
Das „Takado Inn“ erwies sich als ein unscheinbares Hotel an einer der Hauptstraßen die in das Zentrum Nagoyas führten. >>Mich darf niemand sehen...<< Lynn schlich leise in das Foyer des Hotels, und hielt sich geduckt, ehe sie sehen konnte, dass an der Rezeption Niemand zu sehen war. Die Ausgangssperre sorgte zu ihrer Erleichterung dafür, dass keine weiteren Hotelgäste im Foyer warteten. Vermutlich machte der Rezeptionist auch gerade Pause. >>Welches Zimmer...<< Es waren keine Überwachungskameras zu sehen, nach denen Lynn sich in einem ersten Prüfenden Blick umsah. Sie lief vorsichtig hinter die Rezeption um einen Blick in den Computer werfen zu können. Der Teppich unter ihren nackten Füßen sorgte für etwas wärme, dennoch suchte sie hektisch und zitternd in den Reservierungen nach einem Anhaltspunkt. >> Er wird bestimmt nicht unter Sakuya Kira zu finden sein...<< dachte Lynn und sah die Langzeitreservierungen ein, als ihr der Name „Nomura-Porter“ auffiel. >>Dakon muss das Zimmer angemietet haben... vielleicht unter den Namen seiner Frau? ....<< Lynn hatte genug gesehen und hielt an einem großen Brett nach dem Zimmerschlüssel Ausschau. Es war einen Versuch wert und ihr lief die Zeit davon.
Sie fuhr ungesehen mit dem Aufzug in das zehnte Stockwerk und betrat schließlich unsicher den braunen Teppich, der einen langen Gang entlangführte.
Sie stand aufgeregt vor der Zimmertür und schloss sie auf. Es war dunkel und sie tastete nervös nach dem Lichtschalter. Vor ihr erstreckte sich ein riesiges Apartment, von dem aus, sie die ganze Stadt überblicken konnte. >>Dakon war wohl kein Luxus zu schade...<< Dachte sie und schloss die Tür um das Wohnzimmer zu betreten. Die Außenwände waren verglast und Lynn sah fasziniert auf die leuchtende Stadt die vor ihr lag.
>>Und hier wohnt Sakuya...?<< Fragte sie sich und sah sich weiter um. Das Apartment schien, als hätte es noch nie zuvor Jemand betreten, bis auf den Zigarettenreste im Aschenbecher auf dem Wonhzimmertisch, einer Schachtel Marlboro Light daneben und einem leeren Whiskeyglas. Es war die Marke die Sakuya rauchte, da war sich Lynn sicher. >>Sakuya muss selten hier sein...<< Dachte sie und ihr wurde flau im Magen, bei dem Gedanken daran, dass sie gerade in seinem Apartment stand. >>Ich sollte einfach versuchen zu schlafen. Morgen ist ein neuer Tag und Dakon wird mit Sicherheit Antworten und eine Lösung haben...<< Dachte Lynn und ging ins Schlafzimmer, wo die Uniform der UEF auf dem Bett lag, und daneben eines von Sakuyas schwarzen Hemden. Keine Frage, es war das richtige Apartment. Lynn zögerte einige Augenblicke, nahm seine Sachen dann jedoch behutsam von der Decke, die sie ergriff und ging mit ihr ins Wohnzimmer um sich auf das große Sofa zu legen. Sie schaltete das Licht aus und sah noch für einige Sekunden auf die helle Stadt, die in der Dunkelheit vor ihr lag. >>Die Decke riecht nach Sakuya...<< Mit einer ungewöhnlichen Ruhe in ihrem inneren glitten ihre Hände über den weichen Stoff und sie schloss erleichtert ihre Augen. Es war gut, dass er nicht da war. Dass sie sich nicht halb nackt und abgehetzt vor ihm erklären musste. Langsam aber sicher überkam sie die Müdigkeit.
Es würde nicht mehr lange dauern bis die Sonne aufging, als Sakuya in der Dunkelheit das Apartment aufschloss und gerade das Licht anschalten wollte, als er für einige Sekunden inne hielt und sein Handy aus der Tasche nahm. Etwas war anders, das spürte er sofort. Tetsuya hatte ihm eine Nachricht geschickt, in dem er schrieb, dass Lynn auf dem Weg zu ihm sei und in Schwierigkeiten war. Die Nachricht war bereits einige Stunden alt. Während er sein Telefon wieder einsteckte, ging Sakuya lautlos ins Wohnzimmer um Lynn im schwachen Licht der Morgenröte auf dem Sofa liegen zu sehen. Es vergingen einige Minuten, in denen er sie betrachtete, wie sie ruhig atmend da lag. Einige braune Strähnen hingen ihr ins Gesicht. Sie sah friedlich aus. Nicht wie die, zu der man sie gemacht hatte. Nicht wie eine Soldatin. Sein Blick wanderte über ihre schmalen Beine, hoch über ihr knappes Unterhemd zu dem Zeichen an ihrer linken Schulter. Es leuchtete schwach und ein bläulicher Schimmer umgab es. Sakuya machte seine Zigarette im Aschenbecher aus und griff nach der Decke, die vor dem Sofa auf dem Boden lag, um sie behutsam über Lynn zu legen. Sie wachte nicht auf und er verließ das Apartment nach einige Minuten wieder.
>> „Wo bin ich...?“ Fragte sich Lynn leise als sie in einer dunklen Gasse zu sich kam und langsam aufstand. Es schneite und die Schneeflocken blieben in ihren braunen langen Haaren hängen. Um sie herum ragten hohe, weiße Bäume in den nächtlichen Himmel. „Was sind das für Pflanzen...“ Fragte sie und lief einige Schritte durch hohen Schnee, als sie bemerkte, dass sie eine Uniform trug. „Aber was...“ Sie schreckte zusammen als sie laute, schnelle Schritte hinter sich hörte, und drehte sich um. „Zum Glück!“ Sagte ein erwachsener Mann, mit schwarzen Haaren, der ihr dicht gegenüber stand und der sie mit seinen blauen Augen ernst ansah. Er trug die selbe Uniform wie sie und befreite ihre Haare sanft von den Schneeflocken. Ihre Sichtweise veränderte sich, und ein Teil von ihr schien plötzlich über sich und dem Mann mit den schwarzen Haaren zu schweben und sie erkannte, dass sie nicht älter als sechs Jahre sein konnte. „Wer bist du...?“ Dachte sie und das Mädchen fragte die Worte synchron leise in die Nacht.<<
Lynn schreckte hoch und rang nach Luft. >>Ein Traum... nur ein Traum...<< Sagte sie sich und sah sich nach einigen Sekunden um. Sie lag noch immer auf dem Sofa in Sakuyas Apartment. „Sakuya?“ Fragte sie laut in die Stille, als sie ein Handy auf dem Tisch liegen sah. Es blieb still. Niemand antwortete. Die Sonne stand schwach hinter einigen Wolken, über der Stadt. >>Er war hier...<< Dachte Lynn und stand unsicher auf, als das Handy begann zu vibrieren. „....Ja?“ Fragte sie und wartete einige Sekunden. „Lynn, wir treffen uns in einer halben Stunde bei Rin.“ Hörte sie Dakon sagen. Ehe sie antworten konnte hatte er jedoch wieder aufgelegt. >>...so kann ich unmöglich los...<< Sie sah an sich hinunter und blickte auf ihre Unterwäsche. >>Ich kann doch nicht einfach Sakuyas Sachen anziehen..<< Dachte sie und wollte ins Badezimmer gehen, als ihr Blick auf einen Stuhl fiel, auf dem ihre Schwarze Jacke und eine ihrer Jeanshosen lag. >>Wie kommen die hierhin...<< Auch ihre Stiefel standen neben dem Stuhl, und darauf lag der Schlüssel ihres Motorrads. >>Hat Sakuya sie etwa geholt...<< Lynn zog verwirrt ihre Sachen an, steckte das Handy ein und begab sich dann auf den Weg zu Rin. Wann auch immer er da gewesen war, hatte sie es nicht mitbekommen. Hatte er etwa das Zeichen auf ihrer Schulter gesehen, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf, während sie auf ihr Motorrad stieg. Er hätte sie erschossen. Sakuya hätte keinen Augenblick gezögert, da war sie sich sicher. Seinen erbarmungslosen kalten Blick hatte sie direkt vor Augen. Aber sie lebte noch. Das sprach dafür, dass er es nicht bemerkt hatte. Erleichtert stellte sie den Motor an und schob sie restlichen Gedanken bei Seite. Sie müsste erst einmal eine neue Bleibe finden, in ihre alte Wohnung konnte sie unmöglich zurück.
Als sie auf den kleinen Parkplatz hinter das Haus von Rin fuhr, sah sie bereits Tetsuya der mit einer Zigarette im Mund, auf sie zu warten schien. „Du bist spät dran.“ Sagte er und lächelte erleichtert. „Ich habe wohl verschlafen.“ erwiderte Lynn und sah besorgt in sein Gesicht, in dem einige Schrammen zu sehen waren. „Ich denke du schläfst nicht?“ Erwiderte Tetsuya und trat seine Zigarette aus. „Ich hatte wohl Nachholbedarf.“ Murmelte Lynn.
„Was ist passiert?“ Tetsuyas Miene wurde ernster. „Lange Geschichte.“ antwortete Lynn und wollte sich gerade abwenden als Tetsuya nachschob: „Du hast Serah gefunden. Dakon hat es mir heute morgen erzählt.“ Lynn nickte nachdenklich und wandte sich erneut zu ihm um: „Ja, aber Miku... sie ist...“ Lynn sprach nicht weiter aber Tetsuya schien den Ausgang des Satzes bereits zu kennen: „Ich weiß. Dakon muss das alles erst einmal verkraften.“ Fügte er hinzu. „Du hättest die Beiden sehen sollen... Serah hat Dakons Hand nicht einmal losgelassen... es war so traurig.“ Tetsuya`s Gesichtsausdruck änderte sich für einige Sekunden: „Es ist drei Jahre her...“ Sagte er dann. „Ja...drei Jahre...“ Erwiderte Lynn leise. „Was diese Frau nur alles mitmachen musste...“ Es verstrichen einige Minuten der Stille. Beide waren vor Betroffenheit wie gelähmt.
„Danke für gestern Nacht.“ Sagte Lynn dann und Tetsuya schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, dass die Lösung so umständlich war.“ Erwiderte er und ging einige Schritte. „Du hast getan was du konntest. Wie lief der Einsatz?“
„Wir konnten ein Dutzend Gefangene befreien. Rei war auch dieses mal nicht dabei.“ Antwortete Tetsuya und wollte sich erneut eine Zigarette anzünden, aber Lynn ging einige Schritte auf ihn zu und nahm sie ihm vorsichtig wieder aus dem Mund. Er sah in ihre hoffnungsvollen blauen Augen: „Ted, wir werden auch sie finden.“ Er lächelte schwermütig und sie begaben sich langsam zum Eingang des Hauses.
Dakon stand am Wohnzimmerfenster und Rin saß vor einem seiner Computer als Lynn und Tetsuya das Haus betraten. „Du hast es ziemlich paradiesisch hier.“ Stellte Lynn überwältigt fest, als sie das Wohnzimmer betraten und sie die vielen antiken Möbel musterte. Rin nahm seine Brille ab und lächelte. „Ja, man sollte meinen, dass ein IT Spezialist in Zeiten des Chaos gut verdient.“ Erwiderte er. Dakon musterte Lynn und ging dann einige Schritte auf sie zu: „Danke.“ Sagte er aber Lynn schüttelte den Kopf:
„Es ist schon-“
„Es tut mir leid, dass ich gestern Nacht nicht zu erreichen war.“ Unterbrach er sie.
„Wie geht es Serah?“ Fragte Lynn dann vorsichtig, als sie bereits mit einem Tablett voller Kaffee das Zimmer betrat und sie erleichtert ansah: „Ist das Lynn?“ Fragte sie und stellte das Tablett auf den Tisch. „Ja.“ Erwiderte Dakon und trat einige Schritte zurück. Serah griff nach Lynns Händen und drückte sie fest, während sie, sie musterte: „Ich kann dir nicht genug danken.“ Sagte sie schwach und Tränen sammelten sich in ihren Augen. „Bitte... es war das mindeste...“ Antwortete Lynn leise, unfähig angebrachte Worte zu finden. „Ich bin endlich wieder in Sicherheit. Danke. Sieben Jahre.“ Sagte sie langsam und ließ Lynns Hände zaghaft wieder los.
Es verstrichen einige Minuten in denen die Stille dominierte. Serah verteilte die Getränke auf dem Tisch und Lynn und Tetsuya hatten sich zu Rin gesetzt. „Wie machen wir weiter?“ Eröffnete Tetsuya schließlich, nachdem er sich eine Zigarette angezündet hatte, das Gespräch. Dakon stand noch immer am Fenster und sah geistesabwesend hinaus auf die Straße: „Ich habe bereits Furguson gesprochen, er wird ein Treffen aller Kommandanten der Teams einberufen. Wir müssen unsere Informationen zentrieren und einige unserer Informanten genauer unter die Lupe nehmen. In letzter Zeit sind folgenreiche Ereignisse geschehen. Zwei unserer Mitglieder aus Efrafar werden ebenfalls an dem Treffen teilnehmen.“
„Und du, Boss?“ Fragte Tetsuya und sah Dakon neugierig an, der jedoch nur angespannt in die Runde blickte.
„Ich werde natürlich auch daran teilnehmen. Der Treffpunkt steht bereits fest, er hat jedoch oberste Geheimhaltung bis zu dem Termin.“ Antwortete Dakon und zündete sich widerwillig eine Zigarette an.
„Eure Aufgabe wird darin bestehen mit ausgewählten Leuten der anderen Teams das Treffen zu sichern. Wir dürfen nicht riskieren, dass die VCO auch nur die geringste Chance für einen Zugriff bekommt.“
„Wann?“ Fragte Lynn und Dakon blickte zu ihr:
„In vier Tagen.“
Es herrschte Stille. Lynn dachte darüber nach, dass dieses Treffen ein leichtes Ziel für die VCO darstellen würde. Jeder der Teamleiter hatte Unmengen an Informationen über die UEF und ihre Operationen. >>Vielleicht sollte ich aussteigen, so lange ich noch kann... solange....<<
„Lynn, komm kurz mit.“ Riss Dakon sie plötzlich aus ihren Gedanken. Sie stand wortlos auf und folgte ihm. Die Beiden verließen das Haus und Dakon ging auf dem Parkplatz zielstrebig zu seinem Wagen.
Rin hatte sich seinem Computer gewidmet und Serah sah Tetsuya fragend an, der sich gerade eine Zigarette anzündete: „Alles in Ordnung?“ fragte er sie.
„Wie ist sie so?“ Fragte Serah ruhig und setzte sich neben ihn.
„Lynn?“
„Ja...“
„Sie ist verdammt gut.“ Erwiderte Tetsuya verwundert und sah in Serahs matte blauen Augen. Es schien als wäre der Glanz darin verschwunden. „Sie ist ein wenig anders. Ihre Fähigkeiten sind beeindruckend, aber gleichzeitig auch beängstigend.“ Fuhr Tetsuya fort und zog an der Zigarette. Rin sah von seinem Computer auf: „Und vergiss ihr Aussehen nicht.“ lachte er. Serah lächelte. „Wie geht es dir?“ fragte Tetsuya dann und ihr Gesicht wurde wieder ernster und sie zuckte mit den Schultern: „Es könnte alles besser sein. Aber das wichtigste ist, dass ich nun wieder bei Dakon sein kann, dass wir wieder zusammen sind. Auch wenn Miku..“ sie hielt inne als sie Schritte hörte und zur Tür sah. Sakuya stand angelehnt am Rahmen und musterte Tetsuya ernst: „Meinst du nicht es reicht?“ fragte er nur und Tetsuya nickte resigniert. Rin sah wie Serah sprachlos und langsam aufstand und einige unsichere Schritte auf Sakuya zuging: „Sakuya Kira...“ Flüsterte sie beinahe lautlos. Auch Tetsuya verfolgte ihre Reaktion verwundert. Sie stand ihm gegenüber und streckte die Hand nach seinem Gesicht aus. „Du bist es wirklich...“ sagte sie leise und lächelte, während ihre Hand sanft sein Gesicht berührte und er seine darauf legte. Zwischen den Beiden schien ein inniges Verhältnis zu bestehen, das vermutete sowohl Tetsuya als auch Rin.
Dakon hielt Lynn einen großen Umschlag entgegen und sie sah ihn stumm an.
„Ohne dich, wäre weder sie noch ich am Leben.“ Lynn nahm den Umschlag und sah hinein. Sie fand ein Bündel Scheine und eine Adresse darin.
„Du hast deine Sache verdammt gut gemacht.“ sprach er weiter und sah sie an. „Es tut mir leid, dass ich dir nicht helfen konnte.“ Lynn schüttelte den Kopf: „Nein, es ist alles in Ordnung.“ Antwortete sie und sah ebenfalls in Dakons graue Augen. „Das hätte nicht passieren dürfen. Sie müssen uns vom Hafen aus gefolgt sein. Ich war aufgewühlt. Ich hätte es bemerken müssen.“ Lynn war verwundert. Entschuldigte sich Dakon etwa gerade bei ihr? „Ich hätte es ebenfalls bemerken müssen.“ Entgegnete sie und Dakon lächelte für einige Sekunden und sah in die Ferne.
„Die Adresse ist deine neue Unterkunft. Deine Sachen sind bereits dort. Sakuya hat sich darum gekümmert. Sie liegt unmittelbar im Stadtzentrum. Die VCO wird sich dort nicht so schnell blicken lassen, vorausgesetzt sie sollten deine Spur nochmals aufnehmen können.“
„Ich werde weiter die Augen offen halten.“ Sagte Lynn und steckte den Umschlag weg um wieder ins Haus zu gehen als Dakon sagte: „Hast du mir noch etwas zu sagen?“ Lynn blieb stehen und drehte sich erneut zu Dakon um: „Nein.“ erwiderte sie und ging. Dakon sah ihr noch kurz nachdenklich hinterher ehe er ihr folgte. Was hätte sie Dakon auch sagen wollen? Dass sie vermutlich selbst eine Soldatin der VCO sein könnte? Dass sie den Feind mitten unter sich hatten, und sie dafür auch noch bezahlten? Ein unrihiges Gefühl machte sich in Lynn breit, während sie zurück ins Haus lief.
Lynn sah gerade noch wie Serah ihre Hand von Sakuyas markantem Gesicht nahm. Sie war ein ganzes Stück kleiner als er und Lynn war überrascht von der Sanftmut mit der Sakuya ihr einen Kuss auf die Stirn gab. „Schön dass du auch endlich hier bist, Sakuya.“ Sagte Dakon leicht ärgerlich und ging an den Beiden vorbei. „Rin hast du den Lageplan endlich ausgedruckt?“ Fragte er und warf seinen Mantel auf das Sofa. Rin nickte hektisch und griff dann hinter sich zu einem Plotter um einige Blätter auf dem Tisch zu verteilen. Lynn sah noch immer zu Serah und Sakuya herüber. Serah sah ihn liebevoll an, aber Sakuyas Blick galt nur Dakon. Manchmal kam es ihr vor, als hätte Sakuya nur diese eine Bindung: zu Dakon. Die beiden Männer verstanden sich blind, das hatte sie schon mehrmals mitbekommen. Und es war allein Sakuya, der sich anmaßen konnte, Dakons Anweisungen in Frage zu Stelle. Ihre Frage konzentrierte sich jedoch darauf, wer von den beiden eigentlich für den anderen arbeitete.
„Morgen Abend soll eine Lieferung mit zwei unserer Informanten aus Efrafar hier in Nagoya erfolgen. Die VCO hat sie gefangen genommen und sie sollen zu einem Verhör gebracht werden. Rin hat es geschafft die Mobilfunkleitung eines Handys von einem Oberoffizier der Staatspolizei anzuzapfen. Es ist klar, dass sie mit der VCO kooperieren. Rin?“ Rin nahm seine Brille ab und stand auf: „Die Geiseln sollen um 0:30 am Airport mit einer Privatmaschine ankommen. Das Handy gehört einem „Shintaro Ari“. Es liegt nahe, dass er und Shariv sich kennen. Anschließend wird ein Wagen der Staatspolizei die Beiden in einen Lagerhallen Distrikt außerhalb der Stadt überführen. Die bisherigen Anrufe beschränkten sich auf den Treffpunkt und die Uhrzeiten. Zur Vorgehensweise vor Ort kann ich nur sagen, dass sie verhört werden sollen. Was genau dort geschehen wird, lässt sich jetzt nur vermuten.“ Erklärte er und sah zu Dakon. „Sakuya und Lynn, ihr werdet euch vor Ort gefangen nehmen lassen. Es wird aussehen als seit ihr unvorsichtig gewesen. Ihr werdet höchstwahrscheinlich mit den Geiseln zusammen vorerst eingesperrt werden. Der Rest des Teams wird auf eure Anweisung warten, und dann gezielt zuschlagen, während das Team von Furguson eine Ablenkung durchführt.“ Lynn lauschte aufmerksam Dakons Worten, aber ihr Blick war noch immer auf Sakuya gerichtet, der sie nun ebenfalls stumm ansah. „Ist soweit alles klar?“ harkte Dakon nach. „Wie sollen die Beiden uns ein Zeichen geben, die VCO wird sie mit Sicherheit aufs genauste untersuchen.“ Dakon nickte und legte eine schwarze kleine Box auf den Tisch. „Implantierte Mikros?“ fragte Serah erschrocken und sah Dakon fragend an. „Ja. Oberhalb des Schlüsselbeins implantiert haben sie eine ausgezeichnete Sendequalität.“ Sakuya konnte die Abwehr gegen diesen Plan in Lynns Augen genaustens sehen. Sie wandte ihren Blick zu Dakon: „Es geht leider nicht anders.“ entgegnete er ihr, noch bevor sie Protest einlegen konnte. Er hatte doch mitbekommen, was sie von Ärzten, Eingriffen und Operationen hielt. Warum konnte er niemand anderes mit Sakuya zu dieser Mission schicken?
„Tetsuya und Rin, ihr überwacht weiter die Mobilfunkleitung von Ari. Ich will über jedes neue Detail informiert werden. Sakuya und Lynn, wir fahren zu Dr. Shenker.“ Rief Dakon während er bereits den Raum verließ.
„Meinst du das ist eine gute Idee?“ Fragte Tetsuya und sah Rin fragend an. Rin zuckte mit den Schultern und setzte seine Brille wieder auf. „Regel Nummer acht: Zweifel nie an Dakon.“ Erwiderte er und Tetsuya ließ sich in die Lehne des Sofas zurückfallen.
Lynn lief neben Sakuya die feuchten Treppen zu Dr. Shenkers Praxis hinunter. Es dämmerte und hatte begonnen zu regnen. Serah und Dakon folgten den Beiden. Sie bestand darauf ihren Mann zu begleiten. Trotzdem Serah gestern Nacht noch völlig traumatisiert gewirkt hatte, nach immerhin drei Jahren Gefangenschaft, schien sie ein absoluter Profi zu sein, wie er Rest von Dakons Team. Sie stand ihrem Mann zur Seite, und das Vertrauen der Beiden war unabdingbar, das spürte Lynn.
Doktor Shenker öffnete, einige Sekunden nachdem Dakon geklopft hatte, die Tür. „Kommt rein.“ Sagte sie und nachdem sie an ihr vorüber gegangen waren, musterte sie nochmals die Umgebung, ob ihnen auch niemand anderes gefolgt war. „Wenn du willst, dann können wir direkt die Standart Untersuchung mitmachen?“ Fragte die blonde Ärztin die gerade einen Kittel über ihr rotes Kleid zog. Serah sah besorgt durch eine große Scheibe zu Sakuya und Lynn, die sich in einem großen Raum auf zwei Operationstischen gegenüber saßen. Das grelle Neonlicht ließ die Operationsutensilien an der Wand glänzen. Die Sauberkeit des Raumes ließ zu wünschen übrig, das hatte Lynn jedoch bereits beim letzten Besuch schon festgestellt. Es war ein umfunktioniertes, nasses Kellerloch. Wer auch immer es umgebaut hatte, war nicht sonderlich bemüht gewesen. Vieles, außer die weiße Fliesenwand an der sich mehrere Schränke mit Medikamenten und weiteren Operationsutensilien befanden, wirkte improvisiert.
„Ich hasse Ärzte...“ Murmelte Lynn und sah sich unruhig in dem Raum um.
„Ich weiß.“ Antwortete Sakuya mit seiner tiefen Stimme voller Ruhe und Lynn sah ihn augenblicklich an: „Du hast meine Sachen geholt... Danke.“ Sagte sie und hielt für einige Sekunden still. Sakuya konnte sehen wie nervös sie war. Ihre Knochen traten über der Brust deutlich hervor und jeder ihrer Muskeln schien angespannt zu sein.
„Nein. Das wird nicht nötig sein.“ Erwiderte Dakon der Ärztin. „Ich muss dich nicht daran erinnern, dass die Untersuchung Pflicht ist, oder?“ Sagte Doktor Shenker streng und sah zu Serah, die Lynn und Sakuya beobachtete. „Abbygail, und ich muss dich nicht daran erinnern, dass dies mein Team ist, oder?“ Erwiderte Dakon ihr scharf. Serah sah verwirrt zu Dakon rüber. „Gut, wie du meinst, Dakon.“ lenkte die Ärztin verärgert ein. Da sie ebenfalls ein Mitglied der UEF war, und somit mit dem leiblichen wohl der Mitglieder beauftragt war, hatte es für sie oberste Priorität die Mitglieder auf etwaige Krankheiten zu untersuchen.
„Ich werde noch kurz die Mirkos für den Eingriff vorbereiten.“ Sie verließ angespannt den Raum. „Du hast es in all den Jahren nicht übers Herz gebracht, Sakuya endlich zu einem Arzt zu schicken?“ Fragte Serah und ging einige Schritte auf ihren Mann zu, der besorgt in den Operationsraum sah. „Es wäre unnötig. Was in Sakuyas Körper vor sich geht bleibt sowieso jedem Arzt ein Rätsel. Es würde niemandem etwas bringen.“ Serah nickte. „Ich hätte nicht gedacht, dass er noch am Leben ist, nach allem was geschehen ist.“ Dakon wandte sich zu Serah und sah sie ernst an: „Die VCO hätte sich im klaren darüber sein müssen, dass ihre Projekte nicht so leicht zurück zu bekommen sein werden.“ Serah blinzelte. „Was ist mit Lynn?“ Fragte sie dann. „Wir werden sehen. Ich habe eine Vermutung, aber die Zeit wird zeigen, ob sie auch eines der Projekte der VCO ist. So wie Sakuya Kira. Ich glaube sie selbst hat keine Ahnung, was oder wer sie ist.“ Erklärte Dakon ruhig und holte eine Schachtel Zigaretten aus seiner Manteltasche. „Sakuya spricht nicht mit mir. Seit sie aufgetaucht ist, zieht er sich nur noch mehr von der Truppe zurück. Ich weiß er wird immer loyal bleiben, schließlich bin ich es, der ihn damals von der VCO weggeholt hatte.“
„Dakon?“ Unterbrach Serah ihn, und er sah in ihre blauen Augen:
„Vergiss auch niemals, dass du für immer in seiner Schuld stehen wirst.“ Sagte sie leise und strich ihm durchs Gesicht.
„Ja. Und nun auch in Lynns Schuld.“ Serah lächelte.
„Zieh schon mal deine Jacke aus.“ Sagte Sakuya ruhig und betrachtete Lynn, wie sie noch immer nervös vor ihm saß. „Ich will das nicht...“ Sagte sie unruhig und musterte angespannt die Dinge in dem Raum. >>...ich habe Angst... aber wovor? Wovor... war ich hier etwa schon mal... ich will das nicht...<< Lynn schreckte aus ihren Gedanken hoch als Sakuya seine Jacke auszog und sie neben sich legte. Sie betrachtete seine breiten Oberarme und die Konturen seines trainierten Oberkörpers unter dem schwarzen Shirt, dass er noch trug. Lynn atmete tief ein und schloss für einige Sekunden die Augen. Verschwommene Bilder zogen an ihr vorbei, aber sie konnte nichts richtig erkennen.
„Ist dir aufgefallen wie sie ihn ansieht?“ Fragte Serah nachdenklich. Dakon nickte. „Ja. Aber ich habe keine Befürchtungen. Sakuya lässt niemanden an sich heran.“ Antwortete Dakon. „Sie ist so nervös. Sie hat Angst.“ Sagte Serah anschließend. „Ich weiß.“ Dakon atmete tief ein und wieder aus. Es war nicht leicht für ihn, Lynn Doktor Shenker zu übergeben. Er hatte schon bei ihrem ersten Besuch dort bemerkt, dass sie in der Vergangenheit keine guten Erfahrungen mit Ärzten gemacht haben musste. „Was ist wenn sie reagiert wie Sakuya damals?“ Fragte Serah dann vorsichtig und ihr kamen Bilder in den Kopf, wie sie damals mit Sakuya und Dakon in Efrafar bei einem Arzt waren. Sakuya hatte eine Schussverletzung am Arm erlitten und die Wunde sollte genäht werden. Er Hatte in wenigen Minuten die Komplette Praxis verwüstet und den Arzt bewusstlos geschlagen. Seit dem war Dakon klar gewesen, dass er Sakuya nur noch im äußersten Notfall zu einem Arzt schicken würde. Und das er nun Lynn, von der er ebenfalls vermutete, dass sie wie Sakuya von der VCO stammte, einer Ärztin übergeben musste brach ihm das Herz. Aber sie müssten um jeden Preis die beiden Gefangenen der UEF befreien. Und wie Dakon an die Bilder am Hafen zurück dachte, und wie Lynn und Sakuya miteinander gekämpft hatten, war er sich sicher, dass die beiden es schaffen würden.
>>Ich könnte ihn jetzt so vieles Fragen, aber ich habe solche Angst...<< Dachte Lynn und sah stumm in Sakuyas blaue Augen der sie ebenfalls ernst ansah. Doktor Shenker betrat den Raum und zog einen Tisch näher an die Beiden heran, auf denen zwei Skalpelle lagen, sowie die Implantate. „Wer von euch will anfangen?“ Fragte sie lächelnd und sah die Beiden an. Sie schwiegen und Doktor Shenker zuckte mit den Schultern ehe sie eine Spritze aufzog. „Ich werde die Stelle lokal narkotisieren, ihr solltet nichts von dem Eingriff spüren. Das Implantat wird sich innerhalb von einem Monat aufgelöst haben. Es besteht aus einer speziellen Legierung, die von der VCO entwickelt wurde.“ Lynn atmete tief ein. „Du solltest die Jacke ausziehen.“ empfahl Doktor Shenker, aber Lynn rührte sich nicht. „Keine Betäubungen.“ Sagte Sakuya und sah die Ärztin an. Sie nickte verwundert und legte sie Spritze dann bei Seite. Lynn betrachtete Sakuya, der durch die Scheibe zu Dakon und Serah sah.
„Das wird jetzt aber nicht so wie damals, oder?“ Fragte Serah und Dakon schüttelte angespannt den Kopf: „Ich hoffe nicht.“ Erwiderte er und sah in Lynns Augen, ddie ihn durch die Scheibe unruhig beobachtete. „Sie hat die gleichen Augen wie Miku...“ Flüsterte Serah leise und ein Gefühl der Trauer überkam sie. „Ich weiß.“ Antwortete Dakon und drückte Serah an sich.
Doktor Shenker stand dicht neben Sakuya und fuhr mit einem in Alkohol getränktem Stück Watte vorsichtig über seinen Hals. Sakuya wirkte ein wenig angespannt, aber er ließ den Eingriff ruhig und gelassen über sich ergehen. Er sah immer wieder zu Lynn und konnte sehen, wie sie sich auf ihre Unterlippe biss, als sein Blut über die Hände von Doktor Shenker rann. Es glänze ein wenig, bläulich fand Lynn, und sie frage sich nach dem Grund danach. „Wir sind fertig.“ Sagte die Ärztin und legte ein Lasergerät neben sich auf den Tisch.
„Es hat sich viel getan in der Zeit... die VCO hat gute medizinische Entwicklungen gemacht. Efrafar steht den Kybernetischen Entwicklungen in einigem nach.“ klärte Dakon seine Frau über die vergangenen Fortschritte auf und zündete sich erneut eine Zigarette an. „Wunden die gelasert werden...“ Ergänzte Serah leise und sah fasziniert auf Sakuyas makellose Haut an seinem Hals. „Sie sind Beide so schön...“ Fügte sie hinzu und betrachtete anschließend Lynn die nun endlich ihre Jacke auszog.
„Du musst jetzt still halten. Wenn du willst, dann betäube ich die Stelle?“ Fragte Doktor Shenker vorsichtig, denn sie konnte den Widerwillen in Lynns Augen sehen. Sie sah kurz zu Sakuya rüber, der aber leicht den Kopf schüttelte. „Nein, ist schon gut.“ antwortete Lynn. Sie schloss die Augen und wieder zogen Bilder an ihr vorbei als sie plötzlich wieder einen jungen Mann mit schwarzen Haaren vor sich sah. Seine blauen Augen sahen sie starr an und sie riss ihre erschrocken auf und sah in Sakuyas Gesicht. Die Ärztin hatte gerade den Schnitt gemacht, als Lynn blitzschnell nach ihrer Hand griff und sie festhielt. „Du tust mir weh!“ Rief sie laut und versuchte sich aus Lynns Griff zu befreien, hatte jedoch gegen ihre immensen Kräfte keine Chance.
„Willst du nichts unternehmen?“ Fragte Serah aufgeregt und sah zu Dakon der jedoch nur mit dem Kopf schüttelte.
„Lynn.“ Sagte Sakuya ruhig und sie sah in seine blauen Augen, die so viel Ruhe ausstrahlten. Es verstrichen einige Sekunden. „Lass sie los.“ Sagte er dann bestimmend, und Lynn ließ die Hand von der Ärztin wieder los. >>Wer bist du...? Sakuya Kira... wer bist du nur...<< Sie fühlte sich starr durch seine Worte und nachdem Doktor Shenker ihr schmerzendes Handgelenk einige Sekunden gerieben hatte, machte sie sich wieder an die Arbeit. Der Rest des Eingriffes verlief ruhig.
„Erzähl mir von ihr.“ Sagte Serah und zog ihr Oberteil aus, ehe sie sich, mit dem Rücken zu Dakon, auf die Bettkante setzte. „Von Lynn?“ Fragte Dakon und legte seine Waffen auf den Nachttisch.
„Sie kam durch einen Zufall zum Team. Jin, ein Ehemaliger hatte sie bei einem Einsatz überrascht und verletzt. Es stellte sich schnell raus, dass sie ihr Gedächtnis verloren hatte. Sie trug nur einen Pass bei sich, und beeindruckte uns am ersten Abend, nachdem wir sie in Hauptquartier gebracht hatten, mit einem Sprung aus dem Fenster. Ich habe Nachforschungen über sie angestellt, aber es scheint, als hätte sie nie gelebt. Es ist nichts über sie zu finden. Aber die VCO sucht sie angeregt, und Shariv scheint auch irgendetwas über sie zu wissen.“ Serah sah Dakon nachdenklich an. Sie merkte, dass ihr Mann ihr etwas verschwieg: „Und keiner der Informanten weiß etwas über sie?“ Dakon schüttelte den Kopf und zog sein Shirt aus. Serah betrachtete seine vernarbte Brust. „Warum interessiert dich das?“ Fragte Dakon und setzte sich neben sie. „Sie hat mir das Leben gerettet.“ antwortete Serah und sah aus dem Schlafzimmerfenster in die Dunkelheit. „Und warum noch?“ Hakte Dakon lächelnd weiter nach. Serah lächelte auch: „Sieh sie dir an. Sie ist so schön und Geheimnisvoll... du magst sie sehr.“ erwiderte sie leise und sah Dakon in die Augen, der noch immer lächelte. „Ja, sie hat mich die ganze Zeit an dich erinnert...“
„Was ist, wenn Sakuya sie kennt?“ unterbrach sie ihn, bei seinen leidenschaftlichen Küssen auf ihrem Hals. „Dann hätte er es mir bereits gesagt. Aber ich weiß worauf du anspielst. Du solltest sie mal zusammen im Einsatz sehen. Es ist unbeschreiblich. Zwei Perfekte Soldaten.“ Dakon schwieg und küsste Serah erneut, aber sie ließ die Vermutung nicht los, dass Dakon ihr etwas verschwieg. Während sie leise unter Dakons heißen Küssen aufstöhnte, erinnerte sie sich an einen Satz von Dakon, den er vor Jahren einmal zu Sakuya gesagt hatte: Versteckst du immer noch dieses Mädchen?
Lynn rieb sich die Augen und nahm das leere Glas Wasser vom Tisch während Tetsuya sie beobachtete. „Es ist schon spät.“ bemerkte er und Lynn wandte sich in Rins Wohnzimmer zu ihm um: „Ich weiß. Ich werde jetzt auch fahren.“ Sagte sie und dachte über Sakuya nach. Er war nach dem Arztbesuch direkt verschwunden. „Ich kann dich fahren.“ erwiderte Tetsuya und wollte gerade aufstehen, als Lynn sich gegenüber von ihm setzte. „Nein, danke, ich fahre lieber selbst.“ Schlug sie sein Angebot aus und sah ihn nachdenklich an. „Ist etwas?“ fragte Tetsuya verwirrt. „Hast du jemals etwas darüber gehört, dass die VCO Soldaten ausgebildet hat, und diese dann gekennzeichnet hat?“ Fragte sie vorsichtig. Tetsuya sah zu Rin rüber, der jedoch an seinem Schreibtisch eingeschlafen war, und nun ruhig mit dem Kopf auf dem Tisch lag und gleichmäßig atmete. „Nein. Ich habe gehört, dass sie eine Reihe von Kybernetischen Soldaten erschaffen haben, eine private und Perfekte Arme, aber von einer Kennzeichnung habe ich noch nie gehört.“ erwiderte er leise. „Warum fragst du? Glaubst du etwas, dass du...“ Er sprach nicht weiter und Lynn lehnte sich mit einem Säufzen zurück: „Nein. Schon gut. Ich hatte nur darüber nachgedacht, wer die Soldaten der VCO ausbildet, ob die Staatspolizei, oder die VCO selbst. Und woran man sie wohl erkennen würde.“ log Lynn. Tetsuya zuckte mit den Schultern: „Zerbrich dir den Kopf nicht über so etwas. Sie werden sowieso bald alle Geschichte sein. Ich würde keinem von ihnen auch nur die Hand geben. Sie sind alle gleich: Egoistisch, Selbstsüchtig und haben kein Gewissen. Sie haben so viele von uns getötet. Ganze Familien ausgelöscht. Und warum das alles? Für ein Stückchen Land. Für eine andere Welt. Nur weil sie ihre so ausgebeutet haben, dass es kaum noch möglich ist dort zu überleben.“ Lynn schluckte bei seinen Worten: „Was meinst du damit?“ fragte sie verwirrt. „Ich meine, dass wenn sie einfach nicht existieren würden, alles besser wäre. Sie haben die Rohstoffe ihrer Welt bis ins endgültige erschöpft, weil ihre Gier nach Technik und Fortschritt kein Ende nahm. Und jetzt sind sie wild entschlossen jeden von uns zu töten, und sich Efrafar unter den Nagel zu reißen, um dort das selbe Spiel zu treiben. Diese Welt hier, Elaìs ist lediglich eine Handelsstation für sie, aber es bleibt eine Frage der Zeit, bis sie hier auch anfangen, alles an sich zu reißen. Sie missbrauchen die Staatspolizei für ihre Zwecke, und geben ihnen Technologien. Der Preis dafür, wird jedoch mit keiner Technologie der Welt zu begleichen sein.“ Erklärte Tetsuya aufgeregt.
„Hätten sie von Anfang an gelebt wie wir, in Efrafar, wäre es nie zu diesem Krieg gekommen. Ihre ganze verdammte Sippe soll untergehen, bis auf den letzten Mann, für das, was sie uns angetan haben.“ ergänzte Rin der von ihrem Gespräch wieder wach geworden war. „Nein. Ich will nur, dass sie die anderen Welten in Ruhe lassen. Keiner hat es verdient zu sterben. Dann wären wir nicht besser als sie. Aber sie sollen bleiben wo sie sind, und Unschuldige heraushalten.“ Beendete Tetsuya seinen Satz und warf Rin einen vernichtenden Blick zu. „Ich werde jetzt fahren.“ Sagte Lynn knapp und stand auf. Entsetzt über den Hass, der gerade eben über sie hereingebrochen war, verließ sie Rins Haus. Würden sie erfahren, was Lynn wirklich zu sein schien, würden sie keine Sekunde zögern und sie töten, da war sie sich sicher.
„Mir gefällt das ganze nicht...“ murmelte Lynn unruhig und sah aus dem Fenster des fahrenden Wagens in dem sie neben Tetsuya saß. Er lenke den Wagen ruhig auf einen Schotterweg nahe eines kleinen Flugplatzes. „Ich weiß. Ich kann auch nicht verstehen warum Dakon ausgerechnet dich und Sakuya darein schleusen will.“ Lynn sah ihn fragend an, als der Wagen zum Stillstand kam und er erwiderte ihren Blick; „Versteh mich nicht falsch, ihr seit zwei perfekte Killer, aber es ist doch offensichtlich dass die VCO dich sucht.“ Fügte er hinzu. „Kannst du das Wort „Killer“ weglassen?“ Fragte Lynn leicht verärgert und Tetsuya nickte resigniert. „Halt dich an Sakuya, er weiß immer was zu tun ist.“ Riet er ihr schließlich und sah wie Lynn erleichtert in die Nacht blickte, als Sakuya sich dem Wagen nährte. Sie stieg stumm aus, und Tetsuya sah den Beiden noch einige Sekunden hinterher ehe er wieder losfuhr, und sich auf den Weg zu Dakon und Furgusons Team machte, die in unmittelbarer Ferne auf ihn warten würden.
„Lass dich von ihnen nicht einschüchtern. Wir warten darauf, dass sie aus dem Flieger steigen und folgen ihnen dann zum Treffpunkt an dem das Verhör stattfinden soll.“ Lynn hörte Sakuyas dunkler Stimme aufmerksam zu und musterte ihre Umgebung. Die Sonne war bereits untergegangen und sie konnte hinter einigen Lagerhalle das Geräusch eines Flugzeugmotors hören. „Sie sind vor zehn Minuten gelandet, Ari ist noch nicht aufgetaucht.“ erklärte Sakuya ruhig, während er seine schwarze 9mm nachlud. Nachdem Lynn den Flugplatz, der vor ihnen lag, auf Soldaten überprüft hatte kam sie zurück zu Sakuya geschlichen der auf einem niedrigen Dach eines Unterstande,s in der Dunkelheit, alles konzentriert beobachtete. Er sah nicht zu ihr, als sie zu ihm hochgeklettert kam und neben ihm in die Hocke ging, um ebenfalls den kleinen Privatflieger zu beobachten, der noch immer mit laufendem Motor auf der Landebahn stand. Es herrschte für einige Sekunden Stille, bis ein schwarzer Transporter an ihnen vorbei raste und unmittelbar vor dem Flieger zum stehen kam. „Da ist er.“ bemerkte Lynn. Ein wuchtiger Asiate stieg mit einer Zigarre im Mund aus dem Wagen.
Während Lynn und Sakuya alles lautlos beobachteten, saß Dakon einige Meilen entfernt mit Tetsuya in seinem Wagen. Er hatte stetigen Funkkontakt mit Furguson und unterrichtete sein Team über die weiteren Vorgehensweisen. Tetsuya lauschte währenddessen, über seine Kopfhörer, was sich bei Lynn und Sakuya tat.
„Ted, sie steigen jetzt aus.“ berichtete Lynn konzentriert und Tetsuya gab Dakon mit der Hand ein Zeichen. „Seit ihr auf Position?“ Fragte er ungeduldig und Furguson funkte rasch zurück, dass sie in einer Einfahrt am Westende des Flugplatzes auf Position waren.
Lynns Blick folgte dem Asiaten, von dem sie annahm dass es Ari war, der die Flugzeugtür mit einem Gewehr aufstieß. Er ging unsanft zur Sache und zog nach einigen Sekunden zwei Junge Männer aus dem Flugzeug hinunter auf die Landebahn. Ihnen folgten drei bewaffnete Staatspolizisten. Sakuya atmete tief ein und Lynn sah ihn besorgt im Schutze der Dunkelheit an. Seine blauen Augen folgten den Sechs Männern die langsam zu dem schwarzen Wagen liefen, während sie die Gefangenen voraus laufen ließen und mit Gewehren auf sie zielten. „Sie fahren jetzt los.“ Sagte Sakuya ernst, mit dem Wissen, dass Tetsuya ihn hören würde.
„Sie fahren in Richtung Westen, Serah wird sie einsammeln.“ Erklärte Tetsuya und Dakon gab die Informationen an Furguson weiter, ehe er den Wagen startete und auch sie losfuhren.
„Steigt ein, schnell.“ Sagte Serah die am Steuer eines schwarzen Geländewagens saß. Lynn blickte sie kurz verwundert an, dass sie an dem Einsatz mitbeteiligt war, stieg dann jedoch ein. „Wir müssen uns beeilen.“ Sagte sie und nachdem Sakuya die Wagentür geschlossen hatte trat sie das Gaspedal durch.
„Ich kann nicht einfach herum sitzen und hoffen, dass alles gut gehen wird.“ Sagte sie rechtfertigend während sie mit quietschenden Reifen auf eine Landstraße abbog. Lynn und Sakuya antworteten nicht, aber Serah hatte auch keine Antwort erwartet. Sie folgte dem schwarzen Transporter mit den Gefangenen vor ihnen, stetig mit genügend Abstand. Diese Frau war Taff, das hatte Lynn nun einmal mehr mitbekommen. Und die Opferrolle, die sie vor Shariev eingenommen hatte, stand ihr ganz und gar nicht. Aber im Gegensatz zu ihrem Mann, hatte sie eine weitaus besorgtere und liebevollere Seite an sich. Das spürte Lynn mit jedem Male, wenn sie, sie ansah.
„Okay Dakon,wir sind da.“ Sagte Sakuya ernst und stieg aus Serahs Wagen. „Passt auf euch auf.“ Sagte Serah leise, und beobachtete Lynn und Sakuya noch einige Sekunden lang, wie sie gemeinsam in die Nacht rannten. Dakon hatte recht; die Beiden wirkten, als würden sie schon ihr ganzes Leben zusammen an Einsätzen teilnehmen.
Das Gelände erwies sich als großer Lagerhallendistrikt, der gut von einigen Scheinwerfern beleuchtet wurde. Er war nicht weit außerhalb von Nagoya, jedoch Weit genug, als dass sich der Staatspolizei hier ein Gelände für die Kooperationen mit der VCO bot.
„Dakon, das Gelände ist groß. Die Hallen sind teilweise gekennzeichnet. Wir bewegen uns jetzt zur Halle TGXII, wo sie die Gefangenen hingebracht haben.“ gab Sakuya leise Auskunft und lief lautlos vor Lynn, im Schatten der Gebäude, näher an eine kleine Eisentür heran, durch die einige Minuten zuvor die Soldaten mit den Gefangenen verschwunden waren.
„Wenn sie uns bemerken, leisten wir kurzen Widerstand, das soll aber kein Blutbad werden.“ Sakuya war stehen geblieben und sah musterte Lynn nachdenklich. Er wusste wie leicht sie die Kontrolle verlieren konnte, das hatte er erst kürzlich wieder einsehen müssen, als diese junge, zerbrechlich wirkende Frau, die in diesem Moment zu ihm aufsah, ein ganzes Team ausgebildeter Soldaten mit nur einem Messer ausgeschaltet hatte.
>>...was denkt er nur von mir?<< Fragte sich Lynn einige Sekunden während sie in seine strengen, blauen Augen sah.
Dakon sah Serah besorgt an, die mit ihm und Tetsuya nun in seinem Wagen saß und Sakuya zuhörte. Er wusste so gut wie die Anderen, wozu Lynn im Stande sein konnte, wenn sie einmal in Rage war.
„Dakon, wir gehen jetzt rein.“ Hörte er Sakuyas dunkle Stimme und es folgte das Quietschen einer schweren Tür.
Vor Lynn uns Sakuya erstreckte sich ein kleiner Vorraum der schwach von einigen Neonröhren erleuchtet war. Spinnenweben hingen in den Ecken und einige Spinde mit Waffen standen darin. Am Ende war eine weitere eiserne Tür, die plötzlich von einem Staatspolizisten geöffnet wurde, der den Beiden einige Sekunden erschrocken entgegen sah. „Sie haben hier nicht zu suchen.“ Sagte er laut und griff nach dem Sturmgewehr dass um seine Schultern hing. Ehe er jedoch schießen konnte hatte Sakuya bereits drei Schüsse abgeben, die ihn mit voller Absicht verfehlten. Lynn ging hinter einem Spind in Deckung als bereits Jemand die Eingangstür auftrat und drei VCO Soldaten herein gestürmt kamen. Sakuya drehte sich blitzschnell um und schlug einen von ihnen gekonnt zu Boden, während Lynn die anderen Beiden gezielt mit Tritten und Schlägen verfehlte. Es verstrichen einige Sekunden des Kampfes bis Lynn einen heftigen Schlag abbekam und sich zu Boden fallen ließ. Einer der Soldaten hielt ihr sein Gewehr auf die Brust und Sakuya ließ prompt seine Waffe sinken und fallen. „Wer zum Teufel seit ihr?“ schrie sie der Staatspolizist an und trat wütend Sakuyas Waffe in die andere Ecke des Raumes, während er auf die Beiden zuging. Er war ein ganzes Stück kleiner als Sakuya und sah ihn keuchend an. „Ich stell die Frage nicht nochmal!“ Schrie er und gab dem VCO Soldaten der Lynn noch immer sein Gewehr auf die Brust drückte, das Zeichen dass er schießen solle. „Wir haben uns verlaufen!“ Schrie Lynn die auf dem Boden lag. „Was ist hier los?“ fragte plötzlich ein weiterer Mann, der den Raum verwundert betrat. Es war der Mann der die Geiseln abgeholt hatte. „Ari, Sir, was sollen wir mit ihnen machen?“ Fragte der Mann, der kurz zuvor noch geschrien hatte. „9 mm? Ihr seit bestimmt auch Ratten der UEF.“ schlussfolgerte der Mann verächtlich und musterte Sakuya, der noch immer stumm mitten im Raum stand. Lynn sah zu ihm rüber. Sein Gesicht war ernst, und in seinem Blick lag Überlegenheit. „Bringt sie zu den anderen Gefangenen.“ Sagte der Asiate schließlich und zündete sich, wieder etwas ruhiger, eine Zigarre an. Lynn stand mühevoll auf und folgte schließlich Sakuya, der dem Asiaten durch die Metalltür, weiter ins Innere der Halle, folgte. Lynn spürte die Blicke der Soldaten auf ihrem Rücken, die ihnen mit den Gewehren im Anschlag, folgten.
„Er bringt sie jetzt zu den Gefangenen. Rin, hast du das Synchronisationsprogramm laufen?“ Fragte Dakon, während er angespannt sein Handy ans Ohr hielt. „Ja Boss, Synchronisation läuft. Ari ist bereits identifiziert, seine Stimme stimmt mit der des Anrufers überein.“ Antwortete Rin, der in einem weiteren Wagen, bei Furgusons Team, am anderen Ende des Geländes auf einem Seitenweg stand. Er tippte hektisch auf der Tastatur seines Laptops bis sich eine Datenbank öffnete, während synchron dazu, der Equalizer von Lynns und Sakuyas Mikros lief. „Gut. Lass ab jetzt alle Stimmen die zu hören sind über die UEF Datenbank abgleichen, vielleicht kriegen wir raus, wer unsere Gefangenen sind.“
„Los rein da!“ Einer der VCO Soldaten stieß Lynn mit voller Wucht in einen kleinen Raum. Sie wäre beinahe gestürzt konnte sich aber auf einem Stuhl mitten im Raum abstützen. „Fesselt sie.“ Befahl Ari und musterte Lynn, die sich widerwillig ihre Hände zusammen binden ließ. „Hör auf dich zu wehren!“ Rief der Soldat wütend und griff nach ihrem Kinn: „Mal sehen ob du gleich noch immer wild bist, wenn ich dein hübsches Gesicht mit einer Zange bearbeite.“ Lynn wollte sich aus seinem festen Griff befreien, aber er stieß sie mit volle Wucht zu Boden und verließ dann mit Ari den Raum. Sie blieb einige Sekunden auf dem dreckigen Betonboden liegen und hörte dann wie Jemand die Tür abschloss. >>Wo bringen sie wohl Sakuya hin...<< Dachte Lynn und sah sich hilflos um.
„Du scheinst klüger als die Kleine zu sein.“ stellte Ari herablassend fest, während er beobachtete wie einer der Soldaten Sakuya die Hände hinter dem Rücken fesselte. Er stand stumm da, und sah Ari nur ruhig an. „Wir werden ihn zusammen mit den anderen Verhören. Mal sehen was die UEF für Pläne mit ihnen hatte.“ Sagte Ari angespannt und gab einem Soldaten hinter ihm das Zeichen, die beiden Gefangenen ebenfalls in den kleinen Raum zu holen. „Was ist mit der Frau?“ Fragte ihn ein anderer, aber Ari zuckte nur mit den Schultern. : „Sie ist wertlos, ich kann das Geheule nicht mehr hören. Geht euch austoben. Sie gehört euch.“
Serah zuckte zusammen als sie die Worte der Männer im Auto mithörte. „Dakon, das kannst du nicht zulassen!“ Sagte sie aufgebracht aber Dakon winkte sie nur ernst ab. „Wenn die Gefangenen bei Sakuya sind, greifen wir ein. Alles andere gefährdet den ganzen Einsatz.“ Erwiderte er angespannt. Serah verstand ihren Mann nicht. Wie konnte er die junge Frau, die seiner Familie das Leben gerettet hatte, in solch eine Gefahr bringen? Er verschwieg ihr mit absoluter Sicherheit etwas, etwas das er über Lynn wusste, aber unter keinen Umständen preis geben wollte.
Sakuya stand noch immer in einem kleinen Raum, indem sonst nur ein großer Tisch an der Wand stand. Es gab keine Fenster und das einzige Licht kam von einer alten Xenonröhre an der Decke. Zwei Soldaten standen vor ihm und hatten ihre Gewehre im Anschlag. Sie warteten auf Ari und die restlichen Gefangenen.
Lynn hatte es geschafft sich aus den Fesseln zu befreien, und rieb nun ihre blutigen Handgelenke, als sie plötzlich hörte wie Jemand die Türe wieder aufschloss. Sie lief zur Wand, neben die Tür und stellte sich dicht an sie. „So kleine, mal sehen was du so-“ Die Worte die der Soldat gerade aussprechen wollte, blieben ihm im Halse stecken. Ein völlig unerwarteter und kräftiger Tritt von Lynn beförderte den Mann direkt wieder in den Flur aus dem er gekommen war. Er stürzte und blieb hustend liegen, während Lynn über seinen Massigen Körper hinweg sprang, und hastig den Gang entlang rannte. >>Sakuya!<<
„Warum dauert das so lange?“ Fragte Dakon ungeduldig und sah aus dem Fenster in die Dunkelheit, bis er wieder Stimmen hören konnte.
„Rein da!“ Schrie Ari und stieß zwei junge Männer zu Sakuya in den Raum. Sie waren beide nicht älter als zwanzig. „Hinknien!“ Schrie Ari. Sakuya bemerkte sofort, dass Arì reichlich ungeduldig war. Die beiden Männer richteten sich keuchend auf und sahen zu Sakuya rüber. Er konnte in ihrem Augen sehen, dass sie ihn erkannt hatten. Er hatte sie vor einigen Jahren bereits in Efrafar gesehen, als Dakon gerade begonnen hatte die UEF aufzubauen. Ari folgten noch zwei weitere Männer der Staatspolizei, die zu Sakuyas erstaunen unbewaffnet waren, und lediglich die Tür, durch die sie gekommen waren, abschlossen. Ari holte aus seiner Hosentasche ein Paar Latexhandschuhe und zog sie über, ehe seine Hände zu seiner Hüfte griffen und ein großes Kampfmesser hervorholten. „Ich will jetzt alles von euch wissen, was auch nur im geringsten mit der UEF zu tun hat.“ Zischte Ari und ging langsam auf die drei Männer zu.
Lynn konnte nicht sagen was gerade geschehen war, aber ihr Kopf schmerzte unerträglich. Sie sah auf einen Blutfleck, der von ihr stammen musste, vor ihrem Gesicht, auf dem harten Betonboden. Das letzte was sie registriert hatte, war ein langer Gang, von dem sie gedacht hatte, dass sie dort Sakuya entlang geführt hatten. Jemand musste ihr von hinten einen Schlag verpasst haben. Sie drehte sich benommen auf den Rücken und sah in die Augen eines verschwitzen Mannes, der nur die Hose seiner Uniform und ein weißes verdrecktes Unterhemd trug. Er grinste sie an und schwang einen Schlagstock hin und her. „Du wolltest doch nicht schon etwa gehen?“ Murmelte er während er sich zu ihr hinunterbeugte und gerade nach ihrem Handgelenk greifen wollte, aber sie entzog sich hastig seinem Griff. „Fass mich nicht an!“ Sagte Lynn langsam und sah ihm tief in die Augen, aber er grinste noch immer. Lynn reagierte so schnell sie konnte, und packte ihn mit aller Kraft um ihn über sich hinweg zu befördern. Er war viel schwerer als sie angenommen hatte, und fiel etwas ungünstig neben sie zu Boden. Die Zeit reichte ihr jedoch um wieder aufzuspringen, als sie jedoch wegrennen wollte, blickte sie in das Gesicht zwei weiterer Männer.
„Das reicht. Furguson, hören Sie mich?“ Funkte Dakon aufgeregt aus dem Auto hinaus. „Wir holen sie jetzt raus.“ Fügte er hinzu und Serah sah ihren Mann erleichtert an. „Boss, Rins Synchronisation war positiv, die beiden Gefangenen sind zwei Mitglieder aus Furgosons Team!Josh und Makoto!“ Rief Tetsuya.
Ari hatte sich gerade Sakuya genährt und begonnen, langsam die Klinge seines Messers in Sakuyas Haut am Arm gleiten zu lassen, als er von Schüssen aus seiner Befragung gerissen wurde. Er schnellte zurück und sah entsetzt die Beiden Soldaten an, die verwundert vor der Tür standen, als diese aufflog und Dakon mit einer Waffe im Anschlag darin stand. „Das sind meine Leute.“ Sagte er sauer und schoss den beiden Soldaten, die starr vor Entsetzten waren, jeweils eine Kugel in den Kopf. Ari ließ vor Schreck sein Messer zu Boden fallen und wollte gerade wieder danach greifen als er einen heftigen Tritt von Sakuya abbekam. Dakon zuckte nach einem lauten Schuss zusammen: „Josh, Makoto, los, weg hier!“ Rief er und löste mit Aris Messer hektisch ihre Fesseln. Sakuya zerriss mit aller Kraft seine, während die beiden Gefangenen zügig den Raum verließen und im Flur bereits vertraute Stimmen zu hören waren. „Ist alles in Ordnung?“ Fragte Dakon und wollte sich gerade zu Sakuya umdrehen, als dieser von Ari angegriffen wurde. Er war wieder aufgestanden und das letzte was er spürte war ein gezielter Schlag von Sakuya. „Wo ist Lynn?“ Rief Dakon und sah Sakuya angestrengt an. „Hier.“ Er gab ihm eine Waffe. „Hab ihr sie nicht gefunden?“ Fragte Sakuya verwundert und Dakon schüttelte hektisch den Kopf.
„Das war ein beschissener Plan, Boss!“ Schrie Tetsuya der mit zwei Waffen gleichzeitig in alle Richtungen schoss. „Die Gefangenen Leben!“ Schrie Dakon voller Wut und zog ihn mit sich hinaus aus der Lagerhalle.
Die beiden Männer rannten mit weiteren Mitgliedern der UEF in die Dunkelheit. „Wo ist Sakuya?“ Schrie Rin der ihnen bewaffnet entgegen gerannt kam. Noch immer waren Schüsse aus dem Inneren der Halle zu hören.
„Ist Jemand verletzt?“ Fragte Furguson in die Menge der erschöpften Gesichter seiner Soldaten. Außer ein lautes Stöhnen bekam er jedoch keine verwertbare Antwort. Dakon kam mit schweren Schritten auf ihn zugelaufen. Rin und Tetsuya folgten ihm zusammen mit Serah. „Sie haben noch immer nichts von Ihnen gehört?“ Fragte Furguson und Dakon schüttelte sauer den Kopf. „Der Sprachkontakt zu Lynn ist komplett abgebrochen, und die Signalqualität von Sakuya Kira wird von Minute zu Minute schlechter.“
„Aber Boss, sie können doch nicht verschwunden sein...“ wandte Tetsuya ein und begegnete Dakons wütenden Blick: „Kann mir hier irgendjemand verraten wie ein dutzend Einheiten der UEF nicht in der Lage sein kann zwei Leute zu finden?!“ Dakon war außer sich, Serah wollte einige Schritte auf ihn zu gehen aber er wandte sich ab und lief zurück in die Dunkelheit. Die restlichen Teammitglieder murmelten leise, als Furguson das Wort ergriff: „Wir fahren.“ Rin wollte Einspruch erheben, aber ihm war klar, dass Furgosons Befehl die gleiche Autorität wie dem von Dakon gleichkam.
Dakon kam ins Wohnzimmer und Rin sah von seinem Laptop auf. „Boss, willst du schlafen gehen?“ Fragte er verwirrt und Dakon atmete tief ein: „Morgen ist das Meeting der Teamleiter. Es wird ein langer Tag.“ antwortete er widerwillig. „Was neues von Lynn oder Sakuya?“ erkundigte er sich dann noch, aber Rin schüttelte nur den Kopf. Dakon hörte Schritte hinter sich und spürte dann Serahs Hände an seinem Rücken: „Komm Dakon, es ist spät. Du kennst Sakuya. Er wird sie finden und sie werden Beide wiederkommen. Du wirst schon sehen.“ Während er Serah die Treppen zum Schlafzimmer hoch folgte, fragte er sich, wo seine Frau wieder und wieder ihre Zuversicht her nahm. So war das alles nicht geplant gewesen.
Ein harter Schlag weckte Lynn auf und sie sah sich keuchend und erschrocken um. Sie wusste nicht wo sie war, ihre Handgelenke schmerzten, sie waren an etwas festgebunden und konnte sich kaum bewegen. >>...wo bin ich...was ist mit mir passiert...?<< Ihre Augen tränten und schienen verklebt, so dass sie sie kaum öffnen konnte. Das schummrige Licht einer Neonröhre konnte sie jedoch wahrnehmen, als sie Männerstimmen hörte, die sich närhten: „Wann will Shariv die Schlampe endlich abholen?“ Lynn zuckte innerlich zusammen, als sie den Namen hörte. >>Was will Shariv hier? Wo bin ich?<< Schritte nährten sich ihr, und sie spürte einen kalten Windzug auf ihrer Haut, der sie bewusstwerden ließ, dass sie keine Kleidung mehr trug. Sie bemühte sich die Augen zu öffnen und spürte wie einige verklebten Wimpern abrissen. „Gib ihr mehr Geomas, dann bleibt sie ruhig.“ Gab eine andere Stimme dem Mann Anweisungen, der sich gerade zu Lynn herunter gebeugt hatte. „Was ist das an ihrer Schulter?“ Fragte er verwirrt. „Ich hab keine Ahnung.“ Lynn wollte sprechen, aber sie hatte den rostigen Geschmack von Blut im Mund. Nach einiger Zeit hatte sie mit viel Mühe endlich ihre Augen öffnen können und sah nun in das verschwitze Gesicht eines Mannes, der nur ein dreckiges Hemd trug und seinen Gürtel öffnete. „Schreit sie?“ fragte er abschätzig und betrachtete ihren blutverschmierten Körper. „Nein, aber vorhin war sie auch noch nicht wach.“ Erwiderte der andere Mann, der sich scheinbar eine Zigarette angemacht hatte, denn Lynn roch nun neben Schweiß und Benzin auch Zigarettenqualm. Er deutete auf eine blutige Eisenstange, die auf dem Boden lag. Sie wollte ihre Beine bewegen, als der Mann danach griff, aber sie waren taub vor Schmerz. Es schien, als wäre ihr gesamter Körper taub. „Nein!“ Murmelte sie kraftlos und spuckte eine große Menge Blut auf ihre Brust. „Sei still!“ Brüllte sie der Mann an, der sich nun vor sie gekniet hatte und dessen steifes Glied sie an ihren Oberschenkeln spüren konnte. Es waren seine kalten, rauen Hände die sie berührten. >>...es fühlt sich alles so anders an...<< Dachte sie verzweifelt, als sie ein stechender Schmerz durchfuhr und sie aufstöhnte. „Mike du Idiot! Du musst es ihr in die Vene spitzten, nicht in die Brust!“ Brüllte der andere Mann. „Du solltest jetzt endlich gehen!“ antwortete der Mann über Lynn laut und wütend. „In zwanzig Minuten bin ich wieder da, dann sind die anderen dran! Takado hat sie mit der Eisenstange geweitet, scheint ne verdammte Jungfrau zu sein, aber glaub mir, sie muss verdammt eng sein“ sagte der andere und verließ den Raum. >>Nein...was geschieht mit mir... ich will das nicht... ich will das nicht... Sakuya... wo seid ihr...Sakuya... << Ihr wurde schwarz vor Augen.
Wie viel Zeit vergangen war konnte Lynn nicht sagen, aber sie spürte ihren Körper wieder, und den Schmerz. Ihre blauen Augen erblickten einen halb dunklen Raum, indem einige Autoteile auf dem Boden lagen,und Benzin Kanister, die herumstanden. Es sah aus wie eine Werkstatt. Sie lag auf der Seite und versuchte zu sehen, worauf. Unter ihr lag eine verdreckte Matratze die voller Blut und Schweiß war. Sie riss an ihren Händen, aber sie schien immer noch festgebunden zu sein. Ihre Arme schmerzten, ihr Bauch tat unendlich weh und ihren Unterleib konnte sie kaum spüren. Aber das Gefühl in ihren Beinen war wieder da und sie begann zu strampeln und sich zu winden, bis sie auf dem Bauch lag und sehen konnte, dass ihre Hände an ein altes Abwasserrohr gebunden waren. Ihr schossen undeutliche Bilder durch den Kopf.
>>Sie sah sich auf einem Stuhl sitzen, es war heiß, ihr Gesicht schmerzte, sie war gefesselt und man stellte ihr immer wieder die gleichen Fragen. Sie wollte nicht antworten, sie konnte es nicht. Sie durfte es nicht. Sie wünschte sie nur noch den Tod.<<
Es war das gleiche Gefühl, das sie nun empfand. Sie wollte sterben. Sie konnte nur ahnen was diese Männer mit ihr gemacht haben könnten. Sie konnte die innerlichen Verletzungen spüren. Lynn atmete schnell und heftig ein und aus. Sie spürte dass etwas in ihrem Blutkreislauf war, etwas das nicht dorthin gehörte. Was auch immer man ihr gespritzt hatte, ihr Körper kam damit nicht zurecht. Wut übermannte sie.
Plötzlich hörte sie Stimmen in der Ferne und ihr stockte der Atem >>...Shariv...er wird kommen... er wird mich töten!<< Mit aller Kraft begann sie an ihren Händen zu reißen und konnte das Zerren des Seiles hören, und spüren, wie es mit jedem Mal tiefer in ihre Handgelenke schnitt. Der Schweiß der Anstrengung rann ihr über die Stirn. Sie kniff die Augen zusammen und zerrte weiter daran, als sie es endlich reißen hörte. Erschöpft blieb sie einige Sekunden lang still liegen, als sie wieder Stimmen hörte und versuchte sich aufzurichten. >>Was haben die nur getan...<< Dachte sie als sie das viele Blut sah, dass die Matratze durchdrungen hatte und ihre Beine hinunterlief. Und mit dem Anblick kam die Übelkeit und noch mehr Schmerz. Sie musste sich zusammenreißen um sich nicht zu übergeben vor Ekel. Wie viele Männer waren es gewesen? Wie lange lag sie schon dort? Lynn zuckte zusammen als die Tür aufging und Rückwerts ein großer, breiter Mann herein kam, der seine Zigarette weg schmiss und noch etwas sagte, ehe er sich zu ihr umdrehte. Er schloss die Türe durch die er gekommen war, und als er sie auf der Matratze sitzen sah lachte er: „So läuft das nicht, du wirst gleich wieder schlafen!“ Lynn stand entschlossen, aber wackelig auf und musste sich an der Wand abstützen. „Leg dich wieder hin!“ Befahl ihr der Mann aber sie folgte seinen Schritten mit ihrem Blick. „Ich werde dich töten.“ Sagte sie nur leise und spürte bei ihren Worten wie ihr das Blut übers Kinn lief. Der Mann grinste und ging weitere Schritte auf sie zu: „Was willst du machen? Mich kratzen?“ lachte er selbstsicher und begann die Knöpfe seiner Jeans zu öffnen: „Und jetzt wieder ab auf die Matratze du Schlampe! Die anderen haben sich nicht getraut, aber ich werde dich jetzt ficken, bis du deinen eigenen Namen vergessen hast! Ich hab keine Angst vor Shariev!“ Brüllte er und wollte gerade einen weiteren Schritt auf sie zu machen, als hinter der Türe Schüsse fielen und er verwirrt zusammen zuckte. Lynn nutze die Gelegenheit in der er unaufmerksam war und schlug ihm mit voller Wucht ins Gesicht. Er schrie auf und hielt sich seinen blutenden Mund. Sein wütender Blick sah in Lynn`s blutiges Gesicht: „Na warte!“ Sagte er leise und holte blitzschnell aus. Lynn wollte ausweichen, rutsche mit ihren nackten Füßen jedoch in ihrem eigenen Blut aus und fiel ungeschickt zu Boden. Sie stöhnte auf und sah wie er auf sie zu gestampft kam. Das nächste was sie spürte, waren seine Hände die an ihren Haaren rissen. Er riss sie hoch und sie versuchte seinem Griff zu entfliehen, aber er drückte sie auf die Matratze, noch immer mit der Absicht endlich seine Hose weiter herunter zu bekommen. Lynn blickte in sein verschwitztes, angestrengtes Gesicht, während er ihre Hände festhielt. Sie nahm all ihre Kraft zusammen und trat ihn mit voller Wucht weg. Er schrie auf und stürzte zu Boden. Langsam und mühevoll erhob sich Lynn wieder, als erneute Schüsse durch die Tür drangen. Diesmal konnten sie auch Schreie hören.
„Du bist tot.“ prophezeite sie ihrem Gegenüber und ging langsam auf ihn zu. Er sah sie mit weit aufgerissenen Augen an und wollte gerade aufstehen als Lynn sich auf ihn kniete und mit ihren Knien seine Arme zu Boden drückte. Er schien die Gefährlichkeit und die Unerbittlichkeit ihrer Person erst jetzt zu registrieren. Flüchtig, jedoch mit absoluter Bestimmtheit, suchten Lynns Augen nach einem geeignetem Gegenstand, und sie entdeckte einen Schraubendreher, nicht weit von ihr. Sie griff danach und holte aus. Merkmals stach sie dem Mann mit voller Wucht in den Hals, dann riss sie ihm die Kehle senkrecht auf. Seine Schreie verstummten und sein warmes Blut schoss aus der Wunde. Lynn war völlig außer Atem, sie ließ sich zurück gegen eine Wand fallen und versuchte sich zu beruhigen. Es verstrichen einige Sekunden, Lynns Blick zur gegenüber liegenden Tür, war immer wieder undeutlich, sie sah hin und wieder verschwommen, den Schraubendreher fest in ihrer Hand, jederzeit im Begriff alles und jeden damit zu töten. Mit einem lauten Knall, flog die Türe aus dem Schloss. Lynn wollte aufstehen, aber ihre Kraft reichte nicht. >>Ich werde streben...<< Dachte sie voller Entsetzten, aber als ihr Blick wieder für einige Sekunden klarer wurde, konnte sie ein vertrautes Gesicht erkennen >>...Sakuya...<<
Er stand mitten im Raum, ihr gegenüber. Er sah sie an, wie sie vor ihm saß. Blutüberströmt, nackt, verschwitzt und völlig am Ende ihrer Kräfte. Ihr Blick verschwamm erneut und sie spürte seine Schweren Schritte und die Wärme seiner Jacke auf ihrer nackten Haut.
„Sakuya!“ Ein Ruf einer weiteren vertrauten Person. Sie blinzelte und konnte hinter Sakuyas Schulter Rin erkennen, der völlig außer Atem in den Raum gerannt kam. Er sah fassungslos auf den toten Mann, der vor Lynn lag, und dessen Blut sich bereits in einer riesigen Lache unter ihm ausgebreitet hatte. Sein Blick fixierte kurz Lynns leere, blaue Augen und dann sah er das Zeichen auf Lynns Schulter.
„Wir bringen dich hier raus.“ Sagte Sakuya ruhig und war im Begriff seine warmen Hände unter ihren Körper zu schieben.
„Scheiße, was haben die nur mit ihr gemacht:“ Fluchte Rin und betrachtete das viele Blut auf der Matratze und Lynns Sachen die zerrissen daneben lagen. „Nimm ihre Sachen, wir verschwinden.“ befahl Sakuya und Rin packte hastig ihre Sachen zusammen.
>>...deine Hände sind so warm...<< Lynn konnte Sakuyas Herzschlag hören, als er sie behutsam auf seinen Armen hinaustrug. Ihr Kopf lag an seiner Brust und sie konnte spüren wie er atmete. >>Die Geräusche eines lebenden Menschen...<<
„Dakon, hier ist Rin, wir haben sie gefunden. Und außerdem noch einen weiteren Mann aus Efrafar. Ruf mich an, wenn du das hörst.“ sagte Rin und schaltete die Freisprechanlage des Wagens wieder aus. Er sah zu Sakuya rüber, der ruhig auf die Straße sah, über die sie wieder nach Nagoya fahren würden. Lynn und ein fremder Mann saßen auf dem Rücksitz des Wagens. Beide waren nicht ansprechbar.
„Willst du sie so Zuhause absetzten?“ Fragte Rin nach einer langen Zeit der Stille. „Nein.“ antwortete Sakuya entschlossen. „Nimmst du sie mit zu dir?“ harkte Rin besorgt nach. Sakuya nickte nur stumm und zog an seiner Zigarette während er den Wagen in die Richtung der Innenstadt lenkte. „Ich kümmere mich um ihn. Dakon wird wissen wollen, wer er ist.“ Erklärte Rin und sah zu dem jungen Mann auf dem Rücksitz. „Niemand muss die Einzelheiten wissen, wie wir sie aufgefunden haben.“ sagte Sakuya schließlich und Rin nickte entschlossen. Sie war eine Soldatin der VCO, das hatte Rin deutlich an ihrer Schulter gesehen. Und wie er über sie nachdachte, fragte er sich, warum er das nicht schon vorher bemerkt hatte. Mit einem Blick in den Rückspiegel betrachtete er Lynn einen Augenblick lang, wie sie kraftlos blass, und voller Blut von Sakuyas Jacke bedeckt wurde, und mit geschlossenen Augen auf dem Rücksitz lag. Es war egal, wer oder was sie war. Sie schien sich für ihre Seite, für die Seite von Efrafar entschieden zu haben. Warum auch immer. Und sie war stets loyal gewesen. Mehrmals schon, hatte sie für Dakon und das Team ihr Leben riskiert. Sie war nicht der Feind. Aber was an diesem Tag mit ihr geschehen war, das wünschte er selbst seinem schlimmsten feind nicht. Und Lynn schon gar nicht.
Sakuya und Lynn waren in seinem Apartment angekommen und er schloss leise die Tür hinter sich. Er hatte bemerkt dass Lynn auf seinen Armen wieder zu Bewusstsein gekommen war und setzte sie behutsam ab. „Kann ich duschen?“ Fragte sie ihn schwach und Sakuya deutet auf die Tür, hinter ihr. Er beobachtete einige Sekunden ihr Gesicht und wie sie ihn anblickte. Von ihrer sonstigen Stärke und Entschlossenheit war nichts mehr zu sehen.
Sakuyas Gesicht war makellos und markant. Seine blauen Augen wurden von einigen schwarzen Haarsträhnen bedeckt. Er sah zu ihr hinunter, in ihr schmales Gesicht, das von Schweiß und getrocknetem Blut bedeckt war. Ihre Augen hatten den seidigen, blauen Schimmer beinahe verloren. Ihre Lippen waren aufgerissen und einige ihrer braunen Haarsträhnen klebten an dem getrockneten Blut ihres Gesichts und ihrem schmalen Hals fest. Sie wandte sich ab und ging stumm ins Badezimmer.
Sakuya saß im Wohnzimmer und rauchte, sein Blick wanderte über die noch immer dunkle Stadt. Am Horizont war einzig die Dunkelheit der Nacht zu erkennen. Eine kleine Lampe brannte in der Ecke und Sakuya konnte das Rauschen des Wassers und das unterdrückte Schluchzten von Lynn hören. Schwerfällig atmete er aus. Er hatte sie nicht davor bewahren können, dass ihr das alles widerfahren war. Schon wieder nicht.
>>Warum... warum musste das passieren...<< Lynn stützte ihre Hände an den kalten Fließen ab, sah auf die aufgescheuerten, wunden Stellen daran, spürte den tiefen Schmerz in ihrem Unterleib, die Prellungen an ihren Armen und Beinen, die Verletzungen an ihrem Bauch und ihrer Brust. Das warme Wasser brannte in den Wunden ihres Gesichts. >>Ich wünschte sie hätten mich nie so gesehen... ich wünschte er hätte mich nicht so gesehen...<< Was würde Dakon nun über sie denken? Sie hatte versagt. Aber viel schlimmer war die unbändige Ungewissheit darüber, was die Männer mit ihr gemacht hatten. Wie sollte sie jemals wieder Dakon unter die Augen treten?
Sakuya blickte auf, als er Lynns unsichere Schritte hörte. Sie wollte nach ihren Sachen fragen, aber sie stand nur wortlos und völlig verlassen mitten im Raum. Sakuya setzte sich aufrecht hin und macht seine Zigarette aus. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und atmete tief ein. Lynn umklammerte fest das Handtuch, dass um ihren dünnen Körper lag. Tropfen von ihren nassen, braunen Haarspitzen fielen auf den Holzboden. Ihre Füße froren. Sie musste etwas sagen, irgendetwas. Stille beherrschte den Raum.
Sakuya beobachtete sie abwartend. Wider sah er sie mit seinem ernsten und erbarmungslosen Blick an. Was sollte sie nur sagen? Sein schwarzes Hemd war halb aufgeknöpft und Lynn konnte die Ansätze einer vermutlich langen Narbe über seiner Brust erkennen.
Sakuyas Blick wanderte zu ihrer Schulter, auf der das große Zeichen der VCO schwach und bläulich leuchtete. Sie realisierte nicht, dass er es sah, aber sein Blick wanderte wieder ruhig zu ihren Augen. Er hatte es doch bereits gesehen.
„Danke...“ kam es Lynn schließlich zittrig und leise über die Lippen. Ihre Blicke trafen sich wieder.
„Wir sind ein Team.“ erwiderte Sakuya langsam und ruhig. Es war die Ruhe in seiner Stimme die Lynns Herzrasen milderte. Vielleicht war es auch die Tatsache, dass er nicht mehr gesagt hatte. Dass er sie nicht anklagte, weil sie versagt hatte. Aber er hatte sie gerettet. Sie war ihm etwas schuldig. Hätten er und Rin sie nicht gefunden, wäre ihnen Shariev womöglich zuvorgekommen. Und was dann geschehen wäre, vermochte Lynn sich nicht auszumalen.
„Was da vorhin...“ Lynn wollte weitersprechen, aber sie konnte nicht. Zu sehr übermannte sie die Scham.
„Mach dir keine Sorgen, die anderen werden nichts davon erfahren. Du wurdest gefangen genommen, nicht mehr und nicht weniger.“ Sprach Sakuya leise weiter. Lynn nickte langsam und unsicher:
„Wenn du nicht gewesen wärst... schon so viele Male...“ Flüsterte sie leise und dachte daran, wie er ihre Sachen aus ihrer alten Wohnung geholt hatte. Wie er Dakon von einer Untersuchung abgebracht hatte, als sie bei Doktor Shenker waren. Und zuletzt, wie er sie auf dem Dach des Habor Lights gerettet hatte.
„Dann wäre Dakon dort gewesen.“ antwortete Sakuya. Er konnte sehen wie sich in Lynns Augen Tränen sammelten. Sie atmete tief ein und spürte langsam, wie etwas Heißes ihre schmalen Oberschenkel hinunter lief. Erschrocken blickte Lynn an sich hinunter, das Handtuch bedeckte nicht ihre kompletten Beine, und bemerkte eine große Menge Blut die langsam daran hinab, zu ihren schmalen Knöcheln rann.
„Nein...“ erschrak sie kraftlos und wollte gerade durch den Flur zurück ins Badezimmer verschwinden als Sakuya ihren Namen sagte. Der tiefe und raue Klang seiner Stimme ermahnte sie stehen zu bleiben.
Er war aufgestanden und betrachtete sie, während seine große Gestalt, sich ihr langsam nährte. Er konnte die Verzweiflung und die Scham in Lynns Augen sehen. Die Verletzung, die Angst und das Gefühl der Ohnmacht dahinter. Die Wunden, die Wunden der Zeit, tief in ihr. Von all dem was geschehen war.
„Sakuya...“ Sagte sie leise und ängstlich, denn sie wusste nicht, was jetzt kam. Warum war er aufgestanden? Warum kam er jetzt so bedrohlich auf sie zu?
„Schäm dich nicht, Lynn.“ Seine Stimme beruhigte sie erneut. Nichts Bedrohliches lag darin. Ganz im Gegenteil, er beruhigte sie, seine Worte fingen sie auf. Und die Last ihrer Schultern schien augenblicklich von ihr abzufallen. Sie schüttelte unverständlich über das Durcheinander ihrer Gefühle, den Kopf und Tränen liefen über ihre Wangen.
„Nicht vor mir.“ Seine Stimme klang so angenehm, ruhig, tief, und männlich. Vertraut. Sie ging einen Schritt auf ihn zu, ihr Puls raste und sie schnappte nach Luft. Sie versuchte die Gefühle fallen zu lassen, zu vergessen. Sie sah wieder die Gesichter der Männer vor sich. Es überkam sie und sie griff nach Sakuyas Hemd. Der Stoff glitt lautlos durch ihre geschlossene Hand. Er ließ es zu. Sein Atem war regelmäßig und Lynn lehnte ihren Kopf sanft gegen seine Brust. Sie versuchte seinen Geruch einzuatmen, sie wollte sich an etwas erinnern, etwas was ihr gerade in diesem Moment so viel Hoffnung gab. Etwas, weswegen dieser Mann ihr so vertraut war.
„Nur einen Augenblick... lass mich nur einen Augenblick bei dir sein...“ Flüsterte sie kraftlos. Sakuya atmete ein und packte sie vorsichtig. Seine großen und warmen Hände schlossen sich behutsam um ihre Hüften. Sie hielt sich voller Vertrauen an seinen Schultern fest und er zog sie vorsichtig auf das Sofa. Lynn wehrte sich nicht, sie hörte nur auf Sakuyas gleichmäßigen Herzschlag. Sie lag schließlich auf ihm und konnte spüren wie sein Herz mit jedem Atemzug schlug. Seine Hände lagen entspannt auf dem Stoff des Sofas. Er fasste sie nicht mehr an. Aber davor hatte sie auch keine Angst gehabt. Sie vertraute ihm voll und ganz in diesem Augenblick, nein, bereits die ganze Zeit.
„Nur einen Augenblick.“ erwiderte er ruhig und spürte wie Lynns Atmung wieder regelmäßiger wurde, und die Anspannung langsam aus ihren Gliedern wich. Die Stille durchzog das Apartment. Er wusste was sie brauchte. Das hatte er immer gewusst. Die Nässe von Lynns Haaren durchdrang langsam sein Hemd. Er konnte ihr Blut spüren, wie es mit jedem Atemzug mehr und mehr durch den Stoff seiner Hose drang. Lynn lag völlig erschöpft auf ihm, aber er wusste, dass er in diesem Moment nichts anderes hätte tun können, um sie zu beruhigen. Sie hatte Jemanden gebraucht. Einen vertrauten Menschen, der ihr Sicherheit geben würde. Der ihr die Last von den Schulter nehmen würde, jemandem bei dem sie sich nur einen kleinen Augenblick ausruhen konnte. Ihre Hand, die auf seiner Brust ruhte wurde schwerer und er begriff, dass sie sich endlich entspannen konnte.
Er schloss für einige Minuten die Augen. Das Gefühl von Lynn`s warmen Blut auf seiner Haut befriedigte ihn.
Er wurde wieder aufmerksam, als er hörte wie Jemand das Apartment betrat und Dakon plötzlich im Raum stand, beinahe lautlos. Rin hatte ihm gesagt, dass Sakuya Lynn mit zu sich genommen hatte.
Dakon hielt inne, betrachtete Sakuya und schließlich Lynn, ihre nackten Schultern, das Zeichen darauf und das Blut an ihren Beinen. Er begegnete erneut Sakuyas ernsten Blick und sah in seinen Augen, dass es nichts zu sagen gab. Es verstrichen einige Sekunden der Stille, dann wandte Dakon sich wieder wortlos um und ging. Sakuya hörte das schließen der Tür und schloss erneut seine Augen.
-10- Reply ?
Nachdem Lynn wach geworden war, musste sie feststellen, dass sie alleine in Sakuyas Apartment war. Sie war im Schlafzimmer, in seinem Bett wachgeworden. Erneut fand sie ihre Sachen, die Sakuya aus ihrem Apartment geholt haben musste, im Wohnzimmer. In ihr war eine unglaubliche Leere. Sie fühlte sie nutzlos. Während sie sich anzog und hinunter auf die Stadt blickte war sie sich nicht mehr sicher, ob es richtig war, dass sie das ganze überlebt hatte. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn Shariv gekommen und sie mitgenommen hätte. Wohin auch immer. Was auch immer er mit ihr gemacht hätte, sie hätte nie wieder Dakon, Sakuya oder sonst Jemandem so nutzlos unter die Augen treten müssen. Sie war eine Frau, aber sie hätte nie gedacht, dass ihr das einmal zum Verhängnis werden könnte. Dass sie sich einmal so schämen würde, für das, was sie ist. Unvollkommen. Fehlerhaft. Schwach. Ein Klopfen riss sie in diesen Minuten aus den Gedanken. Sie hielt inne. Sie wollte die Tür nicht öffnen. Sie wollte mit niemandem reden.
„Lynn.“ Hörte sie Dakons ruhige Stimme. Sie stand noch einige Sekunden stumm und regungslos im Wohnzimmer ehe sie zur Tür ging und sie öffnete. Sie sah in Dakons graue Augen, und dann bemerkte sie Serah, die ebenfalls dort stand. In ihrem Blick war Trauer und Mitleid. „Willst du mit Serah sprechen?“ Fragte Dakon ruhig und Lynn nickte stumm.
Die beiden Frauen liefen durch eine kleine Verkaufsstraße in Nagoya. „Wollen wir uns einen Moment setzten?“ Fragte Serah nach einer Stunde, in denen die Beiden geschwiegen hatten. Lynn nickte und sie setzten sich am Ende der Straße auf eine Bank. Serah sah Lynn an, die jedoch nur stumm auf die Straße blickte. „Ich weiß, Dakon hat einen riesigen Fehler gemacht. Er hätte dich nicht wieder dieser Gefahr aussetzten dürfen.“ Sagte Serah leise und Lynn sah sie ernst an: „Nein. Ich weiß nicht genau was, oder wer ich bin, aber ich weiß, dass ich für solche Fälle ausgebildet wurde.“ Serahs Gesichtsausdruck wechselte von Ernsthaftigkeit zur Verwunderung: „Was meinst du damit?“ fragte sie. „Ich meine, dass ich zum kämpfen ausgebildet wurde. Ich kann nicht umsonst auch Nachts noch Meilenweit sehen. Es ist kein Zufall, dass Wunden bei mir schneller verheilen und noch weniger ist es Willkür, dass ich mit beinahe jeder Waffe umgehen kann.“ Serah schwieg, hörte Lynn jedoch aufmerksam zu. „Aber bitte sag mir, wie ich nach dem, was geschehen ist, je wieder Dakon oder einem der anderen unter die Augen treten kann?“ Lynns Entschlossenheit war in Scham und Angst umgeschlagen. „Was dir geschehen ist, ist nicht wieder gutzumachen. Aber es war nicht deine Schuld. Du kannst nichts dafür.“ sagte Serah langsam und leise. „Ich wurde für so etwas ausgebildet. Es ist meine Schuld.“ Serah schüttelte den Kopf. „Nein. Niemand hat eine Gefangennahme verdient. Von den Misshandlungen ganz abgesehen. Und vor allem, bist du es nicht schuld.“ Lynn versuchte Serahs Worte zu verinnerlichen. Sie wollte sie glauben. So gerne.
„Ich musste selbst mehrere Jahre in der Gefangenschaft der VCO leben. Ich musste für sie arbeiten, musste ihr Essen essen und bei ihnen schlafen. Ich habe gesehen wie sie unsere Tochter von mir weggebracht haben. Ich habe ihre Schreie gehört, ihre Tränen gesehen und doch konnte ich nichts dagegen unternehmen. Ich wünschte mir oftmals, ich wäre einfach tot, sie hätten mich getötet. Wie sollte ich Dakon je wieder unter die Augen treten können? Was hätte ich ihm sagen sollen? Ich habe Miku verloren.“
Lynn schluckte. Die Bilder der Männer, die Serah mit Gewehren voran getrieben hatten, zogen an ihren Augen vorbei. Sie dachte daran welche Qualen das alles gewesen sein mussten. Und doch saß Serah in diesem Moment vor Lynn und lächelte: „Ich denke oft daran, wie ich mit Miku in unserem Garten gelegen habe, unter der großen Weide. Sie hat es geliebt wenn ich ihr vorgelesen habe. Wir haben Tage am See unseres Grundstücks im hohen Gras verbracht, in der wärme des Spätsommers. Wir haben so viele Bücher gelesen. Es war kurz vor ihrem elften Geburtstag und einzig Dakon konnte uns davon abhalten auch nach der Dämmerung noch draußen zu bleiben, wenn er von der Arbeit kam und auf der Veranda nach uns rief. Die Spätsommer in Efrafar sind wunderschön. Ich sehe manchmal noch immer Mikus fröhliches Gesicht vor mir und höre ihr Lachen und ihren Protest, noch nicht ins Bett zu wollen. Und dann muss ich wieder und wieder an den Tag denken, an denen die VCO bei uns eingebrochen war und uns einfach mitgenommen hat.“
„Es tut mir so leid, Serah.“ Sagte Lynn leise. Sie nickte und lächelte wieder mit einigen Tränen in den Augen. „Es ist vorbei Lynn. Wir sind jetzt hier. Wir haben unseren Platz, in einem Team, in unserer kleinen, etwas anderen Familie. Wir sind nicht Schuld was geschehen ist. Aber wir können die Zukunft ändern. Du bist nicht schwach. Du bist eine der stärksten jungen Frauen, die mir je untergekommen sind.“
Trotz ihrer liebevollen Worte verspürte Lynn nur wenig Genugtuung. Sakuya hatte sein Wort gehalten, er hatte scheinbar weder vor Dakon, noch vor Serah, Einzelheiten erwähnt. Das erleichterte sie ein wenig. Zumal sich sich sowieso nicht sicher war, ob man sie wirklich vergewaltigt hatte.
Es war Abend geworden, und Serah und Lynn kamen in Rins Wohnzimmer. Dakon sah auf, er saß gerade mit Rin vor seinem Laptop und auch ein weiterer junger Mann sah sie an. „Lynn, dass ist Naoya. Wir konnten ihn ebenfalls befreien, genauso wie Josh und Makoto aus Furgosons Team.“ erklärte Serah und der Junge braunhaarige Mann mit den braunen Augen stand auf und gab Lynn lächelnd die Hand: „Wärst du und die anderen nicht gewesen, dann wäre ich jetzt wohl nicht wieder hier.“ sagte er erleichtert. Lynn nickte nur: „Gern.“
Dakon war aufgestanden und betrachtete Lynn: „Kommst du mit mir?“ Fragte er sie und sie nickte, während sie Rins Blick spürte. Sie sah kurz an Dakon vorbei, zu ihm hinüber, aber er sah schnell weg. Sie ahnte, dass Dakon mit ihr sprechen wollen würde.
Die beiden waren hoch in die erste Etage gegangen und Dakon öffnete die Tür zu einem Arbeitszimmer. Lynn trat ein und musterte den Raum mit den Bücherregalen.
„Lynn-“ wollte Dakon beginnen aber sie unterbrach ihn:
„Nein Dakon. Es tut mir leid. Ich konnte nicht das tun was du von mir verlangt hattest.“ Er sah sie verblüfft an. Für einige Sekunden herrschte Stille. Lynn ging zum Fenster und sah hinaus auf die Straße vor dem Haus. „Ich will dein Geld nicht mehr. Es ist verlogen.“ sagte sie dann und drehte sich wieder zu ihm um. Dakon schwieg und zündete sich eine Zigarette an.
„Willst du was trinken?“ Fragte er beiläufig und griff gezielt in einem der Schränke nach einer Flasche Whiskey. Ohne dass sie antworten konnte, hatte er ihr ein gefülltes Glas gereicht. Sie atmete tief ein und nahm den gesamten Inhalt mit einem Schluck.
„Dakon, ich-“ diesmal unterbrach er sie:
„Ich weiß.“ Es herrschte erneut Stille und Dakon sah in Lynns erschrockene blaue Augen. Er trank aus und stellte das Glas auf den großen Schreibtisch in der Mitte des Raumes.
„Ich habe dich nicht umsonst zu solch gefährlichen Einsätzen geschickt. Ich habe dich nicht umsonst bei Serah um Hilfe gebeten. Ich habe dich nicht umsonst angeschossen, damit du Tetsuya aus dem Krankenhaus holst.“ Lynn nickte ruhig. Sie verstand was er da sagte. Es machte alles Sinn.
„Ich weiß von dem Zeichen der VCO an deinem Körper. Aber ich ahnte es schon, als ich dich das erste mal kämpfen gesehen hatte. Glaub mir, wenn ich dir sage, dass ich weiß wie Elite Soldaten der VCO sich verhalten.“ Lynn ging einige Schritte näher an das Fenster heran.
„Du springst jetzt aber nicht wieder, oder?“ Fragte er sie und sie lächelte
„Nein. Aber warum hast du nichts gesagt? Warum hast du mich nicht getötet? Warum hast du es mir nicht gesagt?“ In Lynns Kopf häuften sich die Fragen.
„Es ist mir egal, wozu du gemacht wurdest. Der Mensch dahinter ist viel wichtiger. Und du bist nicht wie sie. Vielleicht nur weil du dein Gedächtnis verloren hast. Aber vielleicht gab es auch dafür einen guten Grund. Du hast ein gutes Herz. Du bist Loyal, auf dich kann man sich verlassen und genau das schätzt dieses Team, Tetsuya, Rin, Serah, Sakuya und ich. Ich habe dir von Anfang an immer die Option gelassen, gehen zu können, wann immer du es willst. Du bist geblieben. Und nach allem was in der letzten Zeit geschehen ist, stehst du noch immer hier vor mir.“ Lynn hatte plötzlich den unsagbaren Drang zu weinen. Ihr Hals schnürte sich zusammen. Sie sah noch immer aus dem Fenster. Würde sie nun Dakon ansehen, müsste sie in Tränen ausbrechen. Er wollte noch immer, dass sie für ihn arbeitete. Er hatte immer vollsten Vertrauen in sie gehabt. Er hatte noch nie an ihr gezweifelt. Nie.
„Lynn, du bist etwas Besonderes. Shariv sucht nicht umsonst nach dir, mit aller Gewalt. Auch dafür gibt es einen guten Grund. Ich habe meine Lektion dieses Mal gelernt. Ich werde nicht mehr so schnell, das Leben so vieler Menschen riskieren. Auch ich muss meine Strategien überdenken. Und es tut mir leid.“ Lynn hatte sich umgedreht und Dakon war einige Schritte auf sie zu gegangen. Er legte seine Hand auf ihre Schultern und sah sie an: „Ich werde dich beschützen, so wie du uns schon so oft beschützt hast.“ Lynn nickte und erwiderte seinen Blick. Der tägliche Ernst seines Gesichtes war verschwunden, es war Zuneigung in seinen Augen und Lynn lächelte für einige Sekunden ehe sie wieder ernster wurde:
„Kannst du mir versprechen alles darüber herauszufinden wo ich herkomme und was ich bin?“ Er nickte. „Du wirst Gewissheit bekommen.“ Lynn nickte zufrieden. Es schien als wäre der Schmerz verschwunden. Sie war nicht allein. Ein ganzes Team, eine ganze Familie war an ihrer Seite. >>meine Familie...<< dachte sie.
„Was ist mit den anderen?“ Fragte sie schließlich als Dakon eine Zigarette im Aschenbecher ausmachte.
„Serah vermutet es bereits. Um Rin und Tetsuya mach dir keine Sorgen, sie werden es erfahren wenn die Zeit reif ist. Es ist nicht wichtig wer du warst, was zählt ist, wer du heute bist.“
„Das Treffen der UEF ist morgen Abend. Möchtest du als Wachschutz daran teilnehmen?“ Fragte Dakon anschließend. Lynn nickte.
„Bist du dir sicher?“ Harkte er nach, aber Lynn war sich sicher. Das letzte was sie jetzt gebrauchen konnte war von einem Einsatz ausgeschlossen zu werden. Dakon drehte sich um und wollte gerade das Zimmer verlassen als Lynn sagte:
„Da wäre noch etwas... Sakuya...“ Dakon drehte sich ruhig zu ihr um und sah sie ernst an:
„Lynn, die Wahrheit hat viele Gesichter.“
Er ging und Lynn blieb noch einige Sekunden lang stehen und dachte über diesen Satz nach. Vielleicht wäre es besser nicht weiter nachzufragen. Sie spürte dass zwischen Dakon und Sakuya eine innige Verbindung bestand. Sie würden ihre Gründe haben.
Weder Dakon noch Serah hatten die Details davon erwähnt, wie Sakuya und Rin sie gefunden hatten. Und trotz der Freude über Dakons Worte kam in Lynn das unstimmige Gefühl auf, dass Dakon mehr über sie wusste, als er ihr preisgeben wollte. Die Frage nach dem Warum, war das letzte was blieb.
Lynn kam ins Wohnzimmer und zu ihrer Überraschung war auch Sakuya dort. Er sprach kurz mit Dakon, als Rin sie unterbrach:
„Morgen ist das Meeting der Chefs, und da Naoya endlich wieder bei uns ist, dachten wir, wir gehen noch was trinken, um seine Rückkehr ein wenig zu feiern.“ Lynn schmunzelte, bei Dakons angestrengtem Blick zu Serah: „Lass das junge Gemüse einen drauf machen, wir haben genug schwere Zeiten hinter uns.“ Sagte sie lächelnd und Dakon wandte sich zu Rin der ihn bittend ansah. Und wieder war da Serahs undruchdringliche Zuversicht und ihr Glaube an das Gute, auch in den schwersten Situationen.
„Gut. Geht. Serah und ich bleiben hier.“ Serah sah Dakon verwirrt an: „Meinst du nicht, dass wir auch mal einen freien Abend vertragen könnten? Lass die Arbeit liegen, morgen ist sie noch immer die Gleiche.“ Sie lächelte und Lynn konnte in Dakons sehen, wie er unfreiwillig darüber nachdachte.
Das Nachtleben innerhalb von Nagoyas Stadtzentrum war turbulent, trotz der empfohlenen Ausgangssperrren. Es wunderte Lynn, dass nach 23:00 Uhr noch so viele Menschen unterwegs waren. Sie saß neben Rin und Tetsuya an der Bar. Naoya und Dakon unterhielten sich bei einem Billardspiel. Lynn beobachtete sie und sah die beiden Männer ausgelassen lachen. Es war das erste Mal, dass sie sah, dass Dakon lachte und nicht voller Ernst und Anstrengung war. In ihr war ein Gefühl der Wärme und Geborgenheit. Das erste Mal fühlte sie sich zugehörig. Tetsuya stieß sie an und riss sie aus ihren Gedanken: „Du lächelst endlich mal wieder.“ Sagte er und hob sein Glas Bier von der Theke. „Ja, es ist schön mal nicht über die VCO und ihre Opfer nachdenken zu müssen.“ Erwiderte sie und griff ebenfalls nach ihrem Glas Bier. „Naoya war ungefähr ein Jahr verschwunden. Er wurde bei einer Befreiungsaktion geschnappt. Es ist gut, dass er wieder da ist.“ Erklärte Rin, der sich den beiden zugewandt hatte.
„Weiß Jemand was in der Zeit mit ihm geschehen ist?“ Fragte Lynn und beobachtete weiterhin Dakon.
„Er war in den Tagen deines Verschwindens mit Dakon bei Doktor Shenker, ich habe ihren Befund nur überflogen, aber sie schreibt, dass sie ihn einer enormen Gehirnwäsche unterzogen haben müssen. Er blieb nach seinen eigenen Aussagen standhaft. Er sollte nach Valvar überführt und dort zur Arbeit in einer ihrer Fabriken eingesetzt werden. Aber wir waren schneller.“ erwiderte Rin zufrieden und zündete sich eine Zigarette an. >> Die „Tage“ meines Verschwindens...wie lange war ich gefangen...? << Dieser Gedanke kam Lynn zum ersten Mal. In dem Raum, in dem sie festgehalten wurde, hatte sie jegliches Zeitgefühl verloren gehabt.
„Der Arme...“ bemerkte Tetsuya und sah dann zur Tür, durch die Sakuya und Serah kamen. Lynn hatte sie ebenfalls bemerkt und beobachtete wie die Beiden kurz Dakon und Naoya begrüßten und sich dann ein einen einzelnen Tisch, etwas abseits der restlichen Besucher setzten. Sie redeten kurz, dann stand Sakuya wieder auf und kam zur Bar.
„Sakuya, warum kommt ihr so spät?“ Fragte Rin verwundert, erhielt jedoch keine Antwort. Sakuya bestellte zwei doppelte Whiskey und ehe er wieder zu Serah zurück kehrte, wandte er sich zu den Dreien um:
„Wir haben die Einteilung für morgen Abend besprochen. Dakon sollte sie euch bereits geschickt haben.“ Seine Stimme klang wie üblich ernst und rau und Lynn sah ihn einige Sekunden an. Sakuya wandte seinen Blick von Rin ab und blickte ebenfalls für einen Augenblick Lynn an, ehe er zu Serah zurück ging. Weder Mitleid noch Abschätzigkeit hatten darin gelegen. Er verhielt sich ihr völlig neutral gegenüber.
„Tatsächlich.“ bestätigte Rin und zeigte ernüchtert den Beiden das Memo von Dakon.
„Lynn, du und Sakuya ihr seid für die Gesprächsüberwachung und den Personenschutz eingeteilt. Ted, wir bleiben außerhalb mit Naoya und sichern das Gelände, zusammen mit Furgusons Team.“ Tetsuya schnaubte: „Man, warum haben wir nicht den spannenden Teil bekommen? Ich hasse Wachschutz.“ Lynn lächelte und Rin lachte:
„Tja, die Wege des Bosses sind unergründbar.“ Tetsuya winkte die Beiden genervt ab und stand auf, um auf der Toilette, abseits der Bar, zu verschwinden. Rin rückte etwas näher zu Lynn und sah sie einige Sekunden an. Als sie es bemerkte erwiderte sie verwirrt seinen Blick:
„Was ist?“ Fragte sie und Rins Miene wurde ernster.
„Wie geht es dir?“ Fragte er schließlich besorgt. Sie zuckte mit den Achseln und nahm ein Schluck Bier:
„Gut.“ antwortete sie kühl, als sie Rins Hand auf ihrem Arm spürte und ihn wieder ansah:
„Im Ernst, wie geht es dir?“ Sie hielt einen Moment inne.
„Ich fühle mich sicher. Es ist als würde ich zu euch gehören. Was geschehen ist, ist geschehen.“ Rin nickte bei ihren Worte und ließ ihren Arm wieder los.
„Wenn du mal jemandem zum reden brauchst, ich bin da.“ Sagte er dann ernst, als Tetsuya sich wieder neben sie setzte. Es war Lynn nicht unangenehm gewesen. Sowohl Tetsuya als auch Rin akzeptierten sie, und behandelten sie, wie einen festen Bestandteil des Teams. Aber wie würden sie nur reagieren, wenn sie wüssten, was Lynn wirklich war?
Es war spät geworden und die Bar hatte sich gelehrt. Tetsuya knallte lachend ein leeres Glas auf die Theke. „Ich muss jetzt los. Bleibt nicht mehr zu lange.“ sagte er und rutsche ungeschickt von dem Hocker. Er taumelte ein wenig, und ging in Dakons Richtung.
„Fährt er etwa noch?“ fragte Lynn verwundert, aber mit einem Lächeln auf den Lippen, aber Rin schüttelte lachend den Kopf:
„Niemals. Dakon fährt ihn mit Sicherheit. Er hat nicht viel getrunken.“ Lynn nickte zufrieden und suchte dann im Raum nach Sakuya. Es dauerte einige Sekunden bis sie ihn entdecken konnte. Er stand mit einer blonden, jungen Frau zusammen, deren Gesicht nur wenige Zentimeter von seinem entfernt war. Er war deutlich größer als sie und sie stand auf Zehenspitzen und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Sein Gesichtsausdruck war entspannt und Lynn war sich sicher ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen bemerkt zu haben. Er antwortete ihr etwas und sie lachte lautstark, ehe er seinen Mantel von einem Stuhl nahm und die Bar mit ihr zusammen verließ. Lynn wollte gerade etwas zu Rin sagen, als Serah zu ihnen kam.
„Du bist noch hier?“ fragte Rin .Serah nickte lächelnd.
„Wir fahren aber auch gleich und nehmen Tetsuya mit. Willst du noch bleiben?“ fragte sie. Rin sah Lynn an, die nachdenklich Sakuya hinterher sah. Er hatte schon öfters bemerkt, wie Lynn Sakuya ansah. Sei es bei Dakons Einweisungen, oder wenn er mal wieder wie aus dem Nichts zu ihnen stieß. Sie hing an seinen Lippen. Dass das noch Probleme geben könnte, wurde Rin erst einen Augenblick später bewusst, als er darüber nachdachte, wie verschlossen und distanziert Sakuya war. Nur Dakon gegenüber schien er sich zu öffnen. Aber wie er Lynn einschätzte, wäre sie klug genug sich von Sakuya fernzuhalten. Außerdem wäre Lynn viel zu jung.
„Ja, ich bleibe noch was.“ antwortete er und Serah nickte. Sie wollte gerade zu Dakon zurück kehren, als Lynn sie aufhielt:
„Serah?“ Fragte sie leise und sie blieb stehen und kam näher an Lynn heran.
„Mit wem ist Sakuya da gerade gegangen?“ fragte sie so leise, dass Rin es nicht hören konnte. Er bestellte soeben ein weiteres Bier.
„Shiori. Eine alte Freundin sagte er, warum?“ Lynn überlegte kurz und sah Verwirrung in Serahs Augen: „Mach dir keine Sorgen um ihn, er kann auf sich aufpassen.“ fügte sie dann lächelnd hinzu. Lynn blieb stumm zurück, und nickte ihnen zu, als die Anderen die Bar anschließend verließen.
„Es ist Dakon mit Sicherheit auch schon gefallen.“ sagte Rin und betrachtete nachdenklich die Flaschen in einem Regal, hinter der Theke. Lynn wandte sich verwundert zu ihm um:
„Was meinst du?“
„Ich meine wie du ihn ansiehst. Sakuya Kira.“ Lynn spürte wie ihr Herz begann zu rasen.
„Du verstehst da etwas falsch.“ erwiderte sie und griff nach ihrem Bier.
„Komm schon. Du weißt was Dakon von Beziehungen innerhalb des Teams hält.“ Lynn sah Rin an:
„Es ist aber nicht so.“ sagte sie und versuchte Rins Gesichtsausdruck zu deuten. Er hatte sich wieder ihr zugewandt und sein Blick glitt über ihre Lippen.
„Du hast keine Ahnung in was für Schwierigkeiten du gerätst wenn-“ Lynn unterbrach ihn:
„Es ist als würde ich ihn kennen. Als hätte ich ihn schon mal irgendwo gesehen.“ Rins Gesichtszüge veränderten sich: „Ich weiß was du meinst. Das hat vor langer Zeit auch mal Jemand von Furgusons Team gesagt.“ Lynn sah Rin verwundert an:
„Wer? Wo finde ich ihn?“ Rin schüttelte den Kopf und holte eine Zigarette hervor.
„Sie ist ebenfalls Opfer der VCO geworden. Sie ist tot.“ Lynn sah ernüchtert auf die Theke.
„Glaub mir, du suchst in der falschen Richtung. Wenn Sakuya etwas wüsste, hätte er mit Sicherheit bereits etwas gesagt.“
In Lynns Kopf arbeitete es. Was hatte sie gerade eben so enttäuscht? Dass eine Spur im Sand verlief, oder dass Rin ihr unterschwellig davon abriet Sakuya nach ihrer Vergangenheit zu fragen. Sie hätte es längst tun können, aber es schien ihr so unangebracht. So absurd. Vielleicht sah er einfach nur Jemandem aus ihrer Vergangenheit ähnlich. Er war ein Soldat der UEF. Woher sollten sie sich schon kennen? Die einzige Möglichkeit die Lynn in den Sinn kam war die, dass sie bei einem Einsatz einmal aufeinander getroffen waren. Aber selbst das schien beinahe unmöglich. >>Ich sollte aufhören darüber zu grübeln... Dakon wird mir helfen. Die Zeit wird die Antworten schon bringen...<< Ihre eigenen Gedanken ließen sie enttäuscht zurück. Sie sah Rin an, wie er gerade den Qualm seiner Zigarette über die Theke hinweg blies und mit der anderen Hand den Boden seines Bieres umfasste. >>Er ist ein wirklich schöner Mann...<< Dachte sie und betrachtete seine hellbraunen Haare und wie er sie sich aus dem Gesicht strich. >>was Sakuya und diese Frau... Shiori wohl gerade tun... ob sie reden...oder doch...<< Lynn dachte daran wie Sakuya wohl in seinem Apartment aus dem Bad kommen würde. Vielleicht hätte er noch ein Handtuch um den Hals auf das die Wassertropfen seiner schwarzen Haare fallen würden. Vielleicht würde er seine schwarze Anzughose tragen mit einem Ledergürtel. Sein Bauch wäre trainiert wie der Rest seines Körpers. Er würde sich durch die nassen Haare fahren und nach seinen Zigaretten greifen, während Shiori sehnsüchtig auf dem Sofa verbleiben würde.
„Lynn?“ Rin sah sie verwundert an..
„Woran hast du gerade gedacht?“ fragte er und lächelte.
„Nichts.“ sagte sie lächelnd und bemerkte wie Rins Augen abermals an ihren Lippen haften blieben.
„Deine Eltern müssen wunderschön gewesen sein.“ bemerkte er leise.
„Abgesehen von den Abschürfungen in deinem Gesicht, ist es perfekt.“ fügte er leise hinzu. Lynn sah ihn stumm an, und musterte sein Gesicht.
„Wenn Dakon nicht wäre, hätte ich dich längst gefragt ob du nicht mit mir ausgehen willst.“ Sie lächelte und antwortete leise:
„Wir sollten auf das wesentliche fokussiert bleiben.“ Zu ihrem Erstaunen änderte Rin keinesfalls die Tonlage: „Ich weiß. Es war nur ein Gedanke.“ Er sah noch immer zufrieden aus.
„Warum bist du noch alleine?“ fragte sie ihn dann.
„Was soll ich den Frauen sagen? Dass ich für eine Geheimorganisation einer anderen Welt arbeite? Dass ich vielleicht irgendwann nicht mehr lebend zurück komme? Ich war bereits einmal verheiratet. Das ist nichts für mich.“ Lynn musterte noch immer sein Gesicht. Er schien nicht unglücklich zu sein. Ein Mann mit seinem Aussehen hätte es ohnehin nicht schwer eine Frau zu finden.
„Siehst du die Braunhaarige dort hinten?“ fragte er dann und lächelte. Lynn sah an ihm vorbei zu einer jungen Frau, die ebenfalls mit einem Mann an der Theke saß und sich unterhielt. Sie sah kurz auf und zu Rin rüber, ehe sie sich wieder ihrem Gespräch widmete.
„Sie hat mir vorhin ihre Nummer zugesteckt, auf dem Weg zur Toilette. Ich denke nicht, dass ich heute alleine schlafen muss.“ Sagte er dann. Lynn lächelte ebenfalls und trank ihr Bier leer.
„Kann ich dich allein lassen?“ Fragte sie schließlich und Rin nicke mit einem liebevollen Gesichtsausdruck.
„Bist du mit deinem Motorrad hier?“
„Ja.“ erwiderte sie und stand auf.
„Komm gut nach Hause. Wir sehen uns morgen.“
„Und euch noch eine aufregende Nacht.“ antwortete Lynn und zwinkerte ehe sie die Bar verließ.
Die Nacht hatte sie kaum geschlafen. Immer wieder hatte sie Alpträume gehabt und sah die Gesichter der Männer vor Augen, die sie gefangen genommen hatten. Es war vieles verschwommen. Vielleicht ein Kniff ihres Unterbewusstseins um ihre Seele vor noch mehr Schaden zu bewahren. Sie hatte noch mehrmals geduscht, aber nicht in Gesellschaft, fühlte sie sich wieder nutzlos und schmutzig. Die Ereignisse gingen ihr nicht aus dem Kopf. Und sie hatte immer wieder an Sakuya und diese Frau denken müssen.
Es Dämmerte als Rin Dakon den Bauplan von Furgusons Haus vorlegte. Er breitete ihn auf dem großen Wohnzimmertisch aus und zündete sich anschließend konzentriert eine Zigarette an. „Ich will Wachen hier, hier und hier.“ erklärte Dakon ernst und zeigte auf einige Punkte der Karte. „Tobias Team wird auf den anliegenden Dächern das Gebiet überwachen, zusammen mit Scharfschützen aus Furgusons Team. Hat das Team von Jenny Shapperd sich bereits gemeldet?“
„Ja, sie patrouillieren in zwei schwarzen Vans in den umliegenden Straßen.“ antwortete Rin und zog an seiner Zigarette als Lynn hereinkam.
„Du bist früh dran.“ Bemerkte Dakon und musterte sie. Die blaue Uniform der UEF stand ihr gut, fand er, auch wenn sie ihr ein wenig zu groß war. „Ich werde zusammen mit Sakuya euer Personenschutz sein?“ Harkte sie nach und stellte einen Rucksack mit ihrer Waffe und ihrer normalen Kleidung neben das Sofa. „Ja.“ antwortete Dakon und Rin hörte an seinem Ton, dass Stolz in seiner Stimme lag. Serah kam mit einem Handy von der Terrasse wieder herrein und sah Lynn begeistert an: „Du siehst toll darin aus.“ bemerkte sie. „Danke.“ murmelte Lynn als auch Tetsuya den Raum betrat. Auch er trug die Uniform. „In einer halben Stunde geht es los.“ sagte Dakon und verließ den Raum um sich ebenfalls umziehen zu gehen. >>Mit den Uniformen sehen wir der Staatspolizei zum verwechseln ähnlich...<< Stellte Lynn fest als sie die anderen betrachtete. Sie ging zum Fenster und sah hinaus auf die Straße. Es war fast dunkel. Rin stieß sie von der Seite an: „Alles in Ordnung? Du siehst müde aus?“ stellte er besorgt fest, aber Lynn lächelte nur: „Ich konnte nicht besonders gut schlafen.“ erwiderte sie ihm. „Wie ist es gelaufen?“ erkundigte sie sich dann lächelnd und Rin lachte ebenfalls: „Frag nicht, ich hab ebenfalls zu wenig geschlafen. Aber es hat sich gelohnt.“ Schwere Schritte rissen Lynn aus ihren Gedanken. Sie blickte zur Tür und sah Sakuya dort stehen. Er trug noch immer die Sachen vom Vorabend, mit denen er die Bar verlassen hatte. >>Ob er mit ihr geschlafen hat? Sie war schön... und eine alte Freundin...<< Bei ihren Gedanken daran, traf sie Sakuyas ernster Blick und sie zuckte zusammen. Es schien ihr, als hätte er sie denken hören. Sie wandte den Blick ab. „Ist Dakon oben?“ fragte er mit rauer Stimme. „Ja, er zieht sich um.“ erwiderte ihm Tetsuya der sich gerade mit dem Grundriss auf dem Tisch beschäftigt hatte. Sakuya ging und Lynn blieb nachdenklich zurück. Etwas in ihr fühlte sich enttäuscht an. Sie konnte nicht sagen warum. Er bedeutete ihr doch nichts. >>...oder...<<
Dakon und Sakuya kehrten mit den Anderen zurück ins Wohnzimmer, wo Lynn und der Rest des Teams auf sie warteten. Naoya war auch dazu gekommen. „Wir fahren los.“ gab Dakon endlich seine Anweisung.
Das Anwesen von Furguson war groß. Sie hatten sich im Erdgeschoss in einem großen Arbeitszimmer versammelt. Die Möbel wirkten alt und edel, fand Lynn. Über dem großen, runden Tisch, an dem die Teammitglieder saßen hing ein massiver Leuchter, dessen spärliches Licht sich in den Whiskygläsern auf dem Tisch brach. Lynn stand an der Ausgangstür, von der aus sie den Blick auf Sakuya hatte, der vor einem Fenster Stand, durch das sie Rin und Tetsuya beobachten konnte, die den Vorgarten im Blick behielten. Zwischen Lynn und Sakuya lag der Tisch mit den Teammitgliedern die sich angestrengt unterhielten und miteinander diskutierten. Es waren zwei Frauen dabei, den Rest bildeten Männer von unterschiedlichem Alter. Lynn schätzte das Furguson der älteste war. Der jüngste schien Anfang dreißig zu sein, er stand den anderen jedoch in nichts nach. Zu ihrer Verwunderung hielt sich Dakon lange Zeit bedeckt.
Sakuya stand die ganze Zeit über ruhig da. Er bewegte sich keinen Millimeter, seine Hände stets hinter dem Rücken verschränkt, ebenfalls wie Lynn. Sie konnte nicht ohne hin, ihren Blick immer wieder auf Sakuya zu richten. Sein Blick ging an ihr vorbei zur Tür, stets wachsam. >>Er wirkt nicht angespannt... trotzdem er dort so steht...<< dachte sie. >>Seine Augen...ich kann meinen Blick nicht von ihm lassen. Wenn ich daran denke, dass ich ihm vor wenigen Tagen noch so nah war, wird mir schwindelig. Nicht eine Sekunde hat er mich angefasst... sein Herzschlag... seine Wärme...<< Lynn spürte seinen Blick und sah ihn an. Sein Gesichtsausdruck war ernst. >>Er ist so vollkommen...<<
Sakuya sah sie noch immer an, und Lynn spürte wie sie nervös wurde. Es schien als würde sein Blick sie durchdringen. Als würde er etwas in ihr sehen.
>>Aber was...<<
Die Diskussion am Tisch wurde hitziger und lauter, aber Lynn hörte von alle dem nichts mehr. Und auch Sakuya schien an etwas anderes zu denken, als er seinen Blick über Lynns Körper gleiten ließ. Er betrachtete ihre Lippen und die Abschürfungen die allmählich verheilten. Ihre braunen Haare, die ihr mittlerweile beinahe bis zur Brust gingen und ihre blauen Augen.
>>Mir wird plötzlich schwindelig...<< Bemerkte Lynn beunruhigt und spürte wie ihr Herz begann schneller zu schlagen. Ihr Magen zog sich zusammen und sie spürte wie das Blut durch ihre Venen schoss. Es war als würde in ihrem Körper etwas nicht mehr funktionieren. Ihr Blick war leicht verschwommen. Sakuya schien zu bemerken, dass etwas nicht stimmte, als eines der Mitglieder laut sagte: „Wir machen ein paar Minuten Pause.“
Lynn verließ hastig den Raum und suchte den Weg zum Badezimmer in der oberen Etage. Sie holte mit zitternden Händen ihre Tabletten aus der Jackentasche hervor und nahm sie. >>Das darf nicht jetzt passieren...<< dachte sie panisch, als sie ein Klopfen an der Tür hörte. „Augenblick.“ Rief sie laut und wartete noch einige Minuten bis das Zittern aufgehört hatte. Dakon stand vor der Tür: „Ist alles in Ordnung?“ fragte er verwundert. Lynn nickte und lächelte. „Willst du lieber fahren?“ fragte er, aber sie schüttelte entschlossen den Kopf.
Die Pause war vorüber und zu Lynns Verwunderung stand ihr nun nicht mehr Sakuya gegenüber, sondern Rin. Der weitere Abend verlief ruhig und ohne Zwischenfälle.
Lynn stieg erschöpft auf ihr Motorrad als Dakon sie aufhielt: „Warte einen Moment.“ sagte er und kam auf sie zu gelaufen. „Vielleicht solltest du Doktor Shenker mal aufsuchen.“ empfahl er ihr. Lynn nahm es stumm zur Kenntnis und fuhr dann los. War es wirklich so offensichtlich gewesen, dass es ihr nicht gut ging? Vielleicht hatte sie einfach nur zu wenig geschlafen.
Auf dem Rückweg dachte sie darüber nach. Was wäre, wenn die letzten Ereignisse weitreichendere Folgen gehabt hätten? >>Vielleicht sollte ich Dakons Rat folgen...<< dachte sie und schlug die Richtung von Doktor Shenkers Praxis ein.
Sie verharrte einige Augenblicke auf ihrem Motorrad und dachte noch nach. Wollte sie sich wirklich einer fremden Frau erklären. Ihr von all den schrecklichen Ereignissen erzählen? Wäre es nicht besser nach Hause zu fahren, schließlich würde sich die Sache sicherlich von alleine erledigen. Aber sie könnte sie immerhin um Schlaftabletten bitten. Vielleicht würden dann auch die Alpträume aufhören? Lynn stieg langsam von ihrem Motorrad. Ihr Unterleib schmerzte noch immer wenn sie fuhr. Die Treppen in den Keller waren rutschig und Lynn musste aufpassen nicht auszurutschen. Sie klopfte nervös. Es schien kein Licht zu brennen, aber nach einigen Sekunden konnte sie Schritte hören. „Lynn.“ Sagte Abbygail, als hätte sie, sie bereits erwartet. In Lynns Gesicht machte sich Verwunderung breit. „Dakon hatte mir gesagt, dass du vielleicht noch kommen würdest. Komm rein, was kann ich für dich tun?“ Ihre Haare glänzten in einem sanften Blond, als sie in ihrem weißen Kittel vor Lynn herlief und sie an der großen Fensterscheibe die den Eingang und den OP voneinander trennte, vorbeiführte. Lynn blickte auf die beiden kalten Metalltische die im schwachen Neonlicht glänzten. „Sets dich.“ Forderte die Ärztin sie auf. Lynn blickte auf den Tisch, auf dem sie schon einmal gesessen hatte. „Dein Gesicht sieht nicht gut aus. Was ist passiert?“ fragte sie und sah sich die Schrammen genauer an. „Das ist nicht das Problem.“ sagte Lynn zögerlich. Dr. Shenker wich einen Schritt zurück und sah sie aufmerksam an. „Ich kann nicht mehr schlafen. Abgesehen davon, dass ich nur wenig Schlaf brauche, finde ich nun gar keinen mehr. Der letzte Einsatz war sehr Nervenaufreibend. Ich hatte gehofft, dass sie mir etwas geben könnten.“ Abbygail nickte verständnisvoll. „Was ist passiert?“ fragte sie dann aber Lynn schwieg. „Du scheinst einiges abbekommen zu haben, bist du dir sicher, dass ich mir das nicht mal anschauen sollte?“
Lynn brannten viele Fragen auf der Seele, aber sie konnte dieser Frau unmöglich erzählen was geschehen war. Sie dachte nach, während Abbygail verschwand um einige Tabletten zu holen. >>Was ist wenn ich... wenn ich...<< Sie vermochte den Satz nicht zu Ende zu denken. Was wäre wenn die Vergewaltigungen Folgen hatten? Sie atmete tief ein und spürte wie ihr Herz wieder begann zu rasen. Der Raum verschwamm vor ihren Augen und sie versuchte aufzustehen. In ihrem Mund war der Geschmack von Blut und plötzlich schossen ihr die Gesichter der Männer wieder durch den Kopf. >>Ich muss hier weg...es fängt schon wieder an...<< Sie rutschte auf dem Boden weg und stürzte. Abbygail hatte einen unterdrückten Schrei gehört und kam angerannt. „Lynn!“ Rief sie erschrocken, als sie, sie am Boden liegen sah. „Es tut mir leid, ich muss.... gehen...“ keuchte sie leise. Sie hörte wie eine Tür zu viel und jemand mit schweren Schritten den Raum betrat. „Sakuya Kira, hilf mir.“ rief Abbygail und wollte Lynn packen, aber sie wich ihrem Griff aus. Sakuya hatte sie erreicht und beugte sich langsam zu ihr hinunter und versuchte in ihr Gesicht zu blicken, aber sie sah nur, außer Atem, zu Boden. „Abby, lass uns alleine.“ sagte er leise aber bestimmend.
Nachdem sie den Raum verlassen hatte, betrachtete er Lynn einige Minuten und blieb vor ihr Hocken. „Kannst du mich hören?“ fragte er leise. Lynn nickte und hob langsam den Kopf um ihn anzusehen. „Mir ist so schwindelig...“ sagte sie leise und versuchte ihre zitternden Hände zu verstecken. „Kannst du aufstehen?“ fragte er dann und richtete sich auf. Sie hatte mühe, stand jedoch einige Sekunden später vor ihm. „Setz dich.“ forderte er sie auf und Lynn setzte sich erneut auf den OP Tisch. Er sah auf ihre zitternden Hände. >>Was ist nur los mit mir...?<< dachte sie beängstigt und sah wie Sakuya etwas aus seiner Manteltasche holte. Er zog langsam eine Spritze mit einer bläulich leuchtenden Substanz auf. „Das wird jetzt weh tun.“ sagte er kühl und griff nach ihrem Arm. Sie beobachtete keuchend wie er den Ärmel ihrer Uniform hinauf schob und ihr anschließend die Flüssigkeit injizierte. Sie stöhnte laut auf, als sich der brennende Schmerz durch ihren ganzen Körper zog. Sakuya trat einige Schritte zurück, als sie begann sich zu winden und zu stöhnen.
>>Lynn, du bist etwas besonderes. Shariv sucht nicht umsonst nach dir.<<
>>Lynn Sakahashy.<<
>>Schieß!<<
>>Wo war sie so lange?<<
>>Sie wurde verhört, Sir.<<
>>Was ist los mit ihr? Seit sie zurück ist spricht sie nicht mehr.<<
>>Willst du leben oder sterben?<<
>>Wenn Dakon nicht wäre, dann hätte ich dich bereits...<<
>>Sie muss neu Initialisiert werden.<<
>>gefragt, ob du mit mir ausgehen würdest.<<
>>Wie fühlst du dich?<<
>>Schäm dich nicht.<<
>>Nur einen kleinen Moment.<<
>>Nicht vor mir.<<
>>Sir, wir verlieren sie!<<
>>Ich schenke dir ein neues Leben.<<
>>Sakuya Kira.<<
Lynn schreckte durch ihren eignen Schrei aus den Erinnerungen hoch. Ein Sturm von Bildern und Stimmen hatte ihren Kopf eingenommen gehabt. Sie saß noch immer in Dr. Shenkers Praxis, und sie stand ihr gegenüber. „Ist alles in Ordnung?“ fragte sie besorgt. Lynn nickte verwirrt und sah sich nach Sakuya um. Er war nicht mehr dort. >>habe ich mir das etwa eingebildet?<< fragte sie sich verwirrt und stand auf. „Hier, mit denen solltest du wieder ruhiger schlafen können.“ Abbygail reichte ihr eine Packung Tabletten. „Geht es dir wirklich gut?“ fragte sie nochmals verunsichert, denn Lynn sah sich noch immer verwirrt um. „Ja, danke. Ich fahre jetzt besser.“ sagte sie hastig und ging.
>>Was war das gerade eben? Ich habe mir das doch nicht eingebildet...<< Sie holte ihr Handy aus der Tasche und sah darauf, als sie wieder auf ihrem Motorrad saß. Es war eine knappe Stunden vergangen. >>...das kann nicht sein...<<
Ihr Motorrad hielt vor dem Hotel in dem sich Sakuyas Apartment befand.
Lynn stand vor seiner Tür und zögerte einige Augenblicke. >>...was ist wenn ich mir das ganze wirklich nur eingebildet habe? Er wird denken ich sei verrückt.<< Sie biss sich auf die Unterlippe bis es schmerzte und dann klopfte sie. Es dauerte einige Momente bis sie eine Tür zufallen, und Schritte hörte. Sakuya stand mit einem offenem schwarzen Hemd vor ihr. Sie schluckte und sah die Lange Narbe auf seiner Brust.
„Lynn.“ sagte er mit dunkler Stimme und sah sie verwundert an.
„Es tut mir leid, kann ich mit dir sprechen?“ fragte sie unsicher. Er nickte und ließ sie herein. Sie setzte sich zögernd auf das Sofa im Wohnzimmer und betrachtete Sakuya während er langsam die Knöpfe seines Hemdes schloss. Er trug eine schwarze Anzughose und keine Socken. Lynn fühlte sich, als hätte sie gerade aufs äußerste seine Intimsphäre verletzt. Was tat sie hier eigentlich?
„Worüber willst du sprechen?“ fragte er und zündete sich eine Zigarette an. Auf dem Tisch lag ein Buch und eine Lesebrille, und daneben stand ein fast leeres Glas Whiskey. >>...er ist schon länger hier...<< Dachte sie verwirrt und sah sich weiter im Raum um. Sie sah neben sich auf das Sofa und konnte einige Blutflecken darauf erkennen. >>Oh nein...das muss von mir sein...<< dachte sie und sah erschrocken zu Sakuya auf, der sie jedoch nur ruhig beobachtete. Sie stand auf und ging einige unruhige Schritte durch den Raum.
„Sakuya, ich...“ sie konnte nicht weiter sprechen, denn sie hatte allmählich das Gefühl den Verstand zu verlieren. >>Was sind das für Gefühle in mir...<< dachte sie und lief weiter unruhig zum Fenster um auf die Straße zu sehen. Es verstrichen einige Minuten.
„Lynn, warum bist du hier?“ fragte Sakuya plötzlich laut und ernst. Sie blieb wie angewurzelt stehen und sah ihn ängstlich an. Er saß noch immer ruhig da und betrachtete sie.
„Sakuya, warst du vorhin bei Doktor Shenker?“ fragte sie dann mit zittriger Stimme. Das war doch Irrsinn, was sie gerade tat. Ihre Wahrnehmung hatte ihr einen Streich gespielt. Und Sakuya würde jeden Moment denken, sie sei verrückt.
„Ja.“
Es war ein klares und deutliches Ja. Lynn hielt inne. Damit hatte sie nicht gerechnet.
„Sieh in deine Jackentasche.“ forderte er sie schließlich auf und Lynn tat es nach einigen Sekunden des Entsetzens. Sie holte drei Spritzen und eine Ampulle, mit einer bläulichen Substanz, heraus.
„Aber...“ sie starrte Sakuya ungläubig an.
„Warum warst du bei ihr?“ fragte Sakuya und machte seine Zigarette aus. Lynn stand verwirrt mitten im Raum und sah ihn an:
„Ich konnte nicht mehr schlafen...“ murmelte sie leise. >>Und da ist noch etwas...<< dachte sie und wieder überkam sie ein ungutes Gefühl.
„Nur deshalb?“ harkte er nach und stand auf. Lynn beobachtete seinen Gang ans Fenster, wie sie es zuvor getan hatte. In seiner Stimme lag Ruhe. Er drehte sich wieder zu ihr um.
„Nein, da ist noch etwas...“ sie biss sich wieder auf die Unterlippe. Warum hatte sie das gesagt? Die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen sich wieder und sie ging langsam zum Sofa und setzte sich. Er beobachtete sie eine Zeit lang, in der sie schwieg. Das einige unausgesprochene Fragen sie quälten, sah er an ihrem unruhigen Verhalten.
„Was ist das?“ fragte sie um abzulenken und legte die Spritzen zusammen mit der Ampulle auf den Tisch.
„Geomas.“ Antwortete Sakuya.
„Bei zu hoher Dosierung entstehen schnell Entzugserscheinungen. Du hast das Zeug drei Tage lang bekommen, als sie dich festhielten.“ Lynn schluckte als ihr wieder die Bilder vor Augen schossen, wir er und Rin in den Raum gestürmt kamen.
„Nimm, wenn das Zittern kommt, eine kleine Dosis, dann hört es wieder auf. Sie haben dir viel zu viel davon gegeben.“ fuhr er fort. Er klang wütend. Lynn rutschte ein Stück vor und ihr Blick fiel wieder auf das Blut, im Stoff des Sofas.
„Ich bezahle es dir.“ sagte sie leise und beschämt. Sakuya konnte sehen, wie unangenehm es ihr war. Aber er würde darüber hinweg gehen.
„Was machen die Verletzungen?“ fragte er schließlich.
„Es ist okay.“ erwiderte sie ihm und sah ihn an. Ihre Blicke trafen sich für einige Sekunden in denen Stille herrschte.
„Was ist da noch?“ fragte Sakuya schließlich ruhig. Lynn wandte ihren Blick wieder ab. Sie schwieg erneut einige Minuten.
>>Was soll ich ihm sagen? Ich kann ihn unmöglich so etwas fragen... was soll er nur von mir denken... aber wenn diese Männer mich wirklich... wenn ich schwanger bin...?<<
„Lynn, du bist nicht wie normale Menschen.“ sagte er plötzlich mit rauer Stimme.
„Du hast es gesehen...“ sagte sie langsam als ihr bewusst wurde, dass Sakuya das Zeichen an ihrer Schulter doch bereits gesehen haben musste. Er hatte sich an den Fensterrahmen angelehnt und zündete sich erneut eine Zigarette an.
„Lynn, du bist nicht von hier, oder aus Efrafar. Du gehörst zu Valvar. Es ist ein Teil von dir. Hör auf zu denken, dass irgendetwas, was in deinem Körper vor sich geht, normal sei.“ seine Worte klangen bestimmend, aber noch immer ruhig.
„Was meinst du damit?“ fragte sie verwirrt. Sakuya deutete auf den Tisch:
„Sieh was vor dir liegt. Kein andere könnte damit im Blut so lange überleben. Du sitzt noch immer hier.“
„Und was soll ich nun deiner Meinung nach tun?“ Ihre Stimme klang aufgelöst.
„Versuch zu verstehen, dass das hier nicht deine Welt ist.“ es klang endgültig in Lynns Ohren. Es tat weh. Sie war der Teil einer Familie, der sich von allen anderen unterschied. Sie sah Sakuya an. Seine blauen Augen blickten ernst zurück.
„Und zu deiner eigentlichen Frage: Du kannst keine Kinder bekommen. Es ist dir unmöglich schwanger zu werden. Die VCO hat deinen gesamten Zyklus verändert.“
Sie hatte augenblicklich das Bedürfnis wegzurennen. Das hatte er gerade nicht gesagt? Woher konnte er das wissen? Und dann fielen ihr plötzlich wieder die Worte des Mannes ein, den sie bei ihrer Gefangenschaft getötet hatte: >>Die anderen haben sich nicht getraut, aber ich werde dich ficken bis du deinen Namen nicht mehr kennst.<< Sie erinnerte sich an das Bild der blutigen Eisenstange die auf dem Boden gelegen hatte. Sie hatten sie nicht vergewaltigt. Sie muss sich trotz der Bewusstlosigkeit noch immer gewehrt haben. Die zurückliegenden Ereignisse wurden wieder klarer. Sie hatten sie nicht vergewaltigt.
„...sie haben meinen Zyklus verändert?“ wiederholte Lynn unsicher. Sakuya nickte.
„Woher weißt du das alles?“ Diesmal schwieg Sakuya einige Sekunden. Es kam ihr erneut vor, als hätte er soeben ihre Gedanken gelesen.
„Die Wahrheit hat viele Gesichter.“ Sprach er schließlich und Lynn überkam ein eigenartiges Gefühl. >>Seine Stimme...<<
„Dein Körper ist anders und er reagiert anders. Ärzte von hier, sind damit nicht vertraut.“ Lynn nickte und betrachtete Sakuya nochmals. Sie wollte keine weiteren Fragen mehr stellen. Er hätte es nicht umsonst so formuliert. Sie wusste das sie abwarten müsste, auch wenn sie es nicht wollte. Aber es schien ihr so absurd. Ihr Blick wanderte über seinen Körper, hin zu seinem Gesicht. Einige Minuten der Stille verstrichen erneut, bis Lynn aufstand.
„Ich fahre dann jetzt.“ sagte sie leise. Sie ging in die Richtung des Flures, als ihr auf einem Stuhl ein weißes Damenoberteil auffiel an dem Blut war. Sie wollte sich umdrehen und ihn danach fragen, entschied sich dann jedoch zu schweigen. Sie hatte ihn lange genug gestört. Als sie vor der Tür stand, drehte sie sich nochmal zu Sakuya um: „Danke.“
-11- Without regard to losses
Als Lynn das Haus von Rin betrat war sie überrascht, dass es so ruhig war. Sie ging den Flur entlang und rief kurz nach Jemandem: „Dakon? Rin?“ Sie bekam jedoch keine Antwort.
>>Es ist so still, sind alle unterwegs...?<< fragte sie sich und setzte sich auf das Sofa. Ihr Blick glitt einige Minuten durch den Raum und dann auf den Laptop der vor ihr auf dem Tisch lag. Sie überlegte kurz ob sie nach etwas suchen sollte, entschied sich dann jedoch dagegen, als sie Schritte hörte die, die Treppe hinunter führten. Rin kam nur mit einem Duschtuch ins Wohnzimmer und sah sie unerwartet an: „Lynn?“. Sie lächelte bei dem Anblick seines nassen, durchtrainierten Körpers. „Stör ich?“ fragte sie und auch er lächelte. Lynn hielt einen Moment inne und spürte wie ihr eigenartig heiß wurde.
„Nein. Hast du meine Zigaretten gesehen?“ Sie deutet auf den Tisch und Rin beugte sich hinüber um danach zu greifen. „Brauchst du was?“ fragte er schließlich verwundert über ihre Anwesenheit, während er sich eine Zigarette anzündete. Lynn schüttelte den Kopf, als sie einen Schlüssel hörte und Dakon das Wohnzimmer betrat. Er sah Lynn auf dem Sofa sitzen, und Rin der beinahe nackt vor ihr stand: „Kann man euch beiden irgendwie helfen?“ fragte er angespannt. „Ich geh mir was anziehen.“ Stöhnte Rin und verließ den Raum. Dakon warf seinen Schlüssel auf den Tisch und zündete sich ebenfalls eine Zigarette an. „Ist alles in Ordnung?“ fragte Lynn verwundert und folgte Dakons wütendem Gang zum Computer. Er gab hastig etwas auf der Tastatur ein und einige Datenbaken öffneten sich: „Nichts ist in Ordnung. Letzte Nacht sind drei Mitglieder aus Furgusons Team bei einem Einsatz gefallen. Ihre Angehörigen verlangen jetzt die Übersetzung nach Efrafar.“ antwortete er und klang noch immer zornig. „Das ist aber doch nur verständlich.“ erwiderte Lynn vorsichtig und Dakon drehte sich zu ihr um: „Natürlich ist es das. Aber es ist ein riesen Aufwand. Wir brauchen alle verfügbaren Einheiten hier. Eine Überführung muss von mindestens zwei Leuten begleitet werden.“
„Was ist mit Tetsuya und Naoya? Beide würden sich sicherlich freuen mal wieder ihre Heimat zu sehen.“ antwortete Rin der nun angezogen wieder zu ihnen stieß. Dakon überlegte einen Augenblick. „Vielleicht wäre das eine Möglichkeit. Serah bleibt uns für den Datenaustausch und die Kommunikationsübertragung zwischen den Teams. Und da wäre noch Shiori.“ Lynn zuckte bei dem Namen zusammen >>...war sie nicht Sakuyas „alte“ Bekannte...?<<
„Was macht Shiori hier?“ fragte Rin verwundert. „Sakuya hat sie gefunden. Sie arbeitet mit der Gruppe von Renè aus Efrafar zusammen und wurde vor kurzen hier bei einem Spionage Einsatz gegen die VCO verletzt. So lange sie noch hier ist, bis sie den Auftrag abgeschlossen hat, könnte sie mit uns kooperieren. Im Gegenzug könnte Renè von Efarfar aus den Schutz unserer Leute bei der Überführung gewährleisten.“
„Was wäre, wenn ich sie überführe? Mich könntest du allein schicken.“ sagte Lynn plötzlich und die Beiden Männer sahen sie nachdenklich an.
„Nein, dich brauche ich hier.“ erwiderte Dakon nach einigen Sekunden. „Du kennst dich in Efarfar nicht aus, und wärst somit ein zu leichtes Ziel.“ sie nickte ernüchtert.
„Soll ich Tetsuya und Naoya informieren, Boss?“ fragte Rin schließlich und Dakon nickte: „Sag ihnen, sie sollen packen. Sie werden morgen aufbrechen.“
„Verstanden.“ antwortete Rin und verließ mit seinem Handy den Raum.
„Und nun zu dir. Warum bist du gekommen?“ fragte Dakon und wandte sich zu Lynn, die nachdenklich aus dem Fenster sah. Draußen war die Sonne bereits fast untergegangen. Es regnete.
„Es geht um Sakuya. Ich denke es weiß etwas über meine Herkunft.“ sagte sie und stand auf. Dakon stand ihr Gegenüber und schien für einen Moment nachdenklich: „Du täuscht dich.“ sagte er dann abgehakt. Es verblüffte sie, dass er nicht verwundert über ihre Frage klang. „Aber-“
„Lynn, es gibt für alles eine Zeit. Auch für die Wahrheit. Und es gibt Ereignisse, die Menschen verändern. Hör auf zu suchen, wo du nichts finden wirst.“ seine Stimme klang kalt und unbarmherzig. Sie nickte nur stumm aber ihr kamen die Gedanken, dass Dakon vielleicht ebenfalls mehr wusste, als er ihr zu sagen vermochte, immer wahrscheinlicher vor. Er schien kurz mit sich selbst zu ringen.
„Gut. Ich habe etwas herausgefunden.“ korrigierte er sich anschließend. Sie blickte ihn verwundert an. Was war das denn nun für ein Sinneswandel gewesen?
„Setz dich.“ forderte er sie auf, und nahm neben ihr platz, während er den Laptop anschaltete. >>was kommt jetzt...?<< fragte sie sich und beobachtete wie er etwas in eine Datenbank eingab. Vor ihnen öffnete sich ein Fenster, indem eine 3-D Darstellung eines jungen Mannes auftauchte und allerhand Daten.
„Du bist ein Projekt der VCO, das steht außer Frage. Das Zeichen an deiner Schulter, ist das ihre. Sie kennzeichneten ihre Soldaten, zumindest die erste Serie der Prototypen. Du warst der Vorläufer der heutigen Generation. Hergestellt in den Laboren in Valver. Ihr wurdet geschaffen und entwickelt um das Ideal eines perfekten Soldaten zu verkörpern. Für den Kampf gegen feindliche Welten. Für den Kampf um Efrafar nieder zu strecken. Ausgestattet mit hypersensiblem Gehör und erweiterter Sehkraft. Eure DNA ist künstlich, jedes einzelne Basenpaar ist mit passenden Informationen kodiert, frei von jeglicher Schrott DNA, im Gegensatz zu normalen Menschen. Übermäßige Belastbarkeit, erhöhtes Muskelaufkommen, und erhöhte Zahl an weißen Blutkörperchen, die einen schnelleren Regenerationsprozess ermöglichen, zeichnen euch aus. Bei den weiblichen Soldaten wurde der Zyklus zurück entwickelt, es kann zu keiner Schwangerschaft mehr kommen. Zwei der ersten Prototypen wurden mit einem Chip ausgestattet. Einem sogenannten SND, einem Synaptic-NetDive-Chip. Darüber jedoch liegen mir keine weiteren Informationen mehr vor. Aus unsicheren Quellen habe ich gehört, dass dieser Chip zu weitreichenderen, psychischen und physischen Fähigkeiten führt, das sind jedoch nur Gerüchte. Es heißt, die Markierungen auf ihrem Körpern, würden sich von denen der ersten Generationen unterscheiden. Sicher ist das jedoch nicht. Wie gesagt, dabei handelt sich lediglich um Gerüchte. Jedenfalls, bist du eine Soldatin der VCO. Vermutlich hast du ebenfalls die Grundausbildung, aufgrund deines jungen Alters, noch mitbekommen. Mittlerweile hat die VCO ihre Ausbildung ausgeweitet. Es kommen die für diverse spezielle Einheiten hinzu, beispielsweise für Spione, Scharfschützen oder Nahkampf. In deiner Grundausbildung war die Vertrautheit mit jeglichen Waffensystemen angelegt. Was sich eben darin äußert, dass du mit allen umgehen kannst. Ebenso diverse Verhörtechniken, Folter, Nahkampf, Schusstraining und psychologische Fähigkeiten zur Erstellung von Zielprofilen und Subjektmanipulation waren Ziel der Ausbildung. Sie haben euch zu lautlosen und unberechenbaren Killern herangezüchtet. Verstehst du, was ich dir sage...?“
Lynn saß stumm neben Dakon, der sie nun wartend beobachtete. Sie sah vom Laptop auf, zur Tür, in der Rin und Sakuya lehnten. „Boss, ist das wahr? Lynn ist eine von denen?“ der klang seiner Stimme war aufgeregt, aber zu Lynns Verwunderung sah er keinesfalls angewidert aus. Ganz im Gegenteil, ein Lächeln lag schwach auf seinen Lippen. Dakon nickte.
„Das ist Wahnsinn! Eine von den besten ist Teil unserer Seite!“ sagte er gespielt freudig, denn das Lynn eine Soldatin der VCO war, war ihm doch bereits schon aufgefallen. Jedoch hatte er es sich verkniffen Dakon darüber etwas zu erzählen. Er hatte nicht gewusst, wie er reagieren würde, und hielt es somit für besser, das ganze erst einmal für sich zu behalten. Zudem vertraute Rin auf seine Menschenkenntnis, und die beharrte darauf, dass Lynn eine der Guten war.
Lynn hatte damit gerechnet, dass er protestieren würde, oder zumindest sein Missfallen zum Ausdruck bringen würde, aber nichts von alle dem war der Fall. Er sah sie fasziniert an, und es war ihr unangenehm. „Starr mich nicht so an.“ sagte sie und Rin zündete sich daraufhin eine Zigarette an. „Ich wurde künstlich geschaffen...“ sie schließlich Dakons Worte und es klang eher nach einer Frage. Sie sah Sakuya an, der sie nur stumm beobachtete. In seiner Mimik waren keinerlei Anzeichen der Überraschung zu sehen. >>er wusste es... aber wie lange schon... << fragte sie sich. Übermannt von diesen endlich erlangten Informationen, schob Lynn die Frage danach beiseite, warum Dakon es ihr scheinbar zuerst nicht sagen wollte. Und ihr entging der folgenschwere Blickkontakt zwischen Dakon und Sakuya, der alles andere als normal wirkte.
„Und ich hab mich schon gewundert, warum du so verdammt gut aussiehst.“ bemerkte Rin und lächelte.
„Das muss man der VCO lassen, sie haben einen guten Geschmack.“ erwiderte Dakon ernst und betrachtete Lynn.
„Dennoch dürfen wir nicht vergessen, dass wir über die Technologie des Feindes verfügen.“ sagte Sakuya plötzlich.
„Na danke für das Kompliment.“ erwiderte Lynn niedergeschlagen. >>Ich bin eine „Technologie“... des Feindes...<< Sakuya ging auf Dakon zu und reichte ihm einen kleinen Zettel auf dem etwas geschrieben stand, was Lynn so schnell nicht hatte entziffern können. Er stand daraufhin auf: „Ich bin bin in zwei Stunden wieder da.“ Die beiden Männer verließen das Zimmer, und Lynn und Rin blieben stumm zurück.
„Hast du ihr die Sache mit deinem Vater erzählt?“ fragte Sakuya als er neben Dakon abseits der Stadt, an seinem Auto stand. Dakon schüttelte den Kopf und zündete sich nachdenklich eine Zigarette an. „Nein. Alles zu seiner Zeit.“ Antwortete er ernst.
„Wirst du sie jemals wecken?“ fragte Dakon schließlich, nach einem Moment der Stille, angespannt und sah in Sakuyas blaue Augen die, die dunklen Felder, abseits der Straße, beobachteten.
„Du weißt, dass ich zu dir und der UEF stehe. Das habe ich deinem Vater vor einigen Jahren versprochen. “ antwortete Sakuya ruhig.
„Aber ich werde sie nicht wecken. Was damals in der Wüste geschehen ist, lässt sich nicht rückgängig machen. Wenn sie ihre Erinnerungen wiedererlangen sollte, wird es sie früher oder später töten. Du hättest sie niemals in deinem Team aufnehmen dürfen, Dakon.“ der ruhige Ton in Sakuyas Stimme war Ärgernis über Dakons Entscheidung gewichen. Das hatte auch er bemerkt. Sakuya würde nicht so agieren, wie es abgemacht war, aber die Umstände, unter denen Sakuya seinem Vater einst sein Versprechen gegeben hatte, waren nicht mehr die gleichen.
„Das Versprechen welches du meinem Vater gegeben hast, ist hinfällig. Ich vertraue dir mehr als jedem anderen. Aber wenn die Zeit gekommen ist, dann brauchen wir Lynns Unterstützung. Und zwar ihre gesamte, und nicht nur der Teil, der geblieben ist. Ich kenne die Aufzeichnungen meines Vaters, ich weiß wozu sie im Stande ist.“ Sakuya hatte sich von Dakon abgewandt und er unterbrach seinen Satz.
„Hättest du mitbekommen, was ich gesehen habe, würdest du dich nicht so aufführen, Dakon. Linnai ist kein Hund, den man abrichten kann. Sie hat die Chance auf ein normales Leben verdient.“ Purer Ärger lag in Sakuyas Worten. Aber Dakon ließ sich nicht in die Schranken weisen:
„Ich habe ihr bereits einmal die Chance auf ein normales Leben gegeben, ebenso wie dir. Dass sie jetzt in meinem Team ist, war nicht so geplant, und du weißt, dass es reiner Zufall-“
„Hör auf damit Dakon. Als du endlich bemerkt hast, wer sie ist, hast du keinerlei Anstalten gemacht, sie wieder weg zu schicken, und jetzt verlangst du von mir, dass ich in ihr erneut ein Trauma auslöse, welches sie beinahe zerstört hätte! Du bist völlig besessen von deinen Plänen, und vergisst immer wieder, dass dein Team aus Menschen besteht. Verschone mich endlich mit deinem Gerede. Du kannst sie für dich arbeiten lassen, so lange sie das mitmacht, aber komm nicht auf die Idee, dass ich sie gegen ihren Willen in irgendeiner Art und Weise benutzen werde.“ Sakuyas Worte hatten Dakon verstummen lassen. Er sah dem Mann, dem er so vertraute in seine wütenden Augen. Ihm war klar, zu was auch Sakuya im Stande war. Würde er ihn weiter provozieren, würde er das Fass zum überlaufen bringen. Sie hatten sich ihr Vertrauen über Jahre hinweg bewiesen, und das konnte er nun nicht aufs Spiel setzten. Dennoch war er der festen Überzeugung, dass Lynn, wenn die Zeit gekommen war, alle ihre Erinnerungen brauchte, um zugriff auf ihre uneingeschränkten Fähigkeiten zu erhalten.
„Es ist gut jetzt. Bis es soweit ist, halte dich von ihr fern. Alles andere könnte die gesamte Organisation gefährden.“ beendete Dakon das hitzige Gespräch.
12 – To much Snow and other Storys
Lynns Handy klingelte leise auf dem Tisch in ihrer Wohnung. Es verstrichen einige Sekunden ehe es wieder ruhig wurde. Lynn saß auf dem Sofa und betrachtete ihre Waffen, die auf dem Tisch daneben lagen. >>Wer bin ich?<<
Sie hatte den ganzen letzten Tag an nichts anderes mehr denken können. Es war leer in ihrem Inneren. Aber was hätte sie auch füllen sollen? Dakon und der Rest des Teams? Was war vorher geschehen? Es musste doch Menschen geben, die sie kannten. Irgendwo da draußen. Einen Platz an den sie gehört. Eine richtige Familie. >>Ich wurde künstlich geschaffen...<< Der Gedanke ließ sie erschaudern. Künstlich hergestellt, ohne Eltern, ohne Heimat. War es das etwa? War das etwa alles? Lynn beobachtete stumm die Untergehende Sonne hinter dem Wohnzimmerfenster. Erneut ertönte das Klingeln ihres Handys. Sie stand auf und sah auf das Display. Es war Dakon gewesen. Bereits das zweite Mal. Ihre anfängliche Euphorie über die neuen Erkenntnisse ihrer Vergangenheit hatte sich allmählich gelegt, und war in eine tiefe Krise umgeschlagen. Nicht nur, dass Dakon ihr vorerst nicht die Wahrheit über ihre Herkunft erzählen wollte, sondern auch die Tatsache, dass er es ihr zunächst verheimlicht hatte, machten sie stutzig. Sie wurde das Gefühl nicht mehr los, dass hinter ihrem Rücken etwas ablief, über das man sie um Unklaren lassen wollte. Speziell von Dakons Seite. Sicherlich hatte er sie nicht unbedingt in seinem Team haben wollen, weil sie sympathisch war. Er musste bereits am Anfang schon geahnt haben, dass sie nicht wie normale Menschen war. Rin schien in die ganze Sache nicht involviert zu sein, er wirkte tatsächlich überrascht. Und wie Tetsuya reagieren würde, würde sich noch zeigen. Aber Sakuya schien ebenfalls mehr zu wissen, als er ihr sagte. Woher konnte er sonst wissen, dass man ihren Zyklus verändert hatte, bei der VCO? Kopfschmerzen brachen über Lynn herein. Sie hatte so viele Fragen. Noch vor wenigen Tagen, war sie sich doch noch sicher gewesen, endlich den Platz gefunden zu haben, an den sie hin gehörte. Eine Familie, die sich gegenseitig unterstützte. Und all das war nun absoluter Verunsicherung gewichen. >>Ich muss hier weg... <<
„Hat sie schon zurück gerufen?“ fragte Tetsuya angespannt. Dakon schwieg. „Die Überführung wird auch ohne sie kein Problem sein.“ sagte er nach einigen Minuten und zündete sich eine Zigarette an, während er Naoya beobachtete, wie er einige einfache Holzsärge auf einen schwarzen Transporter verlud. „Seit vorsichtig. Die VCO ist bereits nach Efrafar eingedrungen. Shiori wird in der Zeit, in der ihr weg seit euren Platz hier einnehmen. Wenn irgendetwas passiert, kontaktiert ihr Renè. Er wird euch dort helfen. Serah wird versuchen die Sphäreübergreifenden Telekommunikationswellen alle acht Stunden zu senden. Ihr seit also für eine Weile auf euch allein gestellt. Meint ihr, ihr schafft das?“ Tetsuya bestätigte mit einem Nicken Dakons Ansprache. „Mach dir keine Sorgen Boss. Wir sind in 36 Stunden zurück.“
Dakon beobachtete Serah einige Minuten. Sie saß im Halbdunklen Wohnzimmer vor zwei Laptops. „Ich weiß, dass du dort stehst.“ Sagte sie schließlich und Dakon ging einige Schritte zu ihr. „Funktioniert alles?“ fragte er und legte seine Hand in ihren Nacken. „Ja, die Synchronisation der unterschiedlichen Magnetwellen dauert noch etwas, aber in vier Stunden sollten wir den ersten Funkkontakt nach Efrafar haben.“ Sie lehnte sich angespannt zurück und betrachtete Dakons altes Gesicht. „Wie lange müssen wir noch um etwas kämpfen, was uns gehört...?“ fragte sie müde und schloss die Augen. Dakon bemerkte einige graue Haarsträhnen zwischen ihren langen schwarzen Haaren. „Hast du Lynn endlich erreicht?“ fragte sie schließlich und sah ihn wieder an. Sein Gesichtsausdruck sprach für sich. „Wenn ich sie wäre, hätte ich erst einmal das Weite gesucht. Ich wäre irgendwo außerhalb der Stadt, und würde mir alles durch den Kopf gehen lassen....“ sagte Serah leise und Dakon nickte: „Ja, so wird es wohl sein.“
„Gib ihr ein paar Tage. Es ist viel passiert in letzter Zeit. Sie musste so vieles miterleben. Sie wurde so oft verletzt. Lass ihr die Ruhe.“ beschwor Serah ihn leise. Sie konnte sehen, dass es ihm zu wieder war, dass er Lynn nicht erreichen konnte. „Wenn es dir zu unsicher ist, dann orte sie. Dann hast du Gewissheit.“ fügte Serah hinzu. „Sie ist eine Ausgebildete Soldatin. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass sie das Handy mitgenommen hat?“
„Sie vertraut dir, Dakon. Glaub mir. Sie hat es bei sich.“
Und da war wieder Serahs Zuversicht, die Dakon dazu veranlasste resignierend abzuwarten. Wo nahm seine Frau nur so viel positive Worte her? Für einen Augenblick stellte Dakon seine eigenen Entscheidungen in Frage. Er wusste, dass das was er tat nicht richtig war. Dass er Lynn belog und ihr so viele Informationen vorenthielt. Und auch, dass er Sakuya übergehen wollte. Sein Blick glitt über das Foto seiner Tochter, welches neben Serah auf dem Schreibtisch stand, und ihm wurde wieder bewusst, warum das alles sein musste: Er würde die gesamte VCO zerstören, koste es was es wolle. Sie hatten etliche Familien in Efrafar zerrissen. Und es war an der Zeit, dem Ganzen ein Ende zu machen. Koste es, was es wolle.
Es war ein langer und beschwerlicher Weg in die kalten Berge für Lynn gewesen. Sie hatte sich an eine alte Hütte erinnert, die ihr der Doktor einmal angeboten hatte, als sie sich verfolgt fühlte.
>>Hier war ewig Niemand mehr...<< stellte sie zufrieden fest, als sie mit ihren Schneebedeckten Schuhen die eisige Holzhütte, mitten in den Wäldern betrat. Es war Dunkel geworden und es schneite noch immer. Ihr Motorrad hatte sie abseits der kleinen Bergstraße unter Zweigen versteckt. >>Es ist eiskalt...<< dachte Lynn als sie sich nach einer Heizung umsah. Sie lief über die knarrenden Holzdielen und entdeckte am anderen Ende des großen Raumes einen Kamin. Es lag altes, staubiges Holz darin. Sie prüfte ob es trocken war. Auf dem Sims darüber lag eine Schachtel Streichhölzer. Sie entzündete eines und steckte es unter das Holz und einige Zeitungen, die darunter lagen. Es dauerte einige Minuten, in denen Lynn die kleinen Flammen beobachtete, ehe das Holz langsam begann zu brennen. Das Licht der kleinen Lampe neben der Tür brannte schwach. Sie zog ihre Schneebedeckte Jacke aus und hing sie über einen Stuhl neben das Feuer des Kamins. Ein großes Sofa stand ihm gegenüber. Es lange Decken darauf. >>Es ist so still hier... das tut gut...<< Dachte Lynn während sie ihre Schuhe auszog und sich auf das Sofa fallen ließ. Das letzte was sie jetzt gebrauchen konnte, war Gesellschaft. Sie brauchte Zeit, um herauszufinden, wie sie weiter machen würde.
>>Der Schnee... wie in jener eisigen Nacht...<< Ihr vielen die Augen langsam zu, ehe sie rekonstruieren konnte woher diese Erinnerung stammte.
Ein lautes Klopfen ließ Lynn hoch schrecken. Draußen war es noch immer dunkel und der Schnee fiel kontinuierlich. Erneut klopfte es und Lynn richtete sich langsam auf. Sie griff nach der Waffe in ihrer Jackentasche und nährte sich vorsichtig der Tür. „Wer ist da?“ fragte sie laut und wartete einige Sekunden. „Ich habe den Rauch des Kamins gesehen, und wollte nachsehen wer so spät noch hier hoch kommt!“ Hörte sie eine dunkle männliche Stimme. Lynn überlegte einige Sekunden, dann löste sie das Schloss der Tür und stand mit geladener Waffe im Rahmen, als sie sich öffnete. Ihr gegenüber zeigte ihr seine Hände auf Brusthöhe. Eine alte Schrotflinte befand sich um seine breiten Schulter. Er war groß, und schien auf das Ende der dreißiger zuzugehen, vermutet Lynn. „Ich hatte nicht damit gerechnet, dass so spät noch jemand hierher kommt.“ Sagte er erneut und betrachtete Lynn verwundert. Sie nahm langsam ihre Waffe hinunter. Der Mann der vor ihr stand trug ein schwarze Jacke und eine ausgeblichende Cargoshose. Sein markantes Gesicht wurde von seinem kurzen Bart umrahmt, der die die gleiche braune Farbe wie seine Haare hatte. Es war ein warmes Kastanienbraun Seine grünen Augen musterten sie verwundert. Er sah verbraucht, aber gut aus, fand Lynn.
„Hier war seit Ewigkeiten niemand mehr.“ rechtfertigte er sein Erscheinen.
„Wollen Sie hereinkommen, es ist kalt da draußen.“ sagte Lynn widerwillig und ging zurück zu ihrer Jacke, in der sie die Waffe wieder verschwinden ließ.
„Ich heiße Carver. Ich habe hier in der Nähe, weiter die Straße runter, eine kleine Ferienhütte. Ich wollte dieses Wochenende zum Angeln rauf kommen. Vielleicht haben sie auf dem Weg hierher den kleinen Fluss, unten am Wasserwerk bemerkt. Um die Jahreszeit ist er voller Fische.“ Der Mann sah sich um. Die Kleine Küchenzeile war voller Staub. Er ging hinüber und drehte am Wasserhahn der Spüle. Es dauerte einige Sekunden ehe frisches Wasser herausfloss.
„Sehr gut, das Wasser funktioniert noch.“ bemerkte er und sah zu Lynn die ihn skeptisch musterte.
„Im Winter haben wir hier oft das Problem, dass die Leitungen einfrieren. Dann kommen wir nur noch mit Kanistern durch. Sie haben Glück.“ Er ging einige Schritte durch den Raum.
„Wenn sie Feuerholz brauchen, hinter dem Haus gibt es ein Fort, dort sollte noch etwas sein.“ Er betrachtete einen Augenblick lang Lynn, die Mitten im Raum stand und aus dem Fenster sah.
„Wissen sie, diese Hütte gehörte mal einem Doktor, der an den Wochenenden mit seiner Familie herkam.“ Sprach er weiter und beobachtete Lynns Blick, die noch immer die Schneeflocken vor dem Fenster zu zählen schien. „Der Doktor ist tot.“ erwiderte sie plötzlich und der Mann sah sie verwundert an.
„Er hatte mir vor zwei Jahren einmal von der Hütte erzählt. Deshalb bin ich hier.“ rechtfertigte sie sich und ging zu der Küchenzeile.
„Das tut mir leid.“ Sagte Carver und schien einen Moment zu überlegen.
„Hören Sie, ich wollte Sie nicht stören, ich fand es nur ungewöhnlich, dass zu dieser Jahreszeit Jemand -“ „Es ist schon gut.“ unterbrach ihn Lynn und drehte sich zu ihm um. Er betrachtete für einen kurzen Moment ihr Gesicht. Es schien eine eigenartige Trauer in ihren Augen zu liegen.
„Gut. Wenn Sie etwas brauchen, wie gesagt, meine Hütte ist gleich die Straße hinunter.“ Er schulterte seine Schrotflinte und ging auf die Tür zu.
„Danke.“ sagte Lynn leise und zwang sich zu einem Lächeln. Carver sah sie noch einige Sekunden lang an, dann ging er stumm.
„Was ist los?“ fragte Serah und stieß Dakon an, der Geistesabwesend durch das Fenster seines Trucks sah, und den Schusswechsel zwischen einigen Soldaten und Shiori und Sakuya beobachtete.
„Sie fehlt hier.“ sagte er. Serah lächelte.
„Lass ihr nur die Zeit, die sie braucht. Du kannst sie nicht bei uns festhalten.“ Ihre Worte klangen weich und liebevoll, wie die einer Mutter.
„Was hältst du von Shiori?“ wechselte Dakon das Thema. „Sie ist nicht umsonst die Nummer Eins in Renès Team.“ erwiderte Serah und beobachtete sie.
„Glaubst du sie stellt eine Gefahr für das Team dar?“ fragte Dakon sie skeptisch nach ihrer Meinung.
„Wenn du damit Sakuya meinst... er ist auch nur ein Mann.“ Dakon sah seine Frau nachdenklich an.
„Sie wird nach Efarfar zurückkehren, sobald Naoya und Tetsuya zurück sind. Bis dahin, lass den Dingen ihren lauf, und hör auf alles kontrollieren zu wollen.“ fügte Serah ruhig hinzu.
Der Tag war langsam vorüber gezogen und Lynn hatte feststellen müssen, dass die Leitungen, wie Carver es vorhergesehen hatte, zugefroren waren.
Ein Klopfen riss ihn aus den Gedanken und er legte ein Buch beiseite um die Tür zu öffnen. Lynn stand schneebedeckt vor ihm.
„Sie hatten recht.“ Sagte sie lächelnd und sein Blick fiel auf die beiden Wasserkanister in ihren Händen. „Kommen Sie rein. Ich fülle Sie ihnen auf.“ Sagte er ernüchtert. Lynn betrat seine kleine Hütte. Es war warm, der Kamin brannte, und auf dem Tisch in der Mitte des Raumes lagen einige Bücher. Ein Glas Whiskey stand daneben. Carver verschwand mit den Kanistern im Badezimmer.
„Wissen sie, wenn man nur oft genug herkommt, lernt man schnell, wie wichtig die einfachsten Dinge des Lebens sind.“ rief er. Lynn betrachtete während dessen die Angeln die neben dem Kamin zum trocknen standen. Daneben lag die Schrotflinte vom Abend zuvor, und zwei weitere Waffen. Carver kam mit den vollen Kanistern zurück und sah ihren Blick auf die Waffen. „
Es ist gefährlich hier draußen.“ versuchte er die kleine Auswahl seiner Waffen zu rechtfertigen.
„Mein Name ist Lynn.“ sagte sie und ging nicht weiter auf die Waffen ein.
„Es freut mich Sie kennen zu lernen.“ erwiderte Carver.
„Nun, warum sind Sie hier, Lynn?“ fragte er plötzlich und sei Tonfall wurde ernster. Sie drehte sich vom Fenster weg, ihm zu und zuckte mit den Schultern. „Ich schätze es ist in letzter Zeit viel geschehen, und ich musste einfach mal raus.“ sagte sie beiläufig, und er sah erneut die eigenartige Traurigkeit in ihren Augen.
„Und dann komm ich, und Quatsche Sie ständig voll.“ sagte er lächelnd und auch Lynn lächelte. Woher kam diese Skepsis in ihr. Nur weil er ein Fremder war? Er kam zum Angeln her, vielleicht war er Jäger, sein Äußeres schloss diese Vorstellung nicht aus.
„Nein, das macht nichts.“ erwiderte sie. Carver überlegte einen Moment und betrachtete sie, während sie aus dem Fenster sah: „Es scheint ein Sturm aufzuziehen.“ sagte sie und beobachtete das immer dichtere Schneetreiben der Dunkelheit. „Möchten Sie noch auf ein Glas Wein bleiben?“ fragte Carver ruhig. Lynn musterte ihn. Er trug einen grauen Pullover und fuhr sich mit einer Hand durch seine braunen dichten Haare, während er eine Flasche Wein aus dem kleinen Küchenschrank nahm. >>was sind das nur für Gefühle in mir...<< Dachte Lynn, als ihr Blick auf seinen durchtrainierten Bauch fiel, während er nach einem Glas, oben im Schrank griff. „Ich sollte gehen, bevor der Sturm schlimmer wird.“ sagte sie hastig und wollte nach den Beiden Kanistern neben Carver greifen, als er sich wieder zu ihr umdrehte:
„Ich werde sie nicht davon abhalten, aber manchmal wirkt ein Gespräch zwischen Unbeteiligten Wunder. Ich weiß nicht, was Ihnen geschehen ist, aber es scheint Sie zu verschlingen.“ Lynn nickte nur flüchtig, ließ die Kanister zurück und rief ein flüchtiges „Danke“. Carver blieb nachdenklich zurück und sah ihr nach, wie sie durch den hohen Schnee lief.
>>Was ist nur los mit mir... Nichts scheint mehr Sinn zu machen...<< Lynn hatte nach ihrer Rückkehr eine Flasche Bourbon bei der Suche nach etwas zu Essen, in der Küche gefunden. Sie lag auf dem Sofa und starrte auf zwei Spritzen voller Geomas in ihren Händen. Sie dachte an Dakon und Sakuya. Und an den Rest des Teams, und daran was sie wohl gerade tun würden. Naoya und Tetsuya würden wohl gerade eine fremde Welt durchqueren. Wann würden sie wohl wieder zurück sein? Und dann war da noch Shiori. Lynn malte sich aus, wie sie und Sakuya in seinem Apartment zusammen sitzen würden. Vielleicht würden sie lachen, reden oder auch... . Lynn verbot sich den weiteren Gedanken daran. >>Ich kann das alles nicht mehr... ich habe keine Identität... ich bin alleine... << Ihr Blick wanderte erneut über die beiden Spritzen in ihrer Hand. Es verstrich ein Moment, in dem Lynn an Dakon und Serah dachte. Sie stach die Spritze in ihre Pulsadern. >>Vielleicht wird es mich einfach töten... einfach so... kein Schmerz mehr...<< Bilder voller Schmerz, Blut und Schüsse zogen an ihr vorbei. Sie sah Shariev, Serah auf dem Schiff, die Männer die sie zugerichtet hatten. Sakuya hatte gesagt, dass Geomas würde einen normalen Menschen töten. Was würde mit ihr geschehen, würde sie sich die komplette Ampulle spritzen? Noch nie hatte sie sich so verlassen gefühlt. Der Gedanke daran, dass Dakon ihr immer wieder etwas verheimlichte, machte das ganze kein Stück besser. Wo kam sie her? Wer waren ihre Eltern? Sie wurde künstlich geschaffen? Hatte sie dann überhaupt Eltern?
Ein schweres Hämmern gegen ihre Tür riss sie aus den Gedanken. Vor Schreck ließ sie die Spritzen fallen. Sie hastete zur Tür und öffnete sie, um Carver mit den beiden Kanistern vor sich stehen zu sehen.
„Du hast sie vergessen.“ sagte er ruhig und sah ihn Lynns traurige Augen.
„Danke.“ erwiderte sie leise und sah auf den Boden, auf dem sich zwei Blutstropfen ihres Handgelenkes ausbreiteten. Carver hatte sie ebenfalls entdeckt und Blickte Lynn verwundert an.
„Ich habe mich geschnitten.“ sagte sie unsicher.
„Lynn? Was soll das werden?“ fragte er schließlich und sein Ernster Blick suchte ihren.
„Entschuldigung, dass ich vorhin so schnell gegangen bin. Ich wollte nicht unhöflich sein.“ wich sie ihm aus und stellte die Kanister neben die Küche. „Ich habe eine Flasche Bourbon gefunden. Vielleicht kann ich dich jetzt einladen?“ sagte sie. Carver trat ein und schloss die Tür hinter sich.
„Setz dich. Mit Eis oder ohne?“ Carver zog seine Jacke aus und setze sich still und abwartend. Er hob die beiden Spitzen auf und legte sie auf den Tisch. Lynn stand vor ihm mit einem Glas.
„Es ist-“
„Schon gut.“ Unterbrach er sie.
„Gerne ohne Eis, davon haben wir hier schon genug.“ Sagte er lächelnd. Lynn lächelte ebenfalls und gab ihm das Glas. Sie setzte sich neben ihn. Er betrachtete sie einen Moment, wie sie einen Schluck Bourbon nahm. Das Kaminfeuer Knisterte und ab und zu hörte man den Wind, der durch die kleine Hütte fuhr.
„Hast du heute was gefangen?“ fragte Lynn und sah ihn an. Er lächelte und nickte.
„Ja, aber es ist bereits zu kalt für diese Jahreszeit. Sie beißen sonst besser. Für das morgige Abendessen sollte es dennoch reichen.“ Lynn wollte nach den Spritzen greifen, verwarf den Gedanken jedoch. Er hatte sie doch bereits gesehen.
„Und du bist alleine hier hoch gefahren?“ fragte sie dann und sah ihn skeptisch an.
„Ja. Genau wie du.“ antwortete Carver langsam. „
Ich denke...“ er stockte und betrachtete den goldenen Bourbon in seinem Glas.
„... manchmal ist es genau das richtige wegzulaufen. Es gibt Ereignisse... Dinge, die alles auf den Kopf stellen. Manchmal ist es besser auszusteigen. Nur für einen Moment. Um alles wieder neu begreifen zu können.“ Seine Worte klangen weich. Lynn schwieg einige Minuten und nur das Knistern des Feuers war zu hören. „Wovor läufst du davon, Lynn?“ Er sah noch immer auf sein Glas. Lynn holte Luft, schwieg jedoch noch einen Moment.
„Was ist, wenn man sich verliert, in all den Ereignissen... wenn man nicht mehr weiß, wer man ist?“
Carver sah sie an. Sein Blick war ernst aber etwas Weiches lag in seinen grünen Augen.
„Dann sollten wir uns an die Menschen halten, denen wir vertrauen.“ Antwortete er.
„Und wenn wir vergessen haben, wem wir vertrauen können?“ Carvers Blick war nachdenklich. „Dann sollten wir wieder lernen, zu vertrauen.“ Lynn lächelte.
„Was?“ er lächelte ebenfalls.
„Bei dir hört es sich so leicht an.“ erwiderte sie.
„Ja, es ist immer leichter anderen Ratschläge zu geben.“ sein Lächeln verblasste langsam. Es herrschte erneut einige Momente Stille zwischen den Beiden. Carver nahm den letzten Schluck Bourbon.
„Ich weiß nicht, wie lange du bleiben willst. Wenn dir die Decke auf den Kopf fällt, ich bin morgen den ganzen Tag am Fluss. Ich könnte dir zeigen wie man fischt.“ Lynn lächelte bei seinen Worten.
„Ich weiß es noch nicht.“ antwortete sie. Carver nickte und stand schließlich auf um seine Jacke vom Stuhl zu nehmen. „Danke für den Bourbon.“ sagte er und verließ die Hütte. Lynn blieb auf dem Sofa zurück und dachte erneut an Dakon und das Team.
Die Nacht war vorüber gezogen und Lynn hatte zu ihrem Erstaunen mehr als sechs Stunden am Stück geschlafen. Als sie ihre Stiefel anzog bemerkte sie bei dem Blick aus dem Fenster, das es endlich aufgehört hatte zu schneien. Die Sonne schien durch einige Tannen hindurch auf den Holzboden. Sie nahm ihre Jacke und sah auf das Handy das noch immer in der Tasche steckte. Es war ein weiterer verpasster Anruf von Dakon darauf zu sehen. Sie zögerte einen Moment, schaltete es dann jedoch aus und ließ es auf dem Tisch zurück. Aus der anderen Jackentasche holte sie ihre Waffe. Auch sie, legte Lynn auf den Tisch und verließ schließlich die Hütte.
Die Luft war kalt und klar. Der Schnee türmte sich vor der Hütte auf, und Lynn hatte kurz Mühe hindurch zukommen. Sie lief hinter das Haus zum Fort und überprüfte das verbleibende Holz. Es sollte noch für einige Nächte reichen.
Der Weg zum Fluss bestand aus einem Schotterweg der durch den dichten verschneiten Nadelwald führte. Schon vom weiten konnte sie Carver erkennen wie er im Wasser stand und eine Zigarette rauchte. Er hielt seine Angel in der Hand und beobachtete das unruhige, klare Wasser. Sie nährte sich ihm, aber ehe sie etwas sagen konnte, hatte er sich bereits zu ihr umgedreht. Sie lächelte und lief noch einige Schritte über einige Felsen zu ihm hin. „Wie hast du mich bemerkt?“ fragte sie lächelnd und balancierte über den unebenen Untergrund. „Hier sollte man immer wachsam sein.“ Sagte er und warf seine Zigarette weg. Lynns Blick fiel auf die Schrotflinte die er erneut um seiner Schulter trug. „Wegen der Bären.“ fügte er lächelnd hinzu, nachdem er bemerkt hatte, wie Lynn ihn angesehen hatte. Sie blickte schließlich auf einige Köder und einen Eimer mit bereits gefangenen Fischen. „Heute scheint es zu klappen?“ fragte sie und betrachtete das Wasser, in dem er stand. „Ja, aber sie sind recht klein.“ antwortete er. „Zieh dir die Stiefel an, und komm zu mir rüber.“ forderte er sie auf und deutete auf ein Paar schwarze Gummistiefel neben seinen Sachen. Lynn nahm sie verwundert, dass er noch ein Paar für sie mitgebracht hatte, und zog sie an. Sie stieg in das rauschende Wasser. „Nimm die da mit.“ Lynn blickte auf eine weitere Angel am Ufer und nahm sie.
„Hier, nimm Krill als Köder.“ Carver holte einen kleinen Krebs aus einer Dose die sich ins einer Jackentasche befand. „Sind das Schwarzbarsche?“ fragte Lynn und betrachtete die großen Fische unterhalb der Wasseroberfläche, einige Meter von ihr entfernt. „Ja, hast du selbst mal geangelt?“ fragte Carver verwundert. Lynn schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht...“ sagte sie zögerlich und sah in sein fragendes Gesicht. „Du scheinst wirklich Probleme zu haben, nicht mehr zu wissen, wer du bist...“ sagte er dann ruhig. Lynn sah ihn einige Sekunden lang an. „Ja... scheint so...“ fügte sie leise hinzu. „Wenn du einfach ruhig stehen bleibst, kommen sie zu dir. Aber es ist beinahe unmöglich sie mit der Hand zu fangen.“ sagte er dann holte seine Angel langsam ein. „Einen Versuch ist es wert.“ lachte Lynn und gab Carver den Köder zurück. Am Ende seiner Angel hing ein mittelgroßer Barsch den er ans Ufer brachte und ihn behutsam in den Eimer setzte. Danach setzte er sich und beobachtete Lynn, wie sie im Wasser stand und die Barsche beobachtete, jederzeit bereit nach ihnen zu greifen. Die Stiefel waren ihr viel zu groß. Ihre schulterlangen, braunen Haare wehten in dem eisigen Wind der durch die Tannen fuhr und sie leise rauschen ließ.
„Konntest du Renè erreichen?“ fragte Dakon und sah beunruhigt auf das sich erneut aufbauende Funksignal nach Efrafar. „Ja, vor etwa einer Stunde.“ antwortete Serah und griff nach einer Zigarette von Dakon, die neben ihr auf dem Schreibtisch lagen.
„Es sieht nicht gut aus. Tetsuya und Naoya hatten gestern den letzten Kontakt zu ihm. Sie scheinen vor Elaìs in eine Schießerei verwickelt worden zu sein.“ sagte sie und strich sich durch ihre langen Haare. „Wann ist der nächste Kontakt hergestellt?“ fragte Dakon. „In etwa sieben Stunden.“ Antwortete sie. „Dakon, wir müssen Abwarten. Wie ich die Beiden kenne, sind sie gut durchgekommen. Sie können auf sich aufpassen.“ sagte sie und zündete die Zigarette an. Dakon runzelte die Stirn. „Hättest du Lynn mitgeschickt, müssten wir uns nur halb so viele Sorgen machen...“ sagte Rin angespannt als er ins Wohnzimmer kam, und Serah zu ihm aufsah. „Nein. Sie kennt sich dort nicht aus.“ Antwortete Dakon kühl. „Aber sie ist die Perfekte Soldatin. Sie hätte den beiden Schutz gegeben.“ antwortete Rin und begegnete Dakons wütenden Blick. „Die Beiden können auf sich selbst aufpassen.“ erwiderte Serah. „Hört auf. Alle. Lynn ist kein Kanonenfutter.“ Sagte Dakon plötzlich und es herrschte Stille im Raum. „Kein Wunder, dass sie abgehauen ist, das ist ja nicht zum Aushalten.“ sagte Shiori die im Eingang stand und die drei genervt ansah. „Sie ist nicht abgehauen. Sie kommt wieder.“ erwiderte Serah und Rin sah die Sorge in ihren Augen.
„Das war Wahnsinn.“ lachte Carver als er mit Lynn zurück zu seiner Hütte lief. Ihre nassen Haare klebten an ihrem Gesicht. „Du kannst sagen was du willst.“ erwiderte sie lächelnd und hiefte die Angeln über ihre Schultern erneut hoch. „Aber du hast den größten gefangen.“ fügte er hinzu. „Wir sollten uns hier verabschieden, du wirst noch krank.“ sagte er schließlich an einer kleinen Abzweigung. Lynn nickte lächelnd als sie plötzlich das Geräusch eines Autos vernahm. Carver blickte sich hektisch um, als er am Ende des kleinen Schotterweges einen schwarzen Transporter entdeckte. Er und Lynn sahen sich flüchtig in die Augen, ehe sie abseits des Weges hinter einigen Bäumen verschwanden und inne hielten. Lynn sah zu Carver, der einige Meter von ihr entfernt stand und das Gewehr im Anschlag hatte und konzentriert auf den Wagen zielte, der langsam an ihnen vorbei fuhr, in die Richtung von Lynns Hütte. Sie beobachtete die beiden Männer in Uniform die am Steuer saßen. Carver sah fragend zu Lynn hinüber, die ihm ein Zeichen gab, dass er verschwinden sollte. Er schüttelte jedoch nur den Kopf und gab ihr ein lautloses Zeichen abzuwarten. Es dauerte einige Minuten ehe von dem Transporter nichts mehr zu sehen war, und er im Wald verschwunden war. Lynn starrte regungslos in die Weite. „Sucht dich irgendjemand?“ fragte Carver ernst als er auf sie zu kam. Sein Gesicht hatte sich verändert. Von der zuvor gesehenen Ausgelassenheit beim Angeln, war nichts mehr übrig. Sie richtete sich auf und schüttelte den Kopf. „Nein.“ erwiderte sie. „Wir sollten warten, bis sie wieder zurück kommen. Vielleicht war es nur eine Patrouille der Sektorpolizei. Es ist selten das sie hier hoch kommen, aber ein paar mal in den Wintermonaten kommt es trotzdem vor.“ erklärte er und Lynn spürte wie der Knoten in ihrer Brust sich langsam wieder löste. „Warum hast du dich versteckt?“ fragte sie schließlich und sah Carver nervös an, der noch immer konzentriert die Straße beobachtete. „Lange Geschichte.“ Stöhnte er und gab Lynn zügig ein Zeichen sich erneut zu ducken. Der Wagen kam zurück und fuhr erneut an ihnen vorbei.
Das Badewasser war heiß und Lynn tauchte für einige Sekunden unter. >>Carver hat sich mit den selben Zeichen mit mir verständigt, wie ich es gelernt habe... seine Bewegungen...<< Sie tauchte wieder auf und sah aus dem kleinen Badezimmerfenster in die Dunkelheit. Es hatte noch immer nicht. >>Ein Glück, dass die Leitungen wieder frei sind...<< Dachte sie und ließ erneut Wasser in die Wanne nachlaufen. Ihr Blick fiel auf ihr Handy, auf dem Boden, als es kurz aufleuchtete. Sie hatte es wieder angemacht, jedoch signalisierte es ihr soeben, dass der Akku fast leer war. >>Was tut Carver hier oben so allein... ein gemütliches Angel Wochenende...? Aber warum versteckt er sich vor der Sektorpolizei... ich sollte ihn fragen...<< Lynn stieg aus der Wanne und trocknete sich ab.
Es dauerte einige Minuten ehe Carver die Türe öffnete. In der Jagdhütte brannte nur schwaches Licht, aber Rauch aus dem Kamin stieg auf.
Carver sah in Lynns verwunderte blauen Augen, nachdem er aus der Dusche, zur Tür gehastet war. Das Wasser seiner nassen Haare tropfte auf den Holzboden und er fuhr mit seiner Hand durch die dunkelbraunen Strähnen. Ein nasses graues Handtuch war um seine Lenden geschlungen.
„Ich wollte nicht stören.“ sagte sie unsicher, aber er schüttelte nur den Kopf:
„Kein Problem, komm rein.“ sagte er ein wenig außer Atem. Als er einige Schritte rückwärts von der Tür wegging, sah Lynn, wie er seine Schrotflinte auf einen Stuhl warf.
„Ist das dein ernst?“ fragte sie lächelnd.
„Man kann nie wissen hier draußen.“ erwiderte er und drehte sich von ihr weg.
„Hast du wieder einen Bären erwartet?“ fragte sie und wollte sich gerade umsehen, als ihr Blick auf seinen Rücken fiel, an dem schwach das Zeichen der VCO zu erkennen war.
„Du hast mir doch ebenfalls das erste mal die Tür mit einer-“ Er blieb stehen und sprach nicht weiter als er das Klicken seines Gewehres hinter sich vernahm. Er nahm langsam seine Hände hoch.
„Lynn, was wird das?“ fragte er und der Klang seiner Stimme hatte sich verändert.
„Keinen Schritt weiter.“ Sagte sie bestimmend und zielte auf ihn. Ihr schossen tausend Gedanken durch den Kopf. >>Was ist wenn er nur hier ist, weil ihn jemand geschickt hat? Was ist wenn er mich töten soll? Was ist wenn er nach Informationen über Dakon und die UEF sucht? Wusste er das ich hierher kommen würde? Er arbeitet für die VCO....<<
Carver hatte sich während dessen langsam zu Lynn umgedreht. Er sah sie stumm an. „Wer zum Teufel bist du?“ fragte er nach einigen Sekunden.
„Das gleiche könnte ich dich auch fragen.“ sagte sie erbarmungslos. Ihr Blick wich nicht von seinen Augen. „Nimmst du sie nun runter, oder soll das in einem Blutbad enden?“ fragte er und machte eine Handbewegung, dass sie ihm die Waffe geben solle. Er ging einige Schritte auf sie zu. >>Er ist viel größer... wenn er nur annähernd kämpft wie Sakuya habe ich keine Chance... ich muss ihn erschießen... ich werde...<< Ehe sie den Gedanken beenden konnte machte Carver einen Satz nach vorne und trat ihr das Gewehr aus den Händen. Sie wehrte seinen nächsten Schlag ab und griff nach der Waffe in ihrer Jackentasche. Er war blitzschnell. Carver holte aus und ehe Lynn reagieren konnte, flog auch die Waffe über den Boden. Lynn machte einen Satz nach vorne und trat ihn mit voller Wucht weg. Carver schlug mit den Rücken gegen die Wand ehe er nach Lynns Handgelenk griff und sie quer über den Tisch in der Mitte des Raumes warf. Sie blieb hustend auf dem Boden liegen und wollte soeben wieder aufstehen als Carver mit ihrer gezückten Waffe vor ihr stehen blieb und auf ihren Kopf zielte: „Haben wirs jetzt, ja?“ fragte er außer Atem und blickte auf Lynn, die keuchend vor ihm auf dem Boden lag.
„Na los. Erschieße mich schon!“ forderte sie ihn wütend auf und versuchte sich wieder zu beruhigen.
„Was redest du da?“ fragte er und Lynn konnte offensichtliche Ahnungslosigkeit in seinem Blick erkennen. Ihr Puls raste. „Ein VCO Soldat allein im Wald, für ein entspanntes Angelwochenende? Fast hätte ich dir die Geschichte abgenommen!“ sagte sie.
„Und du? Du scheinst auch nicht gerade ein bisschen Judo in deiner Kindheit gemacht zu haben!“ erwiderte er ihr voller Adrenalin. „Meinst du nicht, wenn ich dich hätte töten wollen, wärst du längst tot?“ fragte er schließlich. Es herrschte Stille. „Wo wir wieder beim Vertrauen wären.“ Fügte er nach einigen Sekunden hinzu und warf die Waffe neben Lynn auf den Boden. „Ich bin ausgestiegen. Schon vor Jahren.“ sagte er, dann zog er sein Handtuch ein Stück weiter hoch.
„Ich werde mir jetzt was anziehen. Vielleicht überdenkst du den Plan mich zu töten nochmal kurz.“ sagte er wütend und verschwand im Badezimmer. „Verdammt.“ Fluchte Lynn leise und stand vom Boden auf. Sie nahm die Waffe und legte sie auf den Tisch. Die Bücher die sie bei ihrem Sturz mitgerissen hatte, legte sie ebenfalls zurück auf den Tisch.
Sie saß nachdenklich auf dem Sofa als Carver wieder den Raum betrat und seinen Pullover überzog. „Es tut mir leid.“ sagte sie ruhig und er wandte sich zu ihr.
„Wir leben noch.“ erwiderte er.
„Du scheinst ein echtes Problem zu haben.“ fügte er hinzu und holte aus einer Küchenschublade eine Flasche Whiskey hervor. Seine Stimme klang wieder entspannter.
„Deshalb bist du wohl vorhin in Deckung gegangen.“ stellte Lynn fest und nahm das Glas an, das er ihr reichte. Er nickte: „Hast du ne Ahnung was die mit Leuten machen, die aussteigen wollen? Ich bin ein toter Mann, wenn die Sektorpolizei mich erwischt. Dieses ganze Korrupte System. Ich hab es satt. Deshalb komme ich hierher. Den Fischen ist es egal, wer ich bin.“ Lynn lächelte bei seinen Worten. Er sprach das aus, was ihr solch ein Kopfzerbrechen bereitete.
„Ich weiß was du meinst.“ sagte sie.
„Warum bist du ausgestiegen?“ fragte er dann und setzte sich neben sie.
„Bin ich nicht. Zumindest denke ich das...“ antwortete sie unsicher. Carver sah sie verwirrt an.
„Jedenfalls scheinst du bei ihnen in Gefangenschaft gewesen zu sein.“
„Wie meinst du das?“ fragte sie unsicher. „Das Geomas. Sie geben es Gefangenen um sie ruhig zu stellen. Es wird dein Tot sein, wenn du es weiter nimmst. Ich weiß von einem Kameraden was es im Organismus anrichtet und wie heftig die Entzugserscheinungen sind. Aber wenn es auf Dauer nimmst, ist es dein Tod.“ Erklärte er ruhig. Lynn schwieg nachdenklich
„Warum bist du gegangen?“ fragte sie schließlich und Carver lehnte sich zurück und dachte einen Moment lang nach. „Eine lange Geschichte.“ entgegnete er angestrengt und betrachtete Lynn wie sie aus dem Fenster sah: „Ich frage mich, wie du da raus gekommen bist. Du bist noch so jung... zu jung, als das sie dich auf Außeneinsätze geschickt haben könnten.“
„Ich weiß es nicht mehr.“ erwiderte sie knapp und Carver sah wieder die eigenartige Trauer in ihren Augen. „Und du?“ fragte sie schließlich. Carver schwieg einige Minuten. Es hatte vor dem Fenster erneut begonnen zu schneien. Die Flocken vielen ,weich wie Watte, auf den Fensterrahmen.
„Ich war auf einem Außeneinsatz. Sie hatten mich geschickt um einen Offizier der VCO zu überwachen. Ich war in Jokohama stationiert. Das erste Mal, dass ich Valvar verließ. Meine Tarnung bestand darin sich mit der Tochter des Offiziers einzulassen. Er hieß Hanabusa. Seine Tochter, Elaine, war eine angesehene Strafverteidigerin. Sie arbeitete in Jokohama beim Gericht. Durch sie bekam ich nach und nach die Machenschaften der VCO mit der Sektorpolizei mit. Wie alles miteinander zusammen hing. Als ich endlich genug Informationen zusammen hatte, ließen sie das Komplette Anwesen von Hanabusa und Elaine in die Luft jagen. Ich weiß bis heute nicht, warum ich ihn Überwachen sollte. Es war der Punkt an dem die Rückkehr nach Valvar keinen Sinn mehr für mich ergab. Das Leben einer Familie zu zerreißen, für sinnlose Informationen. Es gab für mich keine VCO mehr.“ Carvers Stimme war wieder ruhiger geworden und er sah Lynn an, die während er sprach den Blick nicht abwenden konnte.
„Du hast dich in sie verliebt, oder?“ fragte sie leise. Carver senkte den Blick und nahm einen Schluck Whiskey. „Ja. Aber das ist jetzt sechs Jahre her.“ antwortete er ausdruckslos. „Das tut mir leid.“ erwiderte Lynn. „Es ist nicht unsere Schuld, dass sie unsere Gene und Fähigkeiten in irgendeinem Reagenzglas zusammen gebastelt haben, um uns zu perfekten Soldaten zu machen.“ fügte er hinzu und betrachtete Lynns schmales Gesicht. Sie sah erneut nach draußen und beobachtete die Schneeflocken die durch die Dunkelheit glitten. „Manchmal sehe ich Fragmente. Sie ziehen wie überbelichtete Polaroidbilder an mir vorbei. Es sind nur Ausschnitte ohne Zusammenhang. Ich sehe mich beim Schusstraining, im Wald, unter Wasser. Aber für mehr reicht es dann doch nicht.“ Während sie sprach starre sie weiter in die Dunkelheit. Er schwieg und betrachtete sie aufmerksam.
„Erzähl mir, wie es war.“ sagte sie dann leise und sah ihn ausdruckslos an.
„Es war anders. Wir hatten für alles feste Zeiten. Schusstraining, Überlebenstraining, Kampfsport, Verhörtechniken, Ausdauertraining. Es gab nichts anderes in unserem Leben. Wir aßen schnell, wir rannten, wir schossen, wir erledigten feindliche Ziele. Wenn man mit uns sprach, waren es die Teamleiter. Lagebesprechungen, Auftragsplanungen. Es bleib kein Raum für etwas anderes. Viele von uns sind nicht weiter als bis zur Grundausbildung gekommen. Sie waren zu schwach, zu krank, fehlerhaft, entbehrlich. Wer nicht mithalten konnte, wurde einer Gehirnwäsche unterzogen. Sie wollte herausfinden woran es lag, das einige besser waren als andere. Es war hart. Wer nicht spurte kam zur Neukonstitution. Sie nahmen dir dein Gedächtnis und alles ging von vorne los. Operationen folgten, Impfstoffe wurden getestet, Kampfmittel erprobt. Wir waren nur Versuchsobjekte. Die Wenigen die so lange durchhielten wie ich, hatten das Glück zu Außeneinsätzen geschickt zu werden. Wer schlau war, tauchte unter und verschwand von der Bildfläche.“
„Hast du noch Kontakt zu anderen von uns?“ fragte Lynn.
„Nein. Ich meide den Kontakt. Du kannst nie wissen, ob sie nicht geschickt wurden um dich zurückzuholen.“
„Und du bist dir sicher, dass du mir vertrauen kannst?“ antwortete Lynn verwundert. Carver betrachtete sie einige Sekunden. Ihre braunen Haare fielen glänzend und weich über ihre schmalen Schultern. Carvers Blick blieb ernst, aber in seinen Gesichtszügen lag etwas Weiches. Beinahe etwas Vertrautes. Sie sah ihm ernst entgegen.
„Es ist das, was ich in deinen Augen sehe. Da ist eisige Kälte. Erbarmungslosigkeit. Und Trauer. Wenn man dir nur lange genug in die Augen sieht, bemerkt man sie.“ Ihre Mimik veränderte sich nicht. „Irgendetwas hat dich aus der Bahn geworfen. Irgendwas ist passiert, und du kommst nicht drüber hinweg.“ Lynn sah weg. In ihr fühlte es sich an, als hätte er soeben in ihr Inneres gesehen. War es möglich, dass jemand nicht nur sah, was sie war, sondern wer sie war? Es fühlte sich surreal an. Sie dachte an Sakuya, an seinen Erbarmungslosen Blick. Seine Augen verrieten lediglich das, was gerade gesagt wurde. Kälte und Erbarmungslosigkeit. Es war keine Spur von Trauer darin. Aber sie kannte diese Augen doch... oder etwa nicht? Sie blickte Carver an. Es war kein spezielles Merkmal an ihm, aber irgendetwas erschien eigenartig Vertraut. Das Summen von Lynns Handy durchbrach die Stille der Hütte und des Schnees. Sie griff in ihre Tasche und sah darauf. „Ich sollte los.“ sagte sie und stand auf. Carver stellte sein Glas auf den Tisch und ging auf die Tür zu. „Ich...“ Lynn wollte etwas sagen, aber als sie sich zu ihm wandte wusste sie nicht mehr was. Ihre Blicke trafen sich und sie schwiegen einen Moment lang. Es war Carvers ruhige Stimme die die Stille beendete: „Wenn du Jemanden brauchst, dem du vertrauen kannst.“ Er reichte ihr eine kleine Karte mit einer Adresse drauf. „Und wenn du mal wieder einfach nur den Kopf frei bekommen willst, ich bin in zwei Monaten wieder hier oben zum Angeln.“ Lynn nahm wortlos seine Karte entgegen und steckte sie ein. „Danke.“ verabschiedete sie sich und ging. Er sah ihr noch nach, wie sie langsam in der Dunkelheit verschwand und schloss die Tür.
13- Armed between to Faces
„Lynn.“ Hörte sie Dakons erleichterte Stimme am anderen Ende des Telefons. „Geht es dir gut?“ fügte er hinzu. „Ja.“ antwortete sie knapp, während sie neben ihrem Motorrad stand und einen letzten Blick in die Dunkelheit der Wälder warf. Sie war bereits ins Tal gefahren. Carvers Jagdhütte war schon lange nicht mehr zu sehen. „Kommst du zurück?“ fragte Dakon und Lynn hörte sie Anspannung in seiner Stimme. „Ja.“ erwiderte sie leise. „Das Team braucht dich.“ antwortet er. „Ist gut.“ sie legte auf und stieg auf ihr Motorrad.
Als sie endlich Nagoya erreicht hatte, war bereits der nächste Tag angebrochen, und die Sonne verschwand wieder langsam am Horizont, als sie die Tür zu Rins Haus aufschloss. Er saß im Wohnzimmer als sie den Raum betrat. „Lynn...“ er stand überrascht auf und legte seine glühende Zigarette in den Aschenbecher. „Wo warst du?“ fragte er sie und sein Erstaunen wandelte sich in in ein Lächeln. „Angeln.“ sagte sie nüchtern und er lachte. „Du Angelst?“ fragte er verwirrt. „Schwarzbarsche in den Bergen.“ erwiderte sie und sah sich um, bis ihr der Monitor mit den Synchronisationsprogramm auffiel. „Was ist das?“ fragte sie und ging näher heran. „Eine Synchronisationssoftware. Sie synchronisiert das Empfangssignal aus Efrafar mit unserem. Es ist langwierig. Nur alle acht Stunden kommt es zum Funkkontakt.“ erklärte er. „Ich glaube ich habe so etwas schon mal in Valvar gesehen.“ sagte sie. Rin sah sie verwundert an. „Wo sind Dakon und die anderen?“ fragte sie schließlich, noch bevor Rin weitere Fragen stellen konnte.
„Sie fangen Tetsuya und Naoya in der Nähe von Kyoto ab.“ Lynn setzte sich. „Kyoto?“ fragte sie. „Ja, dort ist eine der Schnittstellen zu Efrafar. Unsere Welten haben alle ein eigenes Magnetfeld. Stell dir vor, es sei eine Art Paralleluniversum. Dieses Magnetfeld hat unterschiedlich dicke und schwache Stellen. In der Nähe von Kyoto ist eine der schwachen Stellen. Dort ist ein Übergang möglich, wenn man die richtige Technik dafür hat.“ Lynn überlegte während Rin erklärte. „Die VCO und die UEF haben in der Vergangenheit diese Transmitter Serienmäßig entwickelt und hergestellt. Sie sind in jedem Antiquitätenhandel zu bekommen. Im ersten Moment mag man meinen man hätte es mit einer alten Schreibmaschine zu tun, aber sie lassen sich zerlegen und so für den Übergang einsetzte.“
„Aber so kann doch jeder durch die Welten reisen...“ entgegnete Lynn. „Ja, genau das ist das Problem. Der Übergang erfolgt bei jedem Mal anders. Es ist nicht sicher, wo genau man ankommt. Durch die Erdrotation und der, der anderen Ebene ist der Eintrittspunkt ungewiss. Die UEF hat einen Prototypen entwickelt, mit dem sich auf einige Kilometer festlegen lässt, wo der Ankunftsort sein wird. Deshalb wartet das Team verteilt in der Nähe von Kyoto.“ Lynn nickte nachdenklich. „Hat die VCO keine solche Technik?“ fragte sie dann. Rin schüttelte den Kopf. „Nicht das wir wüssten. Aber es reicht auch so, dass sie mit ihren Einheiten ständig die Städte stürmen. Es ist ein reines Glücksspiel, und die UEF in Efrafar ist machtlos gegen die zufälligen Angriffe. Das Gute ist, dass größere Aufkommen von feindlichen Konvois hier sofort auffallen. Und da die UEF hier vor Ort stetig daran arbeitet, die nächsten Aktivitäten einzuschätzen, ist die Gefahr meist vorüber, ehe sie Efrafar erreichen. Schwieriger ist es, wenn sie bereits drüben waren, und Gefangene hierher holen, um sie nach Valvar zu bringen. Denn wie gesagt, der Austrittsort ist außer mit dem Prototypen, nicht bestimmbar.“ Rin drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus und fuhr sich durch die Haare. „Warum habt ihr mir all das nicht schon früher erzählt?“ fragte sie schließlich. Rin sah sie ernst an: „Du hast nicht gefragt.“ antwortete er ausdruckslos. „Wir dachten, wir sollten dich zu Beginn nicht mit zu vielen Informationen überschütten.“
„Was habt ihr mir noch alles verschwiegen?“ fragte Lynn und stand auf. „Dakon sagt immer: Alles zu seiner Zeit. Überfordre dich nicht. Noch ist alles neu, aber du wirst das Ausmaß noch schneller begreifen, als dir lieb ist.“ Er blickte sie an und in seinem Gesichtsausdruck zeichnete sich Besorgnis ab. „Hast du überhaupt geschlafen?“ fragte er schließlich. Lynn sah nur stumm aus dem Fenster und beobachtete die schwache Sonne, die langsam hinter den Häusern verschwand.
„Was kann ich tun?“ Ihre Stimme klang ernst und entschlossen, als Rins Handy schellte und er zügig dran ging: „Was gibt’s?“ fragte er angespannt. Er nickte und packte eine Pistole in das Halfter seines Gürtels. „Wir sind unterwegs.“ Antwortete er.
„Bist du mit dem Motorrad hier?“ fragte Rin und sah Lynn an. Sie nickte. „Gut. Wir fahren damit. Anscheinend hat die Sektorpolizei von unserer Anwesenheit in Kyoto Wind bekommen. Ein Konvoi der VCO und der Polizei ist auf dem Weg zu den anderen. Ein Informant hat Dakon Bescheid gegeben, sie haben den Funkverkehr angezapft. Das kann ein echtes Problem werden!“ Lynn folgte Rin und die Beiden verließen zügig das Haus.
„Schaffen wir es rechtzeitig?“ rief Lynn und behielt die Straße im Auge, während Rin sich angestrengt an ihr festhielt. „Ich hoffe es!“ schrie er zurück.
Die Sonne war bereits untergegangen als die Beiden auf einer Landstraße hielten. Helle Lichtblitze zuckten über den Horizont. „Dakon, wo seit ihr?“ Rief Rin in sein Handy während Lynn konzentriert die Umgebung beobachtete. „Los, sie sind im Hochhausviertel im Süden!“ Lynn nickte stumm und sie fuhren erneut los. Es dauerte nicht lang, bis sie bereits die ersten Hochhäuser sehen konnte und durch die leeren Straßen rasten. „Ecke Siebzigste!“ rief Rin und Lynn bog ab. Nach einigen Metern hielt sie an einer alten Wäscherei und schon das Motorrad in eine dunkle Gasse. „Wir sollten von hier aus zu Fuß weitergehen.“ sagte sie bestimmend. „Es ist nicht mehr weit.“
„Woher weißt du das? Warst du schon mal hier?“ fragte Rin verwirrt und zog seine Waffe während sie durch die Gasse liefen.
„Ich bin mir nicht sicher.“ antwortete Lynn konzentriert.
„Bist du dir nicht sicher ob wir hier richtig sind, oder ob du schon mal hier warst?“ Rins Stimme verstummte als Lynn hinter einer Ecke stehen blieb. Er sah einige schwarze Geländewagen der Sektorpolizei und zwei VCO Soldaten in ihren Uniformen, die mit Funkgeräten vor einem großen Hotel standen.
„Reicht dir das?“ fragte sie leise und zog ebenfalls ihre Waffe. Rin beobachtete das Treiben einen Augenblick lang. „Sind sie da drin?“ fragte Lynn und sah ihn an, in der Hoffnung, dass er ihre Frage positiv bestätigen würde. Er sah auf sein Handy und öffnete eine Mitteilung von Dakon. „Sie sind auf dem Dach. Tetsuya und Naoya sind angekommen.“ Die Beiden traten wieder in die Gasse zurück. „Was jetzt?“ fragte er unsicher und beobachtete Lynn wie sie ruhig ihre Waffe lud. „Wir legen die Typen um.“ sagte sie leichtfertig und spürte Rins entsetzen Blick: „Da drüben stehen drei Geländewagen, was meinst du wie viele noch da drinnen sind?“ erwiderte er zynisch und Angst machte sich in seinem jungen Gesicht breit. „Dakon und der Rest ist auch noch da. Wir werden mit ihnen fertig.“ entgegnete ihm Lynn. Er überlegte einen Moment. „Wir sollten uns beeilen. Wenn sie wissen, dass sie dort sind, kommt sicher bald Verstärkung!“
„Okay... dann los!“
Zwei dumpfe Schläge durchbrachen die Nacht und die beiden Soldaten gingen lautlos zu Boden, während Lynn einem von ihnen das Funkgerät abnahm. Sie nickte Rin zu, der hinter einem Transporter Schutz suchte. Da war sie wieder: die Soldatin die Rin in ihr erkannte. Professionell, schnell und furchtlos. Sie rannten lautlos durch die Dunkelheit zu einem kleinen Seiteneingang den Lynn entdeckt hatte. Rin stieß die Tür auf, und sie gelangten in den Posteingang des Hotels.
„Ihr bleibt hier, Sakuya und ich überprüfen das Treppenhaus.“ rief Dakon leise und verschwand mit Sakuya aus einem der Suiten im oberen Stockwerk.
„Was für ein scheiß Ort für einen Übergang.“ Fluchte Tetsuya und lud seine Waffe. Shiori stand am Fenster und strich sich ihre Haare aus dem Gesicht während sie den Parkplatz des Hotels im Auge behielt. „Wie geht es Renè?“ fragte sie leise und sah zu Tetsuya der sich eine Zigarette anzündete. „Er kann es kaum erwarten, dass du endlich wieder zurück kommst.“ erwiderte er ruhiger und sah zu Naoya der neben der Tür stand und auf ein Zeichen von Dakon wartete. „Du fehlst in ihrem Team.“ fügte er hinzu, als Naoya ein Zeichen gab, dass sie Dakon und Sakuya folgen sollten.
Lynn und Rin waren in die oberen Etagen vorgedrungen. Von Soldaten oder der Sektorpolizei fehlte jede Spur. Sie standen vor einer Sicherheitstür, die Lynn mit voller Wucht auftrat. Sie sah einen Schatten über den Flur huschen und hatte ihre Waffe im Anschlag. Rin folgte ihr und sicherte konzentriert den Weg der hinter ihnen lag. Ein leises Rascheln war zu hören und schließlich das Geräusch einer Waffe die nachgeladen wurde. Lynn blieb vor einem Gang stehen und hielt einen Moment inne, um Rin das Zeichen eines Angriffs geben zu können. Er nickte stumm als plötzlich jemand um die Ecke trat und die Hände hoch hielt:
„Lynn?“ Serah stand ihr atemlos gegenüber.
„Gott sei Dank...“ entgegnete sie erleichtert und nahm ihre Waffe runter.
„Was machst du hier?“ Serah wischte sich den Schweiß von der Stirn und lockerte ihre Kugelsichere Weste. „Ich habe Dakon und die anderen bei einem Angriff weiter oben verloren.“ keuchte sie.
„Geht es dir gut?“ fragte Lynn besorgt und Serah nickte. Es stand außer Frage, dass Lynn Dakons Frau bereits in ihr Herz geschlossen hatte. Sie schien eine der wenigen zu sein, die Lynn gegenüber aufrichtig war. Trotzdem sie ihre Tochter verloren hatte, und drei Jahre lang in Gefangenschaft der VCO überleben musste, stand sie diesem Team stets zur Seite. Ihre Hoffnung und ihr Frohmut allem voran.
Es fielen Schüsse und die Drei zuckten zusammen, als bereits Dakon und der Rest des Teams, den Treppenzugang hinunter gerannt kamen. „Los, weg hier!“ Schrie Tetsuya und feuerte einige Schüsse aufwärts ab. Sie rannten weitere Treppen hinunter bis in die erste Etage. „Von unten kommen noch mehr!“ bemerkte Lynn die herannahenden Stimmen und die schweren Schritte unterhalb des Treppenhauses.
„Wir verschwinden über die Feuerleiter!“ reif Dakon und stieß die Tür zu einem Zimmer auf, in dem sie ihm folgten. Lynn entfernte sich langsam, mit der Waffe im Anschlag von der Tür, während Dakon eines der Fenster öffnete. In den Gängen waren laute schreie der Gäste zu hören. Sakuya stand ruhig neben Lynn und zielte auf die Tür, während die anderen aus dem Fenster, die Feuerleiter bestiegen. „Kommt!“ Rief Shiori und sah zu Sakuya und Lynn, als plötzlich die Türe aufflog und Schüsse fielen. Lynn und Sakuya feuerten ihre Magazine mitten in die Gruppe der Soldaten.
„Wir müssen hier weg!“ schrie Shiori erneut und merklich hysterisch. Gerade wollte sie wieder nach ihrer Waffe greifen, als sie eine feindliche Kugel an der Schulter erwischte und sie gegen eine Wand warf.
Lynns Magazin war leer und sie warf die Waffe weg, um sich auf die Beiden verbliebenen Soldaten stürzen zu können, die auf sie zu kamen. Sie holte aus und trat einen von ihnen zurück in den Flur. Ein weiterer stürzte sich auf Shiori, während Sakuya auf den Soldaten im Flur schoss. Lynn reagierte schnell und schlug dem Mann mit voller Wucht ins Gesicht, so dass er neben Shiori fiel, die sich keuchend die Schulter hielt. „Los jetzt!“ Rief Sakuya und verschwand mit den Beiden Frauen durch das Fenster.
„Das hätte nicht passieren dürfen.“ Fluchte Naoya während er Shiori in Dakons Geländewagen, außerhalb der Stadt, half.
„Wir leben alle.“ erwiderte Serah und zog ihre Weste aus.
„Ja, aber wir können nicht alles riskieren.“ entgegnet Shiori mit schmerzverzerrtem Gesicht.
„Hättet ihr gesehen was wir gesehen haben, wüsstet ihr, dass es das wert war.“ sagte Tetsuya und nahm eine Zigarette aus Dakons Schachtel, die er ihm hin hielt.
„Habt ihr eine Ahnung wie es ist Jemanden zu verlieren, und nie seine Leiche zu Gesicht zu bekommen?“ fragte Naoya: „Der Transfer war es wert, die Leichen zu den Familien zu bringen.“
Shiori schwieg betreten und sah zu Lynn hinüber, die von ihrem Motorrad kam.
„Du hast mir vorhin wohl den Hintern gerettet.“ bedankte sie sich widerwillig, als Lynn die kleine Gruppe erreicht hatte. Ein stummes Nicken folgte von ihr, denn sie sah zu Sakuya, der einige Meter entfernt stand und telefonierte.
„Du bist verdammt schnell.“ fügte Shiori hinzu und Lynn drehte sich zu ihr um: „Keine Ursache.“ sagte sie leise und abwesend.
„Es ist gut, dass du wieder da bist.“ Rins Stimme klang erleichtert und seine Lippen formten sich zu einem schwachen Lächeln.
„Ich habe gerade mit Jenny Sheppard telefoniert, sie sagt, sie hätte lang nichts mehr von Tobias gehört. Es ist unwahrscheinlich, dass die VCO es geschafft hat, unseren Funkverkehr zu überwachen. Sie meint, es wäre möglich, dass sie ihn haben und damit den Funkkontakt nachvollziehen konnten.“ Sagte Sakuya und sah zu Dakon, als er näher kam. „Das wäre ein Kollateralschaden.“ antwortete Dakon sichtlich angespannt. Lynn sah Sakuya an. Sie hatte seine Stimme vermisst. Es tat gut sie wieder zu hören. Und es tat gut wieder in seiner Nähe zu sein. „Wir sollten fahren.“ sagte Serah entschlossen und stieg in den Wagen. Wenn es wirklich so war, wie Jenny Sheppard, eine der anderen Teamleiterinnen es vermutete, dann wäre der Verlust von Tobìas, der ebenfalls als Teamleiter bei dem Treffen neulich dabei gewesen war, tatsächlich eine Katastrophe. Gerade nachdem das Treffen der Teamleiter erst so kurz zurück gelegen hatte. Er hatte eine Menge Informationen über die gesamte UEF, da war sich Lynn sicher. Wäre er nun in den Fängen der VCO gelandet, so hatte sie selbst als ein Teil der UEF, ernste Konsequenzen zu befürchten.
Lynn kam in ihr Apartment und warf die Jacke auf das Sofa. Alles schien unverändert. Sie betrachtete einige Minuten das Bett und stand regungslos davor. >>Schlafen...<< Dachte sie abwesend, als sie wieder an Shioris schmerzverzerrtes Gesicht denken musste. Bilder von Sakuya zogen an ihr vorbei. >>Vielleicht sollte ich noch zu ihm fahren...<< Sie blickte auf die Uhr. Es war weit nach Mitternacht. >>Ob er noch wach ist...<< Sie ging zurück ins Wohnzimmer und nahm ihre Jacke. Sie brauchte Antworten, dringend. Das Gefühl in ihr, das Gefühl der Leere und der Unwissenheit nahm immer stärker zu. Wenn jemand die Antworten auf ihre Fragen kennen würde, dann wäre es sicherlich Sakuya. Zumindest bestand bei ihm die geringe Chance, dass er ihr etwas sagen würde. Dakon hingegen, hatte sie bereits abgeschrieben. Er würde nur wieder damit argumentieren, dass sie sich gedulden solle, und abwarten müsse, bis die Zeit gekommen wäre. Welche Zeit eigentlich? Für was?
Auf dem Parkplatz vor dem „Takadi Inn“standen nur wenige Wagen. Es dauerte einige Sekunden bis Lynn einen charakteristischen schwarzen Geländewagen entdecken konnte, den sie bereits bei einigen Ihrer Einsätze gesehen hatte. Er würde sicherlich Sakuya gehören, da war sie sich sicher.
Lynn fuhr einige Meter weiter und stieg ab. Es war ruhig und die Luft lag kalt und schwer in ihrer Lunge, als sie die Einfahrt hoch lief und verwundert stehen blieb. Sakuya und Shiori standen vor dem Hotel und redeten miteinander. Sie lächelte, während er seine Zigarette wegwarf. Lynn beobachtete die Beiden einige Sekunden, ehe sie zusammen in der großen Lobby verschwanden. >>Eine tolle Idee hatte ich da...<< dachte Lynn ernüchtert und machte sich auf den Heimweg. Sie konnte ihn nicht bei den Einsätzen Fragen. Dakon würde das Ganze sicherlich mitbekommen. Zudem musste sie konzentriert und fokussiert bleiben. Bei dem Gedanken an ein Gespräch mit Sakuya, kam ihr dieser Vorsatz absurd vor. Er brachte sie ständig aus dem Konzept.
Lynn war in den Morgenstunden endlich eingeschlafen, als ein Anruf von Dakon sie wieder weckte. Er hatte sie zu Rin zitiert und etwas von Jenny Sheppard und dem vermissten Tobias erwähnt. Lynn zog sich müde ihre Schwarze Jacke über und fuhr los. Sie hatte die Nacht noch lange über die verschiedensten Dinge gegrübelt und nur wenig Schlaf gefunden. Warum schien es sie eigentlich so aufzuwühlen, dass Sakuya mit Shiori gesprochen hatte? Sie war doch „nur“ eine alte Freundin, erinnerte sie sich an Serahs Worte aus der Bar. Auch war ihr wieder das Bild, von dem blutigen Damenoberteil eingefallen, welches sie bemerkt hatte, nachdem sie das letzte Mal Sakuya aufgesucht hatte, nachdem sie von Doktor Shenker kam. Hing das alles miteinander zusammen? Kopfschüttelnd versuchte Lynn die Gedanken abzuwenden, das alles war an den Haaren herbeigezogen. Sie sollte sich besser wieder auf das wesentliche konzentrieren, dachte sie, während sie ihr Motorrad ins Rins Einfahrt lenkte.
Dakon und die anderen saßen im Wohnzimmer. Als sie hinzu stieß, diskutierten sie bereits lautstark.
„Geht es dir gut?“ fragte Tetsuya besorgt als Lynn sich an eine Wand lehnte um dem Gespräch zu folgen. Die anderen verstummten allmählich. Lynn nickte nur stumm.
„Gut. Wir können also festhalten, dass es am wahrscheinlichsten ist, dass Tobias noch in Tokio festgehalten wird. Ansonsten hätte sein Team gestern keine Nachricht bekommen. Es sei denn, man hätte ihn bereits nach Valvar überführt, was jedoch zu aufwändig wäre, nur um Informationen aus ihm heraus zu bekommen.“ Fasste Rin nochmals lautstark zusammen.
„Wenn er bereits geredet hat, ist das ein echtes Problem.“ ergänzte Shiori. Lynn betrachtete sie einen Augenblick lang. Ihre langen blonden Haare lagen glänzend auf ihren Schultern, über die sie eine weiße Bluse trug. Darunter war deutlich der Verband der Schusswunde, an ihrer Schulter, zu erkennen. Ihre Lippen glänzten in einem zarten rosè. >>Sie ist wirklich schön...<< dachte Lynn und sah zu Sakuya rüber, der am Fenster stand und sie ebenfalls ansah. >>Ob er mit ihr geschlafen hat?<< Tetsuya stieß Lynn an, und sie sah überrascht in die Menge.
„Hast du verstanden?“ Wiederholte Dakon seine Frage und sah sie ungeduldig an.
„Tut mir leid. Worum ging es?“ erwiderte sie und strich sich nervös durch ihre Haare. Warum dachte sie in solch einem wichtigen Moment schon wieder über solch Trivialitäten nach?
„Wir fahren heute Nacht nach Tokio. Serah bleibt hier und regelt mit den anderen Informanten den Informationsfluss. Es gibt nur einen Ort, wo Tobias sein kann, wenn sie ihn verhören wollen. Tetsuya, Shiori und Naoya übernehmen die Außenposten. Sakuya, Rin, du und ich, wir stürmen.“ erläuterte Dakon nochmals verärgert. Lynn nickte nur stumm und sah aus dem Fenster.
„Furgosons Team ist ebenfalls informiert. Sie kommen hinzu.“ rief Serah kurz in die Runde, und widmete sich schließlich wieder dem Gespräch am Telefon. Dakon sah auf sein Handy:
„Jenny Shapperds Team kommt ebenfalls. Wir werden heute Nacht alles auf eine Karte setzten. Kriegen sie von Tobias die Informationen die sie brauchen, war es das. Heute Nacht geht es um die gesamte UEF.“ Seine Worte klangen mahnend. „Wir sehen uns um 21:00 Uhr. Ich erwarte euch in Uniform.“ fügte er hinzu und sah in die Gesichter seines Teams.
Lynn stand in der Küche und nahm sich einen Becher Kaffee als Rin zu ihr kam. „Hey, ist alles okay bei dir?“ fragte er und Lynn wandte sich zu ihm um. „Du siehst müde aus... hast du überhaupt mal geschlafen?“ Er musterte ihr Gesicht. „Ich habs nicht so mit dem Schlafen.“ sagte sie leise und lächelte schwach. „So kannst du heute Abend nicht dort auftauchen.“ seine Stimme klang besorgt. „Mach dir keine Sorgen. Ich bin ein Super Soldat. Schon vergessen? Ich war Tagelang in Wäldern unterwegs, ohne Wasser oder Nahrung, und ohne Schlaf.“ Sie stockte und sah in Rins verwunderte Augen: „War das gerade eine Erinnerung?“ Lynn nickte unsicher über das, was sie da gerade gesagt hatte. „Ja... ich glaube schon...“ fügte sie hinzu. „Noch was?“ fragte er überrascht und es herrschte einen Moment lang Stille, während Lynn angestrengt in die Leere blickte. „Ja... ich hatte ein Messer bei mir... hinter mir waren Stimmen und Schüsse zu hören... aber...“ sie sprach nicht weiter. „Was aber?“ fragte Rin aufgeregt. „Nichts. Da ist nichts mehr... nur noch Dunkelheit...“ ihre Worten hallten leise und niedergeschlagen durch die große Küche. Rin legte seine Hand auf ihre schmale Schulter: „Lass den Kopf nicht hängen... es kommt wieder. Lass dir Zeit.“ Lynn nickte stumm und überlegte noch einige Momente, wie viel Zeit wohl noch vergehen müsste.
„Hey, ist alles okay?“ fragte Tetsuya besorgt als er Lynn, auf dem Rücksitz von Dakons Transporter, beobachtete wie sie verschwitzt die Uniform der UEF auszog. „Ja.“ sagte sie heiser und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Du wirst doch nicht etwa krank?“ harkte er nach und Rin sah zu den beiden rüber. „Ich denke nicht. Man, mir ist schon den ganzen Tag so heiß.“ erwiderte sie während sie sich zurück fallen ließ. „Nicht dass du dich bei dem Angel Wochenende erkältet hast.“ fügte Rin lächelnd hinzu. Sie rollte die Augen und ging darüber hinweg, während ihr die Bilder von Carver wieder durch den Kopf schossen. Wie er nass und mit freiem Oberkörper vor ihr gestanden und sie angesehen hatte. Sie schüttelte den Kopf. >>Ich muss mich konzentrieren...<<
Dakon stand vor seinem Team und gab noch einige letzte Anweisungen zur Positionierung. Während er auf die Lagepläne, die er auf einer Motorhaube ausgebreitet hatte, deutete, ließ Lynn das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Sie sah in die Dunkelheit und erblicke Sakuya der an einem weiteren Transporter lehnte und den Qualm einer Zigarette in die eisige Nacht blies. Sein Blick haftete an ihr, bis Shiori zu ihm kam und ihm etwas sagte.
„Habt ihr alles verstanden?“ fragte Dakon laut und sein Team nickte. „Kein Funkkontakt. Keine Handys.“ Fügte er hinzu. Serah stand unmittelbar neben ihm und sah nachdenklich aus:
„Wenn etwas passiert, ich werde hier bleiben und den Funkkontakt mit den anderen Teams führen. Sie warten im Norden. Sobald ihr drin seit, keine Kommunikation mehr.“ fügte sie schließlich hinzu. Lynn bewunderte ihren Ehrgeiz. Taff strich sich Serah einige Strähnen aus dem Gesicht und kam zu Lynn. „Versprich mir, dass du auf dich auf passt.“ sagte sie und Besorgnis klang ihrer Stimme bei.
„Ja. Uns wird nichts geschehen.“ erwiderte Lynn und spürte Serahs warme Hände an ihren schmalen Wangen. „Es wird alles gut gehen. Wir werden die UEF schützen, und Tobias dort raus bekommen.“ sagte sie leise und sah Lynn in die Augen. Sie nickte. Für einen Moment war wieder dieses Gefühl in ihr. Eine Familie. Sie war Teil einer Gemeinschaft. Nicht nur irgendjemand. Sie wurde hier gebraucht.
„Los, los, los!“ rief Dakon und lotse Naoya, Shiori und Tetsuya unterhalb einer Brücke entlang, um dann auf den Rest zu warten. „Positioniert euch so weit oben wie nur möglich. Ihr müsst alles Überblicken können! Habt auch ein Auge auf die anderen Teams.“ befahl er und die Drei verschwanden in der Dunkelheit. „Los, weiter!“ Rief Sakuya und Lynn folgte ihm, unterhalb der Brücke entlang, bis sie hinter einer großen Lagerhalle zum stehen kamen. „Dort hinten muss es sein.“ sagte Rin leise und deutete auf einige Soldaten die um eine weitere Lagerhalle patrouillierten. Das Gelände wirkte großflächig aber unüberschaubar vom Boden aus. Neben einem üppigen Fuhrpark aus Polizeifahrzeugen der Sektorpolizei, standen ebenfalls etliche schwarze Transporter herum.
„Wir bleiben in Deckung, und versuchen keine Aufmerksamkeit zu erregen. Wenn Jemand im Weg ist, räumt ihn bei Seite!“ Dakons Worte hatten einen aggressiven Unterton. Lynn konnte die Anspannung in seinem Gesicht sehen, während er mit einem Nachtsichtgerät die Umgebung beobachtete. „Rin du bleibst bei mir! Lynn und Sakuya ich überlasse die ersten Wachen euch. Ihr seit besser im Nahkampf als wir.“ Befahl er nervös. Lynn nickte und folgte Sakuya der sich seinen Weg über den asphaltierten Platz, im Schutze der Dunkelheit bahnte. Tetsuya beobachtete von einem anliegenden Dach, wie die Beiden hinter einem Transporter, unmittelbar vor den Wachen, an einem Eingang zum stehen kamen und inne hielten. Er blickte angestrengt durch das Visier seines Gewehres und zielte auf einen der drei Männer.
Serah saß derweilen im Auto und beobachtete auf dem Laptop, auf ihren Knien, einige Überwachungsbilder der Umgebung. Sie konnte nichts auffälliges entdecken. Sie hatte sich mit Rins Hilfe im Vorfeld bereits in den Server der lokalen Sektorpolizei hacken können, und parallel liefen nun falsche Überwachungsbilder.
Sakuya wollte Lynn ein Zeichen geben, als er sah wie sie ihre Handschuhe auszog.
„Ist alles in Ordnung?“ fragte er ungewohnt besorgt und ging einige lautlose Schritte auf sie zu. Im Schein der umliegenden Lichter sah er wie ihr der Schweiß auf der Stirn stand.
„Wenn du nicht kämpfen kannst, geh zurück zu Serah.“ befahl er leise, aber seine Worte klangen hart.
„Mir geht es gut.“ erwiderte Lynn. Es machte sie wütend, dass er an ihr zweifelte. Für einige Sekunden herrschte Stille, und Lynn war sich sicher in Sakuyas prüfenden Blick Besorgnis gesehen zu haben.
„Hier, nimm die.“ sagte er schließlich und reichte ihr zwei Tabletten aus seiner Jackentasche.
„Was ist das?“ fragte sie leise.
„Nimm sie einfach.“ Lynn blickte noch einige Sekunden verwirrt in Sakuyas ernstes Gesicht und schluckte sie schließlich. „Das geht wieder vorbei.“ fügte er hinzu und sie war sicher, etwas in Sakuya`s Augen zu sehen, was sie verstörte. Es war Ernsthaftigkeit aber es schien als wäre da noch etwas, was sie nicht einordnen konnte. „Na los jetzt.“ sagte er dann und verschwand hinter der Motorhaube des Wagens. Was folgte waren zwei dumpfe Schläge und ein leises Ächzen. Lynn schlich zur anderen Seite des Wagens bis sie einen weiteren Wachmann sehen konnte, der mit dem Rücken zu ihr stand und anscheinend neben dem Halleneingang Wasser ließ. Sie nährte sich ihm lautlos und es folgte das Geräusch eines brechenden Genicks. Der Mann ging lautlos zu Boden und Lynn zog seinen leblosen Körper mühevoll unter den Transporter, hinter dem sie zuvor noch gewartet hatte. Sie blickte sich um und konnte Sakuya in der Dunkelheit neben dem Eingang erkennen. „Gut gemacht.“ Hörte sie Dakons Stimme hinter sich, der mit Rin angelaufen kam. Es folgte ein dumpfer Schuss und in unmittelbarer Nähe ging ein weiterer Wachmann durch Tetsuyas Schuss zu Boden.
Die Eingangstür öffnete lautlos und Dakon winkte sie hindurch. Es brannte helles Neonlicht im Inneren des kleines Vorraumes. Sakuya stand bereits an der nächsten Türe, seine Waffe im Anschlag und horchend ob dahinter Stimmen zu hören waren. Lynn nährte sich ihm und er gab ihr prompt ein lautloses Zeichen, dass sich Männer dahinter befanden. „Tobias Schutz hat oberste Priorität.“ Erinnerte Dakon nochmals leise und lud sein Sturmgewehr. Mit einem festen Tritt von Sakuyas, flog die Tür nach außen auf, und Lynn blickte in die erschrockenen Gesichter einiger Wachleute. Es waren Sekunden, in denen die Vier angriffen und alles nieder mähten, als wären es Schaufensterpuppen.
Ihr Standort erwies sich als riesige Halle, in der schwere Maschinen standen, die vermutlich einmal zur Kohlegewinnung gedient hatten. In einigen Ecken standen große Tische mit Lageplänen und Waffen darauf. Alles wies darauf hin, dass es sich tatsächlich um einen Unterschlupf der VCO handelte.
„Los, wir müssen Tobias finden!“ sagte Dakon harsch und warf einige Unterlagen vor Wut von den Tischen. Lynn sah zu Rin hinüber und konnte an dessen Gesichtsausdruck erkennen, dass auch er sichtlich überrascht von Dakons Wutausbruch war.
>>Es wäre auch zu einfach gewesen, wenn er hier wäre...<< dachte sie und folgte Sakuya, der hinter einigen Kesseln verschwunden war. >>Komisch... mir ist gar nicht mehr so heiß...<< dachte Lynn und fühlte an ihrer Stirn.
„Was ist hier los?“ hörten sie plötzliche eine vertraute Stimme und gingen in Deckung.
„Was zum Teufel....“ es war blankes Entsetzten darin.
„Sir, wir hatten vor zehn Minuten noch Funkkontakt!“ erwiderte eine weitere Stimme.
„Jemand muss noch hier sein!“ fügte eine andere Stimme hinzu.
„Sucht sie, verdammt nochmal!“
Lynn kletterte leise eine verrostete Leiter, auf einen alten Kessel, hinauf. Sie konnte zwei Soldaten entdecken die mit ihren Gewehren im Anschlag, langsam durch die Halle liefen. >>Shariev!<< beinahe hätte sie einen leisen Schrei von sich gegeben, als sie sah wie er mit seiner Waffe angespannt die Halle absuchte. Ihr Blick fiel zu Dakon und Rin, die sich hinter einem weiteren Kessel, am Boden, versteckt hielten. Ihr Blick wanderte weiter durch die Halle. Eine weitere Tür, im hinteren Ende öffnete sich kurz, und sie konnte in das Gesicht von Furgoson sehen, der die Gefahr augenblicklich erkannte und die Tür lautlos wieder schloss.
>> Das ist gut... sie sind auch hier...<< Dachte Lynn erleichtert und zog sich langsam auf einen eisernen Vorsprung am oberen Rand des Kessels zurück. Als sie hinunter sah, konnte sie Sakuya im Schatten entdecken, der Shariev im Visier hatte, welcher sich langsam Dakon und Rin nährte.
>>Er wird sie entdecken... sie haben keine Chance... Sakuya steht in einem ungünstigen Winkel...<< Sie sah erneut zu ihm hinunter und begegnete seinem konzentrierten Blick. Er signalisierte ihr, dass sie Shariev ablenken müsse. Sie überlegte einige Sekunden und plötzlich nahm sie eine Stimme im Geiste wahr: >>Manchmal ist die offensichtlichste, die beste Taktik um einen Gegner zu eliminieren.<<
„Shariev.“ hallte eine Stimme durch die Halle.
Rin sah in Dakons verwirrtes Gesicht, der ihm klar machte, dass er weiter in Deckung bleiben sollte.
„Shariev.“ ertönte die Stimme erneut und Lynn ließ sich von dem Vorsprung fallen und trat aus der Dunkelheit. Sie hatte die Jacke mit dem Wappen der UEF, auf dem Vorsprung, liegenlassen.
„Lynn.“ antwortete Shariev ihr gespannt und zielte mit seiner Waffe auf sie. Er hatte die Richtung zu ihr eingeschlagen und entfernte sich nun langsam aus Dakons und Rins Richtung.
„Ich werfe sie weg.“ sagte Lynn leiser und warf ihre Waffe vorsichtig weg. Ihre Hände hielt sie auf Schulterhöhe, so dass Shariev ihre Handinnenflächen betrachten konnte.
„Wir wissen Beide, dass du auch ohne Waffen gefährlich genug bist.“ sagte er und schmunzelte. Sakuya sah zum anderen Ende der Halle, und merkte noch gerade eben, wie die beiden restlichen Soldaten, von Furgoson, lautlos durch die Tür gezogen wurden.
„Du willst mir doch nicht sagen, dass du alleine hier bist?“ lachte Shareiv mit seinem arabischen Akzent. Lynn sah ihm angestrengt entgegen: „Ich bin alleine hier.“ antwortete sie standhaft. Er stand nur noch einige Meter von ihr entfernt: „Tun wir mal so, als würde ich dir glauben.“ sagte er belustigt und musterte sie.
„Was willst du?“ fügte er hinzu und sein Gesichtsausdruck wurde wieder ernster.
„Ich will Tobias.“ antwortete sie fest entschlossen, und nahm langsam die Hände herunter.
„Was hast du mit Tobias zu schaffen?“ Shariev dachte kurz nach, dann lächelte er.
„Ach ja, du gehörst zur UEF, zu Dakon und dem anderen Abschaum.“
„Boss, ich hab ihn im Visier!“ flüsterte Rin leise, aber Dakon senkte den Lauf seiner Waffe. „Wenn wir ihn lebend bekommen, haben wir mehr gewonnen. Er hat Informationen.“ erwiderte Dakon ernst und versuchte wieder dem Gespräch zwischen Lynn und Shariev zu folgen.
„Ich könnte schwören, Sakuya Kira wäre hier.“ bemerkte Shariev und lief einige Schritte um Lynn herum. „Er ist nicht hier. Ich bin allein.“ wiederholte Lynn.
„Ich bin dahinter gekommen, was geschehen ist. Und dass die UEF mich nur benutzen wollte. Ich bin ausgestiegen.“ sagte sie und musterte Sharievs Schrammen im Gesicht.
„Natürlich.“ lachte er und blieb endlich vor Lynn stehen.
„Was ist mit deinem großen Beschützer?“ fragte er dann. Aber Lynn antwortete nicht.
„Ich will Tobias.“ wiederholte sie laut. Shariev strich sich nachdenklich durch die Haare. Sie schien ihm tatsächlich zu vermitteln, dass sie aus der UEF ausgestiegen sei. Er fraß ihren Köder, das bestärkte sie nur mehr.
„Und dann?“ fragte er noch immer lächelnd.
„Wenn ich ihn habe, komme ich an die Informationen die, die UEF zu Fall bringen werden. Damit meine Welt weiter existieren wird. Damit Valvar überlebt.“ In ihrer Stimme klangen Entschlossenheit und Hass zugleich mit, das hatte auch Shariev mitbekommen, und er senkte langsam seine Waffe.
„Wir werden sehen...“ sagte er und ein lauter Schuss hallte durch die Halle. Lynn fiel stumm auf ihre Knie. Es verstrichen einige Sekunden in denen sie keuchend inne hielt, und mit ihrer Hand auf die Kugel in ihrer Schulter presste.
„Scheinbar ist wirklich niemand hier.“ bemerkte Shariev zufrieden. Entgegen seiner Erwartungen, war Niemand gekommen, um Lynn zur Hilfe zu eilen. Dennoch sah er sich nochmals um, während Lynn langsam wieder vom Boden aufstand.
„Komm mit. Ich werde dir etwas zeigen.“ Überzeugt von Lynns Wahrheit lief er an ihr vorbei. Sie warf einen flüchtigen Blick zu Sakuya, der noch immer im Schutze des Kessels stand und ihr mit einem Nicken signalisierte, dass sie Shariev folgen solle.
„Du hast es also endlich erkannt, welche Welt deine ist.“ stellte Shariev fest, während er, am anderen Ende der Halle, eine kleine Treppe hinunterlief.
„Ja. Sie haben mich erschaffen. Valvar ist meine Welt. Ich werde nie, wie die anderen sein.“ sagte sie wütend und hielt sich die Schulter, während sie Shariev folgte. Sie liefen durch einen langen schmalen Gang, durch den sich alte Heizungsrohre schlängelten.
„Haben Dakon und Sakuya dir nun endlich die Wahrheit gesagt... .“ sprach er weiter und blieb vor einer kleinen Tür stehen.
„Was ist dahinter?“ fragte Lynn angespannt.
„Lass dich überraschen.“ erwiderte Shariev und wollte gerade die Tür öffnen, als Lynn ihn mit voller Wucht dagegen trat. Er stieß einen tiefen Schrei aus, als sie ihm mit einem gezielten Griff, den linken Arm brach. Er trat nach ihr, und erwischte sie am Bein, so dass sie zu Boden fiel. Er wollte seine Waffe mit der anderen Hand ziehen, doch Lynn trat sie hektisch weg.
„Du wirst sehen was du davon hast!“ schrie er und warf sich auf sie. Drei Schläge trafen sie im Gesicht und Lynn hatte das Gefühl den Verstand zu verlieren, als Sharievs Fäuste hart und erbarmungslos auf ihr Gesicht trafen.
„Runter von ihr.“ ertönte Sakuyas klare männliche Stimme. Er kam mit der Waffe auf sie gerichtet angelaufen.
„Was bist du nur für ein Mensch Sakuya Kira! Sie gehört nicht dir!“ rief Shariev, der noch immer auf Lynn kniete und prompt einen so festen Schlag von ihr abbekam, dass er ,bewusstlos und stumm, neben sie fiel.
„Alles in Ordnung?“ fragte Sakuya aber Lynn sah ihn keuchend und voller Zorn an:
„Sieht das so aus?“ fragte sie und spuckte ihm Blut vor die Füße.
„Alles okay?“ schrie Dakon, der mit Rin und Furgosons Team den Gang entlang gerannt kam.
„Lynn, das war ausgezeichnet!“ lobte er sie und half ihr langsam vom Boden hoch.
„Nein, es war viel zu riskant.“ erwiderte Rin und befestigte Sharievs Hände mit einigen Kabelbindern. Lynn stand etwas wackelig neben Sakuya und Dakon stützte sie. „Was meint ihr, was hinter der Türe ist?“ fragte Rin und sah zu Lynn<. „Ich habe keine Ahnung.“ erwiderte sie.
„Wir sollten sie zurück bringen.“ mischte sich Furgoson ein.
„Nein, mir geht es gut.“ beharrte Lynn noch immer, voller Adrenalin. Furgosons alte Augen musterten sie besorgt. „Lasst sie nur.“ sagte Dakon ruhig und zog seine Waffe:
„Drei Leute bleiben hier bei Shariev. Der Rest kommt mit mir. Tobias muss hier irgendwo sein.“
Die Tür öffnete mit einem leisen Knarren. Dem Team bot sich der Anblick eines riesigen Archivs, in dem offensichtlich die Überwachungsbilder der Sektorpolizei aufbewahrt wurden. Riesige Regale türmten sich, dicht an dicht. In einem weiteren Raum befand sich eine riesige Anlage mit Monitoren auf denen die Straßen innerhalb und außerhalb Kyotos zu erkennen waren. Explizit die einzelnen Sektorstationen.
„Was nun?“ fragte Rin und betrachtete sie Bilder, als er plötzlich einen Konvoi von schwarzen Lieferwagen erkannte.
„Boss, sieh dir das mal an!“ rief er hektisch und Dakon kam heran geeilt.
„Meinst du sie haben ihn schon weggebracht?“ fragte er.
„Nein, Serah lässt Schleifen durchlaufen. Das sind alte Bilder.“ erwiderte er etwas erleichtert, als sie laute Schreie und Schüsse hörten.
„Soldaten!“ rief Furgoson und suchte zügig hinter einem der Regale Schutz. Lynn sah sich hastig um und entdeckte einen äußerst schmalen Gang, zwischen zwei vollgestellten Regalen. Irgendjemand hatte das Licht ausgemacht und es war nun still. Als sie nach ihrer Waffe greifen wollte, musste Lynn feststellen, dass sie gegen Sakuya gestoßen war, der unmittelbar hinter ihr stand. >>Na toll...<< dachte Lynn und spürte seine wärme an ihrem Rücken.
>>Darf ich bei dir bleiben?<<
>>Bleib so lange du willst.<<
>>Es ist eigenartig. Mir fehlt das Training. Hier im Außeneinsatz ist es, als sei man verloren...<<
>>Du bist nicht allein.<<
Sakuya sah in der Dunkelheit wie Lynn sich die Stirn rieb.
>>Waren das gerade meine Worte? Habe ich das gesagt... war das Sakuya...?<< Wider überrannte sie eine eigenartige Hitzewelle. Lynn drehte sich um und hob ihren Blick um Sakuya ansehen zu können, der angespannt ihr Gesicht musterte. >>Mir ist so wahnsinnig heiß...<< Sie hatte plötzlich das Verlangen danach Sakuya zu berühren. Ihr Magen schien sich zusammen zu ziehen und sie spürte wie ihr Herz begann zu rasen. Für einige Sekunden schloss sie ihre Augen, und als sie sie wieder öffnete, sah Sakuya nur konzentriert, mit der Waffe im Anschlag, über sie hinweg, in den Gang. Ihr Blut begann aus der Schussverletzung zu quellen, und durchdrang langsam ihr schwarzes Shirt. Es war wie ein Traum, als Lynn ihre Hand nach Sakuya ausstreckte und nach seiner Jacke griff, als wäre er die einzige Möglichkeit, an die sie sich klammern konnte, um nicht augenblicklich die Bodenhaftung zu verlieren. Der schwere Stoff seiner Jacke, lag warm unter ihrer Hand und sie schloss erneut die Augen. Sakuya bewegte sie nicht. Er ließ sie machen, und auch als sie einen weiteren Schritt auf ihn zuging, und er die Hitze ihres Körpers spürte, wich er nicht zurück. Er wusste was da gerade in ihrem Organismus geschah. Nur zu gut, kannte er selbst die Symptome.
Lynn schossen die Bilder vor Augen, wie er sein schwarzes Hemd zuknöpfte, wie er Whiskey trank, wie er sie ansah, seine Lippen, seine Augen, sein markantes Gesicht. Die lange Narbe an seiner Brust, und wie Lynn in seinem Apartment auf ihm gelegen hatte, auf diesem starken, erbarmungslosen Mann, als wäre er ihre ganze Sicherheit.
>>Mir ist so heiß...<< Es war ihr, als wollte sie nun all das.
Ein Schuss. Schreie. Eine Tür. Ein weiterer Schuss direkt neben ihrem Kopf, aus Sakuyas Waffe.
Lynns Überlebenssinn war auf der Stelle wieder präsent, als sie Dakons Stimme hörte. Eine Gruppe der Sektorpolizei hatte den Raum gestürmt und das versteckte Team versuchte nun sich aus der Deckung heraus zu schützen. Es waren Bruchteile von Sekunden, Lynn reagierte, machte einen Satz rückwärts, während sie sich dem geschehen zu wandte, und begann zu schießen. Ein Polizist nach dem anderen ging elendig zu Boden. Dakon schaltete das Licht wieder an, und sie traten aus der Deckung hervor.
„Wir sollten uns beeilen.“ mahnte er, nachdem alle Feinde ausgeschaltet waren.
Die Gruppe bewegte sich weiter vorwärts, einige Treppen hinunter, ehe Dakon ihnen in einem kleinen Gang ein Zeichen gab, inne zu halten. Er deutete stumm auf die Tür, die vor ihnen lag, und hinter der Stimmen zu hören waren. Mit einigen Gestiken machte er seinem Team klar, dass ein frontaler Sturmangriff folgen würde. Sie luden die Waffen nach und warteten auf sein Zeichen.
Rin hatte die Tür mit voller Wucht aufgetreten und sie blickten in einen großen Verhörraum, in dem soeben drei Soldaten dabei waren, einem Mann, der vor ihnen lag, und dessen Gesicht mit einem durchnässten Tuch bedeckt war, Wasser über den Kopf zu schütten. Dakon wollte etwas rufen, aber ehe er die Gelegenheit dazu hatte, gingen die drei Soldaten bereits durch Lynns und Sakuyas Schüsse zu Boden. Der gefesselte Mann wandte sich hustend und keuchend unter dem nassen Lappen. Dakon eilte zu ihm und riss ihn ihm vom Gesicht. „Tobias!“ rief er erleichtert und löste seine Fesseln.
„Dak - on“ hustete der Mann verzweifelt und voller Angst. Lynn blickte sich während dessen um. In dem großem Raum war nichts weiter als einige Stühle, ein Metalltisch und die Bank auf dem der Mann gelegen hatte, sowie einige Eimer Wasser.
„Sie haben keine Informationen von mir bekommen....“ hustete der ältere Mann, den Lynn bereits beim Teamleitertreffen gesehen hatte. Dakon versuchte ihn zu beruhigen und half ihm hoch. Er hatte tiefe Schnittwunden an den Armen und im Gesicht. Als er nach Dakons Schulter griff, um sich zu stützen, bemerkte sie, dass ihm mindestens zwei Finger fehlte. Der Rest war durch das viele Blut nicht mehr auszumachen. „Wir müssen hier weg.“ Machte Furguson auf einen schnellen Rückweg aufmerksam.
Lynn saß erneut Rin, auf der Rückbank von Dakons Wagen, gegenüber. Ihr stand wieder der Schweiß auf der Stirn während sie sich von ihrem Oberteil befreite. „Du hast ziemlich was abbekommen, du solltest dich durch checken lassen.“ stellte er besorgt fest, als er beobachtete, wie Lynn mit beinahe chirurgischer Präzision die Kugel von Shariev, mit einem Messer aus ihrer Schulter pulte
„Das ist nicht der Rede wert.“ sagte sie erleichtert, als sie endlich das Geschoss in den Händen hielt. Rin verzog nur sein Gesicht, angewidert von dem was er da gerade beobachtet hatte.
„Alles in Ordnung?“ fragte Serah besorgt nach hinten. „Alles gut. Lynn war anscheinend auch mal Ärztin.“ erwiderte Tetsuya lächelnd, weniger schockiert, als begeistert von ihrer Hartnäckigkeit.
„Wo bringt Sakuya Shariev hin?“ fragte Lynn schließlich und deckte mit einem Tupfer, die Serah ihr gereicht hatte, die Wunde ab.
„Er bringt ihn in eine sichere Unterkunft. Shiori begleitet ihn. Sei unbesorgt.“ erwiderte Dakon.
14 – Why await life`s End?
Es war am späten Nachmittag, nachdem Dakon mit seinem Team den weiteren Verlauf durchgegangen, und Tobias ins Krankenhaus gekommen war. Dakon und Sakuya waren lange bei ihm gewesen.
Lynn lehnte Kopfschüttelnd an einer Wand in einem alten Keller, und beobachtete durch das Einwegglas Shioris mühselige Versuche Shariev, nach seinem Erwachen, mit Fragen aus dem Konzept zu bringen und ihm Informationen zu entlocken.
„Warum schüttelst du den Kopf?“ fragte Rin verwundert und sah zu Lynn hinüber.
„So wird das nichts.“ erwiderte sie kühl und betrachtete Shariev, der mit gefesselten Händen, schweigend auf einem Stuhl, vor Shiori saß. In seinem Gesicht zeichnete sich eine Mischung von Langeweile und Provokation ab.
Tetsuya hatte Lynn bei ihrer Ankunft erklärt, dass es sich bei diesem Keller um einen ursprünglichen Verhörraum der Sektorpolizei gehandelt hatte. Da sie jedoch nicht für Verhörtechniken zuständig waren, und der Keller aufflog, hatte man das gesamte Bürogebäude räumen lassen. Wo vorher die Verwaltung der Sektorpolizei korrupte Geschäfte abwickelte, sei nun eine Firma für Biotechnik in den oberen Stockwerken eingezogen. Der Keller stand noch immer leer, und Dakon hatte im Namen der UEF alles dafür getan, dass er von den Lageplänen des Verwalters verschwunden war.
>>So wie es hier aussieht, war hier auch lange niemand mehr....<< Hatte Lynn gedacht als sie die Hintertür einer Seitengasse betrat und die staubigen Stufen hinab ging.
Eine Türe fiel zu und Lynn sah auf, in Shioris unzufriedenes Gesicht. „Hat er nichts gesagt?“ fragte Tetsuya der mit einer Schachtel Zigaretten zurück in den Keller kam.
„Nein.“ erwiderte Shiori wütend. Lynn konnte in ihrer Körperhaltung erkennen, dass sie in ihrer Ehre sehr gekränkt war. >>aber warum...?<<
„Hattest du nicht gesagt, dass Verhörtechniken in Efrafar drei Jahre lang, dein Fachgebiet waren?“ fragte Rin und nahm eine Zigarette von Tetsuya entgegen.
„Ja. Aber er wird jetzt noch nicht reden. Vielleicht wenn wir ihm zwei Tage lang den Schlaf entziehen. Irgendwann knickt jeder ein.“ erwiderte Shiori genervt und legte ihre Waffe auf einen Stuhl.
„Lass es mich versuchen.“ sagte Rin plötzlich und zündete sich die Zigarette an. „Vielleicht erreiche ich ihn, mit dem Tod von Ari. Die beiden kannten sich gut.“ Shiori überlegte einen Augenblick. Dann nickte sie. Rin ging in den Nebenraum und Lynn verfolgte aufmerksam seine ersten Versuche.
„Er wird es auch nicht schaffen.“ sagte Shiori leise und Lynn sah genervt zu ihr rüber. Wie sie da stand und sich ihre blonden Haare aus dem Gesicht strich. Sie hatte vermutlich noch niemanden töten müssen, dachte Lynn. Es war ihr zuvor schon einmal aufgefallen, wie sie ihre Waffe gehalten hatte. Es lag Unsicherheit darin. Sie hatte etwas reifes, aber auch etwas Unschuldiges an sich. Nicht so wie Lynn, die noch immer in ihren Blutverschmierten Sachen, des Einsatzes, an der Wand lehnte. Diese Frau war sowieso völlig anders als sie selbst. Der Geruch ihres überflüssigen Parfüms, erfüllte beinahe den ganzen Raum. Es war eine Mischung aus schwerer Vanille und Moschus. Lynn hasste diesen Geruch. Überhaupt hatte Shiori einige ungewöhnliche Angewohnheiten. Wenn sie nicht gerade eine Bluse trug, dann verspielte Rüschenoberteile mit floralen Mustern. Es war nicht so, dass es ihr nicht stand, sondern vielmehr, dass es in den gesamten Kontext unpassend wirkte. Serah war da völlig anders. Sie bevorzugte, ebenfalls wie Lynn, dunkle Sachen, Geradlinigkeit und eine gewisse Nützlichkeit. So sah man Blutflecken nicht so schnell, auf den dunklen Farben. Shiori wäre sicherlich eine der Frauen, die Lynn bereits bei dem Kurierdienst getroffen hatte; sie ließen sich gerne in teure Restaurants einladen, und genossen einen guten Wein am Abend. Nicht so wie Lynn, die ständig unterwegs war und Whiskey und Hochprozentiges trank, wenn man es ihr gerade einmal anbot. Shiori verließ ständig den Raum und kehrte nach wenigen Minuten wieder, eine Unruhe die Lynn kaum aushalten konnte. Wenn sie zurückkehrte rieb sie sich die Hände, ein sicheres Anzeichen dafür, dass sie ein häufiges Händewaschen als unabdingbar betrachtete. Sie hatte definitiv ein Problem mit Keimen. Lynn vermochte sich gar nicht auszumalen, was geschehen würde, würde diese Frau tatsächlich einmal mit dem Blut eines Fremden in Kontakt geraten. Für sie wäre es garantiert ein purer Alptraum. Ob Sakuya an solch eine Frau gefallen fand? An jemandem der so „normal“ war? Jemand, der nicht so war, wie Lynn selbst?
„Hört doch endlich auf mit euren stupiden Spielchen meine Zeit zu verschwenden.“ Hörte Lynn plötzlich Sharievs genervte Stimme. Rin, der zuvor noch gesprochen hatte, war verstummt und sah ihm sauer entgegen. „Ich will mit Dakon sprechen. Lass mich mit euren Handlangern in Ruhe.“
„Dakon ist unterwegs hierher.“ sagte Tetsuya zu Lynn und Shiori, nachdem eine Nachricht auf seinem Handy ihn erreicht hatte. Ungeduldig stand Lynn auf und ging zur Tür.
Rin sah sie verwirrt an, als sie den Verhörraum betrat.
„Ah, Lynn, das ist doch schon mal was.“ sagte Shariev mit einem Lächeln und stand, beinahe höflich, auf. Er war ein Stück größer als sie.
„Ich warte draußen.“ sagte Rin und verließ den Raum.
„Was soll das jetzt werden?“ fragte Shiori entsetzt und sah verwundert zu Rin, der sich neben sie auf einen Stuhl setzte: „Warten wir ab.“
„Keine Waffen.“ sagte Lynn und zog ihr Shirt ein Stück hoch, damit Shariev sehen konnte, dass sie unbewaffnet war. „Lass uns doch ein Gespräch auf Augenhöhe führen.“ fügte sie hinzu und blickte in Sharievs angespanntes Gesicht, der sich derweilen wieder gesetzt hatte.
„Rin, schließt du ab?“ rief sie dann etwas lauter.
Rin blickte verwirrt über Lynns auffoderung, sie mit Shariev dort einzusperren, Shiori und Tetsuya an, stand dann jedoch wieder auf, und schloss die Tür ab. Lynn trat an Shariev heran und löste die Fesseln seiner Hände.
Es verstrichen einige Sekunden in denen Lynn Shariev stumm gegenüber stand, und sich ihre Blicke trafen. Mit einem lauten Knall ging der Stuhl unter ihm zu Bruch, nachdem Lynn ihn weggetreten hatte, und Shariev mit einem Stöhnen auf den Boden aufprallte. Er rollte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht zur Seite.
„Steh auf.“ sagte sie schroff. Er reagierte nicht und sie schlug mit voller Wucht, zwei Mal auf ihn ein.
„Du sollst aufstehen.“ wiederholte sie langsam und nahm einige Schritte Abstand zu ihm. Shariev hielt sich die Hände vor die Nase, und Blut rann an seinem Kinn hinunter.
„Du wirst mir jetzt sagen, wer die Mittelsmänner der VCO sind.“ Lynns Stimme klang hart und erbarmungslos. Sie stand ihm aufrecht gegenüber, und das Blau ihrer Augen schien eisig.
„Hast du überhaupt eine Ahnung-“ Shariev hatte keine Chance den Satz zu beenden, denn Lynn machte einen Satz nach vorne und trat in gegen die Wand, die hinter ihm lag. Er Stöhnte laut auf, und das Blut seiner Nase verteilte sich über den Boden.
„Was fragst du eigentlich mich? Du hast doch keine Ahnung für wen du arbeitest, auf welcher Seite du eigentlich stehen solltest!“
Shiori sah Rin verwundert an. Was meinte Shariev damit? Rin beobachtete jedoch nur angespannt Lynn, wie sie nochmals mit aller Kraft auf Shariev einschlug.
„Sie wird ihn noch umbringen...“ sagte Tetsuya fassungslos und war im Begriff aufzustehen, als Rin ihn mit seiner Hand zurück auf seinen Platz presste: „Lass sie.“ entgegnete er ihm nur knapp. Er wollte sehen, was in ihr steckte, wie weit sie gehen würde und ob sie womöglich Erfolg mit ihrer Strategie hatte.
„Du willst also auf Augenhöhe sprechen?“ stöhnte Shariev und stand mühevoll vom Boden auf. Lynn hatte ihm einen anderen Stuhl herangezogen. Völlig außer Atem ließ er sich erleichtert darauf fallen.
„Sag mir, für wen du arbeitest.“ sagte Lynn leise. In ihrer Stimme lag wieder Ruhe. Shariev lachte leise:
„Für wen ICH arbeite? Frag dich das mal lieber selbst.“
„Ich arbeite für die UEF. Für Dakon. Für Efrafar.“
Rin nahm sein Handy aus der Jackentasche und ging dran. Shiori und Tetsuya sahen kurz zu ihm hinüber. „Lynn verhört gerade Shariev.“ berichtete er. Dakon schien am anderen Ende zu sein. „Ja, verstanden Boss.“ beendete Rin verwirrt das Gespräch.
„Was ist los?“ fragte Tetsuya, als er die Sorgenfalte auf Rins Stirn bemerkte. „Sie haben Rei gefunden.“ sagte er leise. „Lebt sie? Wo? Wo ist sie?“ Tetsuya war aufgesprungen als er den Namen seiner Freundin gehört hatte. „Wir sollen hoch kommen.“
Lynn hörte das Quietschen der Türe in dem anderen Raum, blendete es jedoch aus. Sie stand vor Shariev und sah ihn ausdruckslos an.
„Du gehörst nicht zu ihnen. Warum willst du das nicht verstehen?“ Sharievs Stimme klang hart, ehrlich und aufgelöst. Er wischte sich das Blut von der Nase.
„Ich bin nicht wie ihr. Wozu auch immer ihr mich machen wolltet, ich bin es nicht!“ Die Worte von Lynn waren voller Abwehr und Ekel.
„Doch! Du bist eben genau wie wir! Wie viele hast du schon getötet? Wie viele deiner eigenen Leute! Deines Blutes! Ohne Rücksicht auf Verluste!“ Shariev schrie.
„Frag nicht mich für wen ich arbeite, stelle dir die Frage selbst! Frag dich wer du bist! Und warum du nun hier stehst, und dich gegen die wendest, die alles für dich getan haben!“
In Lynn brach eine blinde Wut aus. Sie wollte zögern, aber es überkam sie. Es waren zwei Schritte auf Shariev zu, und mit einem Mal packte sie ihn mit all ihrer Kraft, und warf ihn auf den Tisch in der Mitte des Raumes, der mit einem lauten Krachen, unter Sharievs Gewicht zusammenbrach.
Shariev packte nach Lynns Arm und zog sie quer über sich hinüber, so dass sie zu Boden geworfen wurde. Sie kam auf der verletzten Schulter auf, und gab einen dumpfen Schrei von sich, voller Schmerz.
„Wo ist Sakuya Kira? Frag ihn, warum du hier bist! Frag ihn warum du in dieser Welt bist!“ schrie Shariev aus vollem Halse. Er war wieder aufgestanden und nährte sich humpelnd Lynn, die noch immer auf dem Boden lag. Sie sah ihn kommen und rollte sich beiseite, als er den Stuhl nach ihr warf, den sie ihm zuvor hingestellt hatte. Er zerbrach an der Wand über ihr.
„Weißt du was dein Problem ist: Linnai? Du hast keine Ahnung! Hat Dakon dir nicht erzähl, welche wahnwitzigen Pläne sein Vater mit euch gehabt hatte? Was du und Sakuya Kira, was ihr seit? Und warum Dakon nun so erpicht darauf ist, dich an seiner Seite zu haben?“
>>Linnai.<<
>>Komm mit mir. Ich werde dafür sorgen, dass du es vergisst. Ich werde dir ein Leben geben, ohne diese Erinnerungen.<<
>>Linnai.<<
Lynn lag auf dem Boden und schütze ihr Gesicht vor den Trümmern des Stuhls, die auf sie hinab fielen. Sie hörte Sharievs schwere Schritte, nachdem die Stimmen in ihrem Kopf langsam verstummten.
„Du sollst mir endlich sagen, für wen du arbeitest!“ schrie Lynn schließlich und stand hektisch vom Boden auf, als sie bereits ein heftiger Schlag von Shariev in den Bauch traf, der sie gegen die Wand drückte:
„Für wen auch immer du dich hältst ; Du bist ein Teil von Valvar! Genauso wie Sakuya Kira!“
Die Tür des Raumes flog mit einem lauten Knall aus dem Schloss und es folgte ein Schuss. Lynn sah ihn Sharievs weit aufgerissene Augen, und spürte wie er gegen sie fiel und zu Boden sank. Ihr Puls raste und sie blickte fassungslos in Sakuyas blaue Augen, die sie wütend ansahen, während er langsam seine Waffe senkte, mit der er Shariev soeben getötet hatte. „Das reicht jetzt.“
„Ist er tot?`“ fragte Dakon und Sakuya nickte stumm, als er mit Lynn den Keller verließ. Tetsuya stand völlig neben sich, an der Wagentür von einem schwarzen Van, gelehnt, während Rin leise etwas zu ihm sagte.
„Er war wertlos.“ sagte Sakuya ruhig und zündete sich eine Zigarette an, während Lynn ihn noch immer fassungslos ansah. >>Aber er hatte Informationen... worum geht es hier eigentlich wirklich? Was meinte er mit Dakons Vater? Linnai... <<
„Kannst du Tetsuya begleiten Rin?“ fragte Dakon und wandte sich zu den Beiden Männern, die noch immer neben seinem Van standen. „Klar Boss.“ erwiderte er.
„Rei ist tot... dieses Schwein hat es nicht besser verdient gehabt!“ sagte Shiori leise während sie zu Sakuya ging und eine Zigarette von ihm nahm.
„Aber er hatte Informationen.“ sagte Lynn leise und versuchte wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Tetsuya hatte ihre Worte gehört und sah voller Wut zu ihr hinüber:
„Hast du eine Ahnung, was er ihr angetan hat? Was er Serah angetan hatte? Miku ist auch Tot!“ seine Stimme zitterte und er schien außer sich. Natürlich hatte er recht, mit dem was er sagte; Shariev war für unendliches Leid verantwortlich gewesen. Aber er hätte ihnen zugleich so viele Informationen geben können, die wahrscheinlich vieles verändert hätten.
„Was ist das Schicksal eines Mannes? Wenn es um eine ganze Welt geht?“
„Er hatte Informationen die uns hätten helfen können!“ erwiderte Lynn ihm lautstark.
„Hört auf.“ unterbrach Dakon die Beiden.
„Es ist egal was hätte gewesen sein können. Es war schon lange hinfällig, dass er von der Bildfläche verschwindet. Jetzt ist die VCO jedenfalls erst einmal in Aufruhr. Wir werden die Gelegenheit nutzen. Ohne Shariev fehlt ihnen ein Entscheidender Strippenzieher in ihrem System!“ Dakons Stimme klang ruhig, aber laut.
„Fahrt Heim und ruht euch aus. Wir werden morgen weiter sehen, wenn wir uns alle etwas beruhigt haben.“
Lynn war auf dem Weg zu ihrer Wohnung. Ihr schossen Sharievs Worte wieder und wieder durch den Kopf. Was hatte er gemeint, als er von Dakons Vater und seinen Plänen sprach? Was waren Lynn und Sakuya? Worum ging es in diesem Kampf wirklich?
Das Apartment lag im Dunkeln als Lynn aus der Dusche kam und ihr Gesicht im Spiegel musterte. Sie hatte eine Platzwunde an der Lippe, und ihre linke Wange war aufgeschürft, von dem Kamp mit Shariev. Der Durchschuss an ihrer Schulter hatte aufgehört zu Bluten und sie legte behutsam einen dünnen Verband darüber, bevor sie ihren schwarzen Pullover darüber zog. >>Wer bin ich...<< Hitzewellen überkamen sie für wenige Sekunden und sie schloss kurze Zeit die Augen, während sie sich am Waschbecken abstützte.
>>Ich muss mit Sakuya sprechen... er weiß etwas...<< Sie öffnete wieder ihre müden Augen und sah in ihr blasses Gesicht. >>Es ist längst überfällig... was habe ich zu verlieren...<<
Sie zog ihre Jeans an und holte während dessen, den kleinen Zettel, den Carver ihr gegeben hatte, aus der Hosentasche.
>>Er geht nicht an sein Handy...<< dachte Lynn nachdem sie auf den Hotelparkplatz in dem Sakuyas Apartment lag, fuhr und langsam von ihrem Motorrad abstieg.
>>Ich hoffe er ist da...<< Lynn hatte zweimal an die Zimmertür geklopft, aber nichts hatte sich dahinter geregt. Sie holte den Zweitschlüssel für das Zimmer aus ihrer Jackentasche. Das Foyer war erneut nicht besetzt gewesen, und sie hatte sich unbemerkt den Zweitschlüssel aus einer Schublade hinter der Rezeption nehmen können. Es war ihr egal, wessen Privatsphäre sie in diesem Moment verletzte. Sie wollte Antworten. Was auch immer sie erwarten würde.
Die Tür schloss beinahe geräuschlos auf und Lynn betrat den dunklen Flur.
>>Ich werde auf ihn warten. Es ist mir egal. Ich will Antworten. Jetzt.<< Lynn lief enttäuscht ins Wohnzimmer, und hatte sich bereits damit abgefunden, dass sie auf Sakuya warten müsste, als sie das schwache Licht im Schlafzimmer entdeckte. Sie schwieg und lief lautlos auf die Tür zu, die ein wenig offen stand, und aus der ein schmaler Lichtkegel fiel. >>Antworten.Jetzt<<
Sie öffnete die Tür, und sah gerade noch wie eine junge Frau ihr entsetzt entgegen blickte, und sich die Bettdecke hoch zu ihren nackten Brüsten zog, die noch von einigen langen, braunen Haarsträhnen bedeckt wurden. Lynns zweiter Blick begegnete Sakuyas, der sie erschöpft ansah, während die Frau mit den braunen Haaren, erschrocken von ihm stieg. Er griff nach den einzelnen Knöpfen seines offenen Hemdes, welches er noch trug, und schloss es.
>>Nein...<< Lynn wurde heiß, sie schien innerlich zu verbrennen, als sie ihre Lippen öffnete um etwas zu sagen, jedoch stumm blieb und langsam rückwärts das Zimmer wieder verließ.
„Lynn.“ Sagte Sakuya nur ernst, aber sie war bereits auf dem Weg das Apartment zu verlassen.
>>Was habe ich mir nur dabei gedacht... Wie kann ich nur so dumm sein...<< Es war eine Kurschlussreaktion gewesen, den weiten Weg nach Tokio auf sich zu nehmen. Aber Lynn musste mit Jemandem sprechen. Vielleicht nicht über die Fragen in ihrem Kopf, aber vielleicht einfach nur über etwas „normales“. Was hatte sie sich eigentlich dabei gedacht, so spät noch bei Sakuya aufzukreuzen? Innerlich herrschte ein riesiges Durcheinander in ihrem Kopf. Natürlich, sie wollte Antworten von ihm. Sie wollte wissen, warum er Shariev erschossen hatte. Warum Shariev so oft ihre beiden Namen gebraucht hatte. Und nun war sie noch unsicherer als Vorher. Es war nicht die Tatsache, dass sie nicht im Stande gewesen war, mit Sakuya zu sprechen, sondern vielmehr die Gegebenheit wie sie ihn angetroffen hatte. Was er gesagt hatte, als wäre das, was er gerade Tat nicht der Rede wert, selbstverständlich. Natürlich war er ein Mann. Er hatte auch seine Bedürfnisse, aber warum diese Frau? Wer war sie? Warum hatte Sakuya die gesamte Aktion scheinbar abgebrochen, als wäre er bereit, jederzeit mit Lynn ein Gespräch zu führen? Bedeutete diese Frau ihm denn gar nichts?
Sie hielt mitten in der Nacht vor einem mehrstöckigen Haus in Tokio, und sah unsicher auf den Zettel in ihrer Tasche. Sie hatte ihn mitgenommen. Warum auch immer. Vielleicht war es eine Vorahnung gewesen. Vielleicht hatte ein Teil in ihr gewusst, dass sie noch hierher kommen würde.
Die Müdigkeit die sie noch zuvor empfunden hatte schien plötzlich wie weggeblasen, als sie an die Tür im zweiten Stock klopfte. >>Was tue ich hier... es ist viel zu spät...<< Es vergingen einige Sekunden in denen Lynn bereits wider im Begriff war zu gehen. Die Hitze in ihrem Körper schien noch immer anzuhalten. Es war als glühte sie förmlich, als sich zu ihrem erstaunen doch die Tür öffnete, und sie Carvers überraschtem Blick begegnete:
„Lynn.“ sagte er und musterte sie beunruhigt aufgrund der vielen Verletzungen in ihrem Gesicht. Ihre Haare klebten an ihrem nassen Gesicht.
„Alles in Ordnung? Komm erst einmal rein.“ Er entfernte sich von Tür und wartete, bis sie langsam an ihm vorübergegangen war.
„Tut mir leid. Ich weiß es ist spät...“ sagte sie leise und sah ihn ausdruckslos an.
„Geht es dir gut?“ fragte er besorgt, während er sie in sein Wohnzimmer führte. Sie spürte seine schweren Schritte hinter sich. Er deutete auf eine große schwarze Couch, als Lynn sich zu ihm umdrehte. Sie blieb mitten im Raum stehen und sah ihn schweigend an. Er trug eine schwarze Hose und den Pullover den er bereits in den Bergen an einem Abend an hatte. Auf dem Tisch stand ein Glas Whiskey und der Rauch einiger Zigaretten hing schwer in der Luft. Auf dem großen Couchtisch lagen einige Unterlagen, und seine Waffe. Nichts machte den Anschein als hätte sie ihn geweckt.
„Lynn? Geht es dir gut?“ In seiner Stimme lag noch immer Besorgnis. Sie hob ihren Kopf und strich sich einige ihrer Haarsträhnen aus dem Gesicht. Was sollte sie sagen? Warum war sie überhaupt hierher gekommen?
„Carver... ich... .“ sie sprach nicht weiter. Stille beherrschte die Wohnung.
„Willst du etwas trinken?“ fragte er schließlich und wandte sich von ihr ab. Es war offensichtlich, dass sie völlig neben der Spur war. Ihr erschöpfter Blick und die Niedergeschlagenheit in ihrer Stimme waren ihm nicht entgangen.
„Gern.“ antwortete sie erleichtert darüber, dass er die Stille durchbrach. Sie beobachtete ihn, wie er eine Flasche Bourbon aus einem Regal nahm. Sie setzte sich schließlich auf das große Sofa und zog mühevoll ihre Jacke aus. Bei jeder Bewegung schmerzte die Schussverletzung ihrer Schulter. Carver stellte ihr ein halbvolles Glas hin und setzte sich.
„Was ist passiert?“ fragte er erneut, aber nun klang seine Stimme weniger besorgt. Sie klang nur noch rau und ruhig.
„Es ist so vieles passiert... .“ antwortete Lynn langsam. Sie schwieg erneut einen Moment.
„Was ist, wenn ich jemand bin, der ich gar nicht sein möchte?“
Carvers Blick wanderte über Lynns Lippen hinweg zu ihren blauen Augen, die ihn nur mit einem müden Funkeln ansahen.
„Diese Frage habe ich mir oft gestellt, nachdem ich von der VCO weg bin.“ erwiderte er ihr ruhig.
„Wie hast du das alles überlebt? Wie kannst du Nachts schlafen...“ Die Worte verließen Lynns Lippen nur langsam.
„Es zieht langsam vorbei. Das, was gewesen ist. Die Bilder verschwimmen mit der Zeit. Du lernst, dass das Geschehene die Vergangenheit ist. Was wichtig ist, ist das, was hier, was jetzt geschieht. An diesem Tag, in diesem Augenblick.“
„Ich habe das Gefühl die Kontrolle zu verlieren. Über mich, meine Gedanken, meinen Körper. Wem kann ich noch trauen. Was, oder wer bin ich?“ Ihre Blicke trafen sich.
„Es liegt bei dir, wer du sein willst. Was du getan hast, ist Vergangenheit.“ seine Worte schienen das Chaos in Lynns Kopf zu lindern. Da war er wieder, dieser vertraute Blick. Die Wärme, die in Carvers Stimme lag. Sie lehnte sich langsam zurück und atmete tief ein, während sein Blick ihrer Bewegung folgte.
„Du hast ganz schön was abbekommen.“ sagte er leise und nahm ein Schluck Whiskey. Sie wandte langsam ihren Kopf in seine Richtung und ließ ihren Blick über sein Gesicht gleiten.
„Es ist schwer im Moment. Ich habe das Gefühl, die Menschen denen ich vertraue, sagen mir nicht die ganze Wahrheit. Es ist als wäre da noch etwas, das um jeden Preis verbogen bleiben muss. Aber ich kann mir keinen Reim darauf machen.“ Carver nickte bei ihren Worten und stellte das Glas zurück auf den Tisch.
„Ich weiß was du meinst. Das Gefühl, dass ich bei der VCO dauernd hatte.“ bestätigte er ihre Worte.
„Es scheint, als wärst du nur eines ihrer Instrumente, ihr Mittel zum Zweck.“ Lynn schloss die Augen und hörte Carvers Stimme zu. Endlich schien sich ihr Körper zu entspannen, und die Hitze in ihr ließ langsam nach.
„Willst du mir sagen, worum genau es geht?“ Lynn schüttelte langsam den Kopf.
„Das kann ich nicht.“ auch ihre Stimme war ruhiger geworden. Sie öffnete ihre Augen wieder und wartete darauf die Enttäuschung in Carvers Gesicht ablesen zu können, aber sie blieb aus.
„Ich verstehe.“ sagte er stattdessen, noch immer ruhig, noch immer mit den wenigen Sorgenfalten auf seiner Stirn. Er schien das vollkommen zu akzeptieren.
„Ich wünschte ich könnte es...“ wollte sie fortfahren, aber er unterbrach sie:
„Lynn...“ er griff nach seinen Zigaretten und zündete sich langsam eine von Ihnen an, während Lynns erschöpfter Blick seinen Bewegungen versuchte zu folgen.
„Ist schon gut. Aber wenn ich dir helfen kann, lass es mich wissen.“ Er sah sie wieder an, wie sie schwach nickte und ein verzweifeltes Lächeln über ihre Lippen hinweg zog. Sie nahm einen großen Schluck Bourbon und ließ sich dann wieder zurück fallen.
„Warum bist du noch auf?“ fragte sie dann leise und beobachtete ihn, wie er langsam an seiner Zigarette zog, den Whiskey in der anderen Hand haltend.
„Ich habe eine Stelle als Übersetzer angenommen. Der Verlag erwartet in einer Woche ein transkribiertes Manuskript. Ich arbeite lieber Nachts.“ antwortete Carver und nahm einen Schluck Whiskey.
„Ja... denn Nachts ist die Welt leiser.“ erwiderte Lynn ruhig.
„Ja.“ Er lächelte.
„Vermisst du Valvar?“ fragte sie schließlich. Carver dachte einige Sekunden nach.
„Es ist kein richtiges Vermissen. Ich kannte ja nur den Stützpunkt unserer Ausbildung. Aber andere Dinge fehlen mir. Der Kaffee. Hier in Elaìs ist er schrecklich.“ Lynn lächelte schwach bei seinen Worten.
„Du hast keine Erinnerung mehr daran, oder?“ Lynn schüttelte erneut langsam den Kopf.
„Nein. Da ist nur Leere.“ die Traurigkeit die Carver bereits in den Bergen in ihren Augen gesehen hatte war wieder präsent.
„Worin du auch immer im Moment verwickelt bist.... wenn du aussteigen willst... ich bin da.“ sagte er plötzlich und sah die Verwunderung in Lynns Blick.
„Ich will nur, dass die Lügen aufhören. Ich will endlich Klarheit.“ Carver nickte. Es schien ein Wechsel von Stärke und Anspannung einerseits, aber Resignation und völliger Erschöpfung andererseits, in Lynn vorzuherrschen.
Das Klingeln seines Handys, abseits des Raumes, zerfuhr für einige Sekunden die Stille.
„Entschuldige mich.“ sagte Carver und stand auf, um den Raum zu verlassen. Lynn blieb müde zurück und sah nachdenklich auf den Tisch. Er sagte die Wahrheit. Sie konnte ein Diktiergerät entdecken und einige Abschriften, sowohl in Englisch, als auch auf Arabisch. Zu ihrem erstaunen konnte sie beide Texte lesen. Flüssig. >>Wahrscheinlich auch ein Werk von Valvar. Klar, schließlich sollten ihre Soldaten überall einsatzfähig sein...<< Lynn sah sich weiter um. Carver hatte einen guten Geschmack. Eine Mischung zwischen Geradlinigkeit und Antiquariat. Ihr Blick wanderte neben sich, auf das Sofa, wo Carver soeben noch gesessen hatte. Am Ende lag eine schwarze Jacke von ihm. Sie hatte das Bedürfnis danach zu greifen. Carver schien zu telefonieren. Der Geruch seines Aftershaves und des Zigarettenqualms lag in der Luft. Sie griff erneut nach dem Bourbon und nahm einen großen Schluck um schließlich auf das Handy in ihrer Jackentasche zu schauen. >>Es ist schon so spät...<< dachte sie. Wie würde es wohl wieder sein, bei dem nächsten Einsatz? Sakuya gegenüber zu stehen? Sie sah erneut das Bild aus seinem Apartment vor Augen. Wie er sie angesehen hatte. Wie er sein Hemd zugeknöpft hatte. Die Frau, die von ihm hinunter stieg. Und alles was er gesagt hatte war ihr Name >>Lynn<<. Sie schloss für einige Augenblicke die Augen. Die Gedanken an Sakuya wurden von den Bildern von Carver abgelöst. Wie er sie angesehen hatte. Wir er mit ihr sprach. Seine ruhige und angenehme Stimme. Bei den Gedanken kam in ihr erneut diese eigenartige Hitze auf. Sie atmete tief ein, und der Geruch der Wohnung beruhigte sie. >>Ich sollte gehen. Ich sollte schlafen. Ich sollte wieder einen freien Kopf bekommen, bevor ich den anderen erneut gegenüber stehe.<< Sie hatte mit geschlossenen Augen nach ihrer Jacke gegriffen, im Begriff sie anzuziehen.
„Lynn.“ Erschrocken öffnete sie wieder ihre Augen. Carver stand direkt vor ihr und sah sie an. Sie hatte ihn nicht kommen hören.
„Fahr jetzt nicht mehr. Es ist zu spät. Und es regnet in Strömen. Selbst du solltest in Tokio um diese Uhrzeit keine Straßen mehr benutzen.“ seine Worte klangen leise und wohlwollend. Lynn blieb stumm und musterte sein Gesicht. Sein Bart war etwas länger geworden und seine grünen Augen schimmerten leicht in dem wenigen Licht.
„Du kannst auf dem Sofa schlafen. Wenn du noch duschen willst, Handtücher sind im Bad.“ Lynn betrachtete ihn noch einen Augenblick ehe sie schwach nickte. Carver richtete sich auf und legte sein Handy auf den Tisch. „Ich werde noch die letzte Aufnahme Abschließen. Dann hast du auch dein Ruhe.“ sagte er und setzte sich erneut auf seinen Platz. Lynn sah ihn einige Sekunden nachdenklich an, ehe er es bemerkte und ihren Blick fragend erwiderte.
„Danke.“ sagte sie leise und richtete sich auf.
„Du bist bei mir immer sicher.“ antwortete er. Lynns Lippen formten sich zu einem blassen Lächeln und sie stand auf. Carver deutete auf den Flur durch den sie gekommen waren, und sie folgte seinem Angebot zu duschen.
Das Bad erwies sich als groß. Lynn stand unter der Dusche und dachte daran wie eigenartig das Gefühl war, bei einem fremden Mann zu sein. Bei Sakuya hatte sie dieses Gefühl nie. Aber bei Sakuya fühlte sie sich stets wie ein Fremdkörper. Wie Jemand der nicht in seine Welt gehörte. Etwas das ihn störte. Bei Carver war es anders. Er gab ihr stets das Gefühl willkommen zu sein. Und er hatte diese Wärme an sich.
Lynn stieg aus der Dusche und betrachtete sich einen Augenblick im Spiegel. Ihre Haare waren länger geworden. Sie reichten mittlerweile knapp bis zu ihren schmalen Brüsten.
Sie kehrte in ihrem Unterhemd und der Jeans zurück, und legte ihren Pullover auf ihre Jacke. Carver sah auf und betrachtete sie ruhig. Der Verband an ihrer Schulter war nass und blutdurchtränkt, mit einem eigenartigen blauen Schimmer.
Lynn setzte sich und nahm den letzten Schluck Bourbon während Carver aufstand und in einem anderen Raum verschwand. Als er wiederkehrte hielt er einen neuen Verband in der Hand:
„Hier, du solltest das nicht so lassen.“ riet er ihr. Lynn nahm stumm den Verband entgegen. Carver setzte sich neben sie.
„Soll ich das lieber machen?“ fragte er, als er sah wie sie mit jeder Bewegung zusammen zuckte, als sie den alten Verband lösen wollte. Lynns Hände glitten kraftlos hinunter und sie schwieg.
„Ich tue dir nicht weh.“ sagte er leise und Lynn drehte ihren Rücken zu ihm. Das Zeichen der VCO leuchtete schwach auf ihrer Schulter und Carver betrachtete den Teil, der nicht durch ihr Oberteil verdeckt wurde, einen Moment lang.
Lynn hatte ihren Kopf gesenkt, als Carver behutsam begann den alten Verband zu lösen.
„Hör auf zu denken, wir müssten noch immer stark sein. Es ist vorbei. In dieser Welt gelten andere Regeln. Keiner von uns muss mehr Perfekt sein.“ redete er ruhig auf sie ein. Seine rauen, warmen Hände fuhren langsam über ihre Schulter. Für einen kurzen Augenblick glaubte Lynn aufstehen zu müssen. Sich dagegen wehren zu müssen. Ihre Muskeln spannten sich an. Aber es schien als hätte Carver bemerkt was in ihr vorging und er hielt einige Sekunden inne.
„Entspann dich.“ sagte er nur ruhig ehe er weiter den Verband löste.
„Ich weiß noch, wie ich bei einem Schusstraining im Wald eine Kugel am Arm abbekommen habe. Der Schmerz war kaum auszuhalten. Unseren Offizier hat das nicht interessiert. Einen Tag später wurde ich zum Außendienst rekrutiert und nach Elaìs geschickt.“ Lynn nickte bei seinen Worte und einige ihrer Haarsträhnen fielen aus ihrem Nacken über ihre Schultern. Carvers Blick betrachtete verwundert eine kleine Narbe in ihrem Nacken.
„Hast du die schon länger?“ fragte er verwundert. Lynn griff mit einer Hand in ihren Nacken und erstarrte:
„Ist das eine Narbe?“ fragte sie verwundert.
„Ja.“
„Sie ist mir noch nie aufgefallen.“ erwiderte sie verblüfft und zuckte kurz zusammen als Carver das letzte Stück Verband entfernte, dass in der Wunde festklebte.
„Tut mir leid.“ sagte er ruhig und legte ihn auf den Tisch neben sie.
„Was ist das für eine bläuliche Färbung?“ fragte Lynn und betrachtete ihr Blut.
„Ich nehme an, es stammt von dem Geomas. Nimmst du das Zeug noch?“ fragte er schließlich und begann vorsichtig Lynns Schulter mit dem neuen Verband zu bedeckten.
„Ab und zu noch. Wenn das Zittern zu heftig wird.“ Carver nickte nur verständlich.
„Ich habe seit kurzem das Gefühl...“ Lynn stockte und spürte wie Carver ebenfalls einen Moment inne hielt.
„Ach... schon gut.“ sagte sie schließlich leise und dachte an die Hitze die soeben wieder in ihrem Körper aufstieg. Sie spürte den leichten Druck von Carvers Händen auf ihrer Haut. Es war nicht unangenehm. Ganz im Gegenteil. Sie konnte sich nicht daran erinnern wann sie einmal Jemand so sanft angefasst hatte. Sie spürte seinen warmen Atem auf ihrer Haut. >>Ein Mensch, dem ich vertrauen kann... wie er mich anfasst... wie er mich ansieht... wie er mit mir spricht... es fühlt sich an wie ein Traum... wie ein langer Traum...<< Das klicken eines Feuerzeugs riss sie aus ihren Gedanken.
„Ich bin fertig.“ sagte er leise und Lynn drehte sich wieder zu ihm. Der Qualm seiner Zigarette stieg langsam neben seinem markanten Gesicht auf, als sie ihn betrachtete. Ihr standen erneut einige Schweißperlen auf der Stirn.
„Ich bin hier fertig. Wenn du noch etwas brauchst ruf mich einfach, ich schlafe nebenan. Wenn du gehen möchtest, geh einfach.“ sagte er schließlich und in seiner Stimme klang wieder eine ruhige Wärme mit. Carver stand auf und nahm den Aschenbecher vom Tisch. Er verließ noch einmal den Raum und kam mit einer Decke und einem Kissen zurück. Lynn lag bereits mit ihrem Kopf auf seiner Jacke, ausgestreckt auf dem Sofa. Carver betrachtete sie noch einen Augenblick, wie sie ruhig atmend vor ihm lag und schlief. Er legte behutsam die Decke über sie und ging.
Als Lynn am frühen Morgen nach Nagoya zurückkehrte hatte sie bereits eine Nachricht von Dakon erhalten. Carver hatte noch geschlafen als sie gegangen war. Die paar Stunden Schlaf die sie gehabt hatte waren eigenartig ruhig. Sie konnte sich erinnern, dass sie das letzte mal bei Sakuya so gut geschlafen hatte. Und da waren wieder die Bilder vor ihr. Wie er sie angesehen hatte.
Sie schloss die Tür zu Rins Haus auf und kam angespannt ins Wohnzimmer, als Rin verwundert von seinem Laptop aufblickte, als er ihre Schritte hörte:
„Hey, du bist früh dran.“ sagte er mit einem Lächeln und nahm seine Brille ab.
„Dakon hatte mir Bescheid gesagt.“ antwortet sie und blickte auf einige Notizen die auf dem Tisch lagen.
„Du siehst erholt aus.“ bemerkte Rin während er einen Schluck Kaffee nahm und aufstand.
„Ja, ich konnte endlich mal wieder richtig schlafen.“ antwortete sie leise. Rin lächelte bei ihren Worten. Er zündete sich eine Zigarette an, ehe sein Gesichtsausdruck ernster wurde:
„Tetsuyas Freundin wurde noch gestern bei einer Stürmungsaktion von Furgosons Team gefunden. In einer der Lagerhallen auf dem Gelände wo auch Tobias gefangen war.“ erklärte er.
„Wie geht es den Beiden?“ fragte Lynn besorgt und setzte sich.
„Tobias wird wieder. Nach einer langen Befragung von Sakuya und Dakon hat sich herausgestellt, dass er keinerlei Informationen weitergegeben hat. Unser Glück. Tetsuya hingegen ist zusammen mit Shiori nach Efrafar zurückgekehrt. Er wird dort Rei beisetzten und dann zurückkehren. Dakon hatte gestern Nacht eine Überführung eingeleitet.“
„Wann wird all das Leid endlich aufhören...?“ fragte Serah leise, als sie den Raum betrat.
„Wir tun was wir können, aber es ist schwer, überall gleichzeitig sein zu können.“ rechtfertigte sich Rin, wurde aber von Serahs Kopfschütteln unterbrochen.
„Ich weiß es doch Rin. Aber es ist so sinnlos. Jeden Tag sterben Unzählige. Egal aus welcher der Welten.“ ihre Stimme klang sanft und Lynn musterte sie einen Augenblick lang.
„Mit Sharievs Hilfe wären wir sicherlich weiter gekommen.“ sagte Lynn und sah zu Rin, auf dessen Gesicht sich Ärger abzeichnete:
„Wäre Shariev nicht gewesen, wären noch unzählige von uns am Leben!“ er knallte die Tasse Kaffee laut auf den Tisch.
„Wir hätten die nötigen Informationen schon aus ihm heraus bekommen.“ sagte Lynn ärgerlich und stand auf.
„Ja, aber um welchen Preis?“ sagte Sakuya ruhig als er den Raum betrat. Lynn sah ihn für einige Sekunden an, aber ihr Blick suchte nach einigen Momenten hastig einen anderen Punkt im Raum.
„Wir haben sein Handy, und konnten einige Kontakte überwachen und zurückverfolgen.“ während Sakuya sprach zog er seinen Mantel aus und hing ihn über einen Stuhl. Lynn brachte es nicht übers Herz ihn anzusehen. Zu sehr steckte ihr noch die eigenartige Begegnung mit ihm, der letzten Nacht, in den Knochen.
„Kann ich mit dir sprechen?“ fragte er schließlich und Lynn spürte, dass er sie dabei ansah. Sie hob den Kopf und sah in Sakuyas ernste blaue Augen. Rin und Serah wechselten verwunderte Blicke, ehe Lynn, widerwillig und Verunsichert, Sakuya in die Küche folgte.
„Hast du eine Ahnung worum es geht?“ fragte Rin erstaunt aber Serah schüttelte nur den Kopf.
Sakuya stand am Fenster und hatte sich eine Zigarette angezündet während er sich eine Tasse Kaffee nahm.
„Es tut mir leid, ich wollte nicht einfach- “ sie verstummte, als er sie mit seinem Blick traf.
„Sprich ruhig weiter.“ forderte er sie ruhig auf. Lynn glaubte sich für einen Moment in seinem Blick zu verlieren als seine klare dunkle Stimme erneut die Stille beendete:
„Warum warst du da?“ fragte er. Lynn schwieg einige Sekunden. Wollte er jetzt einfach so über diese seltsame Situation hinweg gehen?
„Ich wollte Antworten.“ erwiderte sie schließlich und ihre Unsicherheit wich Entschlossenheit.
„Aber es tut mir leid, dass ich einfach so herein geplatzt bin.“ es war ihr sichtlich unangenehm. Sakuya sah wie ihr Blick halt in dem Raum suchte.
„Du hättest warten können. Ich war fertig mit ihr.“ Seine Worte klangen so selbstverständlich. Wie er sie angesehen hatte, wie er ihren Namen gesagt hatte. Und jetzt stand er vor ihr, und sagte, dass er fertig mit dieser Frau war, die halb nackt auf ihm gesessen hatte. Lynns Gedanken überschlugen sich. Hatte es ihm nichts bedeutet? Wer war diese Frau gewesen? Sie stand einen Moment sprachlos vor Sakuya.
„Warum hast du Shariev getötet? Wir hätten mit ihm so viel mehr erreichen können!“ platze es schließlich aus ihr heraus und Sakuya war überrascht sie so wütend zu sehen.
„Wir hatten bereits sein Handy und seinen Laptop. Sie ermöglichen uns mehr, als die Lügen, die er von sich gegeben hätte.“ Sakuyas Stimme klang noch immer ruhig. Er zog an seiner Zigarette und betrachtete Lynn, der seine Antwort offensichtlich nicht genügte.
„Warum hat er ständig deinen Namen erwähnt? Warum spricht er von Dakons Vater? Was verschweigt ihr mir eigentlich?“ ihre Stimme war lauter geworden. Natürlich machte das, was Sakuya gsagt hatte Sinn. Vermutlich hätte Shariev alles dafür getan, um sie auf eine falsche Fährte zu locken, und die VCO nicht in Gefahr zu bringen. Aber mit einer langwierigen Folter wären sie ihm schon beigekommen.
Sakuya blickte ernst in Lynns aufgelöstes Gesicht. >>Warum habe ich wieder und wieder das Gefühl dich so gut zu kennen...<<
„Alles zu seiner Zeit.“ antwortete er schließlich nur kühl und stellte die Tasse Kaffee beiseite um seine Zigarette auszumachen.
„Ja, das sagt Dakon mir ebenfalls schon lange. Aber ich habe keine Lust mehr abzuwarten. Ich will wissen für was ich ständig mein Leben aufs Spiel setzte.“ Sakuya ging auf sie zu, und Lynn hatte das Bedürfnis ihre Augen zuzukneifen. Er war so viel größer als sie, so viel stärker, er müsste nur ausholen. Stattdessen blieb er dicht vor ihr stehen:
„Tief in dir, weißt du wofür. Und tief in dir, weißt du auch wer du bist.“ das letzte was Lynn sah waren Sakuyas Augen, bevor ihre Knie weich wurden, und sie für einige Sekunden das Bewusstsein verlor. Das war alles zu viel gewesen. Seine Präsenz, seine Stimme, sein Geruch. Lynn konnte all dem nicht länger standhalten, und etwas in ihr schien sie vor den Konsequenzen bewahren zu wollen.
Serah blickte Lynn besorgt an:
„Alles okay?“ Lynn sah sich verwirrt um. Sakuya stand wieder am Fenster und sah hinaus auf die Straße. „Ja, eh.... ich denke es geht mir gut...“ sagte sie unsicher und stand, unter Serahs Hilfe, langsam wieder vom Boden auf.
„Wir haben einen der Mittelsmänner von Shariev in Valvar ausfindig gemacht. Er arrangiert für heute Abend einen Übergang nach Kyoto.“ Ertönte Dakons laute Stimme der in die Küche kam, und verwundert Lynn anblickte die ihn ungläubig ansah.
„Ist alles okay?“ fragte er. Sakuya hatte sich zu ihm umgedreht und nickte.
„Gut. Wir werden ihn heute Abend in Kyoto abfangen.“
Lynn stand unruhig vor Carvers Tür und klopfte erneut, als sie im Flur hinter sich Schritte hörte. Carver stand mit einer Armbrust um den Schultern, einige Meter von ihr entfernt, und sah sie überrascht an. Er hatte ein Schürfwunde im Gesicht und seine linke Hand blutete.
„Was ist passiert?“ fragte sie verwundert.
„Komm rein.“ sagte er nur kühl und ging an ihr vorbei um die Haustür aufzuschließen. Sie folgte ihm fragend ins Wohnzimmer und er legte erschöpft die Armbrust beiseite und holte ein halbautomatisches Sturmgewehr aus einer Schublade, um es auf den Tisch zu legen.
„Schwierigkeiten. Nichts weiter.“ sagte er und wandte sich endlich ihr zu.
„Bring mich nach Valvar.“ platzte es aus Lynn heraus. Carvers erschöpfter Blick wandelte sich in sofortige Ablehnung:
„Nein.“ Das Wort hallte noch einige Sekunden unwiderruflich in Lynns Gedanken nach.
Carver hatte sich wieder dem Gewehr gewidmet und betrachtete es einige Sekunden. Lynn ging einige Schritte durch den Raum und dachte einen Moment lang nach. Sie musste in diese Welt gelangen. Carver wusste genug darüber. Sie vertraute ihm, und er würde ihr bei ihrem Vorhaben helfen. Es war jetzt endlich genug. Lynn wollte nicht länger im Dunklen Tappen. Sie wollte Antworten, Erinnerungen, Irgendetwas, das das Chaos in ihrem Kopf beschwichtigen würde.
„Bring mich dorthin. Bitte. Ich brauche Antworten.“ Er sah in ihr ernstes Gesicht und schwieg eine Weile.
„Hör zu, ich vertraue dir! Dir ist schon einmal eine Flucht gelungen. Du weißt wie man dort hin kommt. Heute Abend ist ein Übergang arrangiert, wir können unbemerkt auf die andere Seite gelangen.“ Ihre Worte klangen mit jedem Atemzug dringlicher. In Carvers Blick lag noch immer Ablehnung.
„Es gibt keine Gewissheit, dass du wieder zurück kommen kannst. Wenn sie dich finden, und glaube mir, das werden sie, dann hast du keine Chance mehr. Glaub mir, ich weiß wovon ich rede. Ich habe zu viel gesehen.“ Lynn schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Das zu hören tat weh. Sie überlegte einen Moment. Warum agierte die UEF nicht schon lange in Valvar? Würde sie dorthin gelangen, hätte sie die Chance, wertvolle Informationen zu sammeln, für die UEF, für Dakon, für sich. >>Ich muss dorthin...<<
Lynn drehte sich mit einem Male um und zielte mit ihrer Waffe auf Carver:
„Bring mich nach Valvar!“ Er betrachtete ihren erschrockenen Gesichtsausdruck, als er mit der Armbrust bereits auf sie zielte: „Nimm sie runter.“ sagte er langsam. Aber Lynn stand ihm noch immer unabdinglich mit der geladenen Waffe gegenüber. Er wusste um ihre Not und ihre Verzweiflung, aber es war zu gefährlich.
„Du weißt nichts über Valvar. Du hast nicht gesehen, was ich gesehen habe. Du überlebst dort keinen Tag alleine.“
„Dann hilf mir.“
„Das kann ich nicht.“
„Warum nicht?“ Beide waren voller Adrenalin und standen sich nun stumm gegenüber.
„Es ist dort nicht, wie glaubst. Wenn wir Soldaten der VCO begegnen, kann uns nichts mehr retten. Die Zeiten haben sie geändert, und auch die Technologien. Es sind keine Menschen mehr. Ich weiß nicht, was du dir davon erhoffst.“ Noch immer blickte er konzentriert über die geladenen Armbrust hinweg Lynn an.
„Ich will Informationen. Ich will das es endlich aufhört.“ Ihr Blick ging an seinem vorbei, in die Leere. Würde er ihr helfen, hätte er womöglich auch endlich die Chance, die Sachen seiner Vergangenheit zu bereinigen. Die Dinge, die ihn Nachts nicht schlafen ließen. Die Schuld, die auf seinen Schultern ruhte.
Er nahm die Armbrust langsam hinunter:
„Wann ist der Übergang?“ fragte er schließlich. Lynn antwortete in Gedanken versunken:
„Heute Abend.“
Es war dunkel geworden und Lynn saß unruhig auf Carvers Sofa während sie nervös mit ihren linken Bein wippte. „Hast du alles?“ fragte er sie und sie nickte, während sie ihn beobachtete wie er einige Waffen in einem alten Rucksack verstaute. Seine Armbrust schwang er quer über sein breites Kreuz.
„Hast du Messer und Schalldämpfer?“ fragte er und Lynn nickte angespannt. Nachdem sie zurück nach Nagoya gefahren war, um ihre Sachen zu packen, hatte Dakon ihr die Daten für den Übergang zukommen lassen. Sie wusste, dass sie damit ihre ganze Loyalität aufs Spiel setzten würde, aber es war ihr egal. Wenn sie wieder zurück aus Valvar wäre, würden die Informationen das ganze relativieren. Zumindest hoffte sie das. Carver hatte die ganze Zeit über nur wenig gesprochen. Neben einigen ernsten Blicken die sie getauscht hatten, beschränkten sie sich auf das reinigen und vorbereiten ihrer Waffen.
„Kommst du?“ fragte er und sah sie ein letzten Mal an, wie sie ein wenig zögerlich vor ihm stand.
„Ja.“
15 – Valvar- Time have changed
Völlig außer Atem, lag Lynn zwischen Carvers Beinen, an seinen Füßen, in der Dunkelheit und der Enge eines Kofferraums. Es würde noch einige Stunden dauern ehe es Hell wäre. Eine ganze Truppe von hybriden Soldaten zog am Äußeren des Wagens vorbei, der am Rande der langen Landstraße, umgeben von den Wäldern Valvars stand.
>>Hätte ich nur auf ihn gehört...<< Sie betete mit vorgehaltener Waffe, dass sie Niemand bemerken würde, und der Strom aus Soldaten einfach nur an ihnen vorbeiziehen würde.
Carvers Blick begegnete ihrem für einige Sekunden, in der Beklommenheit der Dunkelheit. Sie waren Tagelang gerannt. Am Ende ihrer Kräfte. Und doch ließ das Adrenalin sie nicht zur Ruhe kommen. Die stetige Angst, die Beiden seit Tagen nicht schlafen ließ. Sein Blick spiegelte ihre Anspannung wieder. Und doch schwiegen sie Beide, aus Angst, dass jedes Geräusch sie verraten würde. Ihre Waffen noch immer im Anschlag, falls man sie entdecken würde.
Lynn und Carver standen dicht an einer Mauer und beobachteten unentdeckt aus der Dunkelheit, wie Rin und Dakon sich auf einem nahe gelegenem Dach postierten, um die Brücke, die sich vor ihnen erstreckte, im Augen behalten zu können.
Das Handy in Lynns Jackentasche vibrierte und sie ging ran.
„Wo bist du?“ hörte sie Dakons angestrengte Stimme.
„Eine Sektorkontrolle hat mich aufgehalten, ich bin jetzt durch, in zwanzig Minuten sollte ich da sein.“ erwiderte sie kühl und sah Carver an, der sich kurz zu ihr umgedreht hatte, ehe er sich wieder der Brücke zu wandte. Mit voller Absicht hatte sie Dakon soeben belogen. Sie legte auf und atmete tief durch.
„Bitte sag mir, dass du nicht für Dakon arbeitest.“ sprach Carver leise und beobachtete noch immer die Brücke. Verwirrt musterte Lynn, Carvers konzentriertes Gesicht.
„Was meinst du?“ fragte sie, aber er schüttelte nur den Kopf.
„Da, es geht los.“ bemerkte er angespannt und deutete auf die hellen Lichtblitze, die sich in der Mitte der Brücke auftaten. Ein Wabern von grellen Punkten verdichtete sich langsam zu einem hellen Schein. Dahinter, auf der anderen Seite des Flusses, über die, die Brücke führte, kamen einige schwarze Transporter angerast, aus denen ein Dutzend Soldaten der Sektorpolizei ausstiegen. Lynn beobachtete ebenfalls auf der anderen Seite, einen jungen Mann, der eine Gerätschaft aufbaute, die einer zerlegten Schreibmaschine ähnelte, die Rin, noch wenige Tage zuvor, beschrieben hatte.
„Sie werden das Signal augenblicklich kappen, sobald sie uns sehen. Wir müssen schnell sein.“ befahl Carver. Lynn blieb stumm und sah nochmals zu Dakon herüber, der mit Rin und einem Scharfschützengewehr auf dem naheliegenden Vordach eines Hauses lag. Ihr Blick wanderte auf die Brücke, auf der sich die zuckenden Lichtblitze zu einem grellen Nebel verdichtet hatten. Sein Team war in absoluter Alarmbereitschaft, gewillt jeden Augenblick zuzuschlagen und den Mittelsmann von Shariev aufzugreifen. Und doch, war sich keiner von ihnen im Klaren darüber, wie Lynn und Carver in diesem Augenblick daran waren, ihren Plan, mit einem Übergang, zu gefährden.
„Das ist so eine dermaßen beschissene Idee...“ fluchte Carver leise und schulterte seine Armbrust und den Rucksack. >>Das weiß ich... aber ich brauche Antworten. Es ist meine einzige Chance...<<
„Jetzt! Renn!“ schrie Carver auf, als er bereits sah, wie aus den Lichtblitzen langsam menschliche, dunkle Silhouetten hervor traten.
Lynn rannte so schnell sie konnte, Carver war schneller als sie, aber noch hatte man sie von der anderen Seite nicht sehen können, denn der grelle Nebel verschleierte die gesamte Brücke.
„LYNN!“ Hörte sie den Schrei einer bekannten Stimme und riss den Kopf beiseite, während sie weiter rannte. Dakon hatte sie erkannt und reagierte indem er mit seinem Gewehr, aufgebracht auf sie zielte. Er hatte sofort erkannt, was sie vorhatte. Seine schlimmste Angst manifestierte sich, in seinem Kopf, zu einer bitteren Gewissheit. Sakuya hatte es ihm prophezeit, würde er Lynn weiterhin so vieles verschweigen, würde sie selbst die Initiative ergreifen. Und nun war es soweit. Lynn war im Begriff ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, diese Welt zu verlassen, und a den Ort zurück zu kehren, wo sie einst erschaffen wurde, und der sie zu dem gemacht hatte, was sie nun war.
Der Lichtnebel war nur noch wenige Meter von ihr entfernt und die menschlichen Silhouetten die aus ihm heraustraten, hatten sich beinahe vollständig zu drei Männern verdichtet.
Carver hatte einen guten Vorsprung. Das grelle Licht blendete Lynn, als sie plötzlich mit voller Wucht gegen Jemanden stieß und zur Seite geworfen wurde. Sie bedeckte keuchend ihre Augen und stand auf. Für einige Sekunden konnte sie nichts erkennen, als plötzlich Sakuya vor ihr stand. Seine ernster Blick traf ihren.
„Lynn, jetzt oder nie!“ rief Carver, der bereits mitten in dem Lichtnebel stand und sich hektisch und suchend zu ihr umgedreht hatte.
„Verzeih mir!“ keuchte sie beinahe lautlos und rannte an Sakuya vorbei.
Das Letzte was sie hörte, waren Schüsse die fielen und Dakons Schreie ehe aus dem blendenden Licht vor ihr ein endloses Schwarz wurde.
„Mein....Gott...“ fluchte Lynn leise als sie ihr Bewusstsein wiedererlange hatte und sich hilflos zur Seite drehte und ihre brennenden Augen endlich öffnen zu können. Das verschwommene Bild vor ihr, formte sich zu Carvers Körper, der einige Meter von ihr entfernt, mit der Armbrust im Anschlag, durch dichtes Laub lief. Lynn atmete hektisch ein und aus und überprüfte ob ihr Rucksack und ihre Waffe noch da waren. Als sie aufstand stellte sie fest, dass sie von riesigen Bäumen umgeben waren. An den wenigen Stellen, an denen man durch das dichte, Blattwerk den Himmel sehen konnte, erspähte sie einige vereinzelte Sterne. Es war kühl, kälter als in Kyoto oder Nagoya. Carver hatte sich bereits etwas weiter von ihr entfernt und sie folgte ihm zügig.
„Wenn hier Soldaten in der Nähe sind, wird ihnen der Übergang nicht entgangen sein.“ vermutete Lynn leise und angespannt. Carver antwortete ihr nicht, und lief stumm voraus.
>>Ich habe sie alle zurück gelassen...<<
„Kannst du rennen?“ fragte Carver leise und blieb stehen, während er ihre dunkle Umgebung konzentriert beobachtete. Lynn nickte und begab sich in Kampfstellung. „Wir sollten keinen Kampf herausfordern.“ flüsterte er, beinahe lautlos, und zielte mit seiner Armbrust in die Dunkelheit. Ein lautloser Schuss, dessen Windzug sie bemerkt hatte, raste plötzlich direkt an Lynns Schläfe vorbei.
„Renn!“ Schrie Carver.
Dakon stand in dem Keller des Verhörraumes und beobachtete nervös, wie Rin und Serah einen bewusstlosen Mann hinter der Scheibe an einen Stuhl fixierten. Er hörte wie hinter sich die Türe zufiel. Der Geruch von Zigarettenqualm erfüllte den Raum.
„Der Unbekannte heißt Carver. Er wohnt in Tokio, ein ehemaliger VCO Soldat.“ sagte Sakuya ruhig und trat an Dakon heran, der noch immer den fremden Mann beobachtete.
„Warum hast du sie nicht aufgehalten?“ fragte Dakon fassungslos und zündete sich eine Zigarette an.
„Dakon, ich bin nicht ihr Leibwächter.“ erwiderte Sakuya ernst, als dieser sich bereits zu ihm umdrehte und ihn wütend ansah.
„Soweit ich mich erinnere bist du derjenige, der sie in diese Welt gebracht hat!“ brüllte Dakon und warf voller Zorn seine Zigarette zu Boden.
„Vergiss nicht, wer sie unbedingt in seinem Team haben wollte.“ erwiderte Sakuya und würdigte ihn keines Blickes. Seine Stimme klang noch immer ruhig und er zog an seiner Zigarette.
„Sakuya, hör auf damit-“
„Sonst was?“ Die Blicke der beiden Männer trafen sich nun.
„Dakon, ich warne dich. Vergiss nicht, wem du das alles hier verdankst.“ Sakuya hatte einen Schritt auf ihn zu gemacht.
„Und vergiss du nicht, wem du eure beiden Leben zu verdanken hast, Sakuya Kira!“
Serah und Rin sahen der Szenen erschrocken entgegen, als sie den Verhörraum verlassen hatten.
„Wir fangen morgen mit der Befragung an. Serah funkt heute Abend noch nach Efrafar, es wird Zeit, dass Tetsuya zurück kommt. Und er wird Shiori erneut hierher bringen. Lynn fehlt nun, wir müssen ihren Posten ersetzten, Renè kommt auch ohne sie aus.“
Es waren zwei Tage vergangen in denen Lynn und Carver nicht ein Wort miteinander gewechselt hatten. Sie waren unentwegt gerannt.
Um das Auto, in dessen Kofferraum sie noch immer lagen, war es still geworden. Die Soldaten schienen vorüber gezogen zu sein. Mit einem Kopfnicken symbolisierte Lynn Carver, dass er ihn öffnen sollte. Die Sonne ging langsam auf, aber noch immer waren sie inmitten von Wäldern, das einzige was sich verändert hatte, war die Bundesstraße, auf die sie gestoßen waren.
„Wir müssen von der Straße weg.“ stellte Lynn leise fest und folgte Carver, der bereits in den dichten Wäldern verschwunden war.
Ihr Kopf war leer, ihre Gedanken kreiste nur noch um die Sorge nicht gefunden zu werden und endlich einen sicheren Platz ausmachen zu können.
Serah klopfte an die Tür von Sakuyas Apartment. Es herrschte Stille während sie in dem dunklen Hausflur an der Tür horchte.
„Komm schon Sakuya...“ sagte sie leise zu sich selbst. Besorgnis Zeichnete sich auf ihrer Stirn ab, als sie sich dazu entschlossen hatte, sich an dem Türschloss zu schaffen zu machen. Nach einigen Sekunden war es auf und sie betrat vorsichtig das dunkle Apartment.
„Sakuya, bist du da?“ fragte sie leise in die Dunkelheit.
Er saß im Wohnzimmer auf dem Sofa, vor einem Glas Whiskey und betrachtete sie goldene Flüssigkeit.
„Ist das dein ernst Serah?“ fragte er und sie hörte die Verärgerung in seiner Stimme. Sie betrachtete ihn einen Moment und setzte sich dann entschlossen, während sie ihre Wolljacke fest schloss.
„Dakon ist sehr verärgert.“ sagte sie leise und sah aus dem Fenster auf die Lichter der Stadt, die die Dunkelheit durchtrafen und sie beinahe blendeten. Sakuya zeigte wenig Reaktion ,außer einem verächtlichen Schnauben, blieb er stumm.
„Warum sitzt du hier im Dunkeln?“ fragte sie schließlich und sah besorgt zu ihm hinüber. Sakuya wandte seinen Blick von dem Glas Whiskey ab und sah sie an:
„Es ist mir egal ob Dakon verärgert ist. Sie hat das Recht zu erfahren, wo sie herkommt.“
„Weißt du...“ Serah hielt einen Moment inne.
„Dakon hat so viel mit der ganzen Koordination der UEF zu tun, er vergisst manchmal was alles geschehen ist. Warum wir überhaupt so weit gekommen sind.“ Sakuya stand auf und ging zum Fenster. Er betrachtete Serah und bemerkte, dass er sie einzuschüchtern schien. Dakons Frau war sich überaus bewusst, wie gefährlich Sakuya werden konnte. Und diese Gewissheit ging nicht nur von seiner Größe und seiner Kraft aus.
„Warum bist du hier?“ fragte er schließlich und ihre Blicke trafen sich. Er sah ,wie sie kurz überlegte ,ehe sie ihm antwortete:
„Weil ich denke, dass du das Richtige getan hast.“ Sakuya nickte so schwach, dass sie es beinahe nicht bemerkt hätte.
„Aber ich weiß, dass auch du gehen wirst.“ Sein ernster Blick blieb bestehen und er zündete sich eine Zigarette an. Einen Augenblick überlegte Serah, ob es klug war, dass sie ihren letzten Satz mit so viel Sicherheit formuliert hatte. Der Mann, der dort vor ihr stand, ließ sich nicht in seine Schranken weisen. Das hatte man bereits zu oft in der Vergangenheit getan. Würde sie das Fass zum überlaufen bringen, könnte sie nichts mehr vor seinem kalten Blick retten.
„Du kannst sie nicht vor allem Bösen in diesen Zeiten beschützen. Aber ich weiß, dass du sie nicht in ihr Verderben rennen lassen wirst.“ Serahs Stimme war leiser geworden, jedoch fehlte es ihr nicht Überzeugung. Sie betrachtete Sakuya, einen Augenblick lang, wie er am Fenster stand und rauchte. Noch immer unsicher, wie er reagieren würde.
„Ja. Ich werde gehen. Aber ich lasse ihr ein paar Tage Zeit. Sie ist ein Teil von Valvar. Sie weiß sich zu helfen. Aber ich werde sie zurück holen. Und dann werde ich sie wecken.“ Er war fest entschlossen. Die junge Frau, die er einst so gut gekannt hatte, hatte ihre Loyalität bereits mehrfach bewiesen. Und er war nicht im Stande, Lynn weiterhin so leiden zu sehen. Ein weiteres Mal würde er sie beschützen. Aber er müsste zugleich Dakons Aufforderung, Lynn endlich zu wecken, gleichkommen. Das war er dem Mann schuldig, ohne den sie beide, vermutlich bereits Tod wären.
Serahs nachdenklicher Blick hatte sich in Sprachlosigkeit gewandelt. Es verstrichen einige Minuten der Stille. Schließlich wollte sie etwas sagen, aber Sakuya unterbrach sie:
„Es ist jetzt fast vier Jahre her. Sie ist älter geworden. Sie ist nicht mehr das fünfzehn jährige Mädchen von damals.“ Serah schluckte und fand ihre Worte wieder:
„Du meinst, du glaubst sie könnte das alles heute verkraften? Was damals in T`schadna Ham geschehen ist?“ Sakuya zog an seiner Zigarette und sah wieder aus dem Fenster. Dakon hatte seiner Frau also endlich einmal die Wahrheit gesagt. Das erklärte zumindest den Grund, warum sie nun hier, vor ihm saß. Aber es handelte sich doch um eine Angelegenheit zwischen den Beiden Männern. Das Serah nun ebenfalls von diesem Umstand wusste, könnte die ganze Sache erschweren. Dakon hätte ihn zumindest Fragen können. Dennoch war ihm Serah lieber, als jemand anderes. Entgegen ihrem Mann, hatte sie stets ihren guten Glauben und ihre Zuversicht beibehalten können. Ein Lichtschimmer in diesen schweren Zeiten.
„Dakon hat es dir also gesagt.“ Sakuyas Worte klangen erneut Verärgert und mit einer unruhigen Gewissheit.
„Ja... er hat mir davon erzählt, wie er damals den Anruf von seinem Vater bekam. Wie er ihn bat, euch Beide von Valvar nach Efrafar zu bringen. Dakon hatte so viel Hoffnung in euch. Aber er sagte, dass Lynn nicht mehr einsatzfähig gewesen wäre. Er hatte sie nur einmal kurz gesehen, als er euch zu sich nach Efrafar geholt hatte. Den Rest der Zeit hattest du dich um sie gekümmert, richtig?“ Sakuya atmete tief ein, die Gedanken an diese Zeit schienen ihm zu zusetzten. Er erinnerte sich an einige Bilder. Wie dieses zerbrechliche Mädchen ihn voller Hoffnungslosigkeit, angesehen hatte. Er hatte Lynn damals weg gebracht ,von Dakon und den anderen. Sie sollte in Ruhe gelassen werden, und versuchen das Geschehene verarbeiten zu können. Aber Sakuyas Bemühungen waren erfolglos geblieben. Lynn schien niemand mehr helfen zu können. Es brach ihm das Herz.
Dakon hatte sie nur während der Überführung zwischen den Welten zu Gesicht bekommen. Vermutlich hatte er sich deshalb erst so spät an sie erinnert, nachdem er sie bereits in seinem Team aufgenommen hatte. Das er das Zeichen an ihrer Schulter letztendlich ebenfalls gesehen hatte, ließ seine Vermutungen bestätigen. Lynn war das Mädchen, dass Dakon vor vielen Jahren, zusammen mit Sakuya und auf die Bitte seines Vaters hin, aus der VCO befreit hatte, und sie mit nach Efrafar gebracht hatte.
„Ja. Sie war nicht mehr die Selbe, nachdem ich sie aus der Wüste zurück geholt hatte. Sie haben ihr den SND herausgeschnitten gehabt. Sie wurde gefoltert, etliche Male. Ich habe mir das Ganze danach fast ein halbes Jahr mit angesehen. Sie wollte nicht mehr Essen, konnte nicht mehr schlafen. Zweimal, als ich in dem sicheren Versteck nach ihr sehen wollte, hat sie mich beinahe erschossen.“ Sakuya schwieg für einen Moment. Serah sah wie er erneut tief Luft holte:
„Sie bat mich sie zu töten.
Ich konnte es nicht. Ich entschied mich ihre Gedächtnis zu löschen. Ich jagte ihr eine Kugel in den Kopf, der den Teil ihres Gehirns verletzte, der für ihr Kurzzeitgedächtnis verantwortlich war. Ich sprach mit einem Freund von Dakon, er war Arzt. Er kümmerte sich fortan um sie, und als alle Schäden behoben waren, brachte er sie in diese Welt und ließ sie Nachts auf den Straßen von Tokio zurück. Ich wollte nur, dass sie die Chance auf ein normales Leben bekommt. Das war das einzige, was ich immer für sie wollte.“
Sakuya sah einen Augenblick zu Serah und konnte sehen wie sie sich einige Tränen von den Wangen wischte. Die Zusammenhänge waren ihr langsam bewusst geworden, während Sakuya gesprochen hatte. Sie verstand ihn, sie verstand ihn so sehr, hatte sie selbst doch auch nichts anderes für ihre Tochter gehofft. Und doch, war sie nun tot. Aber Lynn lebte noch. Und Dakon war im Begriff, sie erneut zu diesem bedrohlichen Zustand zurückführen zu wollen, nur damit sie die Kräfte frei entfalten konnte, für die die VCO in ihrem Körper gesorgt hatte. Es ging Serahs Mann nicht um Lynn. Er wollte sie nur als Waffe benutzen. Und Sakuya war seinem Vorhaben ausgeliefert. Es war Dakon gewesen, der ihn und Lynn nach Efrafar geholt, und ihnen damit vermutlich das Leben gerettet hatte. Natürlich war Sakuya ihm etwas schuldig. Aber konnte Dakon wirklich von ihm verlangen, Lynn dafür zu opfern?
„Warum hast du nie etwas gesagt?“ fragte sie schließlich leise. Sakuya schwieg. Zugleich stellte sie fest, wie dumm ihre Frage gewesen war. Wem hätte Sakuya etwas darüber sagen sollen? Es war seine Angelegenheit. Es war eine Sache, zwischen ihm und Lynn.
„Erzähl mir, wie sie davor war...“ Sakuya ging zum Tisch und nahm das Glas Whiskey.
„Ich fand sie, da war sie noch so jung.
Ein kleines Mädchen mitten unter einer Söldnertruppe, ebenfalls in der Wüste von T`schadna Ham. Ein Sandsturm tobte in einem kleinen Camp im Osten, als ich und meine Männer sie fanden. Das Missionsziel war es, alle zur Basis der VCO zu bringen, sie zu rekrutieren um aus ihnen ebenfalls Soldaten zu machen. Dieses fremde stumme Mädchen erledigte die halbe Einheit, mit ihren Elf Jahren. Ich brachte sie schließlich nach Valvar, zur VCO. Sie war so abgemagert, sie sprach nicht. Es dauerte seine Zeit. Sie nahmen Modifikationen an ihr vor, unzählige Behandlungen mit Geomas. Ich hatte den Auftrag sie durch die Grundausbildung zu bringen. Sie war die beste ihrer Gruppe. Mit vierzehn Jahren wurde sie in mein Team versetzt, und begleitete mich auf Einsätze. Sie sprach endlich. Das Training machte ihr Spaß. Sie lachte viel, aber sie war mir auch zugleich ein Rätsel, mit ihrer undurchdringlichen Art und Weise, wenn sie wütend wurde. Auch wen die anderen Soldaten sie ein wenig Sonderbar fanden, akzeptierten sie sie, als einziges weibliches Mitglied meines Teams.“
Serah hörte Sakuya nachdenklich zu. Er sprach ruhig, wie immer, und der Klang seiner tiefen Stimme beruhigte sie. Serah hatte schon viele Geschichten über die VCO gehört. Wie es dort zugehen sollte. Zuletzt durch ihren Mann, Dakon, dessen Vater ein wichtiges Mitglied ihrer Forschungseinrichtung gewesen zu sein schien. Dakon hatte ihr von dem unerbittlichen Ausbildungsprogramm dort erzählt. Dass sie ihre Rekruten mit Gentherapien veränderten, dass sie menschliche Waffen heranzüchteten. Und er hatte ihr einen Abend mal davon erzählt, als sie sich nach Sakuya erkundigen wollte, dass er ein ehemaliger Teamleiter innerhalb der VCO gewesen sei. Und wie Sakuya nun vor ihr stand, und mit ihr sprach, verstand sie immer mehr warum. Es war ihr bereits bei den letzten Einsätzen aufgefallen, wie diszipliniert und stets konzentriert Sakuya agierte. Seine Worte waren stets knapp, aber es fehlte ihnen absolut nicht an Autorität. Natürlich war einmal ein Teamleiter gewesen, die Rolle nahm er bis heute ein, nur Dakon maßte sie immer wieder an, Sakuya Befehle zu erteilen, die dieser jedoch akzeptierte und stets befolgte. Ob er jedoch bereit wäre, seine frühere Rekrutin Lynn zu opfern, im Kampf gegen die gesamte VCO, blieb fraglich.
„Und dann kam der Einsatz in T`schadna Ham, wo sie gefangen genommen wurde?“ fragte Serah leise, und unsicher. Sakuya schwieg erneut einen Moment.
„Ja, und erst ein halbes Jahr später, bekam ich den Auftrag sie zurück holen zu können, mit einem weiteren Team.“ Serah nickte erschüttert. Sie begriff langsam was er ihr da erzählte. Er hatte Lynn also aus der Wüste geholt, als sie noch fast ein Kind gewesen war. Und schließlich verlor er sie dort, bei einem gemeinsamen Einsatz, Jahre später. Sie wurde ein halbes Jahr lang gefoltert und verhört, ehe er sie wieder befreien, und zur VCO zurück bringen konnte. Und schließlich blieb ihm nur ein traumatisiertes Mädchen, das nicht mehr in der Lage dazu war, die angeforderten Pflichten zu erfüllen. Deshalb musste es wohl schließlich dazu gekommen sein, dass Dakon, Sakuya und Lynn aus der VCO befreite, und sie zusammen nach Efrafar, in Sicherheit brachte. Jedoch mit dem unentwegten Gedanken, Lynn und Sakuya, zwei perfekte Soldaten, dazu benutzen zu können, und endlich eine geeignete Waffe gegen den unerbittlichen Kampf gegen die VCO gefunden zu haben. Das war abartig. Serah schüttelte sich, entsetzt von den scheinbaren Motiven ihres Mannes.
Ihr nachdenklicher Blick hatte wieder Sakuya fixiert.
„Serah... du solltest jetzt gehen.“
Dakon saß nachdenklich neben Rin und Beide betrachteten einige Lagepläne als Serah den Raum betrat. „Kann ich mit dir reden?“ fragte sie und blieb in der Tür stehen, als beide Männer verwundert zu ihr aufsahen. Dakon nahm seine Zigaretten und stand auf.
„Willst du einen Kaffee?“ fragte er sie in der Küche und nahm einen Schluck aus seiner Tasse. Serah schüttelte den Kopf.
„Es ist falsch was du tun willst.“ platze es aus ihr heraus und sie sah die Verwunderung in Dakons grauen Augen. „Wovon sprichst du?“ fragte er verwundert, über den plötzlichen enthusiasmus seiner Frau, ihm das Leben schwer machen zu wollen. Er stellte die Tasse auf den Tisch. Serah strich sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht und musterte ihren Mann:
„Du musst Sakuya Kira gehen lassen. Er wird sie zurück holen, aber lass ihn gehen.“ Dakon schnaubte und ging einige Schritte durch die Küche.
„Du warst bei ihm, nicht?“ fragte er schließlich. Serah nickte und ihre Blicke trafen sich.
„Du hast keine Ahnung.“ sagte er leise und abweisend. Serah ging einige Schritte auf ihn zu und fasste nach seiner Hand. „Er hat es mir erzählt.“ sagte sie aber Dakon schüttelte nur verblüfft den Kopf.
„Was hat er dir erzählt? Was mein Vater alles mit den Beiden angestellt hat?
Was die beiden eigentlich sind?
Hat er dir auch von dem SND erzählt?“ Dakons Stimme klang zornig.
„Nein, davon hat er nichts erwähnt. Aber ich bitte dich, als deine Frau, ihn gehen zu lassen. Er hat auch dir das Leben gerettet, Dakon. Und ohne Lynn, würde nun ich nicht hier stehen. Du hast keine Ahnung was sie alles durchgemacht hat, sie hat ein Recht darauf zu wissen, wer sie ist!“ Auch Serah sprach nun lauter.
„Und du weißt also was sie durchgemacht hat?“ fragte er wütend und hielt inne, als er Serahs unverständlichem Blick begegnete.
„Es tut mir leid.“ sagte er schließlich etwas ruhiger, als er begriff, dass auch Serah, die letzten drei Jahre in Gefangenschaft hatte leben müssen.
„Du kannst die Beiden nicht wie dein Eigentum behandeln. Was auch immer da noch ist, von dem ich nichts weiß, aber sie gehören dir nicht. Dein Vater hat sie zu dem gemacht, was du nun einzig in ihnen siehst. Aber hör auf, sie zu behandeln, als wären es deine Waffen.“
„Serah die Welt ist, wie sie ist, weil Valvar ihre Verträge mit Efrafar nicht eingehalten hat. Weil er, Negan, größenwahnsinnig geworden ist und die Verträge nicht einhalten wollte. Sie werden jeden unserer Leute, bis auf den letzten vernichten. In Efrafar wird schon bald kein Stein mehr auf dem anderen stehen, und du willst, dass ich unsere einzige Hoffnung auf ein Fortbestehen unserer Welt wegwerfe?“ Dakon stand Serah fassungslos gegenüber.
„Hättest du gesehen, was ich gesehen habe, während sie unser Kind getötet haben, hättest du die Schreie der anderen gehört, dann wärst du nicht so besessen von der UEF, und würdest dich wieder etwas menschlich zeigen! Lynn hat so viel für uns getan, sie hat es verdient zu wissen wer sie ist!“
„Du hast keine Ahnung welches Ausmaß das alles hat. Lynn und Sakuya Kira sind nicht wie das, was wir kennen, sie sind die Zero-Projekte meines Vaters, sie sind die größte Waffe der VCO! Wenn Lynn ihr Gedächtnis wieder langt, wenn Sakuya nicht da sein wird, steht uns allen etwas weitaus schlimmeres bevor, als das was momentan Einzug in unsere Welt hält! Sie ist an ihn gebunden! Und erst, wenn er er sie wieder weckt, kann sie ihre Kräfte frei entfalten und wird zu der Waffe, die man aus ihr gemacht hat!“
Lynn lag wach auf den verstaubten Holzdielen einer kleinen Hütte, die sie und Carver erst nach Tagen, im Wald entdeckt, hatten. Es war ihre erste Nacht, die sie nicht draußen verbrachten.
Ihre Waffe fest in den Händen, dachte sie über Sakuya und die anderen nach. Ein lautes Poltern riss sie aus ihren Gedanken und durch die Tür, auf die sie gezielt hatte, betrat Carver die kleine Hütte.
„Warum liegst du auf dem kalten Boden...“ sagte er vorwurfsvoll und betrachtete sie einige Sekunden in ihren zerrissenen Sachen. Bei ihrer Unentwegten Flucht durch den Wald, war sie an etlichen Ästen und Bäumen hängen geblieben.
„Hast du was?“ fragte sie leise und richtete sich erwartungsvoll auf. Er nickte und gab ihr eine Hand voller Nüsse, die sie noch nie zuvor gesehen hatte.
„Das ist das Einzige.“ sagte er ernüchtert und setzte sich, weinige Meter von ihr entfernt, auf den Boden. Seine Armbrust hielt er noch immer fest.
„Wann werden wir die Stadt erreichen?“ fragte Lynn nachdem sie mühevoll einige Nüsse geknackt hatte.
„Wir könnten noch Wochen davon entfernt sein.“ antwortete Carver knapp und zündete sich eine Zigarette an. Lynn sah enttäuscht aus dem kleinen Fenster in die Nacht.
„Warum sprichst du nicht mehr mit mir?“ fragte sie schließlich und stand auf. Carver schwieg und sah stumm in die Dunkelheit.
„Es war eine verdammt dumme Idee hierher zu kommen. Es ist viel schlimmer geworden, als ich gedacht hätte.“ antwortete er schließlich, nachdem sich Lynn davon überzeugt hatte, dass es um die Hütte herum ruhig war. Sie sah ihn einen kurzen Moment an und ihre stummen Blicke trafen sich:
„Wir werden es schaffen.“ sagte sie ruhig und spürte seinen wütenden Blick. Er stand auf und legte seine Armbrust auf die Fensterbank.
„Wir sind nicht mehr fähig vernünftig zu kämpfen. Wenn wir jetzt in einen Kampf geraten, ist das unser Tod!“ Lynn ging einige Schritte durch den Raum. Carver sah durch das Fenster, einen hybriden Soldaten durch den Wald schleichen.
„Ich weiß nicht wie es dir geht, aber ich kann noch kämpfen.“ erwiderte Lynn sauer. Carver schüttelte nur stumm den Kopf.
„Du hast dich entschieden mit hierher zu kommen, warum auch immer, also hör auf, alles schlecht zu reden!“ sagte sie schließlich und sah Carvers wütend an.
„Achja?“ fragte er sauer und machte einen Satz zu ihr um sie packen: „Dann zeig mir, dass du IHNEN gewachsen bist!“ schrie er und prompt wurde der Soldat im Wald auf die Geräusche aufmerksam und nährte sich ihnen. Carver trat mit Lynn in seinen Armen, die sich heftig wehrte, die Türe der Hütte auf: „Hey, wir sind hier!“ schrie er rau und der Soldat hob seine Waffe und rannte augenblicklich auf die Beiden zu.
„Lass mich los!“ schrie Lynn und bekam einen heftigen Stoß ab, der sie vor die Füße des Soldaten beförderte. Ein Schuss schlug direkt neben ihrem Kopf in den Boden ein, als sie sich blitzschnell zur Seite weg rollte und dem Soldaten die Beine wegtrat. Sein Gewehr flog über den nassen Waldboden und Lynn stürzte sich auf den Mann. Sie holte aus und schlug ihm mit aller Kraft ins Gesicht. Zu ihrer Verwunderung stöhnte er nicht einmal und trat sie mit einem Male von sich herunter. Sie wollte nach ihrer Waffe greifen, dachte aber daran, dass jeder im Umkreis den Schuss hören würde. Sie stand hektisch auf und packte den Soldaten, der sich gerade nach seinem Gewehr bücken wollte, um ihn gegen die Hüttenwand zu drücken. Mit aller Kraft packte sie seinen Hals und zog ihn hoch, während seine Füße langsam den Boden verloren. Sein Blick fixierte ihre Augen fest, von einem Schreien oder Stöhnen war nichts zu hören. Sie bekam einen festen Tritt von ihm ab und rutsche durch die nassen Blätter ehe sie erneut zu Boden fiel. Der Soldat stürzte sich auf sie. Carver betrachtete den Kampf von der Tür aus, mit seiner Armbrust im Anschlag, bereit jede Sekunden zu schießen, würde die Situation eskallieren. Lynn war schnell und wich den meisten Schlägen des Soldaten gekonnt aus. Die präzisen Tritte und Schläge die sie verteilte, verblüfften Carver zunehmend, und ein Gedanke, der ihm schon einmal gekommen war, rückte in seinem Kopf in den Vordergrund.
Ein dumpfes Geräusch riss Carver aus seinen Gedanken und er betrachtete Lynn, wie sie voller Blut mit einem Messer in der Hand, auf den Soldaten einstach, ehe jegliche Lebenszeichen seinen Körper verlassen hatten.
„Was zur Hölle ist das...?“ fragte sie entsetzt als sie auf einige technische Organe blickte, die in dem weit aufgerissenen Brustkorb des Mannes zu sehen waren.
„Hybride Technologie von Valvar.“ antwortete Carver und wollte gerade einige Schritte auf Lynn zumachen, als sie ihm bereits gegenüberstand und ihn packte.
„Ist das dein verdammter Ernst!“ schrie sie und das Ganze artete in ein kurzes Handgemenge der Beiden aus.
„Ich dachte wir wären ein Team!“ rief Lynn wütend und wollte gerade wieder auf Carver losgehen, als er sie zuerst packte und ihr den Pullover zerriss. Lynn war geschockt und hatte keine Chance sich aus seinem festen Griff zu befreien, während er sie mit aller Kraft durch den kleinen Flur des Hauses zog, in das kleines Badezimmer. „Lass mich los!“ rief sie verzweifelt, aber Carver ließ sie erst vor dem Spiegel los und riss noch ein letztes Mal an Lynns Pullover, dessen letzte Fetzen bei ihren Füßen liegen blieben. Entsetzten und Scham zeichnetetn sich auf Lynns verunsichertem Gesicht ab, die nur noch in ihrem BH vor Carver stand.
„Was ist los mit dir?“ rief sie entsetzt, als sie ihre Worte wieder fand, aber Carver deutet ihr nur, sich umzudrehen. Sie holte Luft. Der Kampf hatte sie viel Kraft gekostet und als sie sich etwas beruhigt hatte, drehte sie ihren Kopf, um ihren Rücken im Spiegel betrachten zu können. Das Zeichen auf ihrer Schulter leuchtete in einem satten, und hellem Blau, und blendete beinahe in der Dunkelheit des Badezimmers.
„Was willst du von mir?“ fragte Lynn leise und noch immer außer Atem, als sie zu Carver sah, der im Rahmen stand und sich eine Zigarette anzündete.
„Du bist nicht wie ich Lynn. Du kannst gegen SIE kämpfen, aber mir fehlt langsam die Kraft dazu.“
Lynn sah ihn ungläubig an. Sie begriff nicht worauf er hinaus wollte.
„Du bist nicht wie ich, nicht wie SIE, die hybriden Soldaten. Du bist etwas anderes. Der Gedanke kam mir schon einmal. Du bist stärker, schneller, besser. Das Zeichen, es ist anders als unsere. Wann hast dich das letzte mal im Spiegel gesehen? Sieh dir deine Augen an.“
Lynn schüttelte fassungslos den Kopf und sah in den Spiegel. Trotz der Dunkelheit konnte sie einen deutlichen grünen Kreis um ihre Iris erkennen.
„Was hat das zu bedeuten? Was sind diese Soldaten?“
„Hybride Technologien. Ich dachte Anfangs du wärst eine von ihnen, du bist noch jung. Ihre Körper sind menschlich, aber ihre Organe werden durch eine synthetische Technologie der VCO ersetzt. Sie sind schmerzunempfindlich. Besser, schneller, eben so wie du. Aber du bist nicht eine von ihnen. Dein Blut, es hat diesen bläulichen Schimmer. Sie haben es nicht. Es kommt von dem synthetisierten Geomas was man dir in hohen Dosen verabreicht haben muss. Wie lange auch immer das her sein mag. Sie bekommen es nur in kleinen Dosen, nicht nachweisbar. Du hast die kleine Narbe im Nacken, du hattest einen SND, der anscheinend entfernt wurde.“
Lynn schüttelte den Kopf und sah Carver ungläubig an. Was redete er da nur?
„Verstehst du nicht, dass du eines der Zero-Projekte von Valvar bist?“ Lynn trat einige Schritte an Carver heran und sah zu ihm hoch:
„Was weißt du darüber?“
Carver lehnte am Fenster und sah zu Lynn die auf dem Boden saß und ihn beobachtete. Nachdem ihm das Ausmaß seiner Wut, über Lynns Leichtfertigkeit im Bezug auf die hybriden Soldaten, bewusst geworden war, hatte er sich über sich selbst gewundert. Dass Lynn beinahe halb nackt vor ihm stand, hatte das Ganze nicht besser aussehen lassen. Er hatte ihr seine Jacke gegeben.
„Ich weiß nicht viel darüber, nur was man damals am Stützpunkt so erzählt hat. Ich war einer der letzten der Serie, ohne SND, da ich eigenständig in Außeneinsätzen agieren sollte. Es ist ein Synaptic-NetDive-Chip, der es ermöglicht irgendwelche Botenstoffe im Körper zu regulieren, die mit dem Geomas reagieren, um die Soldaten kontrollierbar zu machen. Es ist wie mit einem Computer: Du erstellst eine Funktion, die nur unter bestimmten Bedingungen und Voraussetzungen ausgeführt wird. Sie sind Marionetten, wenn der Chip aktiv ist. Bei den Zero-Projekten lief das etwas anders. Sie waren die Vorboten der ganzen Technologie. Der SND war ursprünglich nur eine Lösung um sie in Schach zu halten. Durch den SND konnte ein Stoff im Gehirn kontrolliert werden, der sonst bei seiner Ausschüttung dazu führte, dass der Betroffene nur noch den niedersten Überlebenstrieben erlag. Der Soldat wäre nicht kontrollierbar und eine absolute Gefahr gewesen.“
Lynn hörte ihm fassungslos zu und überlegte schließlich einen Augenblick.
„Ich habe keinen SND mehr.“ sagte sie schließlich, aber es klang mehr nach einer Fragte.
„Ich weiß nicht, wie es möglich ist, dass du dann überlebst, und dich noch kontrollieren kannst. Ich bin kein Entwickler,oder Arzt.“
Wenn der SND Chip dazu gemacht worden war, um der Grenzenlosigkeit des erwähnten synthetischen Geomas entgegen zu wirken, wie war es Lynn dann eigentlich möglich, nicht völlig unkontrolliert zu agieren? Aber worüber zerbrach sie sich da den Kopf? Carver hatte doch gesagt, es wären Geschichten, die man sich am Stützpunkt erzählt hätte. Wahrscheinlich stimmte nur die Hälfte davon. Sie schon den Gedanken schnell wieder bei Seite und sah an sich herunter. Wo war so viel Wut in Carver hergekommen? Lynn musste sich eingestehen, dass sie das erste Mal Angst vor ihm bekommen hatte. Er war ihr körperlich definitiv weitaus überlegen. Superkräfte hin oder her. Nachdem er schon mehrmals betont hatte, welch eine dumme Idee es war, nach Valvar zu kommen, fragte Lynn sich doch, warum er ihr dann trotzdem geholfen hatte.
„Warum bist du mit gekommen?“ fragte Lynn schließlich und Carver holte tief Luft.
„Du erinnerst dich daran was ich von meinem ersten und letzten Außeneinsatz erzählt hatte?“ Lynn nickte.
„Die Frau, die damals mit getötet wurde, Elaine, sie hatte eine Schwester. Sie lebt hier. Es gibt die Chance, dass ich sie finden kann, und ihr sagen kann, was wirklich mit Elaine geschehen ist. Was die VCO ihren eigenen Leuten antut.“ Lynn nickte stumm und beobachtete Carver wie er aus dem Fenster sah. Sollte sie weiter nachfragen? Entschieden, das Ganze erst einmal auf sich beruhen zu lassen, seufzte Lynn leise:
„Du kennst Dakon, nicht wahr?“ fragte sie schließlich und Carver sah zu ihr.
„Dakon Nomura Porter, der Gründer der UEF. Hast du eine Ahnung wer uns geschaffen hat?“ fragte Carver und Lynn sah Wut in seinen Augen. Sie schüttelte ahnungslos den Kopf.
„Dr. Hershel Porter, der Mann, dem wir dieses Leben zu verdanken haben, war Dakons Vater. Er ist der führende Wissenschaftler der VCO gewesen. Ich würde alles dafür tun, um ihn töten zu können. Was hat er sich nur dabei gedacht? Menschliche Waffen...“
Lynn dachte eine Zeit lang über Carvers Worte nach und schwieg. Die Sonne ging langsam wieder auf, und einzelne Strahlen schienen vereinzelt durch das dichte Blattwerk des Waldes.
„Geht es dir gut?“ fragte Carver als Lynn in Gedanken versunken auf dem Boden lag, erneut mit ihrer Waffe in den Händen. Sie nickte und sah zu ihm hoch. Er betrachtete sie einen Augenblick. Ihr angespannter Körper der ausgestreckt vor ihm auf dem Boden lag, wie sie ruhig atmete, den Blick stets zum Angriff bereit, auf die Tür gerichtet. Er fragte sich, wie sie sich wohl gerade fühlte. Ihre Haare bedeckten einen kleinen Teil des hellen, staubigen Holzes unter ihr, und ihre mittlerweile grünen Augen schimmerten in dem Sonnenlicht, dass durch das Fenster fiel. Sie trug seine viel zu große Jacke und es tat ihm plötzlich leid, dass er sie so heftig angefasst hatte.
„Es tut mir leid, ich-“
Lynn wandte ihren Kopf zu ihm: „Ist schon gut.“ sagte sie leise, ehe sie aufstand und ihre Sachen packte, um mit Carver weiter zu ziehen. Sie hatte natürlich bemerkt, wie er sie angesehen hatte. Und langsam kam ihr der Gedanke daran, dass er vor wenigen Stunden so aus der Haut gefahren war, gar nicht mehr so absurd vor. Die Hybriden waren mehr als Gefährlich, und dass sie so naiv an die ganze Sache herangegangen war, machte es nicht besser.
„Du hast dich also entschieden?“ fragte Dakon und stand Sakuya, auf einer langen Landstraße außerhalb von Nagoya, gegenüber. Sakuya zog an seiner Zigarette und beobachtete die aufgehende Sonne.
„Sei dir über die Konsequenzen im klaren. Wenn Lynn ihr Gedächtnis wieder erlangt, wird es erneut so werden, wie es war, als du sie in diese Welt gebracht hattest. Sie hat ein Trauma erlebt, und sie hatte keine Zeit es zu verarbeiten. Sie wird keinen Nutzen mehr haben, vorerst, und dann liegt alles an dir. Sie wird dich brauchen.“ sagte Dakon langsam und Sakuya wandte sich ihm zu:
„Hör auf damit. Es sind fast vier Jahre vergangen. Hättest du es nur zugelassen, ihr die Wahrheit zu sagen, wäre sie nie zurück an diesen Ort gekehrt. Du hast bekommen, was du verdient hast. Obwohl sie deine Frau und dir, unzählige Male geholfen hat. Jetzt fehlt sie dir. Ich werde sie dir zurück bringen. Und wenn es so sein wird, wie du es dir ausmalst, dann wird es eben so sein. Sie gehört dir aber nicht. Linnai gehört niemandem von uns. Sie hatte immer ein Recht auf die Wahrheit, nachdem sie zu uns gekommen war, und du ihr deine unseriösen Angebote gemacht hattest. Ich wollte nur, dass sie ein normales Leben führen würde, aber es kam eben anders.“ erwiderte Sakuya ernst und in ruhig gewohntem Ton. Dakon ging einen Schritt zurück. Hätte Dakon ihr die Wahrheit gesagt, direkt zu Beginn, hätte Lynn vermutlich das Weite gesucht. Sicherlich wäre es besser für sie selbst gewesen, aber nicht für ihn, und auch nicht für den Kampf gegen die VCO. Es war reines Glück gewesen, dass Jin sie ausfindig gemacht hatte, schließlich hatte er sich gegen Dakon gewandt und für die VCO gearbeitet. Aber es war das Glück für Dakon, dass Lynn plötzlich wieder da war, und es schien, als wäre sie eine normale Soldatin. Dass sie nun selbstständig agierte, und nach Valvar geflüchtet war, war so nicht geplant gewesen. Schließlich wollte ihr Dakon erst unmittelbar vor dem entscheidenden Kampf gegen die VCO, die Wahrheit über ihre Herkunft preisgeben. Mit dem Ziel, dass sie sich wieder an alles erinnern würde, und ihre Wut, die Trauer und der Schmerz über alles, sie dazu bringen würde, ihren Kräften freien lauf zu lassen. Und erst dann, würde er sie, zusammen mit Sakuya, als unbesiegbare menschliche Waffe Einsätzen. Mit der Hoffnung darauf, dass die Beiden nicht mehr zu halten wären, und sie die VCO zusammen mit der Hilfe der UEF stürzen könnten. Aber dazu brauchte es Lynns verlorene Erinnerungen, allem voran die überaus traumatisierenden, ihrer Gefangennahme in der Wüste. Denn nur so, wäre sie nicht mehr fähig ihren Körper zu kontrollieren.
„Ich habe dir immer Vertraut. Du hast meinem Vater damals ein Versprechen gegeben. Brich es bitte nicht.“ erwiderte Dakon. Sakuya sah ihn noch immer an. Er wusste genau, was dieser Mann vor hatte. Aber das Versprechen an Hershel zwang ihn dazu, sich Dakon zu fügen.
„Mach dir keine Sorgen, ich komme zurück. Aber du hast die falsche Entscheidung getroffen, ihr nicht die Wahrheit zu sagen.“
„Pass auf dich auf, Sakuya Kira.“
-16- Here is the Truth
Lynn und Carver rannten eine kleine Landstraße in Richtung Osten entlang. Eine Truppe Soldaten war ihnen dicht auf den Versen. Schüsse hallten durch die Wälder.
„Carver, Carver!“ rief Lynn und zog ihn weiter, nachdem er stehen geblieben war, um seine Armbrust neu zu laden.
„Wir können nicht stehen bleiben, das sind zu viele!“ keuchte Lynn. Carver rannte neben ihr, stets den Blick aufmerksam in alle Richtungen, als sie plötzlich das laute Geräusch eines Motors von vorne Vernahmen, und ein schwarzer Lieferwagen auf sie zuraste.
„Los in den Wald!“ rief Carver als er sah, wie zwei Männer aus dem Auto sprangen und mit zwei Schrotflinten in ihre Richtung zielten. Ihre Schüsse rasten an Lynn und Carver vorbei und erledigten zwei Soldaten in einigen Metern Entfernung.
„Los! Steigt ein!“ schrie einer der Beiden unbekannten Männer und winkte sie zu sich. Lynn suchte unsicher und hektisch Carvers Blick.
„Ihr Beide solltet hier besser nicht umher irren.“ sagte einer der Männer angestrengt und beobachtete Lynn im Rückspiegel, wie sie in einer viel zu großen Jacke, beinahe verträumt aus dem Fenster sah. Sie war ganz und gar nicht verträumt, nur am Ende ihrer Kräfte und heilfroh, endlich in scheinbarer Sicherheit zu sein.
„Was macht ihr hier draußen?“ fragte Carver nach vorne und beobachtete sie Straße. Im Gegensatz zu Lynn schien er den Beiden skeptisch gegenüber zu sein. Sie schätze das in diesem Moment, denn ihr fehlte der Antrieb dazu. Es tat gut, sich auf einen weiteren Soldaten verlassen zu können, der sie im Notfall beschützen konnte. Und auch er schien den Umstand zu begrüßen, dass Lynn in der Lage wäre, ihn zu schützen.
„Das sollten wir wohl eher euch fragen!“ lachte einer der Männer.
„Wir kommen zum Jagen hieraus. Wir leben in einer kleinen Gemeinschaft, außerhalb der Stadt. Die Hybriden sind uns ständig auf den Versen, Negan dudelt keinen mehr außerhalb der Stadt. Aber mit der Zeit lernt man sich damit zu arrangieren. So sind wir zumindest sicher, vor dem bevorstehenden Krieg. Sie werden wohl zuerst die Stadt angreifen!“ erklärte der Fahrer. Lynn musterte sein faltiges, von der Sonne gebräuntes Gesicht. Er trug eine Basecap, hatte einen dunklen Bart, und seine sonst dunklen Haare wiesen einige graue Strähnen auf. Auf dem karierten Hemd das er trug, zeichneten sich einige getrocknete Blutflecken ab.
„Und jetzt zu euch, was macht ihr hier draußen?“ rief der Mann nach hinten. „Wir sind aus dem selben Grund hier, wie ihr.“ log Carver und sah Lynn an, die nur zustimmend nickte.
„Wo ist der Rest von euch?“ fragte der andere Mann.
„Wir haben sie verloren.“ antwortete Lynn leise.
„Gut, wir nehmen euch erst mal mit, ihr könnt ne Weile bei uns bleiben, vielleicht suchen euch eure Leute ja schon. Wir kennen das nur zu gut, verlierst du deine Leute aus den Augen, bist du hier draußen echt aufgeschmissen!“
Jeglicher Anflug von Skepsis legte sich in Lynn. Die beiden Männer wirkten ehrlich und hilfsbereit. Dennoch sollten sie und Carver Vorsicht walten lassen. Es waren Fremde.
Der Wagen bog in eine kleine Straße ein und hielt unmittelbar neben einigen alten Schienen. „Den Rest gehen wir zu Fuß.“ sagte der Fahrer und sie stiegen aus. „Ich bin Kenny, dass ist Dave.“ Erklärte der Mann mit der Basecap während er seine Schrotflinte schulterte und den Kofferraum öffnete. Darin lag tatsächlich ein totes Tier, dass einem Reh glich. Lynn und Carver packten unaufgefordert mit an und folgten den beiden Männern in die Richtung einer großen Fabrikanlage.
„Wie weit ist die Stadt von hier entfernt?“ fragte Lynn und Kenny drehte sich lächelnd zu ihr um: „Weit genug, allemal.“ antwortete er.
Sie liefen durch einige kleine Gassen, und nährten sich einer großen Lagerhalle. Lynn und Carver erkannten bereits die ersten Scharfschützen an den Fenstern, als Kenny seinen Arm hob und ein Zeichen gab, bei dem sich die Schützen zurückzogen.
„Eine kleine Vorsichtsmaßnahme, für ungebetene Gäste.“ erklärte er leise. Sie bogen um eine Ecke und betraten, über einen kleinen Vorplatz, die Lagerhalle. Ein reges Treiben herrschte darin, Männer, Frauen, Kinder, sie alle waren beschäftigt. Ein Teil von ihnen kümmerte sich um das reinigen von Waffen, ein anderer Teil war damit beschäftigt die Nutzpflanzen zu pflegen, die in kleinen, künstlich angelegten Beeten im inneren wuchsen und wieder andere saßen zusammen und spielten Karten.
„Willkommen in Yad VaShem.“ sagte Kenny und für einen Augenblick hielten einige der Leute inne und sahen zu den Neuankömmlingen herüber. Eine Frau nährte sich ihnen lächelnd: „Kenny, ihr habt etwas gefangen?“ fragte sie erfreut. Er nickte: „Hallo Schatz.“ begrüßte er sie mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange.
„Wer sind die beiden?“ fragte sie schließlich und betrachtete Lynn und Carver. Kenny drehte sich zu den Beiden um:
„Das sind-“
„Lynn und Carver.“ stellte Carver sie vor.
„Wir haben sie draußen in den Wäldern aufgegriffen, haben ihre Gruppe wohl verloren.“ erzählte Kenny weiter. Seine Frau hatte lange dunkle Haare, ihre Gesichtszüge erinnerten Lynn ein wenig an Serah.
„Gut, kommt mit, ich zeige euch, wo ihr schlafen könnt. Wir arbeiten hier in verschiedenen Bereichen, es wäre schön, wenn ihr dem Wachdienst helfen könntet, so lange ihr hier bleibt. Essen gibt es heute Abend hier unten. Bitte kommt, die Gemeinschaft ist uns wichtig. Wenn jeder seinen Teil beizutragen hat, ist es fast so gut wie in der Stadt.“ erklärte die Frau, während sie Carver eine Treppe hinauf führte, durch einen kleinen Gang hindurch zu einigen improvisierten Zimmern. In eines das Leer schien ging sie hinein:
„Das wäre es.“ sagte sie lächelnd und Carver und Lynn tauschten einen kurzen verwunderten Blick miteinander. Hatte diese Frau etwa angenommen, dass sie ein Paar waren?
„Wir sind nicht...“ sagte Carver vorsichtig und die Frau lachte.
„Entschuldigung, natürlich nicht. Nebenan ist ein weiteres Zimmer. Richtet euch ein. Wenn ihr etwas braucht, sprecht mit Kenny, er ist unten im Waffenlager. Ich werde mich jetzt mal um das Tier kümmern. Heute Abend beim Essen besprechen wir alles weitere.“ sagte die Frau.
„Ach, ich bin Sade. Und wenn ihr medizinische Versorgung braucht, im Westflügel haben wir eine kleine Krankenstation eingerichtet.“ fügte sie flüchtig hinzu, ehe sie auch schon fest wieder verschwunden war.
„Danke.“ erwiderte Carver und die Frau verließ die Beiden, durch den kleinen Gang, den sie gekommen waren. Lynn und Carver standen einige Augenblicke stumm nebeneinander, ehe Caver das Wort ergriff:
„Wir sollten uns etwas ausruhen und unsere Kräfte sammeln.“
„Ja. Wir werden einige Tage inne halten und beim Wachdienst helfen. Vielleicht bekommen wir Informationen über die Stadt und wie wir dort hin gelangen.“ ergänzte Lynn leise.
„Unser Ziel sollte die Stadt sein. Dort können wir nochmals untertauchen und uns die Informationen über die Standorte der VCO holen. Und in der Stadt sind meine Chancen besser Elaines Schwester ausfindig machen zu können.“ erwiderte Carver leise und holte eine Zigarette aus seiner Hosentasche. Sie nickte stumm.
Lynn hatte eine Weile unbewegt auf dem Bett ausgeharrt. Ihre Rippen schmerzten von den Tritten des Hybriden, gegen den sie in der Nacht zuvor, gekämpft hatte. Sie hatte ein junges Mädchen gesehen, dass kurz vor ihrem Zimmer stehen geblieben war und sie fragend angesehen hatte. Das Mädchen hatte gesagt, dass es in den unteren Etagen Duschen gäbe.
Schon fast hatte Lynn vergessen wie sich heißes Wasser auf ihrer Haut anfühlte, als sie endlich unter der Dusche stand und die feinen, nassen Tropfen, das Blut und den Dreck allmählich wegwuschen. Alles glich den Duschen in Sportumkleiden, die Lynn einmal bei einem Einbruch gesehen hatte. Seit sie in Valvar waren, hatten sie nicht die Gelegenheit gehabt sich waschen zu können, geschweige denn du schlafen. Ihr Magen war kaum noch zu spüren. Das Gefühl des Hungers war jedoch noch präsent.
Lynn spürte wie schwach sie geworden war, als sie sich nach einem Handtuch umsah und ihre Glieder schmerzten. Das warme Wasser linderte diesen Zustand nur wenig. Sie musste das Handtuch vor der Dusche, in dem großen Waschbecken liegen gelassen haben, über dem sie sich kurz zuvor, erschrocken über ihre mittlerweile grünen Augen, im Spiegel betrachtet hatte. Das Wasser lief noch, als sie durch den Raum tappte und ihr, am Waschbeckenspiegel, die unschönen Blutergüsse an der Hüfte auffielen. >>Verdammt...<< Verärgert über die großen rötlich-blauen Flecken, war sie im Begriff, wieder zurück unter die Dusche zu eilen, als sie erschrocken gegen Jemanden stieß. Sie hielt, entgegen ihrer Reflexe, inne und blieb wie angewurzelt stehen. Die Wärme eines weitaus größeren, trainierten Körpers, nahm ihren Rücken ein.
„Du solltest dir was anziehen, wenn du hier herumläufst.“ sagte Carver leise, jedoch weit entfernt von irgendwelchen Absichten. Der Schrecken, der Lynn noch kurz zuvor beinahe Erstarren lassen hatte, wandelte sich in die beruhigende Gewissheit, dass es Carver war, und dass sie vor ihm wohl nichts zu befürchten hatte. Sie vertraute ihm.
>>Da ist dieses Gefühl in mir schon wieder...<< dachte Lynn, verwirrt über die augenblickliche Hitze, von der ihr gesamter Körper eingenommen zu werden schien. Wo kam das nur immer wieder her? Stand Carver da wirklich noch immer hinter ihr? Wann hatte sie aufgehört das zu stören? Sie war doch nie ein Mensch gewesen, der körperliche Nähe groß begrüßt hatte... warum eigentlich? Weitere Hitzewallungen fegten, mit einem Male, all diese Gedanken aus ihrem Kopf.
Wie von einer unsichtbaren Hand bewegt, machte sie einen kleinen Schritt zurück, näher an Carver heran. Er beobachtete voller Ruhe, wie sie ihren Rücken an seine Brust lehnte, und Lynn spürte das Handtuch um seinen Lenden, an ihrer nackten Haut. Sie lehnte vorsichtig ihren Hinterkopf gegen seine Brust und er spürte ihre nassen Haarsträhnen, wie sie langsam über seine Haut streiften. Das Zeichen an ihrer Schulter leuchtete blass, während Lynn versuchte, sich gegen das Bedürfnis in ihrem Inneren zu wehren.
Es kam Carver vor, als würde Lynns Körper glühen, während sie sich, noch immer sanft und vorsichtig, an ihn drückte. Ihm schossen die Bilder aus den Bergen durch den Kopf, wie sie im Wasser vor ihm stand beim Fischen, wie sie vor dem Kamin saß, so in sich gekehrt, wie sie noch in der letzten Nacht so unschuldig und doch gefährlich vor ihm auf dem Boden gelegen hatte und ihn angesehen hatte.
Er spürte ihre zierlichen Hände an seinem Bauch, beobachtete ihre filigranen Finger, wie sie langsam seine Beine hinunter, über das Handtuch glitten. Er war sich sicher, dass das, was Lynn da gerade tat, nicht von ihr selbst kam. So schätze er sie absolut nicht ein.
Ihre Hände glitten weiter über das Handtuch um seinen Hüften, nun weiter zu den Außenseiten seiner trainierten Schenkel. Wollte sie das gerade wirklich? Sollte er sich dem ebenfalls Hingeben, und wenn auch nur für einen kleinen Augenblick? Wie lange war es her gewesen, dass eine Frau ihn so berührt hatte? Nein, das war nicht richtig, das wusste Carver. Er sah die fragilen Bilder ihres verletzten, viel zu jungen Gesichts vor seinen Augen. Er würde es nur noch einen Augenblick genießen. Nur noch kurz.
Behutsam legte er seinen Arm um ihren dünnen Hals, und und glitt mit seiner Hand sanft und fest zugleich, über ihr Schlüsselbein. Der Druck seiner rauen Händen tat Lynn gut. Es war als würde man sie das erste Mal als Frau wahrnehmen. Nicht als Mädchen, als Opfer, oder als etwas anderes.
Carver spürte, wie sie tief unter seinen Händen, zittrig einatmete. Das musste aufhören, sonst würde er dem Ganzen nicht länger standhalten können. Sei sie nun zu jung oder nicht, aber das war nicht richtig.
„Lynn.“
Seine Stimme klang ernst und zerriss das Gefühl, dem sie sich soeben noch hingeben wollte. Sie drehte sich erschrocken zu ihm und sah ihn verwirrt an. Seine grünen Augen musterten voller Ernst ihr Gesicht.
„Es tut mir leid...“ stotterte sie leise, erschrocken von sich selbst, und ging hastig einige Schritte zurück. Carver ließ sein Blick durch den Raum gleiten, er wusste ja bereits, dass sie nackt war.
„Ist doch nichts passiert...“ erwiderte er leise und hörte wie Lynn schnell das Weite suchte und unter Dusche verschwand. Er blieb noch einen Moment nachdenklich stehen, ehe auch er duschen ging.
Sade hatte Lynn einige Anziehsachen aufs Bett gelegt. Sie hatte sich für eine Jeans und einen schwarzen Pullover entschieden. Carver trug ein kariertes Hemd und fuhr sich durch seine braunen Haare als er hinunter zum Essen kam. Lynn saß bereits neben Kenny, als auch Carver dazu kam und sich an ihren Tisch setzte. Er sah Lynn einen Moment lang an, und war sich sicher, Begehren in ihrem Blick zu sehen, das aber nach wenigen Sekunden Unsicherheit wich.
„Geht es dir gut?“ fragte er leise und Lynn nickte stumm aber entschlossen.
Ein kleines Stimmengewirr war zu hören, als Sade die Halle betrat und alle zu ihr aufsahen, wie sie an einer Treppe stehen blieb:
„Es ist jetzt genau ein Jahr her, seit wir diese Gemeinschaft gegründet haben. Seitdem wir uns entschlossen haben, Negan Valcours die Stirn zu bieten. Ich danke all Jenen, die bei dem Aufbau geholfen haben. Und ich bitte euch alle, die, die ihr Leben dafür gelassen haben, in Erinnerung zu wahren. Jeder Einzelne hier, hat dazu beigetragen, dass wir heute hier zusammen kommen können. In Frieden. Lasst uns weiter an diesem Plan festhalten, und das beste für die Zukunft Valvars und Yad VaShems hoffen.“ Sade hielt inne und nach einigen Sekunden ertönte das erste Klatschen.
Lynn war überwältigt von dieser Gemeinschaft und ihrem Zusammenhalt. Sie sah wie einige Körbe mit Brot und Platten mit Fleisch herumgingen, nachdem ein tosender Applaus und jubelnde Rufe verstummt waren.
„Wie war eure Gemeinschaft so?“ fragte Kenny beim Essen und sah Lynn neugierig an.
„Anders.“ antwortete sie lächelnd.
„Wir hatten oft Probleme mit den Hybriden, und unsere Vorräte waren schnell aufgebraucht.“ ergänzte sie und sah kurz zu Carver herüber, der sie beobachtete und ihr zuhörte.
„Ja, wir haben wirklich Glück hier. Seit der Vertrag mit Efrafar gekündigt ist, ist es kaum noch auszuhalten. Negan hat den Verstand verloren, wenn er glaubt mithilfe seiner Supersoldaten Efrafar einnehmen zu können. Und wofür das alles? Für diese seltenen Erden und Rohstoffe! Es hätte alles anders werden können, hätte er sich an den Vertrag gehalten und die VCO nur nie gegründet. Jetzt sitzen wir hier alle im selben Boot. Gefangen in einer Welt, in der wir nicht leben wollen, mit einem Oberhaupt, dass sich über den Sinn und der Begrenztheit des Lebens nicht im klaren ist.“ erklärte Sade wütend, während sie Lynn ein Glas Wein herüber schob.
Lynn sah verwirrt zu Carver herüber, der ihr mittels eines Handzeichens aber vermittelte, dass er ihr das ganze später erklären würde.
„Wann sollen wir die Schichten des Wachdienstes übernehmen?“ fragte Carver schließlich und Kenny lachte. „Ihr habt es aber eilig.“ antwortete er.
„Ihr habt uns ohne Vorbehalte aufgenommen, dass wir uns erkenntlich zeigen ist das Mindeste.“ rechtfertigte Carver seine Frage und Kenny sah ihn nickend und mit einem Lächeln an:
„Mir gefällt eure Einstellung. Nun, ihr habt anscheinend lange im Wald überlebt, könnt ihr mit einem Gewehr umgehen?“ fragte Kenny.
„Scharfschützen Gewehre, ja.“ antworteten Lynn und Carver beinahe Zeitgleich. Sade und Kenny sahen sich an und lachten: „Sehr gut, ihr könnt gleich heute Nacht die erste Schicht übernehmen. Legt euch vorher nochmal etwas hin. Die Nächte ziehen sich.“ Lynn und Carver nickten.
Die große Halle leerte sich allmählich.
Lynn hatte Carver vor einiger Zeit aus den Augen verloren. Kenny und Sade hingegen, hatten sich bereits zurück gezogen, während Lynn noch immer unten saß und die verschiedenen Gesichter beobachtete, die sich ebenfalls langsam zum schlafen zurück zogen. Sie sahen alle wie normale Menschen aus. Aber was hatte sie auch erwartet? Monster? Fabelwesen? Sie lachte für einen Moment innerlich über sich selbst, als sie Carvers Hand auf ihrer Schulter spürte:
„Ich leg mich noch etwas hin, bleib nicht mehr so lang, wir sehen uns beim Wachdienst.“ ohne dass sie antworten konnte, ging er bereits an ihr vorüber und lief die Treppe hoch.
Lynn blieb zurück und sah ihm noch einige Sekunden nach. Er war so männlich. Man spürte durch und durch, dass er ein Kämpfer, ein Soldat war. Er strahlte so viel Stärke aus, in einem ähnlichen Maße wie Sakuya. Moment, warum dachte sie schon wieder über Sakuya nach? Scheinbar keimten immer wieder die Bilder aus seinem Apartment vor ihrem inneren Auge auf. Wie er dort, mit der Frau im Bett gelegen hatte. Aber wahrscheinlich sollte sie sich nun Gedanken über wichtigere Sachen machen. Voller Scham dachte sie an das Szenario zwischen ihr und Carver , in den Duschräumen. Sie schüttelte heftig den Kopf. Nein, auch daran sollte sie jetzt lieber nicht denken. Er müsste denken, sie wäre nicht ganz richtig. Sich einfach so an ihn heran zu drängen. Eine Tatsache, die sie sich jedoch noch immer nicht erklären konnte. Wie war sie auf solch eine absurde Idee gekommen? Nicht, dass Carver nicht überaus Attraktiv war, aber Lynn fühlte sich in keinem Fall dazu bereit, sich mit solch einem Enthusiasmus, wie vorhin, an einen erwachsenen Mann heran zu schmeißen. Das passte nicht zu ihr. Natürlich war sie eine junge Frau, aber sie fühlte nicht so. Es war das, was in ihren Erinnerungen fehlte, was zu dieser Selbsteinschätzung führte. Und die stetige Unsicherheit und Unwissenheit.
Das Bett erwies sich als angemessen, aber Lynn hatte arge Probleme damit die Augen zu schließen und loslassen zu können. Es waren zu viele Gedanken in ihrem Kopf. Etliche Dinge, die Carver an diesem Tag gesagt hatte, die Sade sagte. Wer war Negan? War sie selbst wirklich eines dieser „Zero-Projekte“? Was hatte es mit dem SND Chip auf sich? Und dann waren da noch hybride Soldaten, gezüchtet. Wie sie alle? Sie waren keine Menschen. Sie waren etwas, das nicht definiert werden konnte.
Lynn stöhnte leise auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie sah plötzlich wieder die Bilder von Sakuya vor sich. Wie die unbekannte Frau auf ihm saß, wie ruhig er Lynn angesehen hatte, als sie in der Tür stand. Wie seine schwarzen Haarsträhnen ihm ins Gesicht hingen. Seine leicht vom Schweiß bedeckte, glänzende Haut und wie er sie mit seinen blauen Augen angesehen hatte. Lynn wurde unruhig und drehte sich zur Seite. Ihr kam das Gefühl in den Sinn, welches sie spürte, als sie in den Duschräumen so dicht bei Carver gestanden hatte. Die Hitze die sie dort empfunden hatte, schien sich nun erneut in ihrem ganzen Körper auszubreiten. Sie musste daran denken, wie Carver ohne Shirt aussah. Seine trainierten Arme, sein flacher Bauch, seine grünen Augen. Die Art und Weise wie er sprach, seine Lippen, wie er sich durch die Haare fuhr. Lynn stand verwundert neben dem Bett. Sie war aufgestanden ohne es zu registrieren. >>Ob er noch wach ist...<< fragte sie sich zögerlich, aber sie war bereits auf dem Weg zu ihm.
Carver lag auf der Decke seines Bettes. Er hatte seine Augen geschlossen und seine rechte Hand lag entspannt auf seiner Stirn. Er atmete ruhig und trug nur noch seine braune Jeans. Lynn konnte nicht dem Drang umhin ihr Oberteil auszuziehen. Als sie vor ihm stand, trug sie nur noch ein dünnes Unterhemd und ihren Slip. Sie strich sich langsam durch die Harre und spürte wie ihr Herz schneller schlug, während ihr Blick über sein Gesicht, hinunter zu seiner Brust bis hin zu seinem Gürtel glitt. >>Ich kann nicht mehr klar denken... was ist nur los mit mir... ich sollte schlafen...<< Ihre braunen Haare klebten an ihrem schweißnassen Gesicht, während ihre Hände unsicher über ihre Brüste glitten. Carver atmete noch immer ruhig und Lynn erlag entgültig ihrem Drang, sich über ihn zu beugen und sich auf das Bett zu knien. Sie hob ihr linkes Bein und setzte sich rittlings auf ihn, als er plötzlich die Augen öffnete und sie von sich trat.
Lynn kam auf dem harten Boden vor dem Bett auf, und bevor sie begreifen konnte was soeben geschehen war, saß Carver schon auf ihr und hielt ihre Hände fest. Sie kniff die Augen zu und versuchte sich aus seinem starken Griff zu befreien, hatte jedoch keine Chance. Carver sah sie erschrocken an: „Lynn?“ fragte er verwundert, als er in dem Halbdunkel ihr Gesicht erkennen konnte. Er ließ sie verwundert los und stand von ihr auf: „Was machst du hier...?“
Er kehrte ihr den Rücken, während sie langsam und verwirrt aufstand, und suchte etwas in seiner Jackentasche. Als er sich erneut zu ihr umdrehte spürte er bereits ihre Hände auf seiner Brust die sich langsam zu seinem Gürtel vortasteten. Er wollte etwas sagen, aber sie zog ihn entschlossen aufs Bett und das nächste was er spürte, war ihr warmer Körper unter sich, der sich warm an seinen drückte. Wieder griffen ihre Hände nach seinem Gürtel.
„Lynn!“ Mit einem Male erschrak sie und sah ihn fassungslos an. Er hatte sich neben ihrem Kopf abgestützt und blickte sie ernst an. „Es... es tut.. mir-“
„Es brauch dir nicht leid tun. Das ist normal. Das hat etwas mit den Reaktionen deiner Hormone auf das Geomas zu tun.“ Carver ging von ihr hinunter und setzte sich aufs Bett. Was das jetzt soeben schon wieder passiert? Er rieb sich die Stirn und hielt ihr ein kleines Päckchen Tabletten hin.
Lynn griff unsicher danach und setzte sich schließlich neben ihn. Er griff nach seinem Hemd und zog es an.
„Ich bin wieder ich, du musst dich nicht anziehen.“ sagte sie leise.
„Glaub mir,du kannst es nicht kontrollieren.“ antwortete Carver nur erschöpft.
„Was ist das?“ fragte Lynn schließlich.
„Das sind Nonjod Tabletten. Pharmazie der VCO. Sie hemmen das Jod, dass deine Schilddrüse produziert, was zu einer verringerten Testosteronausschüttung führt. Um es einfach zu sagen, sie bringen deine Hormone wieder ins Gleichgewicht.“
Lynn sah Carver verwundert an:
„Hast du das auch?“ fragte sie schließlich.
„Ja, aber lange nicht so heftig wie das, was ich bei dir beobachte. In den verschiedenen Serien von Soldaten, gab es unterschiedliche Anomalien. Bei meiner Gruppe war es normal, dass hin und wieder ein größeres sexuelles Verlangen aufkam, aber noch lange nicht in deinem Ausmaß. Nimm die Tabletten, sie werden das Verlangen hemmen.“ Lynn nickte beschämt und stand auf. Erst jetzt bemerkte Carver dass sie nur in Unterwäsche vor ihm stand.
„Kommen da noch mehr solcher Überraschungen?“ fragte Lynn und musterte Carver wie er auf dem Bett saß.
„Wahrscheinlich...“ er unterbrach seinen Satz als er Lynn ansah und wandte seinen Blick hastig wieder ab. Warum tat sie das? Sich in Unterwäsche mit dieser Selbstverständlichkeit vor ihn hinzu stellen?
„Lynn, zieh dir bitte was an.“ seine Stimme klang ein wenig qualvoll.
„Warum?“ fragte sie verwirrt.
„Herrgott, weil ich ein Mann bin.“ antwortete er. Lynn zog sich zügig wieder an.
„Entschuldige...“ sagte sie leise und ein wenig beschämt.
„Wo hast du diese Tabletten her?“ fragte sie schließlich und Carver sah sie wieder an. Es lag wieder diese Wärme in seinen Augen, die Lynn bereits so oft an ihm wahrgenommen hatte.
„Von der Krankenstation. Ich war vorhin dort.“ antwortete er.
„Jetzt ruh dich aus, wir sehen uns gleich beim Wachdienst.“
Lynn saß bereits im obersten Stockwerk der riesigen Halle an einem der Fenster und hatte eine SSG 82 im Anschlag, durch dessen Zielfernrohr sie die angrenzende Umgebung beobachtete.
Als Carver endlich kam sah sie nicht auf. Es war ihr zu unangenehm was da vorhin gewesen war. Wie konnte sie sich so gehen lassen, und sich vor ihm so lächerlich machen?
Er breitete seine Sachen neben ihr aus und baute seine Waffe auf.
„Geht es dir besser?“ fragte er schließlich und Lynn bekam eine Gänsehaut.
„Ja.“ antwortete sie knapp.
Carver betrachtete sie einen Augenblick lang und lächelte schließlich, ehe er sich ein Stück von ihr entfernt zu Boden legte um ruhig zielen zu können.
„Mach dir keine Vorwürfe. Es ist nicht deine Schuld.“ sagte er ruhig und zündete sich eine Zigarette an. Lynn blieb einige Minuten stumm. Draußen war es ruhig, nur der Wind fegte ab und an durch die Blätter der Bäume die vereinzelt unterhalb der Lagerhalle wuchsen, und allmählich ihr Laub verloren.
„Warum hast du es nicht ausgenutzt?“ fragte Lynn schließlich, und spürte prompt wie sie sich wünschte die Frage nie gestellt zu haben. Carver sah zu ihr hinüber:
„Weil es nicht du warst. Es war die VCO, ein Entwicklerteam die einen Fortpflanzungszyklus wie bei Tieren im Sinn hatten, nicht du.“ Seine ruhige und sachliche Art und Weise zu sprechen, nahm Lynn für einen Augenblick, jegliche Schmagefühle.
Das Bild von Sakuya kam ihr wieder in den Sinn. War es möglich, dass er in jener Nacht ebenfalls nicht er selbst war? War es möglich, dass er die ganze Zeit ihr gegenüber so war, weil er wusste dass ihre Hormone verrückt spielten, dass es eine Anomalie ihres Körpers war? Lynn schüttelte den Kopf. Sie sollte sich konzentrieren. Sakuya, Dakon und die anderen waren in einer anderen Welt. Sie war hier um Antworten zu bekommen.
„Wer ist Negan Valcours?“ fragte sie schließlich in die Stille hinein.
„Kannst du dich nicht an ihn erinnern?“
„Nein.“
„Negan ist der Mann, der die VCO gründete. Sieh ihn als Kopf dieser Welt. Seit Generationen liegen die Verhandlungen und Organisationen Valvars in den Händen der Valcours. Mit Negan jedoch, so haben mir viele Leute erzählt mit denen ich bei meinem Außeneinsatz Kontakt hatte, ist der Frieden zwischen den Welten gekippt. Es gab einen Vertrag zwischen Valvar und Efrafar, der sich darauf beschränkte, die Rohstoffe Efrafars mit Technologien Valvars zu tauschen. Es hat lange Jahre gut funktioniert. Bis Negan an die Macht kam. Er ist von den seltenen Erden in Efrafar besessen. Er glaubt, wenn er im Besitz dieser Rohstoffe sei, könne er außerordentliche Technologien entwickeln. Zudem kommt die enorme Wasserknappheit dieser Welt hinzu. Jahrelang haben sie die Flüsse und das Grundwasser verschmutzt, und jetzt bleibt kaum noch so viel, dass er sein Volk davon am Leben erhalten kann. Viele stellen sich gegen ihn, gerade hier in Valvar, sie verlassene die Städte, in denen er geradezu alles kontrolliert, und kommen hier aufs Land und in die Wälder. Negan gründetet die VCO als Armee gegen Efrafar. Sein Zeil, war und ist es, die Bewohner ihrer Welt zu versklaven, zu vernichten und endlich ihre Rohstoffe zu bekommen, damit Valvar weitere Technologien Entwickeln kann und diese Welt weiter existieren kann. Elaìs hat sich mit der Staatspolizei schnell seinem Vorhaben angeschlossen. Auch für sie sind die Ressourcen Efrafars von hoher Bedeutung.“ Lynn schwieg einige Minuten.
„Also hat Efrafar keine Chance?“ fragte sie zögerlich. Carvers und ihr Blick trafen sich:
„Sieh dir die Hybriden an. Es gibt tausende von ihnen. Efrafar verfügt nicht über eine solche Technologie. Sie haben keine Chance.“ Carvers Worte wirkten niederschmetternd. Lynn fühlte sich einen Augenblick lang unfähig etwas zu sagen.
„Warum stürzt Negan niemand?“ fragte sie schließlich.
„Er hat die VCO um sich herum versammelt. Die UEF war an seinen besten Leuten dran, an Ari an Shariev. Aber an ihn ist noch niemand heran gekommen.“ In Lynns Kopf überschlugen sich die Gedanken. Hatten sie wirklich so große Fortschritte machen können? War Dakon wirklich in der Lage mit den Teams der UEF so nah an Negan heranzukommen? Sie waren schon so weit gekommen, und gerade jetzt war es Lynn, die alle in Gefahr gebracht hatte, mit ihrem waghalsigen Übergang nach Valvar.
„Woher weißt du soviel über die UEF?“ fügte Lynn leise hinzu.
„Ich habe regelmäßig die unterschiedlichen Kanäle des Funkverkehrs in Elaìs angezapft, um herauszufinden ob man mir auf den Versen ist.“
„Und jetzt bist du doch wieder zurückgekehrt.“ sagte Lynn leise, beinahe lautlos.
„Genau wie du.“ antwortete Carver und betrachtete Lynn die ihn fragend ansah. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er sie gehört hatte.
Es waren zwei Tage an den Beiden vorüber gezogen. Wie Kenny und Sade es ihnen geraten hatten, waren Carver und Lynn zu einer starken Unterstützung der Wachposten geworden.
Es war ruhig geblieben und die beschworenen Angriffe durch andere Bewohner Valvars, oder den Hybriden, blieben aus.
Lynn sah Carver hinterher, wie er zusammen mit Kenny und Dave einige Waffen zusammenpackte und sie sich schließlich durch die kleinen Gassen der Industrieanlage zum Auto bewegten, um Jagen zu gehen. „Mach dir keine Sorgen, bei Kenny ist er in guten Händen.“ sagte Sade als sie Lynns beunruhigten Blick sah. >>Ja, aber sind Kenny und Dave sicher bei Carver...<<
„Wir haben hinter der Halle eine kleine Plantage mit Obst und Gemüse. Lain kümmert sich darum, sie wartet bereits auf dich.“ erklärte Sade schließlich, und gab Lynn einen großen geflochtenen Korb in die Hände.
„Das Laub fällt jeden Tag schneller, die Äpfel sollten langsam reif sein.“ sagte sie leise und ihre Hände griffen nach einem vorbeifliegendem Laubblatt. Lynn sah sie einen Moment lang an und nickte schließlich stumm.
Zu Lynns Überraschung schien niemand in der goldenen Nachmittagssonne auf sie zu warten. Der selbst angelegte Garten jedoch, erstreckte sich in einem weiten Ausmaß zwischen den Betonwänden der übrigen Industriellen Lagerhallen und Gebäuden. Ihre grünen Augen suchten nach den Apfelbäumen und sie ging einige staunende Schritte, über die dichtbewachsenen Betonwege, die sich wie ein Labyrinth durch das Grün der Pflanzen schlängelten.
>>Es ist so friedlich hier...<< dachte Lynn verblüfft und atmete tief den süßlichen Geruch der verschiedenen Pflanzen ein. Nach einigen Minuten erblicke sie endlich die ersten kleinen Apfelbäume. Sie waren noch nicht sonderlich groß, aber trugen kleine, rötliche Früchte. Umrahmt von einigen majestätischen Kirschblütenbäumen. Ihre Blüten verteilte der Wind in dem gesamten Garten. Lynn sah durch einige spärliche Baumkronen in den Himmel und kniff die Augen zu, als die Äste sich im Wind bogen und die Herbstsonne hindurch schien. Einen Augenblick lang blieb sie mit geschlossenen Augen in der Sonne stehen, als sie plötzlich einen Namen hörte:
„Linnai...?“
Wie erstarrt blieb sie mit mit weit aufgerissenen Augen stehen und ließ den Korb zu Boden fallen. Der Name wiederholte sich wie ein Echo in ihren Gedanken.
Als es endlich aufgehört hatte, vernahm sie schwere Schritte hinter sich und zog instinktiv ein Messer aus ihren Stiefel um sich blitzschnell umzudrehen.
Einige Meter von ihr entfernt, kam ein Alter Mann mit grauen Haaren zum stehen, der sich fassungslos an seinem Stock festhielt, der ihm den nötigen Halt gab.
„...du bist es...“ stammelte der Alte atemlos und wischte sich mit einem weißen Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn. Lynn hielt noch immer regungslos das Messer in der Hand und beobachtete den Mann.
„Wer soll ich sein?“ fragte sie langsam und ihre Mimik spiegelte pure Abwehr und Unverständnis wieder.
„Erkennst du mich denn nicht...?“ fragte der Alte nachdem er seine Kräfte wieder gesammelt hatte und sich nun etwas langsam und schwerfällig auf sie zu bewegte.
„Wer sind Sie?“ fragte sie verständnislos, als er ihr endlich gegenüber stand und sich erneut den Schweiß von der Stirn wischte. Er betrachtete verblüfft ihr Gesicht.
„Ich habe gestern Abend noch den Bestand der Krankenstation überprüft, und da fiel es mir auf... einige Nonjod Tabletten fehlten... das konnte nur eines bedeutet...“ stammelte der Mann und war gerade im Begriff seine Hand schwerfällig nach Lynns Gesicht auszustrecken, als sie jedoch augenblicklich einige Schritte zurück wich.
„Deine Augen... ihre Farbe hat sich verändert... du nimmst kein Geomas mehr...“ stellte er verwundert fest und musterte Lynn weiter mit seinen alten grauen Augen.
„Wer zum Teufel sind sie?“ durchbrach Lynns Stimme die Stille.
„Du erinnerst dich nicht mehr an mich?“
„Nein, warum sollte ich?“ noch immer war der Klang der Abwehr vorherrschend.
„Linnai, warum bist du hierher gekommen?“ fragte er schließlich und schnaubte als ein kräftiger Wind aufkam.
„Mein Name ist Lynn. Ich kenne sie nicht.“ antwortete sie und wollte sich gerade wieder abwenden, als der Alte sie Arm packte:
„Linnai, wo ist Sakuya Kira? Ist er etwa auch hier?“ In Lynns Kopf überschlugen sich die Gedanken. War dieser Mann etwa ein Feind? Wollte er Lynn und Sakuya ebenfalls zurück zu Negan, zur VCO bringen?
Sie riss sich aus seinem Griff und begegnete, zu ihrem Erstaunen, dem hoffnungsvollen Blick des Mannes. Er hatte eingesehen, dass sie ihn scheinbar vergessen hatte.
„Lynn, ich bin es, Herschel. Doktor Herschel Porter.“
Es war Lynn als würde ihr Herz stehen bleiben. An ihren Augen rasten unzählige Bilder vorbei, die sie nicht mehr zuordnen konnte, die ihr die Kraft zum Atmen nahmen.
Sie wurde von einem kalten Windzug zurück in die Realität geholt und öffnete langsam ihre Augen. Die orange Sonne stand schwach im satten Rot des wolkenlosen Himmels. Lynn lag in dem Garten auf einer niedrigen Steinmauer, die ein kleines Beet mit Sonnenblumen einzäunte. Doktor Hershel Porter, der alte Mann, dem sie zuvor begegnet war, saß neben ihr, an den Stamm eines Baumes gelehnt, und rauchte geduldig eine Pfeife, während er hoffnungsvoll beobachtete wie Lynn sich langsam aufsetzte und sich den Kopf rieb.
„Du bist heftig mit dem Kopf auf den Boden aufgeprallt, als du das Bewusstsein verloren hast.“ Aufrichtige Besorgnis klang seiner holprigen Stimme bei. Lynn sah ihm einen Moment lang verwirrt dabei zu, wie er seine Pfeife rauchte und seine alten Augen das Grün des Gartens genossen.
„Sie haben uns geschaffen... Sie waren es...“ Langsam aber sicher ergab alles einen Sinn in Lynns ungeordneten Gedanken. Die Fassungslosigkeit und die Wut in ihrer Stimme konnte sie vor ihm jedoch nicht verbergen. Er kannte sie. Nur zu gut.
„Und jetzt sind sie hier um mich wieder zurück zu bringen... . Aber ich sag Ihnen was: Sakuya Kira ist tot. Sie werden Ihn nie wieder sehen!“ Lynn war aufgesprungen und zog eine Waffe aus dem Bund ihrer Hose. Ihr prompter Schuss verfehlte Hershels Kopf nur um einige Zentimeter, aber zu ihrer Verwunderung hatte er auch keine Anstalten gemacht auszuweichen. Er öffnete langsam seine zusammen zugekniffenen Augen. Es lag eine riesige Trauer darin, als er Lynn musterte, wie sie noch immer mit der Waffe vor ihm stand.
„Sakuya Kira ist tot?“ fragte er zögerlich. Lynn versuchte verwirrt die ganze Situation zu deuten. Er schien ihr kein Feind zu sein. Und eine Bedrohung schon gar nicht, so gebrechlich und schwach wie er da gerade vor ihr saß. Sie bräuchte sich nichtmals groß bemühen, um ihn ohne Waffe augenblicklich zu töten. Und dennoch verwunderte sie die Tatsache, wie aufgelöst seine gläsernen Augen sie nun anblickten:
„Ich hätte nie erwartet, dass ich einen von euch Beiden jemals wieder sehe. Nachdem mein Sohn dich und Sakuya vor hierher mit in seine Welt nahm...“ Was? Lynn schüttelte verwirrt den Kopf und ihre braunen Haarsträhnen wirbelten in einem beinahe Jugendlichen Leichtsinn um ihr Gesicht herum. Das hatte Hershel schon oft gesehen. In längst vergangenen Tagen.
„Sie haben mich und ihn geschaffen... Sie sind für all das Leid verantwortlich... dafür, dass Efrafar kaum eine Chance in diesem ungerechten Krieg hat! Was zu Hölle haben Sie sich nur gedacht! Menschen in irgendwelchen Reagenzgläsern zusammen zu basteln? Geben Sie mir nur einen Grund Sie zu erschießen und ich werde keine Sekunde zögern!“ Lynns Stimme klang kalt. Voller Erbarmungslosigkeit lud sie nun die 9mm nach. Hershel sah sie verwirrt an:
„An was genau erinnerst du dich?“ fragte er schließlich zögerlich und beobachtete wie Lynn innerlich mit sich selbst zu kämpfen schien. Sie war aus keinem Reagenzglas. Nicht, das er wüsste.
„An genug um zu wissen, dass sie es nicht verdient haben noch länger zu Leben!“ antwortete sie harsch.
Hershel senkte nachdenklich seinen Blick. Er erinnerte sich an einige Profile die er in seiner Zeit bei der VCO über einige Rekruten erstellen hatte müssen. Sie hatten im Gefecht einen Teil ihres Gedächtnisses verloren. Ihre Schlussfolgerungen waren stets fehlerhaft und sie konnten eigentliche Gegebenheiten nicht mehr sinnvoll rekonstruieren. Und das schien ebenfalls der Fall, bei der jungen Frau zu sein, die nun Hershel gegenüber stand. Andererseits, und das spürte er schon lange, tief in sich, hatte sie recht, mit dem was sie da sagte. Er hatte so vieles verkehrt gemacht in der Vergangenheit. Lynn und Sakuya, und die unzähligen anderen Rekruten, die er wieder und wieder verbessern musste. Verändern musste.
„Du hast Recht. Ich habe es nicht verdient noch zu Leben. Nicht nach all dem was ich dir und den anderen angetan habe. Wozu ich euch gemacht habe.“ Es war eigenartig aber seine Worte klangen in Lynns Ohren aufrichtig. Er schien bestürzt über das, was sie gesagt hatte.
„Aber ich habe euch Beiden nicht in „ irgendwelchen Reagenzgläsern zusammen gebastelt“... .“ Er schwieg und sah Lynn mit einigen Tränen in den Augen an. Sie hatte ihre Waffe gesenkt und stand nun verwirrt vor ihm. Was machte ihn gerade so traurig? Etwa dass sie falsche Vermutungen angestellt hatte?
„Sag mir, an was du dich noch erinnerst?“
„An rein gar nichts. Ich bin in Tokio aufgewacht.“ Lynn war wütend. Sie war wütend darüber, dass sie sich selbst mit diesem Satz so ins Abseits beförderte. Diesem Doktor gegenüber eine Schwäche zuzugeben war ein riesen Fehler, da war sie sich sicher.
„Du scheinst dein Gedächtnis verloren zu haben...“ schlussfolgerte Hershel und betrachtete sie nachdenklich einen Moment lang.
„Kommen Sie jetzt langsam mal mit der Sprache raus, oder was?“ fragte Lynn ungeduldig und der Wind wehte ihr einige braune Haarsträhnen aus dem Gesicht. Es Dämmerte langsam. Noch immer stand sie mit der Waffe in der Hand, voller Anspannung vor ihm.
„Du bist so unglaublich schön... ich hätte nie damit gerechnet dich jemals wieder zu sehen...“ sagte Hershel leise und Lynns Gesichtsausdruck wechselte zwischen Ungeduld und Verwunderung.
„Ist Sakuya Kira wirklich tot?“ fragte er schließlich und Wehmut klang in seiner Stimme mit.
Lynn schwieg, aber Hershel war sich sicher in ihren Augen sehen zu können, dass er noch lebte.
„Ich werde es dir erzählen, Linnai. Wenn du mich danach töten willst, dann … .
Ich hätte es verdient. Ich habe so vieles in meinem Leben falsch gemacht. Ich bereue so vieles... ich überlasse es dir.“ Es herrschte einen Moment lang Stille zwischen den Beiden. Und Lynn sah in den Himmel >>Er kennt die Wahrheit... aber warum zögere ich, sie endlich hören zu können...? Es ist als würde sich etwas in mir dagegen wehren... es ist, als wollte mich etwas beschützen... aber wovor...?<<.
„Reden Sie.“ sagte Lynn leise und setzte sich bereitwillig, ein Stück von Hershel entfernt, auf die Mauer. Ein dumpfes und leises erleichtertes Schnauben ging von dem alten Mann aus.
„Sakuya Kira gehörte einer Söldnertruppe an, als Negan Valcours ihn fand und mit zur Basis brachte. Er war damals noch jung. Vermutlich zu jung, für die Prozeduren die ihn noch erwarten würden.
Aber Negan erkannte sein Potenzial auf Anhieb. Die Valvar Cooperation war gerade im Aufbau. Negan hatte bereits erkannt, dass die Rohstoffe dieser Welt bald zuneige gehen würden. Ich arbeitete in einem jungen Entwicklerteam, zusammen mit Wissenschaftlern aus Efrafar. Unsere Prioritäten lagen auf der Entwicklung von Pharmazie gegen einige spezifische Krankheiten in Efarfar. Mein Sohn, Dakon, war krank, also entschied ich mich damals in die Forschung zu gehen um nach einem geeignetes Heilmittel forschen zu können.“
„Sie sind Dakons Vater...?“ Beinahe außer sich, hatte Lynn ihre grünen Augen weit aufgerissen und starrte den Doktor entsetzt an. Hershel nickte schwermütig und tat einige Atemzüge.
„Das ganze Projekt glückte, ich konnte meinen Sohn von seiner langwierigen Krankheit endlich befreien. Daraufhin wollte ich aussteigen. Unsere Forschungseinrichtung lag in Valvar, ich sah meine Familie nur selten. Aber Negans Pläne hatten sie geändert... .
Es wurde ein Abkommen beschlossen, welches das Resourcenmanagement bestimmte. Es sollten neue Technologien, von uns, entwickelt werden, um das Ressourcenproblem Valvars ein für alle mal zu Beheben. Im Austausch für neuste Technologien unserseits, lieferte Efrafar dafür die seltenen Erden. Doch Negan hielt sich nicht lange an das Abkommen; er erkannte die Chancen Efrafars und ihrer Rohstoffe. Er wollte alles. Aber vor allem, wollte er nicht dafür geben.
Negan gliederte weitere Entwickler ein; Naturwissenschaftler, Mediziner, Forscher auf allen Gebieten. Die anfänglichen Pläne zur Ressourcenbewältigung schwanden mit Negans Plänen, eine ultimative Arme aufzustellen, um Efrafar auszulöschen. Er war größenwahnsinnig geworden. Der Ruhm seiner Familie stieg ihm zu Kopf. Sein Ziel war es nur noch Efrafar auszulöschen um an die seltenen Erden heran zu kommen.“ In Hershels Stimme klang Wut mit.
„Davon habe ich bereits gehört...“ antwortete Lynn und dachte an das Gespräch mit Rin und Tetsuya zurück, und an Carvers Worte.
„Ich arbeitete derweil an den biotechnischen Plänen, Soldaten zu erschaffen die widerstandsfähiger, schneller und absolut tödlich sein sollten. Sakuya war der erste, an dem wir einen Stoff namens „Geomas“ ausprobierten. Es handelte sich dabei um extrahiertes „Kado“, einem Rohstoff der als Nebenprodukt aus dem ferromagnetischen Übergangsmetall Cobalt gewonnen wurde, und zusammen mit dem Lanthanoid Lutetium synthetisiert wurde.
Zu Beginn wurden Sakuya nur kleine Mengen verabreicht, aber es zeigte sich schnell, dass sein Körper darauf mit erhöhter Sensibilität gegenüber menschlichen Aktivitäten und erhöhten Reflexwerten reagierte.
Ich kam an meine Grenzen. Ich wollte aus dem Projekt aussteigen. Ich selbst hatte doch einen Jungen und fand die Prozeduren, Eingriffe und Tests, die Negan mehr und mehr anordnete, nicht mehr vertretbar. Bei Sakuya Kira zeigten sich schnell heftige Entzugserscheinungen, verabreichte man ihm nicht in gewissen Abständen das synthetische Geomas. Es war eine Qual das ganze mit ansehen zu müssen.“
„Aber Sie hatten eine Wahl!“ sagte Lynn wütend und war ihm Begriff aufzustehen als Hershel sie Kopfschüttelnd ansah:
„Ich forschte weiter, gedrungen durch Negan, der Maßnahmen gegenüber meiner Familie androhte. Wäre ich ausgestiegen, hätte er dafür gesorgt, dass sie alle sterben. Ich wäre nicht der erste gewesen, mit dem man so verfahren würde.
Während sich die Lage und die Verhandlungen mit Efrafar weiter zuspitzen, schien mir endlich der Durchbruch gelungen zu sein: Sakuya Kiras Blut wurde zu 60 Prozent durch das Geomas ersetzt. Durch die Beimischung von thuliumdotiertem Calciumsulfat erreichte ich, dass Sakuyas Körper den Stoff nicht mehr abbauen konnte. Das Endergebnis verblüffte die gesamte Forschung Valvars: Sakuya war nicht mehr in der Lage sich selbst zu kontrollieren. Er entwickelte Kräfte in seinem Körper die nichts mehr mit den menschlichen zu tun hatten. Bei seinem Erwachen zerlegte er den gesamten Forschungstrakt ,der mittlerweile fest etablierten „VCO“.
Ein Erfolg und ein herber Rückschritt zugleich. Negan veranlasste meine Versetzung in eine andere Abteilung. Weitere Forscher von ihm, waren um die Entwicklung eines Chips bemüht, der Sakuya der Kontrolle durch einen dritten bemächtigen sollte. Mit der Entwicklung eines Synaptic-Netdive-Chips, kurz SND, gelang der VCO erneut ein Durchbruch. Sakuya ließ sich gezielt kontrollieren. Durch das Implantat an seinem Hirnstamm, das auf den Hypothalamus wirkt, konnte der Stoff den seine Neurorezeptoren ausschütteten, kontrolliert werden. Wurde die Ausschüttung heruntergefahren, war er in der Lage wie ein normaler Soldat Befehle anzunehmen. Wurde die Ausschüttung jedoch nicht behindert, verband sich das ausgeschüttete Melanin mit dem Geomas in seinem Körper, und seine Hirnaktivität wurde dermaßen heruntergefahren, dass nur noch der grundlegendste Überlebenstrieb anhielt. Bedürfnisse wie Schlaf, Wärme, Geborgenheit und Glück, wichen den Überlebenstrieben: sein Körper entwickelte enorme Kräfte, um sich, ohne Rücksicht auf Verluste, selbst erhalten zu könne. Eine absolute Katastrophe für uns. Aber für Negan war Sakuya Kira ab da an, der Inbegriff einer unbesiegbaren Waffe im Kampf um die Rohstoffe Efrafars.“
„Das ist krank...das ist absolut krank...“ sagte Lynn leise und betrachtete die Untergehende Sonne, deren letzte Sonnenstrahlen zwischen die hohen Betonwände in den Garten fielen.
„Ja, das war es. Aber wir alle hatten keine Wahl. Ich wurde zurückversetzt in die Abteilung der Nanowissenschaften. Meine Forschungen beschränkten sich nur noch auf die transhumane Vorbereitung jüngerer Soldaten für den Einsatz des SND. Negan hatte entschieden, dass Sakuya vorerst in den Außeneinsatz sollte, als Leiter eines eigenen Teams junger Rekruten. Es vergingen einige Jahre, das Zero-Projekt, dessen Resultat Sakuya war, wurde ausgesetzt, der SND kam jedoch weiter zum Einsatz. Das ursprünglich entwickelte Geomas wurde vorerst in seiner Beschaffenheit geändert. Das beigemischte thuliumdotierte Calciumsulfat wurde entfernt, so dass es nicht erneut zu einer Ablagerung im Körper kam, und der Zustand der maßgeblich verbesserten kognitiven und körperlichen Fähigkeiten nur für einen begrenzten Zeitraum anhielten. Wir konnten es uns nicht leisten, noch einen Vorfall dieser Art zu riskieren. Also arbeiteten wir daran, den SND weiter zu entwickeln, damit ein nächster möglicher Kollateralschaden, wie Sakuya ihn ausgelöst hatte, sich nicht wiederholen würde.
Sakuya war bereits viele Jahre im Dienst für Negan unterwegs. Er war ein herausragender Soldat und Teamleiter. Er leitete eine Einheit von Männern, die für die Rekrutierung möglicher neuer Mitglieder verantwortlich war. Die serienmäßige Züchtung von künstlich erschaffenen Soldaten steckte noch in ihren Kinderschuhen. Wir waren angewiesen auf menschliche Rekruten.
Sakuya war es, der in der Wüste von T`schadna Ham auf eine feindliche, freiberufliche Söldnertruppe traf. Er ordnete die gesamte Rekrutierung der Mitglieder an. Darunter war ein kleines Mädchen. Sie sprach nicht, und wehrte sich gegen jeglichen physischen Kontakt. Sie erledigte mit ihren 11 Jahren sechs von Sakuyas Leuten. Ich las erst ein Jahr später, Sakuyas Bericht von dem Einsatz; es war ein reines Massaker in der Wüste gewesen.
Es gelang Sakuya dennoch, eine Beziehung zu dem Mädchen aufzubauen. Sie gehorchte seinem Wort. Jedoch, zu ihrem Leidwesen, … nur seinem.
Als ich das Ganze mitbekam, ordnete ich intern eine ausgiebige Untersuchung des Mädchens an. Sie schien im Vorfeld, ebenfalls wie Sakuya mit dem synthetisierten Geomas in Kontakt gekommen zu sein. Nicht in der Menge wie es Sakuya in sich hatte, jedoch ebenfalls ein hoher Wert war in ihrem Blut nachweisbar.“
„Das Mädchen war ich... oder?“ fragte Lynn leise. Hershel nickte langsam und betrachtete sie einen Moment lang, wie sie vor ihm saß, ihre Waffe stets griffbereit.
„Ja... Negan veranlasste für dich die selbe Behandlung wie für Sakuya. Du solltest ebenfalls den SND implantiert bekommen... . Ich lag Nächte lang wach. Wie weit wollte ich noch gehen für meine Familie?
Ich weihte ungenehmigt Sakuya, über die von Negan angeordneten Operationen, ein. Für Sakuya jedoch war klar, dass du nicht wie er, eine Marionette werden solltest. Wir sabotierten Nachts zusammen den angeordneten Eingriff.
Du bekamst von alle dem nichts mit. Aber Sakuya zwang dich zu dem Versprechen, nie wieder entgegen seiner Befehle zu handeln.
Es vergingen zwei Jahre, in denen es zu keinen Auffälligkeiten kam. Unsere Sabotage blieb unbemerkt. Mehr und mehr zeigte sich jedoch, dass du schlechtere Leistungen beim Training aufwiest, war nicht Sakuya der Gruppenleiter. Ich ordnete daraufhin deine Versetzung in Sakuyas Team an. Du hast ihn bereits ein Jahr später, mit 14 Jahren, bei Rekrutierungsmissionen, begleitet. Schon bald warst du für die gesamte VCO unentbehrlich.“
>>Warum hat er mir das nie erzählt...? Warum hat er mich so sehr im Unklaren gelassen...?<<
„Aber... während eines Einsatzes, erneut in der Wüste von T`schadna Ham kam es zu einem katastrophalen Zwischenfall... .“ Hershel stockte und rieb sich angestrengt die Stirn, ehe er in Lynns ahnungsloses Gesicht blickte:
„Sakuya wurde schwer verwundet, alle Männer seines Teams fielen und du wurdest gefangen genommen. Den Bericht habe ich nie zu Gesicht bekommen. Ich glaube, dass selbst Negan ihn nicht kennt. Sakuya muss nie einen darüber geschrieben haben. Er wollte wohl nicht, dass all die grausamen Details ans Licht kommen würden.
Sakuya kehrte allein zurück. Ich mahnte Negan aufgrund der Technologie, die in deinem Körper steckte, alle Einheiten zu mobilisieren um dich nur schnell zurück zu holen. Ein Verlust wäre eine absolut taktische Katastrophe gewesen. Wir duften nicht riskieren, dass die Wahrheit über deinen manipulierten SND ans Licht kommen würde. Und trotzdem er manipuliert war, wäre es eine Katastrophe gewesen, wenn diese Technologie jemand anderem als der VCO in die Hände gefallen wäre.
Sakuya bekam erst nach einem viertel Jahr, ein neues Team zugeteilt. Eine neue Serie von Soldaten, die den Feinden gegenüber effizienter sein sollten, synthetisch geschaffen, und mit vollständiger Ersetzung ihrer Organe durch mechanische Technologien, durch die Forscher der VCO. Ganz entgegen meiner Mahnungen und Sorgen. Eine frühere Form der heutigen Hybriden.
Sakuya und sein Team kehrten in die Wüste von T`schadna Ham zurück.“
„Ich war drei Monate in Gefangenschaft?“ fragte Lynn verwirrt. Hershel blickte sie niedergeschlagenen an, während Lynn die kleine Narbe in ihrem Nacken abtastete.
„Ja, das hätte niemals passieren dürfen. Aber Negan war so bessesen, er wollte sichergehen, das feindliche Söldnercamp zerstören zu können. Er hat sich zu viel Zeit gelassen.
Herrgott, du warst unermesslich gefoltert worden. Sie hatten dir den SND herausgeschnitten und das Geomas aus deinem Blut extrahiert. Einen Bericht dieser Befreiungsaktion schien es niemals gegeben zu haben. Was blieb, war eine zutiefst traumatisierte fünfzehnjährige... .
Sakuya holte dich daraus und kehrte mit dir und ohne sein Team zum Stützpunkt zurück.
Nach eingehender Untersuchung, befand ich, du solltest aus dem Dienst genommen werden. Du warst nicht mehr geeignet. Dein Kurzzeitgedächtnis wies enorme Lücken auf, ganz abgesehen von den körperlichen Verletzungen und dem schweren Trauma infolge der Folterung.
Negan ordnete deine Liquidierung an. Für ihn warst du nur noch eine Waffe, die nicht mehr zu gebrauchen war. Für Sakuya und mich war klar, dass es nicht dazu kommen durfte. Wir haben dich aufwachsen sehen, sahen deine Erfolge, deine Entwicklung. Du warst nicht wie die anderen, du und Sakuya ihr wart etwas Besonderes. Menschlich.
Ich hatte nur bedingt Kontakt zu Dakon, der derweilen innerhalb Efrafars die UEF langsam etabliert hatte und weiter ausbaute, und bat ihn darum, Sakuya und dich, bei einer einmaligen Befreiungsaktion aus Valvar nach Efrafar zu überführen. Dakon willigte ein.
Enttäuscht von meinen Aktivitäten, und darüber,dass ich ihn und meine Frau dort zurück gelassen hatte, war es seine Bedingung, Sakuya für die UEF zu gewinnen. Er kannte einen Teil meiner Forschung und war sich sicher, dass Sakuya der entscheidende Mann für einen Sieg gegen die VCO sein würde. Die Überführung kam also zu Stande.“
„Wie konnten Sie Sakuya und mich einfach so „verkaufen“?“ fragte Lynn aufgelöst und fassungslos.
„Es war Sakuyas Wunsch. Und ich wollte nicht mit ansehen, wie sie dich auseinander nehmen, und weitere Forschungen an dir anstellten. Du hattest bereits zu viel gesehen. Man hatte dir lange genug Schmerzen zugefügt. Du hattest ein so schweres Trauma von den Ereignissen der Wüste, dass du für sie nur noch zu Forschungszwecken zu gebrauchen warst. Das ist das Problem an den Menschen: Sie sind verletzlich. Das Menschliche Unterbewusstsein versucht Ereignisse die uns Schaden, zu verdrängen und zu verarbeiten. Gibt man ihm jedoch keine Gelegenheit dazu, wird der Mensch daran zerbrechen. Sie haben das Fass zum überlaufen gebracht, indem sie dich drei Monate lang warten ließen.“
„Wie ging es weiter...?“ fragte Lynn leise.
„Nachdem ihr weg wart, hat sich vieles geändert. Dakon gab meinem gesamten Forschungsteam die Schuld für euer Verschwinden. Ich wurde etlichen Verhören unterzogen. Letztendlich warf er mich raus. Wer für eure Flucht verantwortlich war, kam nie heraus. Das war mein Glück, sonst hätte er mich getötet. Eine Rückkehr nach Efrafar kam für mich nicht in Frage. Ich hatte zu viele Fehler in der Vergangenheit gemacht. Wie sollte ich Dakon je wieder in die Augen sehen, bei dem was ich alles getan hatte. Ich habe ihn und seine Mutter verlassen, für medizinischen Fortschritt, aber die Sache hatte sich zu einer Katastrophe entwickelt. Ich wollte ihr Leben nicht weiter gefährden, also entschloss ich mich dazu, unterzutauchen... .
Ich kann mir all das nicht einmal selbst verzeihen, wie hätte meine Familie es also gekonnt? Und jetzt sieh mich an, Linnai. Ich bin ein alter Mann. Das beste was mir noch geschehen kann, ist der Tod.“
Hershel atmete tief ein und wischte sich einige Tränen aus seinem, von Falten übersäten Gesicht. Er hörte das Klicken von Lynns Waffe und sah Müde auf. Ihre Hände zitterten während sie auf den ihn zielte:
„Sie haben es doch für ihren Jungen getan... für Dakon...“ Hershel lächelte zwischen seinen Tränen verzweifelt.
„Es ist eine einzige Katastrophe geworden... ich habe euch euer Leben genommen... ihr hättet als normale Kinder aufwachsen können...“
„Zwischen Soldaten in der Wüste?“
„Ich habe nie gewollt, dass es so weit kommt...“
„Sie haben uns gehen lassen...“ sagte Lynn und Hershel sah sie in seiner ganzen Verzweiflung verwirrt an.
„Sie waren der, der uns die Chance auf ein normales Leben gegeben hat.“ wiederholte sie leise, noch immer mit zitternden Händen.
„Linnai, erschieße mich. Für mich gibt es kein Glück mehr in dieser Welt. Ich hab es vor langer Zeit selbst so gewählt.“ sagte Hershel leise und stand auf.
„Erschieß mich. Ich habe es verdient, für das, was ich euch angetan habe.“
„Ja vielleicht haben Sie das, aber meinen sie nicht, dass es ein wenig feige wäre?“ Lynn und Hershel schreckten hoch, als Carver auf sie zu gelaufen kam.
„Vielleicht haben Sie den Tod verdient, aber es gibt noch Hoffnung.“ redete er weiter und blieb neben Lynn stehen. Sie sah ihn verwirrt an:
„Sie kennen die VCO und Negan besser als jeder andere. Sie werden uns helfen.“
-17- So now, you can hate me
Als sich am späten Abend alle in der großen Halle zum Essen versammelt hatten, beobachtete Carver angespannt Lynns Bewegungen, als sie Hershel, der mit ihnen am Tisch saß, das Wasser reichte.
„Und ihr kennt euch bereits?“ fragte Sade überrascht, jedoch mit einem Lächeln auf den Lippen, und sah Hershel, Carver und Lynn abwechselnd an.
„Ja, aus einer früheren Gemeinschaft, kurz bevor die große Evakuierung anfing.“ erzählte Hershel und nickte Lynn zu, die sich zu einem Lächeln zwang und zustimmte.
„Ihr erinnert euch doch noch daran, als Negan vor einigen Jahren den Notstand durch den Krieg mit Efrafar ausrief, und wir dazu angehalten wurden, die Stadt nicht mehr zu verlassen?“ fragte Hershel und sah in Carvers ernstes Gesicht. Er zögerte einen Moment nickte dann jedoch:
„Wie könnte ich diese Tage nur vergessen.“ erwiderte er spöttisch und spürte Lynns ernsten Blick.
Sade und Kenny hielten einen Moment inne,wechselten dann jedoch das Thema.
„Ohne Carver hätten wir heute nicht so viel fangen können. Er ist ein wahrer Meister mit der Armbrust und der Schrotflinte. Eure alte Gemeinschaft muss euch wirklich vermissen.“ freute sich Kenny und Sade blickte überrascht zu Carver hinüber.
„Ja, sie vermissen uns gewiss...“ sagte Lynn leise und dachte an Dakon und die anderen. Was würden sie wohl gerade tun? Was würde Sakuya in diesem Augenblick tun? Wenn er doch die ganze Zeit gewusst hatte, wer und vor allem was Lynn war, warum hatte er nichts gesagt? Und wie war sie nach Tokio gekommen, wenn Dakon sie doch gemeinsam mit nach Efrafar genommen hatte? Hatte man sie etwa aussortiert? War sie wirklich durch das Trauma der Folter nicht mehr zum kämpfen in der Lage gewesen? Und bei alle dem, hatte Dakon ebenfalls gewusst wer sie war? Er hatte sie das letzte Mal mit fünfzehn gesehen, hatte sie sich so sehr verändert, dass er sie nicht erkannt hatte, als sie bei dem Kamp gegen Jin verletzt wurde, und er sie mit in ihr Hauptquartier nahm? Wenn es so war, wenn er es gewusst hatte, warum hatte man sie nach allem, so belogen?
Lynn war in Gedanken versunken und bemerkte nicht, dass Kenny und Sade sich bereits verabschiedet hatten, und die Halle sich allmählich leerte.
„Linnai?“ fragte sie Hershel leise und sie Schreckte hoch.
„Lynn, meine Name ist Lynn.“ erwiderte sie harsch und sah in Carvers ernstes Gesicht, der ihr noch immer gegenüber saß.
„Ich werde hoch gehen. Es dauert noch fünf Stunden bis zum Wachdienst.“ stellte er fest und stand auf. Bevor er ging beugte er sich jedoch zu Lynn über den Tisch hinweg, und sagte leise:
„Ich traue diesem Mann nicht. Wenn etwas etwas ist, ruf mich einfach. Und pass auf dich auf.“
Er ging und Hershel und Lynn blieben in dem kargen Licht der Neonröhren zurück. Dass sie sich zu helfen wissen würde, da war Carver sich sicher. Und würde ein Kommando der VCO auf dem Weg zu ihnen sein, würden die Scharfschützen dieser Gemeinschaft sie schon rechtzeitig bemerken.
„Du musst eine menge Fragen haben... .“ ergriff Hershel das Wort und Lynn wandte sich ausdruckslos zu ihm:
„Und Sie müssen mir eine Menge Antworten geben.“ erwiderte sie.
„Du hast gelogen, als du sagtest, Sakuya Kira sei tot.“ Begann Hershel das Gespräch. Noch immer schwor er darauf, es in Lynns Augen gesehen zu haben. Ein eigenartiges Funkeln, als sie seinen Namen erwähnt hatte. Gedächtnis hin oder her, wäre er tot, und sie wüsste davon, hätten ihre Augen nicht so geleuchtet.
„Ich war mir nicht sicher, ob sie uns nicht zurück zur VCO bringen würden.“ antwortete Lynn, und zündete eine weitere Kerze auf dem Tisch an, während sie und Hershel noch immer unten, in der großen Halle saßen, dessen Lichter bereits abgeschaltet wurden.
„Ich sehe es in deinen Augen. Wenn du seinen Namen sagst, dann schaust du mich mit dem gleichen Blick an, wie du ihn angesehen hattest, bei eurem Training.“ Hershel holte seine Pfeife aus seiner Hosentasche hervor und beobachtete Lynn, die Kopfschüttelnd in dem schwachen Licht der Kerzen saß.
„Weißt du, Negan hatte große Pläne mit euch beiden. Ihr solltet die Spitze einer unbesiegbaren Armee bilden.“
„Ach das ist doch Irrsinn!“ antwortete Lynn spöttisch.
„Nein. Er war näher an seiner Vorstellung von einem perfekten Soldaten, als er es heute ist.“ erwiderte Hershel. Lynn schlug auf den Tisch:
„Achja, deshalb habe ich wohl ständig irgendwelche Anfälle, wie Hitzewallungen, Zittern, Schlaflosigkeit und Gedächtnislücken innerhalb einiger Kämpfe, ja? Weil das euer ach so toller Plan, von einem perfekten Soldaten war, nicht wahr?“ Hershel legte seine Pfeife ernst beiseite und sah Lynn in die Augen:
„Ich habe euch weggeschickt, noch bevor etwaige Fehler behoben werden konnten. Der SND der dir fehlt, trägt mit Schuld daran, dass, nun ja, wie soll ich es sagen, gewisse Anomalien auftreten.“
„Gewisse Anomalien? Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Ich habe fast ein halbes Jahr gebraucht und dieses verdammte blaue Zeug nicht mehr nehmen zu müssen, nachdem Dakon es mir zur Ruhigstellung verabreicht hatte!“ Hershel ließ beinahe seine Pfeife fallen, als er den Namen seines Sohnes hörte:
„Du hattest Kontakt zu Dakon nachdem du dein Gedächtnis verloren hast?“ fragte er fassungslos und Lynns Gesichtsausdruck der Wut, wich Resignation:
„Ja, es geht ihm gut. Er hat alle Hände voll damit zu tun, von Elaìs aus, die UEF zu koordinieren. Er ist besessen von diesem Kampf.“ Hershel hörte ihr fassungslos zu. Sie musterte ihn einen Augenblick lang. Er hatte keine Ahnung, dass sein Sohn noch lebte? Und was er tat?
„Er hat eine wunderbare Frau, sie heißt Serah. Sie war lange in der Gefangenschaft der VCO. Shariev wollte Dakon mit ihr ködern, aber wir mischten uns ein und konnten sie befreien. Ihre Tochter...“ Lynn stockte.
„Ich habe eine Enkelin...?“ stotterte Hershel voller Freude, aber er sah an Lynns Gesichtsausdruck dass die Antwort ihn nicht erfreuen würde.
„Sie ist tot, habe ich recht?“ fragte er leise und Lynn nickte.
„Sie hieß Miku. Ich habe sie nur auf einem Foto gesehen. Es war ein wunderschönes Mädchen, ganz wie ihre Mutter.“ sagte Lynn vorsichtig und Hershel fuhr sich mit den Händen durch sei Gesicht.
„Wir waren ein gutes Team zusammen. Dakon, Serah, Rin, Tetsuya... und Sakuya.“ Lynn sah wie die Fassungslosigkeit in Hershels Mimik stieg. Er hätte alles erwartet, aber nicht, dass sie tatsächlich noch alle zusammen kämpften.
„Du hast dich mit ihnen zusammen der VCO gestellt?“ fragte er verblüfft.
„Meine Aufgaben beschränkten sich auf meine Fähigkeiten als Scharfschützen und Kanonenfutter...“ sie schnaubte verächtlich als ihr der Gedanke daran kam, wie Dakon Lynn vor dem Habour Lights Krankenhaus angeschossen hatte. Und wie er sie und Sakuya in das Quartier der VCO eingeschleust hatte, damit sie sich gefangen nehmen ließen.
„Das sieht Dakon nicht ähnlich.“ erwiderte Hershel nachdenklich.
„Warum genau bist du hier?“ fragte er schließlich und Lynn überlegte einen Moment.
„Es sind viele Dinge geschehen, auf die ich mir keinen Reim mehr machen konnte. Ich will endlich wissen wer ich bin, wer mich gemacht hat, und wo ich herkomme. Ich wollte wissen, warum ich immer wieder das Gefühl hatte, Sakuya so gut zu kennen. Und warum mich mehr und mehr das Gefühl nicht verließ, dass Dakon mir etwas verheimlichte... aber ich denke, ich habe die Antwort nun. Die Frage lautet nur...“
„Warum?“ beendete Hershel ihren Satz. Lynn nickte und atmete tief ein.
„Wenn ich nur wüsste was geschehen ist, nachdem Dakon dich und Sakuya nach Efrafar geholt hatte, dann könnte ich dir vielleicht die Antworten geben, nach denen du suchst...“ Hershel sah in Lynns traurige Augen.
„Es gäbe da eine Möglichkeit, aber dafür müsste ich dich erst einmal eingehend untersuchen.“ fast wäre Lynn aufgesprungen, aber sie zwang sich sitzen zu bleiben:
„Wenn Sie glauben, dass ich mich nochmal freiwillig zu einem Arzt begebe, dann fehlt Ihnen der Verstand!“ entgegnete sie ihm laut. Hershel jedoch nickte nur.
„Ja, das ist verständlich.“ Er dachte nach.
Lynn lag bereits im letzten Stockwerk, unterhalb des Daches, mit ihrem Gewehr und zielte in die Nacht, als auch Carver eintraf und sich ein Stück von ihr entfernt niederließ.
„Hast du die Antworten bekommen nach denen du gesucht hast?“ fragte er ruhig und sah zu ihr rüber. Sie erwiderte seinen Blick und es schienen nur noch mehr Fragen darin zu liegen.
„Erinnerst du dich an ihn?“ fragte sie schließlich und sah wieder in die Nacht.
„Ich erinnere mich an seinen weißen Kittel, und an seinen Bart, den er damals schon hatte. Wenn er in die Baracken kam, war es nie ein gutes Zeichen. Ich blieb immer verschont. Aber viele aus meiner Serie landete auf seinem Operationstisch. Ich wusste nie warum, aber wenn sie wiederkamen, waren es nicht mehr die selben. Es schien, als hätte er sie willkürlich ausgewählt.“ Carvers Stimme klang ruhig und gefasst, wie beinahe immer, während er sich eine Zigarette anzündete.
„Hast du jemals Negan gesehen?“ fragte Lynn schließlich nachdenklich und konzentrierte sich wieder auf den Blick durch ihr Zielfernrohr.
„Ja, er gab mir persönlich die Anweisungen für den Auftrag über Elaìnes Vater. Er wirkte absolut professionell. Nun ja, er hatte schließlich die VCO gegründet, was hatte ich also erwartet. Jemand der so mächtig ist wie er...“
„Wie lange standest du bereits hinter uns...vorhin im Garten?“ unterbrach Lynn ihn plötzlich.
„Lange genug, um zu verstehen, warum du hier bist.“ erwiderte Carver.
„Und lange genug, um zu wissen, woher diese Trauer in deinem Blick kommt, die mir schon in den Bergen aufgefallen ist.“ Lynn blieb stumm nach seinen Worten. Sie dachte daran,wie er sie mit dem Geomas erwischt hatte. So verletzlich. Ohne jeglichen Ausweg. Und nun lag er dar, direkt neben ihr. Er hatte sie nach Valvar gebracht. Obwohl er ahnte, was sie hier erwarten würde. Welche Gefahr ihnen durch die Hybriden drohte.
Ein neuer Tag war angebrochen und Lynn sammelte die reifen Äpfel von den Bäumen im Garten, während sie darüber nachdachte, was Sakuya und die anderen wohl gerade tun würden. Sie schmunzelte. Hier, in Valvar schien die Welt in Ordnung zu sein. Die Gemeinschaft in der sie nun knapp seit einer Woche lebten, hatte sie einfach aufgenommen. Es war ruhig, und jeder trug seinen Teil zum Erhalt bei. Sade und die anderen Frauen lachten oft, wenn sie zum Waschen in den Duschräumen zusammen kamen. Die Schwere und Ernsthaftigkeit die bei Dakons Einsätzen vorherrschend waren, schien hier nicht mehr zu gelten. Diese Menschen lebten hier, in Valvar, ihr ungestörtes Leben.
Lynn hielt sich die Hand vor Augen, während die helle Oktobersonne sie blendete, und dachte einen Moment an Serah.
„Warum hörst du nicht endlich auf, uns mit deinen Sorgen in den Wahnsinn zu treiben?“ fragte Shiori genervt und nahm ihren Kaffee vom Tisch. Sie ging zum Computer und stöberte in einigen Datenbanken. In der Zeit, die Lynn nun bereits weg war, hatte Shiori sich, zu Serahs, Ärgernis, voll in die Angelegenheiten von Dakon integriert.
„Lynn ist ein Teil dieses Teams, denk was du willst, aber ich bin mir sicher, dass sie zurück kommen wird.“ antwortete Serah scharf und klappte ihren Laptop zu. Shiori verdrehte die Augen und wandte sich zu Serah um:
„Sie ist abgehauen, warum begreifst du das nicht? Bist du wirklich so blind? Sie hat die ganze Mission gefährdet. Und warum das alles? Nur wegen ihres grenzenlosen Egoismus.“
Serah schlug auf den Tisch und stand auf:
„Hör zu, ich weiß nicht was du in Efrafar alles mitbekommen hast; aber wir kämpfen hier um das Bestehen unserer Welt! Und Lynn hat alles dafür getan, dass wir immense Schritte weiter gekommen sind!“
Shiori schnaubte verächtlich:
„Ach ja? Indem sie euch ein paar Male geholfen hatte? Und sobald ihre kleine Welt ins schwanken geriet, hat sie sich aus dem Staub gemacht. Und du sitzt hier und wartest seelenruhig darauf, dass sie zurück kommt, mit der VCO im Schlepptau? Denn genau das wird geschehen: Sie wird mit ihrer ganzen verdammten Sippe hier einlaufen und alles zerstören was wir aufgebaut haben!“
Als Rin den Raum betrat sah er wie Serah dicht vor Shiori stand, welche sich entsetzt die Wange hielt. Sofort schlussfolgerte er, dass Serah Shiori geschlagen haben musste.
„Pass auf was du sagst, Shiori. Ich will nur für dich hoffen, dass du nie das zu spüren bekommst, was man mit Lynn gemacht hat!“
Serah stürmte an Rin vorbei, der Shiori nur nachdenklich ansah:
„Glaub mir, Sakuya wird sie schon zurück holen.“ Er war sich sicher, dass Lynn sie nicht im Stich lassen würde.
„Sade, wir sollten reden. Kannst du Kenny dazu holen?“ fragte Carver geduldig, während er Lynn und Hershel beobachtete, die zusammen beim Essen saßen.
„Sicher. Wir kommen gleich zu euch.“ antwortete Sade lächelnd.
„Kommen die beiden?“ fragte Lynn und wandte sich von Hershel ab, um Carver anzusehen. Er nickte und setzte sich wieder zu ihnen.
„Wir könnten die Neiden um ihre Hilfe bitten.“ warf Hershel ein und rauchte seine Pfeife. Lynn und Carver sahen nachdenklich einander an.
„Ich bin ein alter Mann, ich wäre euch keine große Hilfe im Kampf.“ rechtfertigte Hershel seinen Vorschlag.
„Ja, das mag stimmen, aber Sie haben die Informationen die wir brauchen.“ erwiderte Lynn leise.
„Sie kommen auf jeden Fall mit. Wenn etwas schief läuft, werden Sie ebenfalls mit Ihrem Leben bezahlen.“ antwortete Carver ungewohnt hart.
„Ja, er hat recht. Wir können Ihnen nicht blind vertrauen, Hershel.“ stimmte Lynn Carver nachdenklich zu. Zu ihrem Erstaunen schien Hershel keinesfalls verwundert über ihren Entschluss zu sein.
„Ich verstehe euch. Welchen Grund hättet ihr auch, mir zu vertrauen.“ erwiderte er. Carver nickte und zündete sich eine Zigarette an.
„Ich hab euch die hier besorgt. Es sind die Stadt- und Umgebungspläne von Valvar. Der Hauptsitz der VCO ist rot eingekreist, im Westen außerhalb.“ Hershel breitete einige Lagepläne auf dem Tisch aus.
„In meiner Erinnerung war das Gelände wesentlich kleiner... .“ bemerkte Carver und fuhr mit seinen Händen über das Papier.
„Negan verlegt alle fünf Jahre die Basis. Um so eventuellen Angriffen zu entgehen. Die Basis wo ihr beide wart, muss ebenfalls gewechselt worden sein.“ erwiderte Hershel. Lynn folgte dem Gespräch nur bedingt. Sie bemühte sich, dass ihr etwas einfiel, aber sie konnte nichts in ihren Erinnerungen finden. In ihrem Kopf herrschte eine tiefe Leere. Sie entschied sich, nochmals über Hershels Vorschlag nachzudenken. Vielleicht könnten sie tatsächlich auf Sades und Kennys Hilfe hoffen. Schließlich waren sie freiwillig aus der Stadt geflohen, weil Negan und seine Pläne ihm zu wider waren. Andererseits bevorzugten diese Menschen auch ein Leben in Ungestörtheit Sie wollte keine Konflikte und würden nun, auf Hershels Bitte hin, wohl auch nicht damit beginnen.
„Lynn?“ fragte Carver als er bemerkte wie Lynn geistesabwesend auf den Tisch blickte. Sie sah auf:
„Mir geht es gut.“ erwiderte Lynn angespannt. Carver musterte sie einen Augenblick lang. Sie hatte wieder diese Abwehr in ihrer Stimme. Und trotzdem ihr Äußeres ihm so manches mal verletzlich erschien, wurden ihm Augenblicklich wieder ihre todbringenden Fähigkeiten bewusst, als sie ein Messer, welches sie stets bei sich trug, durch die Karte in den Tisch rammte.
„Das wird unser nächstes Ziel sein. Dort können wir erneut untertauchen, und weitere Informationen Sammeln. Und du kannst endlich die Schwester von Elaìne ausfindig machen.“ sagte Lynn entschlossen. Hershel nickte stumm. Er wusste, zu was sie Lynn und Carver, und all die anderen bei der VCO gemacht hatten. In Gedanken sah er sich bereits an einer Heizung gekettet. Die Beiden wären dumm, würden sie ihn frei herum laufen lassen. Vielleicht war er tatsächlich noch immer Teil der VCO. Vielleicht würde er bei der erstbesten Gelegenheit Negan informierten, und die beiden zurück bringen lassen. Zurück dahin, wo sie geschaffen, wo sie ausgebildet und modifiziert worden sind.
„Wir werden die nötigen Maßnahmen für Sie treffen.“ bestätigte Carver Aaugenblicklich Hershels Vorahnung, und er nickte:
„Das weiß ich doch. Wir haben euch so ausgebildet.“
„Hier sind wir, was gibt es?“ fragte Kenny freundlich und setzte sich zusammen mit Sade an den Tisch der Drei. Lynn packte die Karte weg und zog das Messer aus dem Tisch.
„Wir werden morgen aufbrechen. Dank Hershel haben wir wieder einen Anhaltspunkt, wo unsere Gemeinschaft sich aufhalten könnte, wenn sie weitergezogen sind. Er kennt ihren Radius und hat uns einige Karten der Umgebung besorgen können.“ sagte Lynn ernst und blickte in Kennys gutmütige brauen Augen. Er nickte verständnisvoll.
„Wir würden euch gerne etwas Verpflegung mit auf den Weg geben, aber wie ihr wisst, haben die Männer seit zwei Tagen nichts mehr fangen können. Ich kann euch nur Obst und Gemüse anbieten.“ sagte Sade schwermütig. Lynn war verwundert über ihre Großzügigkeit. Sie hatten sie anstandslos aufgenommen. Sie hatten ihnen Essen, eine warme Dusche und ein sicheres Versteck geboten. Und nun schien sich Sade dafür zu schämen, dass sie nicht noch mehr tun konnte.
„Ihr habt uns hier sofort aufgenommen. Wir sind euch etwas schuldig.“ antwortete Carver und machte seine Zigarette aus. Sade sah ihn verwundert an.
„Ich werde die Beiden bei ihrer Reise begleiten.“ ergriff Hershel das Wort und Lynn konnte das Entsetzten in Kennys Gesicht sehen.
„Du willst mit ihnen gehen? Du weißt welche Gefahren der Wald birgt. Denk an die Hybriden da draußen, Hershel. Überleg es dir noch einmal. Zudem bist du der einzige Arzt hier.“ erwiderte Kenny sichtlich überrascht.
„Ich habe den jungen Setsuna lange Zeit assistieren lassen. Er ist mit den Abläufen vertraut. Zudem habe ich die gängigen Behandlungsmethoden und Diagnosen schon seit einer Weile zusammengetragen und aufgeschrieben. Es sollte ihm mittlerweile keine Probleme mehr bereiten, selbstständig zu agieren.“ erklärte Hershel und sah zu einem jungen, braunhaarigen Mann herüber, der nicht älter als achtzehn zu sein schien, und am Nachbartisch saß.
„Bist du dir wirklich sicher, Hershel?“ fragte Sade besorgt, aber Hershel nickte nur stumm.
Lynn stand in ihren Zimmer und packte einige ihrer Waffen zusammen. Es war bereits weit nach Mitternacht und ihre Schicht beim Wachdienst war bereits vorüber.
Als sie auf dem Bett saß und ihre Stiefel schnürte, blickte sie plötzlich auf. Carver stand in der Tür und beobachtete sie:
„Was hast du vor?“ fragte er ruhig und eine gewisse Entspannung lag in seiner rauen Stimme.
„Sade hatte heute Abend beim Essen erwähnt, dass die Männer seit Tagen nichts gefangen haben. Ich denke wir sind es ihnen schuldig, etwas von dem zurück zu geben, was wir genommen haben.“ erwiderte Lynn.
„Kommst du mit?“ fragte sie schließlich und sah Carver zu, wie er ihr den Rücken zudrehte, und sie die Armbrust und seine Schrotflinte sehen konnte. Sie lächelte als schließlich Hershel, ebenfalls bewaffnet, ebenfalls das Zimmer betrat.
Die drei waren bereits seit einigen Stunden in den Wäldern unterwegs und Lynn lag ruhig, bedeckt von Laub, in einem schmalen Graben, jederzeit bereit zu schießen. Ihr Blick wanderte über den dunklen Waldboden hinüber zu Hershel, der einige Meter entfernt, ebenfalls gut getarnt, an einem Baum lehnte. Die Sonne ging langsam wieder auf, als Lynn endlich das erhoffte Signal in der Ferne hörte und sie die ersten Erschütterungen unter sich wahrnahm. Es war das Geräusch von Paarhufern in der Ferne, und Lynn war sich instinktiv sicher, dass Carver einige Wildschweine aufgescheucht hatte. Es folgte ein kurzer, aber lauter pfiff von Hershel und Lynn machte sich bereits zum Schuss, als sie bereits die ersten Tiere in der Ferne erkennen konnte.
Sade kam gerade die Treppe in der großen Halle hinunter, als sie ungläubig stehen blieb, und auf vier ausgenommene Wildschweine blickte, die sich ihr auf einem Tisch darboten. Sie eilte zu ihnen und nahm einen kleinen Zettel vom Kopf des obersten Tieres:
„Wir danken euch für alles, verliert den Glauben an das Ende dieses Krieges nicht.“
Hershel, Carver und Lynn waren bereits seit zwei Tagen innerhalb der Wälder unterwegs. Die Stadt würde noch einen Tagesmarsch entfernt sein, da war sich Lynn sicher, als sie in der Abenddämmerung auf eine alte Forsthütte stießen.
„Wir sollten uns hier ein wenig ausruhen. Die Stadt ist noch etwa einen Tag entfernt. Wir müssen unsere Kräfte sammeln, denn wir brauchen sie, wenn wir an den Wachen der Stadtgrenze vorbeikommen wollen.“ sprach Hershel etwas außer Atem, und nährte sich der Hütte, während Lynn und Carver ihm konzentriert und angriffsbereit folgten. Noch immer waren sie auf der Hut, mit der stetigen Ungewissheit, ob Hershel sie letztendlich nicht doch in eine Falle führen wollte.
„Nein, wir sollten keine Zeit verlieren.“ erwiderte Lynn ernst und Hershel blieb stehen.
„Es bringt nichts, wenn wir am Ende unserer Kräfte dort eintreffen.“ sagte Carver und Lynn musste einsehen, dass sie wohl die Nacht in der Hütte verbringen würden.
„Hauptsache wir haben ein Dach über den Kopf.“ sagte Hershel erleichtert über diese Wendung, und verstaute seine Schrotflinte unter einer Fensterbank.
„Wir sollten den Wachdienst in dieser Nacht aufteilen.“ erklärte Carver, der kurzerhand seine Waffe zerlegte, um den Lauf mit einem alten Lumpen, aus seiner Hosentasche, zu reinigen.
„Solange es noch etwas Hell ist, sehe ich noch ganz gut.“ antwortete Hershel und setzte sich auf einen alten Holzstuhl, der in dem ansonsten leeren Forsthaus, etwas Fehl am Patze wirkte.
„Wollen Sie sich nicht zuerst etwas ausruhen?“ fragte Carver während er seine Waffe wieder zusammen setzte. Hershel lachte leise:
„Ihr seht in der Dunkelheit wesentlich mehr als ich.“ Carver sah ihn genervt an:
„Verschonen Sie mich bitte mit der Anpreisung unserer Fähigkeiten.“ entgegnete er. Das hatte Hershel bereits einige Male getan, seitdem sie unterwegs waren. Es mochte gut sein, dass er und Lynn seine Fähigkeiten diesem alten Mann zu verdanken hatten, aber musste sie nicht noch stets darauf aufmerksam machen. Und vor allem, musste er sie nicht ständig an die Eingriffe und Schmerzen erinnern, die er ihnen zugefügt hatte.
„Wo ist Lynn?“ fragte Hershel schließlich, um das Thema zu wechseln.
„Sie ist bestimmt im Bad.“ antwortete Carver und steckte seine fertig gereinigte Waffe wieder in den Bund seiner Hose: „Lynn?“
Er bekam keine Antwort und lief unter Hershels plötzlich besorgten Blick, in die Richtung der kleinen Tür des Badezimmers. Aber auch nach seinem Klopfen erhielt Carver keine Antwort.
„Lynn, ich komm jetzt rein um nachzusehen ob alles in Ordnung ist.“ sagte er laut und blickte angestrengt zu Hershel der ihm zunickte. Ein Eigenartiges Gefühl der Angst überkam ihn prompt; Lynn antwortete immer. Sie waren Soldaten. Kommunikation war das wichtigste in einem Team.
Carver öffnete die Tür und sah wie Lynn benommen auf dem Fußboden lag.
„Lynn!“ er griff unter ihren Rücken und versuchte sie aufzusetzen, während sie schwermütig ihre Augen öffnete und ihn verwirrt ansah: „Sakuya...“ murmelte sie leise und Carver konnte in dem schwachen Licht, dass durch das Badezimmerfenster fiel erkennen, wie sich ihre Augenfarbe schillernd veränderte: es war ein flackernder Wechsel zwischen den weichen Abstufungen verschiedener Grün-Blau Töne. „Hershel!“ rief Carver, und der alte Mann stand hastig auf und kam zu ihm gelaufen.
„Was ist los mit ihr?“ fragte Carver verwirrt und betrachtete Lynn, die kurzatmig gegen eine Wand gelehnt vor ihnen saß.
„Das ist ungewöhnlich...“ rätselte Hershel. Nachdem Carver ihm Platz in dem engen Raum gemacht hatte, beugte er sich zu ihr hinunter und betrachtete ihre Augen.
„Kannst du mich hören?“ fragte er angespannt und Carver las die Unsicherheit in Hershels Stimme. Lynn hob zittrig und stumm ihren Arm und versuchte nach etwas zu greifen, oder zu schlagen, aber ihre Bewegungen wirkten völlig unkoordiniert.
„Sie hatte das Geomas erwähnt, welches sie bei Dakon bekommen hatte. Wie lange hat sie es nicht mehr genommen?“ fragte Hershel schließlich und stand wieder vom Boden auf.
„Das kann ich nicht sagen. Vielleicht seit drei, vier Wochen nicht mehr.“ erwiderte Carver unsicher und folgte der Geste mit der Hershel ihm zu verstehen gab, dass er Lynn vom Fußboden hochheben solle, um sie schließlich im Wohnraum auf einige Decken am Fußboden zu legen.
„Es könnten die Folgen eines Entzugs von dem Geomas sein. Der SND in ihrem Hirnstamm organisierte ursprünglich die Nachproduktion des Stoffes durch das Melanin. Ihr Blut besteht zu etwa 45 Prozent aus dem Geomas. Wir haben es damit angereichert. Dadurch, dass ihr der SND fehlt, kann eine Weiterproduktion vermutlich nicht mehr gewährleistet werden. Der Geomasspiegel sinkt automatisch langsam ab.“
Während Hershel Lynn langsam ihren Pullover an den Armen hochkrempelte, fragte Carver angespannt:
„Und was soll das nun bedeuten?“
„Das hatte ich mir gedacht.“ Hershel verwies auf Lynns makellose, schmale Unterarme.
„Keine frischen Einstiche. Es muss einige Monate her sein, dass sie Geomas ihrem Blut hin zugeführt hat. Deshalb auch ihre grünen Augen. Ich wusste doch, das irgendetwas anders an ihr war.“ diagnostizierte Hershel nachdenklich und sah Lynn zu, wie sie langsam wieder aufhörte sich unkoordiniert zu bewegen und zu verkrampfen.
„Ist sie tot...?“ fragte Carver und beugte sie zu Hershel hinunter der sie nur nachdenklich betrachtete.
„Nein. Es ist nicht so schlimm wie es aussieht. Der Geomas Spiegel in ihrem Blut sinkt langsam ab. Wir sollten sehen, dass sie es bekommt, sobald wir die Stadt erreicht haben.“
„Und was ist wenn nicht?“ fragte Carver.
„Mh, schwer zu sagen. So weit haben wir es im Forschungsstadium nie kommen lassen. Ich nehme an ihre Organe werden versagen. Sie wird ins Koma fallen und schließlich sterben.“ Carver konnte nicht glauben mit welch einer Ruhe Hershel diese Mutmaßungen anstellte.
„Machen Sie Witze?“ fragte er und sah Hershel unverständlich an, als dieser sich wieder aufgerichtet hatte.
„Nein. Sie sollte sich heute Nacht ausruhen. Bis morgen müsste sich ihr Zustand wieder normalisiert haben. Es ist ein kurzer Schwächeanfall. Nichts worum man sich unnötige Sorgen machen müsste. Aber wir sollten sie fixieren.“ sagte Hershel kühl und hielt nach etwas geeignetem Ausschau. „Kommt nicht in Frage.“ erwiderte Carver rau. Hershel sah ihn ernst an:
„Wenn sie wieder einen Anfall bekommt, kann sie sich selbst verletzten. Das bringt keinem etwas. Bind sie fest oder halt sie ruhig, damit sie keine Gefahr für sich selbst wird.“ antwortete Hershel und griff nach seiner Schrotflinte: „Ich bin draußen und halte Wache, falls etwas ist.“ Das Unverständnis welches Carver an den Tag legte, machte Hershel wütend. Es mochte sein, dass er Lynn nicht festbinden wollte, aber wäre er mit den Auswirkungen von Entzugserscheinungen vertraut, würde er nicht so blauäugig reagieren, da war sich Hershel sicher.
Carver betrachtete Lynn noch einen Moment ehe er sich gegen eine Wand lehnte, sich setzte und sie zwischen seine Beine zog, um ihre Arme festhalten zu können. Für einen kurzen Moment begann sie sich erneut zu wehren, aber sie kam nicht gegen seine Kraft an und wurde wieder bewusstlos. Carvers Blick war auf die Tür gerichtet, während er mit der linken Hand seine Waffe zog und Lynn noch fester hielt: „Tut mir leid.“ Etwas in ihm, sagte ihm, dass Lynn das im Wachzustand niemals geduldet hätte. Sie war stark und sie konnte auf sich selbst aufpassen. Aber die derzeitige Situation ließ ihm nun mal keine andere Wahl.
Hershel war eine Runde um das Haus gegangen und hatte Ausschau gehalten, als er an einem Baum zum stehen kam und inne hielt. Er sah die Bilder eines kleinen Mädchens vor seinen Augen, die hilflos auf seinem Operationstisch lag. Nur wenige Tage vorher, hatte er sie auf dem Hof noch beim herumtollen beobachtet. Er hatte nie gewollt, dass ihre Unbekümmertheit und ihre Neugierde einmal versickern würden. Und jetzt lag eine beinahe erwachsene Frau, hinter den Holzwänden, bei denen er stand, um kämpfte um ihr überleben, und das nur, weil er seine Experimente an ihr durchgeführt hatte, um sie zu einem perfekten Soldaten zu machen.
„Was habe ich nur getan...Hershel brach unter Tränen zusammen.
Es war mitten in der Nacht, als Hershel die Hütte wieder betrat und Carvers sorgenvoll Blick begegnete. Lynn schlief ruhig auf den Decken und Carver saß mit der geladenen Waffe, etwas entfernt von ihr.
„Sie schläft jetzt. Die Anfälle haben aufgehört.“ berichtete er und stand auf. Hershel nickte nur skeptisch:
„Draußen ist es ruhig.“ antwortete er und zog den Stuhl an das andere Ende des Raumes, an dem Lynn lag. Er würde das Risiko nicht eingehen, Lynn da so liege zu lassen. In ihrem Zustand war sie nicht nur eine Gefahr für sich selbst, sondern auch für alle Beteligten.
„Gib mir deinen Gürtel.“ forderte er Carver auf. Er zögerte einen Moment, gab ihn jedoch schließlich Hershel.
„Ich habe nicht so viel Kraft wie du, und kann das Risiko nicht eingehen.“ erklärte er, während er Lynns Hände an einer alten Heizung fixierte, die sich unmittelbar neben ihrem Kopf befand.
„Wie Sie meinen.“ erwiderte Carver und verließ die Hütte für den Wachdienst.
„Sakuya...“ murmelte Lynn leise und Hershel beobachtete sie, während er nach einer Zigarette, aus Carvers Schachtel auf der Fensterbank, griff.
„Wärst du bei Bewusstsein gewesen, hättest du Carver getötet, das wissen wir beide...“ Begann Hershel leise und müde zu erzählen.
„Kein Mann durfte dir jemals zu nahe kommen... nur ihn... Sakuya... hast du immer gelassen. Er war der, zu dem du das erste mal gesprochen hast. Der dir unsere Sprache beibrachte... der dir das Kämpfen und überleben beibrachte.“ Hershel zog langsam an der Zigarette. Ein braunes Gewirr aus Haarsträhnen bedeckte die glänzende Haut, ihres Gesichts. Ihre vollen Lippen waren geschlossen und formten sich nur ab und an zu einigen lautlosen Worten. Es war lange her, dass Hershel sie in seinem Labor empfangen hatte. Oftmals war sie gerne zu ihm gekommen. Zu Beginn, noch bevor sie die schmerzlichen Erfahrungen der Eingriffe begreifen musste, stand sie stets mit ihrer kindlichen Neugier vor ihm, und sah ihn mit ihren großen blauen Augen erwartungsvoll an. Nie hatte er dieses Bild vergessen, wie ihre kleinen Finger voller Neugierde durch seinen Bart gefahren waren, und sie unsanft daran gezupft hatte. Auf ein „Autsch“ seinerseits hatte sie mit einem beglückten und stummen Lächeln reagiert. Aber nun war alles anders, das wusste Hershel. Die junge Frau, die nun vor ihm auf dem Boden lag, war nicht mehr das kleine Mädchen von damals. Sie hatten aus ihr eine unberechenbare Bestie gemacht, genauso wie aus Sakuya.
„Einmal als du krank warst, kamen wir nicht umhin dir Medikamente geben zu müssen. Negan hatte dich wie einen Hund, eine Woche lang auf dem Stützpunkt, am Rande des Waldes festgebunden. Du warst gerade zehn geworden. Du hattest Angst. Es war im Winter und es hatte geschneit. Natürlich bist du krank geworden. Eine Woche lang ohne Essen, ohne warme Kleidung. Er hat dich bestraft weil du zwei Soldaten aus Sakuyas Team geschlagen hattest, weil sie dir die Jacke von ihm wegnahmen, die sie versteckt in deiner Baracke gefunden hatten. So etwas konnte Negan nicht durchgehen lassen. Aber seine Strafe war zu hart, für ein Kind... .
Als ich dir schließlich die Medikamente geben wollte, hast du dich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt. Vier erwachsene Männer, und keiner war in der Lage dich ruhig zu stellen, damit zu endlich still hältst. Und dann kam Sakuya Kira. Von ihm hast du dir die Tabletten natürlich geben lassen. Ihm hast du immer vertraut... .“ Hershel fielen die Augen zu und er trat schwach die glühende Zigarette auf dem Boden aus. Ein Blick zu Lynn verriet ihm, dass sie immer noch schlief und er fragte sich wovon sie wohl gerade träumen würde.
Carver kam gerade die Türe herein um Hershel zu wecken, als Lynn ihm gegenüberstand und ihn sauer ansah.
„Wie hast du?“ er blickte über sie hinweg zu dem zerrissenen Gürtel, dessen Fetzen noch immer an der Heizung baumelten. Sie musste sie durchgerissen haben.
„Ihr macht wohl Witze.“ sagte sie scharf und ging nach draußen. Hershel war von den Stimmen aufgewacht und blickte zu Carver, der noch immer verwundert im Eingang stand.
„Wie...?“
„Ihr seid, was ihr seid.“ antwortete Hershel nur schläfrig und richtete sich langsam auf.
Lynn und Hershel folgten Carver, innerhalb des Waldes, als sie die ersten Stadtmauern sehen konnten, die in der kühlen Abenddämmerung lagen. Sie waren den ganzen Tag stumm durch den Wald gelaufen und hielten nun inne.
„Sehr ihr die Soldaten?“ fragte Hershel etwas außer Atem und verließ sich auf Lynns und Carvers gute Augen. Die beiden beobachteten konzertiert einige bewaffnete Wachleute und Soldaten die vor der circa vier Meter hohen Mauer patrouillierten.
„Ja.“ antwortete Lynn leise und verfolgte ein Gespräch zwischen zwei Soldaten in dem es um Frauen ging.
„Wie ist der Plan?“ fragte Hershel schließlich ungeduldig. Lynn und Carver drehten sich zeitgleich zu ihm um und antworteten:
„Wir legen sie um.“ Hershel erschrak ein wenig, bei der Entschlossenheit ihrer Worte, aber ihm wurde schnell wieder bewusst, dass er und die VCO sie zu solchen Killern gemacht hatten.
„Wenn ihr sie tötet, wird man schnell darauf kommen, dass es Eindringlinge gibt. Wir sollten kein Aufsehen erregen.“ antwortete Hershel schließlich leise. Lynn und Carver dachten einen Augenblick lang nach und nickten schließlich.
„Er hat recht.“ erwiderte Carver und steckte seine Waffe weg.
„Ich könnte sie ablenken.“ schlug Lynn vor, noch immer mit einem Ohr bei dem Gespräch der beiden Soldaten.
„Und wie kommst du dann hinein?“ fragte Hershel stutzend.
„Macht euch um mich keine Sorgen.“ Sagte Lynn leise, als sie von einem lauten Poltern unterbrochen wurde. Die drei blickten angespannt in die Richtung aus der das Geräusch kam, und beobachteten wie zwei Soldaten ein riesiges Tor für einige Transporter öffneten die, die Stadt verließen. „Oder wir warten bis sie zurück kommen...“ sagte Carver entschlossen und Lynn und Hershel nickten.
Die Drei lagen bereits am Straßenrand einer langen Landstraße, einige Kilometer von der Stadt entfernt, im Straßengraben, und horchten aufmerksam nach dem Geräusch des sich nährenden Transporters. Er würde wieder in die Stadt fahren.
Lynn blickte zu Carver, der einige Meter entfernt von ihr, Deckung suchte. Es war bereits Nacht geworden und er gab ihr ein Zeichen in der Dunkelheit, bei dem sie hastig aufstand und auf die Straße lief. Das helle Scheinwerferlicht blendete sie und augenblicklich kam der schwarze Wagen zum stehen und ein bewaffneter Soldat stieg aus.
„Sie sind nicht befugt sich außerhalb der Stadt aufzuhalten!“ brüllte er ihr entgegen und richtete seine Waffe auf sie. Lynn schüttelte verwirrt den Kopf: „Ich muss in die Stadt, mein Vater ist krank! Er wird sterben!“ rief sie aufgelöst und nährte sich absichtlich ungeschickt dem Soldaten.
„Erschieß sie!“ rief der Soldat der noch immer am Steuer saß. Der junge Mann zögerte einen Augenblick, indem Lynn beobachten konnte, wie Carver und Hershel unbemerkt auf der Ladefläche verschwanden.
„Herrgott nochmal, du sollst die erschießen!“ schrie der Fahrer erneut und ein Schuss durchtraf die Nacht. Lynn war ihm mit einem blitzschnellen Schritt zur Seite ausgewichen, ließ sich jedoch zu Boden fallen, als hätte man sie getroffen.
„Musste das sein?“ fragte der Soldat, der soeben auf Lynn geschossen hatte, und rieb sich die Stirn. „Wenn ich Negan von deinem Zögern berichte, wird er dich liquidieren lassen, das weißt du hoffentlich.“
„Schon gut, schon gut. Lass uns endlich weiter fahren.“
Der Transporter setzte sich wieder in Bewegung und nachdem er, an Lynns vermeintlich leblosen Körper vorbeifuhr, richtete sie sich blitzschnell auf und sprang ebenfalls auf die Ladefläche, um sich mit Hershel und Carver unter einer dunklen Plane zu verstecken.
Zu ihrem überraschen kontrollierte am Tor niemand die Ladefläche. Lynn blickte um sich herum auf einige Kanister voller Benzin.
Es vergingen etwa zwei Stunden bis Transporter endlich zum stehen kam. Lynn sah zu Carver der ihr jedoch nur symbolisierte ,ruhig zu bleiben und abzuwarten. Sie hörten den dumpfen Knall zweier Autotüren und Schritte die sich langsam entfernten. Nachdem sie noch einen Moment abgewartet hatten, ob weitere Stimmen zu hören waren, riss Carver die Plane hoch und sah sich um. Sie standen in einer Tiefgarage, vermutlich einem Anlieferungspunkt für das Benzin, unterhalb der Stadt. „Kommt schon.“ sagte er und half Hershel von der Ladefläche hinunter.
„Lynn nimm zwei Kanister Benzin mit!“ befahl ihr Carver und sie folgte seinem Befehl.
„Wir sollten erst einmal von hier verschwinden.“ bemerkte Hershel leise und sah sich nach einem Ausgang um, als Lynn ihn aber bereits gepackt, und mitgezogen hatte. „Da drüben.“ rief Carver und rannte mit den Beiden zu einem Treppenaufgang.
Sie kamen in einer kleinen Seitengasse aus. Lynn blickte ungläubig auf die vielen Lichter um sie herum. Es war als würde sie sich auf einem riesigen Industriegelände befinden. Überall waren diese hellen silbernen Lichter. Die Gebäude der Stadt schienen in einem dunklen Grau, beinahe schwarz. Es gab keine Hochhäuser wie in Tokio oder Nagoya, so wie Lynn sie kannte. Keine Pflanzen zwischen ihnen und nur betonierte Wege und Straßen.
Überrascht von dem Anblick der sich ihr bot, folgte sie Carver, der zielstrebig die Gasse verließ, um zu einer kleinen Straße zu gelangen. An ihr grenzten einige Hotels und Bars. Keine Bunten Lichter, keine großen Werbetafeln wie in Tokio. Alles schien trist und herunter gekommen. Die Gebäude und Häuser die sich vor ihnen erstreckten, hatten maximal fünf oder sechs Etagen, mutmaßte Lynn. Das Einzige was dieses Einheitliche Bild unterbrach, waren hohe Industrieanlagen aus Eisen und Stahl, die sich überall in den nächtlichen Himmel türmten.
„Was ist hier los?“ fragte Lynn verwirrt. Hershel drehte sich zu ihr, während sie die unbefahrene Straße entlang liefen.
„Das ist Negans Werk. Innerhalb der Stadt wird überall nach Öl und Grundwasser gebohrt. In den Wäldern ist das Vorkommen niedrig. Deshalb entschied sich Negan Valvars Hauptstadt direkt hier zu zentrieren. Die Städte außerhalb riss er nach und nach ab, erweiterte diese hier, und deportierte alle Einwohner um.“ erklärte Hershel während sie Carver folgten. Lynn vernahm die dröhnenden Geräusche der Arbeiten, die scheinbar aus den Industrieanlagen kamen. Nirgendwo waren Bäume oder Pflanzen zu sehen. Diese Stadt schien weit entfernt von jeglichem Leben zu sein.
„Hast du eine Ahnung wo wir sind?“ fragte Hershel Carver, der noch immer zielstrebig die Straße entlang lief.
„Ja, hier ist ein kleines Hotel in der Nähe. Dort sollten wir vorerst unterkommen können.“ antwortete Carver konzentriert.
„Warum fahren hier keine Autos?“ fragte Lynn weiter.
„Es ist ähnlich wie in Elaìs, Sperrstunde. Erwischen dich die Kontrollen musst du Bußgeld bezahlen. So soll den nächtlichen Einbrüchen und der Kriminalität entgegen gewirkt werden. Seit der Aufhebung der Verträge mit Efrafar fehlt es hier an allem, die Leute werden kriminell um sich zu beschaffen was sie brauchen. Es fängt bei Wasser und Medikamenten an, und endet mit Benzin und Öl.“ Lynn schüttelte ungläubig den Kopf. Warum war Negan nur so habgierig gewesen und wollte alles, wo es doch schon an den grundsätzlichen Dingen fehlte?
„Dort drüben.“ bemerkte Carver und verwies auf auf ein heruntergekommenes Hotel, inmitten der anderen dunklen Häuser.
„Versteckt die Waffen. Sie sollen nicht denken, dass wir Terroristen sind.“ befahl Hershel atemlos. Lynn betrat einen dunklen Flur, an dessen Ende sie einen kleinen Kasten entdecken konnte, hinter dessen Gittern ein älterer Mann saß und sich ein Video ansah. Als er die Drei bemerkte stoppte er es: „Was wollt ihr?“ fragte er harsch und wischte sich den Mund von einigen Essensresten sauber. „Ein Zimmer.“ antwortete Carver hart und nahm Lynn die beiden Kanister ab, um die auf die Ablage zwischen den Gitterstäben zu stellen, hinter denen der Mann große Augen bekam: „Nur ein Zimmer?“ fragte dieser verblüfft und wollte gerade nach den Kanistern greifen als Carver sie wieder wegzog: „Ein Zimmer. In ein paar Tagen sind wir wieder verschwunden. Keine Weckrufe, keine Handtücher, keine Bonbons auf dem Kissen, verstanden?“ sagte Carver und der Mann hinter dem Gitter nickte, noch immer verblüfft über so viel Benzin.
„Euch wird hier keiner Stören.“ lachte er und Carver schob ihm endlich die beiden Kanister herüber. Der Mann stand schwerfällig auf und nahm einen rostigen Zimmerschlüssel vom Haken hinter ihm. „Macht mir nur keine Schweinerei da drinnen. Versaut ihr mir das Zimmer mit Blut gibt’s Ärger.“ redete der Mann mit ächtender Stimme, während er Carver den Schlüssel über die Ablage hindurch schob.
„Letzte Woche kam son Typ hierher und brachte jeden Abend ne andere Schlampe mit. Ich sah sie nur kommen, nie gehen. Jetzt kann ich das Zimmer nicht mehr vermieten, weil alles voll mit diesem Leichengestank ist. Wisst ihr was ich meine?“ Lynn beobachtete wie sich der Mann mit seinen gelben Fingern einen Zigarettenstummel anzündete. „Macht mir keinen ärger. Und Willkommen im Heavens Inn.“ rief er, schon nachdem Lynn und Hershel, Carver eine Treppe hinauf in den zweiten Stock folgten.
Lynn betrachtete den Teppich, über den sie liefen. Seine ursprünglichen Farben waren verblasst, und der Dreck ließ ihn in einem Grauton genauso unscheinbar wirken, wie alles andere.
Carver öffnete die Zimmertür und ein modriger Geruch stieg ihnen entgegen. Sofort ging Lynn zu den beiden Fenstern, die auf die Straße vor dem Hotel blicken ließen, und zog die verwaschenen braunen Vorhänge zu. Hershel ließ sich auf einen alten Sessel fallen, an dem sich langsam das Kunstleder löste.
„Mit den beiden Kanistern hätten wir uns etwas wesentlich besseres erlauben können.“ schnaufte Hershel und betrachtete die Spinnweben am oberen Deckenrand des kleinen Zimmers.
„Vermutlich. Aber hier können wir unentdeckt bleiben.“ bemerkte Lynn zögerlich und packte ihre beiden Waffen auf den kleinen Wohnzimmertisch, der einem verkommenden Bett gegenüber stand.
„Keine Namen, keine Nachweise. Hier sind wir erst einmal ungestört.“ pflichtet Carver aus dem Badezimmer bei, das direkt an den kleinen Raum angrenzte.
„Hershel, Sie können das Bett haben.“ entschieden Carver und Lynn gleichzeitig. Hershel schmunzelte einen Augenblick. Natürlich brauchten die beiden keinen Komfort. Sie schliefen ohnehin nur wenig.
„Wie ist euer Plan nun?“ fragte er schließlich und holte die Pfeife aus seiner braunen Manteltasche. „Wir ruhen uns aus. Morgen werde ich versuchen Elaìnes Schwester ausfindig zu machen.“
„Und wir kümmern uns um die Informationen des Stützpuktes der VCO. Wenn wir wissen wo er liegt, kann die UEF die restlichen Mittel einleiten.“ sagte Lynn leise und nachdenklich. Carver sah zu ihr herüber und musterte sie einen Augenblick lang.
„Und wir sollten schleunigst das Geomas für Lynn besorgen.“ fügte Hershel hinzu und rauchte seine Pfeife.
Es war wieder Tag geworden und als Hershel die Augen öffnete sah er Lynn gegenüber vom Bett auf dem Sessel sitzen. Sie wirkte wach. Als hätte sie die ganze Nacht nicht geschlafen.
„Wie fühlen Sie sich?“ fragte sie und stand auf. Hershel wollte sich umdrehen bemerkte aber, dass eine seiner Hände am Bettrahmen gebunden war. Während Lynn ihn wieder losband begegnete sie seinem fragwürdigen Blick: „Ist Carver schon weg?“
„Ja. Er kommt gegen Abend wieder.“ antwortete Lynn und legte ein altes Handtuch, mit dem sie ihn festgebunden hatte, auf den kleinen Nachttisch, dessen Lasur sich langsam löste.
„Sie kennen sich doch hier aus, oder?“ fragte Lynn schließlich und steckte eine der Waffen die noch immer auf dem Tisch lagen, in ihren Hosenbund. Hershel nickte und folgte mit seinem Blick ihren Bewegungen. „Gibt es hier so etwas wie das Internet?“ Hershel lachte leise:
„Natürlich. Sicherlich haben wir hier in der Nähe ein Netdive Cafe.“ erwiderte er.
„Ein Netdive Cafe?“ fragte Lynn verwundert.
„Ich werde es dir zeigen.“
Verwundert blickte Lynn an Hershel vorbei, der ihr einige Straßen von ihrem Versteck entfernt, einen kleinen Laden präsentierte. Er war nicht sonderlich groß, und glich den Internetcafes die Lynn bereits aus Tokio kannte. Aber etwas war anders. Einige der Menschen, die vor den Monitoren saßen, trugen Helme mit eigenartigen Brillen. Die Brillengläser, die eigentlich tiefschwarz waren, zeigten ab und an einige blaue Lichtblitze, die darüber hinweg zogen.
Lynn sah Hershel fragend an:
„Was haben sie da auf dem Kopf?“ Verblüfft beobachtete sie eine junge Frau, die hektisch ihren Kopf hin und her warf.
„Es ist wohl etwas anders als in Elaìs und Efrafar. Dakon hatte mir früher einmal vom „Internet“ erzählt. Von Datenbanken, virtuellen Räumen und ähnlichem. Stell es dir wie einen Interaktiven Raum vor, den man hier bei uns sogar betreten kann,“ erklärte Hershel mit einem sanften Lächeln; Lynn überrascht zu haben und noch einmal ihre kindliche Neugier sehen zu können.
„Sie machen Witze oder? Das Internet betreten?“ fragte Lynn unsicher nach und folgte Hershel zu einer kleinen Rezeption, im hinteren Teil des Ladens. Eine junge Frau sah von einigen Zeitschriften auf:
„Willkommen, wie kann ich Ihnen helfen?“ fragte sie, während sie jedoch etwas Geld in eine kleine Vorrichtung steckte und einen Schaltpult bediente. Lynn schlussfolgerte aus ihrem Verhalten, dass sie soeben die Zeit für den Netdive mit dem Geld verlängert hatte. Für welchen Nutzer genau, konnte sie jedoch nicht feststellen, nachdem sie sich umgesehen hatte.
„Wir hätten gerne zwei Stunden.“ sagte Hershel. Die junge Frau nickte freundlich und wollte ihm gerade eine Zugangskarte für die Rechner über den Tresen hinüber schieben, als er hinzufügte:
„Meine Tochter braucht jedoch noch einen Scan.“ Lynn schreckte verwundert aus ihren Überlegungen hoch und sah Hershel stutzig an.
„Lass mich nur machen.“ flüsterte er ihr zu.
„Gut, für einen Erstscan müssen sie in die obere Etage. Dort wird eine Kollegin den Scan durchführen. Haben sie ihre ID Karte dabei?“ die Frau sprach weiter und suchte einige Blätter Papier aus einigen Schubladen, während sie Hershel und Lynn den Rücken kehrte. Zu Lynns Verwunderung beugte Hershel sich hektisch über den Tresen und griff in einen Stapel Geld, den er augenblicklich in seiner Manteltasche verschwinden ließ.
„Was soll das werden?“ zischte Lynn leise, aber Hershel winkte sie mit einem freundlichen Lächeln ab, während die junge Frau noch immer sprach und sich ihnen, mit dem gesuchten Formular, wieder zuwandte:
„Haben Sie noch fragen?“ lächelte sie die beiden an.
„Nein, wir gehen dann jetzt nach oben.“ erwiderte Hershel und nahm das Formular vom Tresen.
Lynn folgte ihm durch eine kleine Tür, am Ende des Ladens, in ein dreckiges Treppenhaus.
„Was sollte das gerade? Wir können keine Schwierigkeiten gebrauchen.“ raunte sie ihn an. Aber der alte Mann blieb stumm, während er vor Lynn die Treppen hinaufging.
„Du hast deine Waffe mitgenommen, richtig?“ fragte er und Lynn blieb stehen.
„Ich bin nicht hierher gekommen, um noch mehr Schaden und Leid zu verursachen.“ antwortete sie und auch Hershel blieb stehen und drehte sich zu ihr um:
„Wenn du antworten willst, sind ein einige Tricks leider unumgänglich.“
„Das ist mir egal, aber ich werde niemanden mehr töten.“ erwiderte Lynn angespannt.
„Das wird auch nicht nötig sein.“ entgegnete Hershel, und zog eine kleine ID-Karte mit dem Wappen der VCO, aus seiner Tasche.
„Was ist das?“ fragte Lynn verwundert und nahm sie ihm ab.
„Die Karte einer ehemaligen Laborassistentin von mir, als ich noch für Negan arbeitete. Ein kleines Andenken, nachdem ich von dort verschwunden war. Wir können unmöglich einen Scan von dir machen lassen. Die Firewall des Hauptnetzes würde dich direkt identifizieren, sobald du den Netdive beginnst.“
„Aber wenn die Mitarbeiterin doch sieht, dass ich jemand anderes als auf dem Bild dort bin...“ sagte Lynn skeptisch und betrachtete das Passbild auf der anderen Seite der ID-Karte.
„Wird sie nicht, wenn sie gleich seelenruhig schläft.“ sagte Hershel und zog eine kleine Spritze aus seiner Tasche.
„Wo haben sie die her?“ fragte Lynn verwirrt.
„Im Badezimmer im Hotel habe ich alles gefunden um ein Schlafmittel mit meiner Pfeife und dem Feuerzeug von Carver zu synthetisieren,“
„Sie machen Witze oder?“ Lynns Gesichtsausdruck der Verwunderung wich Ärgernis.
„Hätte ich es einem von euch geben wollen, wärt ihr schon längst auf dem Weg zu Negan,also sieh mich nicht so an. Ich war führender Forscher bei der VCO, ich kann mit Toilettenreiniger und Zahnpasta einen Stoff synthetisieren, der dich in weniger als einer Minute innerlich ersticken lässt.“
Hershel sah nach seinen Worten den Ärger, der in Lynns grünen Augen aufflammte:
„Und Sie vergessen hoffentlich nicht, dass ich sie mit nur einem Schlag töten kann.“ antwortete sie hart. Die beiden standen sich einen Moment schweigend gegenüber, ehe Hershel weiter die Treppen hinaufging.
Sie gelangten in einen Vorraum mit einer unbesetzten Rezeption, der Lynn an die Praxis von Doktor Shenker in Nagoya erinnerte. Die Möbel die dort standen waren allesamt aus poliertem Edelstahl. Die Wände waren dunkel und erster Schimmel war deutlich in den Ecken zu erkennen. Eine dunkelhaarige Frau, etwa in Lynns Alter kam durch einen Flur auf die Beiden zu. Sie trug einen weißen Kittel, und ein Klemmbrett unter den Armen: „Hier entlang bitte.“ sagte sie und führte sie durch den Flur in einen großen Raum. In der Mitte war eine halbrunde technische Apparatur zu sehen, die bis zur Decke reichte, und in deren inneren reichlich rote Sensoren leuchteten.
Die Frau drehte den beiden den Rücken und gab etwas an einem Computer ein, der unmittelbar vor ihr auf einem kleinen Schreibtisch stand.
„Bitte entkleiden Sie sich schon einmal. Der Scanner fährt nun hoch....“
Währen die Frau noch abgewandt von den Beiden sprach, sah Lynn im Augenwinkel wie Hershel langsam einige Schritte an sie heranging und die Spritze aus seiner Tasche holte. Aber ehe er sie erreicht hatte, drehte sich die Frau zu ihm um und sah ihn verwundert an:
„Was tun sie-“ ihr blieben die Worte im Halse stecken, als Hershel ihr die Spitze in die Halsschlagader rammte, und die Frau sich, unglücklich windend, versuchte am Schreibtisch festzuhalten. Lynn betrachtete das Schauspiel, wie Hershel ihre Griffe, nach ihm, versuchte abzuwehren. Ein Krächzen hallte durch den Raum und sie Frau hatte endlich die Spritze aus ihrem Hals ziehen können. Lynn verdrehte die Augen bei Hershels unbeholfenen Versuch die Frau zu Boden zu zwingen. Langsam riss ihr der Geduldsfaden. So etwas musste definitiv schneller von statten gehen.
„Gehen Sie da weg!“ sagte sie genervt und löste die Finger der entsetzen Frau von Hershels langem Mantel, an dem sie sich festzukrallen schien. Es folgte ein dumpfer Schlag von Lynn und die Frau blieb stumm und reglos am Boden liegen,während Hershel sich völlig außer Atem, an einer Wand abstützte.
„Das nächste Mal, lassen Sie mich das machen, verstanden?“ befahl Lynn genervt und begann die Hände der Frau mit dem Kabel einer Lampe zu fesseln.
„Verstanden.“ keuchte Hershel.
„Wie lange wird sie schlafen?“ fragte Lynn, während Hershel konzentriert einige Daten der ID-Karte in ein Interface am PC eingab. „Noch etwa zwei Stunden. Aber ich bin fast fertig.“ antwortete er und deutete auf einen der Helme, die Lynn bereits in der unteren Etage gesehen hatte.
„Nimm ihn schon mal. Wir bringen die Sachen in unser Hotelzimmer. Dort sind wir ungestört, und ich kann einen gesicherten Eingang einrichten, der nicht zurück verfolgt werden kann.“ erklärte er und stand auf. Lynn nickte nur stumm und machte sich daran die Sachen zusammen zu packen.
„Sieh aus dem Fenster, ist dort eine Feuerleiter?“ fragte er schließlich. Lynn wanderte durch den Raum und sah nach draußen.
„Ja.“ antwortete sie. Natürlich konnten sie nicht durch den Eingang verschwinden, durch den sie gekommen waren, mit all dem Equipment.
„Gut. Stöpsel den Monitor aus.“ befahl er ihr und Lynn handelte augenblicklich.
Es war bereits dunkel geworden, ehe Lynn von Hershels Worten aus ihren Gedanken zurück fand, in die Realität. Er blickte sie vom Sessel ihres Hotelzimmers aus an:
„Ich bin fertig, hast du nicht gehört?“ wiederholte er sich und betrachtete Lynn nachdenklich, die ihm gegenüber, vor dem Bett, auf dem Boden saß.
„Du denkst über Sakuya nach, nicht war?“ fragte er schließlich. Lynn stand stumm auf und ging zu ihm.
„Wie funktioniert das ganze nun?“ wich sie seiner Frage aus. Hershel hielt einen Moment inne, gab ihr dann jedoch den Helm in die Hand, sowie die dazugehörige Brille.
„Wem auch immer du begegnest; es sind Hologramme. Nichts, außer die Konversationen ist echt. Es ist ein virtueller Raum.“ mahnte sie Hershel und stand von dem Sessel auf.
„Setz dich.“ Lynn nahm seinen Platz ein und beobachtete wie er einige Kabel des Helmes an die Anschlüsse des PCs anschloss.
„Kommen Sie nicht mit?“ fragte Lynn etwas verunsichert, aber Hershel schüttelte den Kopf.
„Mich würde man finden. Du bist mit deinem Erscheinungsbild sicher. Du hast den virtuellen Körper meiner Angestellten.“ antwortete er überzeugt und holte einen kleinen Stuhl herbei.
„Der Helm misst deine Gehirnströme. So kannst du interagieren. Deinen Gedanken folgt die Handlung, übertragen in das virtuelle Netzwerk. Wir werden mit einer einfachen Suchanfrage anfangen. Was willst du wissen?“ Lynn sah Hershel nachdenklich an.
„Ich will Negan sehen. Vielleicht ruft er eine Erinnerung in mir wach.“ antwortete sie ein wenig zögerlich. Hershel nickte skeptisch.
„Gut. Setz den Helm und die Brille auf.“ Lynn folgte seinen Anweisungen. Vor ihren Augen eröffnete sich ein ein leerer weißer Raum. Alle Ecken waren leer. Nur in der Mitte befand sich eine Schaltkonsole mit einer Tastatur.
„Geh zu der Konsole und gib seinen Namen ein.“
Lynn folgte Hershels Worten und gab den Namen Negan Valcours ein. Vor ihr eröffnete sich eine Projektion, die aus verschiedenen Bildern und darunter stehenden Texten bestand.
„Such dir ein Bild aus, indem du den Text laut vorließt.“
„Negan Valcours Stellungnahme zu den Aktivitäten in T`schadna Ham.“
Es öffnete sich ein Video vor Lynns Augen.
„Mit einer einfachen Handbewegung hältst du es an.“ sagte Hershel.
Lynn startete das Video, indem sie ihre rechte Hand hob.
„Sie sehen Live, die Stellungnahme von Negan Valcours zu dem Kriegsprogramm gegen Aufständige in der Wüste von T`schadna Ham.“ erklärte eine blonde Reporterin, die sich in den Massen von weiteren Reportern befand. Die Kamera schwenkte auf eine kleine Bühne mit einem Rednerpult. Im Hintergrund war die Flagge mit dem Symbol der VCO zu sehen, den beiden ineinander Geschlungenen Tieren, die Lynn noch immer nicht genau benennen konnte. Ein großer Mann betrat langsam die Bühne und ging zu dem Rednerpult. Er trug eine schwarze Jacke, und sah für Lynn nicht aus, wie der typische Herrscher eines Landes. Er muss über fünfzig gewesen sein, schätze sie, denn seine schwarzen Haare durchzogen viele graue Strähnen. Sein markantes Gesicht wurde von einem ebenfalls grau-schwarzen Vollbart gerahmt und er blickte mit seinen ernsten brauen Augen direkt in die Kamera. Das tosende Gerede der Menge verstummte allmählich.
„Aufgrund der jüngsten Schlagzeilen, möchte ich heute Stellung zu den Anschuldigungen nehmen, die besagen, dass die VCO mit Waffengewalt gegen die letzten Bewohner in der Wüste von T`schadna Ham vorgehen würde.“ Lynns Magen zog sich zusammen, als sie seine Stimme hörte. Es war ihr, als hätte dieser Mann schon etliche Male zu ihr Gesprochen.
„Hiermit lehne ich, auch im Namen der gesamten Valvar Cooperation, jegliche Vorwürfe zur Waffengewalt ab. In der Wüste von T`schadna Ham kam es nie zu Gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die letzten Bewohner in der Wüste, sind mit dem Abkommen der Stadt Valvar vertraut. Es liegt der Beschluss vor, sie ebenfalls in unsere Hauptstadt zu deportieren. Die nötigen Vorkehrungen zum Ressourcenmanagement sind getroffen, und die Bewohner haben die Frist von 30 Tagen einzuhalten. Da das Abkommen beiderseits beschlossen wurde, in einem Bündnis am 25 Januar, kann ich hiermit bestätigen, dass es zu keinen Ausschreitungen kommen wird, oder gekommen ist. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Wir werden diese Welt erhalten.“ Das Video endete und Lynn fand sich wieder in dem leeren Raum wieder.
„Hershel... haben Sie noch Zugangsrechte zu Daten der VCO?“ fragte Lynn plötzlich.
„Ja. Nicht mehr über die aktuellen Daten, aber ein Teil meiner Forschungsuntersuchungen liegt auf einem Sonderserver der geschützt ist.“ antwortete Hershel verwundert.
„Wie gelange ich dorthin?“ fragte sie angespannt.
„Gib folgenden Pfad ein.“ erwiderte er und hielt einen Moment inne.
„Hershel?“ fragte Lynn verwundert über sein Schweigen.
„Ich denke nicht, dass du das sehen solltest.“ antwortete er plötzlich.
„Meinen Sie nicht, Sie sind mir das schuldig?“ Hershel fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht und schwieg noch einen Moment ehe er sagte:
„HtAcces. Document Hershel Porter. Auth User File. Root 4.“
Lynn folgte in dem virtuellen Raum seinen Anweisungen. Nachdem sie die Enter Taste gedrückt hatte, erschien vor ihr, wo vorher noch die Projektion zu sehen war, eine Tür.
„Geh durch die Tür.“ sagte Hershel schwermütig.
„Es ist ein Passwort erforderlich.“ sagte Lynn, nachdem die Tür sich nicht öffnen ließ, und sich ein Dialogfenster öffnete, welches sie zur Eingabe aufforderte.
„IchinoseAda.“ sagte er beinahe so leise, dass Lynn es nicht gehört hätte.
Sie gab das Passwort, ohne weitere Fragen, ein und öffnete die Tür. Vor ihr erstreckte sich ein riesiger Raum voller Aktenschränke. Sie reichten bis unter die Decke. In der Mitte stand ein Schreibtisch, auf dem sowohl ein Diktiergerät, als auch einige unbeschriebene Blätter lagen.
„Sind das alles Ihre Aufzeichnungen?“ fragte Lynn überwältigt von der Fülle an Dateien.
„Gibt es etwas über mich?“ fügte sie hinzu.
„Geh zum Schrank File4C.“ Lynn sah sich um und entdeckte die Nummerierungen. Nach einigen Minuten hatte sie den Schrank gefunden und öffnete Neugierig eine Schublade.
„Ich habe einige Trainingseinheiten von dir Aufgezeichnet. Kurz bevor ich bemerkte, dass deine Leistungen schlechter wurden.“ erklärte Hershel. Lynn konnte die Anspannung und den Schwermut in seiner Stimme deutlich hören.
„Nimm das Video CFile474. Dann siehst du dich beim Training, als du Zwölf warst.“
Lynn nahm das Video aus der Fülle der Unterlagen heraus.
„Abspielen.“ sagte sie instinktiv und eine Projektionsfläche öffnete sich neben dem Schreibtisch. Das Video befreite sich selbstständig aus ihren Händen und blieb wie fixiert in der Luft stehen.
„Linnai, Nummer 474, zehnter Monat nach der Rekrutierung.“ ertönte Hershels Stimme, die etwas jünger klang. Es zeigte sich ein großes Labor mit Wassertanks, so groß, dass mehrere Menschen hineinpassten. Das Glas war durchsichtig. Ein junges Mädchen stand in einer braunen Leinenhose und einem schwarzen Shirt auf einer Leiter, die direkt über dem offenen Tank endete. Einige Kabel waren durch Sensoren an ihrem Körper angebracht.
Lynn brauchte einen Augenblick um das Gesehene zu verarbeiten, ehe sie erkannte, dass sie das Mädchen war.
Sie stand ein wenig apathisch auf der Treppe und blickte einem größeren Soldaten entgegen, der unmittelbar vor ihr stand.
„Versuchs Protokoll 7, Beobachtung der Ausdauer mit siebenhundert Milliliter synthetisiertem Geomas.“ ertönte erneut Hershels Version einer jüngeren Stimme.
„Zehnt Minuten.“ brüllte der Soldat das kleine Mädchen an. Sie zeigte keinerlei Regung und sprang mit einem male in den Tank. Sie atmete unter Wasser aus, dass ließen die Luftblasen erkennen, und sank zu Boden, wo sie zum stehen kam. Ihre langen braunen Haare wirbelten noch einen Augenblick durch das aufgewühlte Wasser, ehe sie sich langsam, ebenso reglos, um das Mädchen legten, wie sie begann in dem Tank zu verharren.
„Das sollte reichen für heute.“ sagte Hershel plötzlich direkt neben Lynn, die noch immer in dem Hotelzimmer neben ihm saß.
„Nein. Ich will es bis zum Ende sehen.“ erwiderte sie.
Hershel blieb stumm und Lynn starrte wie gebannt, in seinem virtuellen Arbeitszimmer, auf die Projektionsfläche mit dem Mädchen in dem Tank.
Sie blickte Ausdruckslos durch das Glas hindurch, zu Hershel, der die Kamera zu halten schien.
Es verstrichen einige Minuten der Stille, als das Mädchen plötzlich begann zu strampeln und an die Oberfläche tauchen wollte.
„Schließt den Tank!“ rief der Soldat, der oben an der kleinen Leiter stand. Anscheinend folgte jemand seiner Anweisung, und der Deckel des Tankes schloss sich durch einen Automatismus, direkt über der Wasseroberfläche. Das junge Mädchen wurde panisch, als sie erkannte, dass sie das Wasser nicht verlassen konnte. Sie strampelte und versuchte Erfolglos das Glas des Tankes zu durchbrechen. Ihr Hämmern wurde immer heftiger, aber sie hatte keine Chance gegen die dicke Glaswand.
„Doktor Porter, wir müssen sie raus lassen, sie ertrinkt!“ rief eine unbekannte Stimme, aber die Person kam nicht zum Vorschein.
„Nein, es sind erst fünf Minuten zwanzig. Sieben muss sie aushalten können.“ antwortete Hershel emotionslos. Das Mädchen strampelte noch immer und blickte hektisch mit weit aufgerissenen Augen hin und her. Aber niemand kam ihr zu Hilfe. Und nach einigen weiteren Sekunden kamen ihre Bewegungen zum erliegen.
„Sie ist bewusstlos. Holt sie raus.“ Rief der Soldat, der über dem Tank stand, und der Mechanismus für die Schließung des Tankes fuhr zurück.
„Versuchs Protokoll 7 ist unvollständig. Die gewünschte Leistung konnte nicht nachgewiesen werden. Wir versuchen es morgen noch einmal mit achthundert Millilitern synthetisiertem Geomas.“ beendete Hershel die Aufnahme, auf deren letzten Bildern man noch sehen konnte, die der Soldat das leblose Mädchen aus dem Tank zog.
Lynn riss sich schockiert den Helm vom Kopf und sah Hershel voller Wut an, der ihr nur schuldbewusst gegen über saß, und ihren Blick betroffen erwiderte.
„Das kann nicht Ihr ernst gewesen sein!“ brüllte sie los und stand auf.
„So etwas haben sie Kindern angetan? Kleinen Kindern, die sich nicht wehren konnten?“ Lynn war außer sich und lief einige aufgelöste Schritte durch das kleine Hotelzimmer.
„Negan zwang mich zu den Versuchen. Es war der Punkt, wo ich schon lange aufhören wollte! Verstehst du das denn nicht?“ erwiderte Hershel und fuhr sich erneut mit den Händen durch sein altes Gesicht.
Das Geräusch des Türschlosses riss die Beiden für einen Augenblick aus ihrem Streit heraus. Carver kam die Tür hinein und blickten ihnen fragend entgegen. Lynn griff nach ihrer Jacke, die auf dem Bett lag, und ging an ihm vorbei, auf den Flur.
„Wo willst du hin?“ fragte er verwirrt, als sie ihn im vorübergehen anstieß.
„Weg. Einfach nur weg von diesem Mann!“ rief sie angewidert, aber sie hatte den Flur bereits verlassen.
>>Das darf doch alles nicht wahr sein! Das kann nicht die Wahrheit sein... so etwas hat er Kindern angetan... .<< Lynn lief voller Wut durch eine Gasse. Das Gefühl des Ekels in ihr, wich allmählich blanker Wut.
„Und Sie wundern sich, dass sie Sie hasst...“ befand Carver nur ärgerlich, nachdem Hershel ihm das Video ebenfalls gezeigt hatte.
„Ich erinnere mich nicht mehr an solch ein Training. Wahrscheinlich habe ich solch traumatisierende Ereignisse verdrängt oder vergessen.“ fügte er hinzu. Hershel saß noch immer auf dem Sessel. In seinen alten Augen zeichneten sich Trauer und Ermüdung ab.
„Versuchen Sie etwas zu schlafen. Lynn kommt sicher bald zurück.“ sagte Carver schließlich. Der alte Mann, der da vor ihm saß, erregte ein wenig Mitleid in ihm. Er konnte ins einen Augen sehen, wie sehr Hershel sich wünschte, die Vergangenheit ändern zu können.
„Ja...du hast wohl recht.“ antwortete er nur leise und ging rüber zum Bett, in der Erwartung, dass Carver ihn wieder festbinden würde. Und er wurde nicht enttäuscht.
-18- Memories
Als Lynn, mitten in der Nacht die Hoteltüre aufschloss, begegnete sie Carvers aufmerksamen Blick, der mit einer Schrotflinte, auf die Türe gerichtet, in einem Sessel saß. Er musterte sie einen Augenblick lang und bemerkte, dass ihre Kleidung völlig durchnässt war.
„Regnet es wieder?“ fragte er leise und Lynn nickte stumm, während sie ihre Jacke auszog und kurz Hershel betrachtete, wie er festgebunden am Bett, unruhig schlief.
„Ich will mich erinnern.“ sagte Lynn leise, während sie ins Bad ging.
Carver blieb stumm zurück und zündete sich eine Zigarette an. Er hörte wie Lynn Wasser in die Badewanne laufen ließ, und schließlich zurück kam.
„Hier, du solltest es nehmen.“ sagte er ruhig und reichte ihr einige Ampullen mit Geomas und eine Spritze.
„Ja, vielleicht.“ erwiderte sie nur kühl und legte es auf den Tisch, auf dem noch der Monitor und der Helm für den Netdive lag.
„Konntest du heute etwas heraus finden?“ fragte Lynn schließlich und setzte sich. „Ja, ich habe eine Spur. Ich werde mich morgen darum kümmern.“ antwortete Carver und blies den Qualm seiner Zigarette in den halbdunklen Raum.
„Und ich habe herausgefunden, dass Krankenhausmitarbeiter nicht sonderlich leicht zu überlisten sind, wenn man an ihre Medikamentenschränke will.“ ein Lächeln zog über seine Lippen.
„Ich danke dir.“ antwortete Lynn.
„Ich habe heute Negan gesehen. Er kommt mir so bekannt vor. Seine Stimme, sie scheint so vertraut...“
„Du willst dich um jeden Preis erinnern... aber was ist, wenn die Erinnerungen dich zerstören?“ stellte Carver schließlich fest. Lynn musterte ihn:
„Sie sind ein Teil von mir... . Ich suche etwas, etwas das mir Halt gibt. Etwas was mich nicht denken lässt, dass ich Identitätslos bin. Etwas, das sich wie eine Wurzel, eine Heimat anfühlt. Es ist, als hätte ich nie gelebt. Alles ist von einem endlosen Schleier bedeckt... und ich will einfach nur dahinter sehen.“ Carver hatte seinen Blick abgewendet und wirkte nachdenklich. Es herrschte einen Augenblick Stille in dem kleinen Zimmer.
„Die Heimat, nach der du dich so sehr sehnst, wirst du dort, wo wir herkommen, nicht finden. Es ist keine Heimat. Es ist nur die Aneinanderreihung von qualvollen Ereignissen. Du erfährst erst Heimat, wenn du von dort entkommen konntest. Nur dann, wenn du das Geschehene hinter dir lassen kannst. Und bereit bist, zu vertrauen.“ seine Stimme klang leise und ruhig.
„Deine Heimat war Elaìne... .“ ergänzte Lynn vorsichtig seine Worte. Carver blieb stumm, nickte jedoch schwach.
„Weißt du, es gibt Ereignisse im Leben, die das Unterbewusstsein verschließt. Durch Verdrängung und Dissoziation nach einem Trauma, ist es möglich, dass das Erlebte abgespalten und nur noch inaktiv ist. Es ist möglich, dass unser Bewusstsein uns schützt, indem es uns Informationen über Vorfälle vergessen lässt. Holst du diese Verdrängten Erinnerungen zurück, kann es passieren, dass du erneut das Trauma durchlebst. Wenn du nicht daran zerbrichst.“ Lynn blickte verwundert auf.
„Warum erzählst du mir das?“ fragte sie schließlich.
„Weißt du, nach der ganzen Geschichte mit Elaìne, habe ich mir nichts mehr gewünscht, als das alles vergessen zu können. Ich konnte es nicht mehr ungeschehen machen. Aber ich wollte es um jeden Preis vergessen. Natürlich hat das Ganze nicht funktioniert. Ich hatte oft Alpträume, wenn ich mal schlafen konnte. Es hat eine lange Zeit gebraucht um damit fertig zu werden. Und ich will dich nur warnen, ich kann nur erahnen was geschehen würde, würdest du so viele Informationen plötzlich zurück erlangen.“ Lynn nickte nachdenklich.
„Wie bist du damit fertig geworden?“ fragte sie schließlich.
„Ich habe mir geschworen ihrer Familie die Wahrheit zu sagen. Das bin ich ihr schuldig.“
Lynn schwieg und dachte darüber nach, wie ihre Schwester wohl reagieren würde, wenn sie erfährt, dass Carver für den Tod von Elaìne und ihrem Vater verantwortlich war. Es wäre ein Hagel von Vorwürfen, wenn nicht sogar Schlimmeres.
„Wenn du sie gefunden hast, geh nicht alleine dorthin. Wenn das Ganze eskaliert hat keiner etwas davon.“
„Wenn es eskaliert, dann ist es das, was ich verdient habe, für das, was ich getan habe.“ Carver sprach noch immer ruhig und beobachtete Lynn wie sie ihre Schuhe langsam auszog.
„Du hast rein nach Vorschrift gehandelt. Hättest du es nicht getan, wärst du jetzt tot.“
„Ja, ein Soldat wäre dann Tod. Aber ich hätte keine komplette Familie zerstört.“ Carver stand auf und ging ins Badezimmer um das Wasser abzudrehen.
„Sei nicht so hart zu dir selbst. Du bereust es schon genug, was geschehen ist. Du konntest in der Situation, damals, nicht anders handeln.“ Carver stand im Rahmen und ein warmes aber blasses Lächeln zog über seine Lippen: „Ja, vielleicht.“ antwortete er leise und machte Platz, damit Lynn an ihm vorbei, ins Bad gehen konnte.
>>Hershel scheint es auch so sehr zu bereuen... das was er uns angetan hat... aber es braucht Zeit... .<< dachte Lynn währen sie in der Badewanne lag, und aus dem Nebenraum das Klacken von Carvers Feuerzeug hören konnte. Sie schloss die Augen und genoss die Wärme des Wassers um sich herum.
>>Sakuya... wo bist du gerade... was tust du...<< Ihre Gedanken schwiffen langsam ab.
Carver wurde von einem lauten Plätschern, nach einiger Zeit, aus seinen Gedanken gerissen. „Lynn?“ fragte er in die Richtung des Badezimmers. Sie war schon viel zu lange darin gewesen, verriet ihm ein Blick auf die Uhr.
„Lynn?“ wiederholte er etwas lauter, bekam jedoch erneut keine Antwort.
Mit einem vorsichtigen Ruck stieß er die Tür auf und sah gerade noch, wie sich Lynns blasses Gesicht, mit weit aufgerissenen Augen, unterhalb der Wasseroberfläche befand und sie schier reglos schien. Carver handelte blitzschnell und riss sie aus dem, mittlerweile kalten, Wasser heraus. Ihre Schultern fühlten sich eiskalt an.
„Lynn! Lynn!“ wiederholte er schockiert und panisch ihren Namen.
„Carver, was ist mit Lynn?“ rief Hershel vom Bett aus, der von Carvers Rufen wachgeworden war, jedoch wegen der Fesseln nicht aufstehen konnte.
„Hershel! Hilf mir! Sie atmet nicht mehr! Kein Puls!“ Carvers Hände glitten über Lynns Brust, aber er konnte keinen Herzschlag mehr feststellen.
Hershels verzweifelter Blick fiel auf den Tisch, wo sie vor einiger Zeit noch zusammen gesessen hatten. Es lag noch eine Ampulle mit Geomas darauf. Sein Gehirn arbeitete augenblicklich auf Hochtouren. Wo kam dieses Geomas auf dem Tisch her? Hatte Carver es besorgt, und wenn ja, woher? Eine aufkeimende Vermutung, die Hershel in höchste Alarmbereitschaft versetzte, breitete sich augenblicklich in seinem Kopf aus.
„Carver! Hast du das Geomas aus dem Städtischen Krankenhaus? Hat sie es genommen? Untersuche ihre Unterarme!“ schrie Hershel voller Panik.
Carver griff nach Lynns leblosem Arm und entdeckte, erst an ihrem anderen, die frischen Einstiche.
„Ja, aus dem Krankenhaus! Sie hat Einstiche! Was zur Hölle ist mit ihr?“ Carvers Stimme klang mit jeder Sekunde verzweifelter.
„Herrgott...“
„Was?“ schrie Carver. In Hershels Kopf herrschte ein riesiges Durcheinander. Er brauchte einige Sekunden um es wieder zu ordnen:
„Das Geomas in den Krankenhäusern wird manchmal mit Xanthin und Diaminopyrimidin versetzt, zur Untersuchung von ungewöhnlichen Basenpaarungen in der DNA durch Röntgenstrahlung! Sie scheint das enthaltene Diaminopyrimidin nicht zu vertragen! Sie hat einen anaphylaktischen Schock!“
„Was soll ich tun? Sie atmet bereits nicht mehr!“ schrie Carver und ließ Lynn über dem Badewannenrand liegen.
„Sieh in meinen Mantel, darin findest du eine Adrenalinspritze, und ein Antihistaminikum! Du musst ihr beides geben!“ schrie Hershel und folgte Carvers hektischen Bewegungen zu seinem Mantel, der über dem Stuhl hing.
„Mach mich los, ich muss alles für eine Bluttransfusion vorbereiten, schnell!“ Carver zückte augenblicklich sein Messer und schnitt Hershel los, um dann wieder zu Lynn zu hasten.
„Gib ihr die Spitzte direkt in die Halsschlagader, dann das Antihistaminikum damit sie wieder Luft bekommt und die Atemwegsschwellung zurück geht!“ Carver rammte Lynn die Spitze, mit einem Mal, in den Hals und drückte das enthaltene Adrenalin in ihren Blutkreislauf. Ein entsetzlicher keuchender und unterdrückter Schrei folgte von ihr. Sie sah Carver mit weit aufgerissenen Augen an, ehe er ihr die nächste Spritze mit dem Antihistaminikum in den Arm rammte. Sie zeigte einen Augenblickklang keine weitere Reaktion, als den verzweifelten Versuch nach Luft zu schnappen, als Hershels in Bad gehastet kam.
„Sie ist wieder bei Bewusstsein...“ keuchte Carver vor lauter Erleichterung.
„Ja, aber sie erstickt...“ stellte Hershel bei Lynns kläglichen Versuchen zu atmen fest.
„Hol sie aus der Wanne raus, und stell sie aufrecht hin, damit ihre Lungen gestreckt werden und nicht behindert sind!“ befahl Hershel. Carver handelte augenblicklich und zog Lynn komplett aus der Wanne. Es war als wäre kein Leben mehr in ihren Gliedern, stellte er erschrocken fest.
„Halt sie gut fest!“ erklärte Hershel ruhig, während er den Pullover an Carvers Unterarmen hinaufzog um eine Infusionsnadel in die dünne Haut, zwischen den Sehnen seines Unterarms gleiten zu lassen. Carver hatte keinerlei Mühe Lynn festzuhalten, die noch immer nicht selbstständig stehen konnte, deren Ächzen und ringen nach Luft, jedoch leiser geworden war.
Hershel war noch immer eilig damit beschäftigt, eine Infusion zwischen Lynn und Carver zu legen.
„Sind das zwei Schläuche?“ fragte dieser nur verwirrt.
„Ja, wir müssen das Diaminopyrimidin aus ihrem Blut bekommen, oder es zumindest vermengen, damit die Gesamtkonzentration abnimmt. Ich hab so etwas noch nie gemacht, deshalb tauscht ihr ein Teil eures Blutes.“ während Hershel ihm weiteres erklärte, signalisierte er ihm, mit Lynn das Bad zu verlassen. Er spürte plötzlich, wie sie hilflos nach seinem Arm griff. „Das wird schon wieder Lynn...“ redete er möglichst ruhig auf sie ein.
„Ich weiß, dass deine Serie kein Problem mit dem Diaminopyrimidin hat, deshalb sollte es für dich keine Schwierigkeit sein. Dass synthetisierte Geomas, welches sich in Lynn Körper abgelagert hat, wird jedoch zu kleinen Teilen in ihrem Blut mit transportiert. Es wird in geringen Mengen auch in dein Körper gelangen und sich dort ablagern, ist dir das bewusst?“ sagte Hershel angestrengt und räumte den Tisch frei. Carver versuchte in Lynns Augen zu blicken, aber sie ließ den Kopf hängen, während sie immer fester seinen Arm drückte.
„Das spielt keine Rolle, Hauptsache sie überlebt.“ antwortete Carver hastig. Hershel betrachtete die beiden einen Augenblick lang. Er konnte sehen, wie sehr Carver es bereute, das Geomas mitgebracht zu haben. Aber er hatte es nicht wissen können.
„Carver....“ flüsterte Lynn so leise, dass er es beinahe nicht gehört hätte.
„Sie atmet wieder normal.“ bemerkte er anschließend und Hershel wies ihn an, Lynn auf den Sessel an den Tisch zu setzten. Carver nahm den anderen Stuhl und sah Hershel dabei zu, wie er die andere Infusionsnadel in Lynns schmalen Unterarm gleiten ließ. Ein kurzer Schwall von Ärger und Bedrohung zuckte durch Lynn und sie schlug unkoordiniert und verzweifelt um sich, trat dann jedoch wieder weg.
„Es sollte in ein bis zwei Stunden wieder alles beim alten sein.“ sagte Hershel erschöpft und setzte sich auf das Bett. Er betrachtete wie das Blut der beiden langsam durch die Infusionsschläuche lief.
Carver sah angespannt zu Lynn, die jedoch nur mit dem Kopf, völlig erschöpft, auf dem Tisch lag. Es verstrichen einige Minuten und Carver schien als würde er unendlich müde werden, bis er schließlich nicht mehr imstande war seine Augen offen zu halten und einschlief.
Die Sonne war noch nicht wieder aufgegangen, aber es würde nicht mehr lange dauern. Der Tisch war kalt, als Carver sich mit seinem Gesicht darauf, wiederfand und seine Augen öffnete. Lynn lag noch immer gegenüber von ihm, mit ihrem Kopf auf dem Tisch. Aber sie atmete ruhig. Hershel schien ihr Carvers Jacke umgelegt zu haben, damit sie nicht fror. Als sich Carver jedoch nach ihm umsah, war von Hershel keine Spur.
„Oh nein...“ murmelte er leise, als er begriff, dass er es versäumt hatte ihn erneut am Bett zu fixieren. Er war ihm Begriff aufzustehen, als ihn plötzlich ein stechender Schmerz durchzog und ihn zurück auf den Stuhl presste. Es war ein Schmerz der durch seinen Kopf wie ein Blitz zog und ihm für einige Sekunden schwarz vor Augen werden ließ. Völlig benommen von diesem Schmerz wollte Carver die Infusionsnadel aus seinem Arm entfernen als ihn ein heller Lichtblitz in eine scheinbar andere Dimension katapultierte. Das Hotelzimmer war vergessen. Aber es war noch immer Valvar.
>>Carver fror, um ihn herum war alles mit Schnee bedeckt. Er wollte aufstehen, nachdem er entdeckt hatte, dass er nur Unterwäsche trug. Aber seine Hände rührten sich nicht. Erst jetzt realisierte er den großen Baumstamm, der sich unmittelbar vor seinem Gesicht in den winterlichen Nachmittagshimmel bohrte. Der Schmerz seiner Hände ließ ihn feststellen, dass sie fest an den Stamm gebunden waren, der ihn am aufstehen hinderte. In der Ferne war das Geschrei einiger Soldaten beim Training zu hören.
>>Wo bin ich?<< fragte er sich. Nicht fähig die Worte auszusprechen.
Schritte hinter ihm, rissen ihn aus den unbeantworteten Fragen, als ein älterer Mann in der Uniform der VCO vor ihn trat: „Ich hoffe du hattest bis jetzt genug Zeit um darüber nachzudenken, was du getan hast, Linnai?“
In Carvers Kopf überschlugen sich die Bilder der vergangenen Ereignisse. Es war wie eine Vision, als er plötzlich in eine der Baracken der Teamleiter stand, dicht an eine Wand gepresst.
Es waren keine Stimmen zu hören. Die Luft schien rein und Carver schlich in das halbdunkle Licht, dass von einer kleinen Lampe auf einem Schreibtisch ausging. Es war ein Einzelzimmer erkannte er. Gegenüber dem Schreibtisch, der direkt an einem vergitterten Fenster stand, befand sich ein braunes Sofa. Eine große Männerjacke, mit dem Wappen der VCO lag darauf. Carver konnte nicht gegen das Gefühl ankommen, diese Jacke lange gesucht zu haben. Er wollte sie anfassen. Sie haben. Nichts in der Welt wollte er in diesem Augenblick mehr. Es waren fünf Schritte. Genau Fünf. Er griff entschlossen nach der Jacke und rannte schließlich hastig hinaus.
Wider war es als würde ihn ein Blitz durchfahren, als er auf dem Bett einer engen Rekrutenbaracke erwachte. Er blickte angespannt unter sich, aber sie war noch immer dort: diese seltsame Jacke. Von wem auch immer sie war. Sie war warm. Der Stoff in ihrem Inneren war angenehm weich und sie roch sehr vertraut. Laute Schritte waren plötzlich auf dem Flur zu hören und ehe Carver reagieren konnte, stieß man seine Zellentüre auf und drei Soldaten kamen herein gestürmt:
„Was hast du dir dabei gedacht?“ schrie man ihn im rauen Ton an, ehe viele Hände ihn von seiner Pritsche rissen. Einer der Männer griff nach der Jacke und hielt sie hoch. In Carver kam das Bedürfnis auf, sie verteidigen zu müssen. Er wollte schreien, aber er konnte nicht. Die beiden Soldaten die ihn festhielten, waren ihm deutlich überlegen. Sie waren viel größer als er und viel zu stark. Er wandte sich einen hoffnungslosen Augenblick lang mit aller Kraft, in ihrem harten Griff.
„Was glaubst du, geschieht mit dir, wenn Negan das herausfindet, Linnai?“ schrie der Soldat, der die Jacke in seinen Händen hielt. Sein Gesicht spiegelte Erbarmungslosigkeit wieder. Es war von der Sonne verbrannt und von etlichen Narben übersät. „Was meinst du, sollen wir sie kaputt machen? Sprichst du dann endlich? Oder sollen wir deine Beine wieder etwas mit dem Messer verschönern, wie neulich?“ fragte man ihn mit einem schmutzigen Grinsen im Gesicht. Carvers Blick fiel auf seine Beine, an dem etliche blutige Striemen und blaue Flecken zu sehen waren. Er wollte weinen, aber das einzige was ihm einfiel war heftig seinen Kopf zu schütteln.
„Lasst sie ihn ruhe.“ ertönte die Stimme eines großen, schwarzhaarigen Mannes, der plötzlich in der Tür stand. Niemand hatte ihn kommen hören. Die Soldaten schwiegen und sahen ihm nervös entgegen:
„Sakuya Kira... das ist sie doch... Ihre Jacke, oder?“ fragte einer von ihnen und der Mann nährte sich ihm: „Ja, und jetzt verschwindet.“ antwortete er sauer. Die Männer ließen von Carver ab, gaben Sakuya die Jacke und verschwanden augenblicklich aus der kleinen Baracke. Es war Hoffnung. Es war wie ein lang ersehnter Wunsch, den man ihm in diesem Augenblick erfüllt hatte, als Sakuya vorsichtig nach Carver griff und ihn zurück auf seine Pritsche setzte.
Carver wollte ihn anfassen, nach ihm greifen, aber er wusste, dass er das nicht durfte. Sakuya kniete sich zu ihm hinunter und sah einen Augenblick lang auf die Jacke in seinen Händen.
„Was willst du nur damit?“ fragte er ruhig und sah Carver in die Augen. Er wollte antworten, wollte ihm davon erzählen... aber was hätte er sagen sollen? Carver blieb stumm. Sakuya strich mit seinen großen Händen sanft über die Schnitte an seinen Beinen: „Das hätte nicht passieren dürfen.“ Carver hatte nicht das Bedürfnis der Situation zu entfliehen. Er mochte es. Er mochte, wie Sakuya ihn anfasste. Nicht wie die anderen. Sein Blick fiel zurück auf die Jacke, die neben ihm lag. Sakuya blickte ebenfalls darauf:
„Du weißt, dass die Soldaten Negan davon berichten werden?“ Carver nickte und wagte es nicht mehr Sakuya anzusehen. Er hatte ihn beklaut. War in die Baracke der Teamleiter eingebrochen. Die Strafe würde schrecklich ausfallen.
„Irgendwann wird das alles hier endlich ein Ende haben.“ sagte Sakuya schließlich.
Wieder ein Lichtblitz.
Der Schnee war noch immer unendlich kalt. Und der Mann mit den schweren Stiefeln stand noch immer vor Carver und sah zu ihm hinunter: „Du musst verstehen, dass ich so etwas in meiner Organisation nicht dulden kann. Du bist doch keine kleine Diebin, oder etwa doch?“ seine Stimme klang hart und Carver hatte das Bedürfnis vor der Hand, die sich ihm nährte, auszuweichen. Aber es blieb nur dabei, dass er ängstlich seine Augen zusammen kniff und inne hielt. Er vernahm weitere Schritte und hörte eine vertraute Stimme: „Mein Gott, Sie müssen sie endlich reinbringen! Wenn sie noch länger hier draußen bleibt erfriert sie!“ es war die Stimme des Doktors, die er schon so oft gehört hatte. In ihm kam Wut auf, aber das Geräusch eines schnellen Schnittes ließ ihn ahnen, dass er nun wieder frei war. „Negan, das nächste mal wenn Sie so etwas veranlassen, will ich informiert werden!“ raunte der Doktor den Mann ungeduldig an. Er zog seine Jacke aus und legte sie um Carver, um ihm schließlich hoch zu helfen. „Doktor Porter, ich erinnere Sie nur ungern daran, wem diese Organisation hier gehört. Es ist meine Entscheidung, wie ich mit Dieben agiere.“ erwiderte Negan. Carver war sich sicher: er hasste diesen Mann. Er hatte ihm das angetan. Der Doktor reichte ihm die Hand, aber ihm wurde augenblicklich schwarz vor Augen.
Als Carver wieder erwachte blickte er an die kahle Wand seiner Baracke. Der Doktor saß in seinem weißen Kittel auf dem Rand seiner Pritsche und hielt ihm zwei Tabletten hin. Sein Körper fühlte sich heiß und seltsam an.
„Linnai, du musst diese Tabletten nehmen, damit es dir bald wieder besser geht, hörst du?“ erklärte er. Carver dachte jedoch nicht daran. Warum sollte er sie nehmen? Damit er bald wieder draußen im Regen trainieren müsste? Damit er wieder mit den älteren Soldaten zusammen sein müsste? Er entschied sich gegen die Tabletten, und drehte den Kopf beleidigt weg.
„Komm schon. Es wird dir nichts passieren. Die Tabletten machen dich wieder gesund.“ hörte er die dumpfe Stimme des Doktors unter seinem Kopfkissen, dass er sich über den Kopf gezogen hatte. Jemand griff danach und zerwühlte es mit seinen großen Händen. Einige Finger nährten sich seinem Mund. Er wollte die Tabletten doch nicht. Warum verstand das niemand? Er biss mit aller Kraft zu, und ein lauter Schrei drang durch den Stoff des Kissens zu Carver hindurch. Die Hand verschwand ruckartig. Er spürte, dass der Doktor aufgestanden sein musste. Einen Moment herrschte Stille. Carver war froh, dass man ihn nun in ruhe ließ. Ihm war noch immer kalt von dem vielen Tagen draußen an dem Baum, im Schnee. Trotzdem sich sein Körper so heiß anfühlte. Er fragte sich warum das so war, als er die Tür zu seiner Baracke hörte. Ein Stimmengewirr entstand, und plötzlich riss man ihn von seiner Pritsche hoch. Nein! Er wollte das nicht. Jeder Griff an seinem Körper schmerzte. Er musste etwas tun. Jetzt sofort! Er sah in die ängstlichen Augen des Doktors, als er es endlich geschafft hatte, sich die Männer, die ihn von seiner Pritsche geholt hatten, vom Hals zu halten. Der nächsten Hand die sich ihm nährte verpasste er einen gezielten Tritt. Ein lautes Knacken war in dem kleinen Raum gut zu hören. Es folgte ein entsetzter Schrei, als die Türe sich ein weiteres Mal öffnete. „Was soll das hier werden?“ Ertönte die strenge Stimme von Negan und alle hielten inne.
„Raus hier, alle.“ Befahl er. „Hershel, sie bleiben hier.“
Carver beobachtete wie zwei Soldaten hastig den Raum verließen und Hershel sich seine blutende Hand hielt. „Sie will die Tabletten nicht nehmen.“ sagte er verzweifelt.
„Na dann lösen Sie sie auf, und spritzen sie ihr eben!“ erwiderte Negan verständnislos. Da war er wieder: der Mann den Carver hasste.
„Sir, das wird alles nicht so einfach. Spritzen mag sie auch nicht.“ die Worte des Doktors klangen kleinlaut und Negan schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
„Dann mach ich es eben.“ sagte er wütend und wollte gerade einige Schritte auf Carver zugehen, als Hershel sagte: „Negan, Sie sollten bedenken, dass es wichtig für uns ist, dass sie eine emotionale Verbindung zu uns aufbaut. Wenn sie in uns nur ihre Feinde sieht, dann bleibt sie unzugänglich für sämtliche Befehle.“ Negan hatte sich zu Hershel umgewandt und sah ihn ungeduldig an: „Ich habe keine Zeit für solch einen Kinderkram. Sie sind mein führender Forscher, beheben sie das, mit dem neuen Geomas, oder mit sonst etwas!“ Carver verstand nicht wovon die beiden Erwachsenen da sprachen.
„Wir sollten Sakuya Kira hinzu holen. Sie reagiert entspannter auf seine Anwesenheit. Vielleicht hat er ein Zugang zu ihr.“ formulierte Hershel seine Gedankengänge ängstlich.
„Es ist mir egal, wie Sie das veranstalten, hören Sie? Ich will nur, dass sie bald wieder trainieren kann. Oder muss ich Sie an Ihre Frau und Ihren Sohn erinnern? Ich habe gehört Ihre Frau hat sich eine kleine Wohnung außerhalb von Efrafar genommen? Es wäre doch zu schade, wenn sie erneut umziehen müsste, weil es brennt.“ Hershel blickte Negan hinterher, wie er die Baracke verließ.
„Es tut mir leid Linnai... ich werde Sakuya holen...“ auch der Doktor verließ schließlich den kleinen Raum. Carver war genervt. Die vielen Stimme und Schreie hatten ihm Kopfschmerzen bereitet. Er hatte doch deutlich gemacht, dass er die komischen Tabletten nicht nehmen wollte. Warum verstand ihn nur niemand? Er legte sich wieder auf seine Pritsche und schloss die Augen.
Ein warmer, vertrauter Stoff weckte ihn schließlich wieder auf. Er spürte ihn beinahe überall auf seinem Körper. Als er die Augen öffnete, sah er, wie der große Mann, mit den schwarzen Haaren, sich neben ihn setzte. Er hatte ihn mit seiner Jacke zugedeckt. Die Jacke die er gestohlen hatte. Sie war wieder da. Und sie fühlte sich so schön weich an.
„Ich habe es dir ja gesagt. Die Strafe war unumgänglich. Aber es ist wichtig, dass du nun diese Tabletten hier nimmst.“ Sakuya hielt etwas in der Hand. Carver musste sich ein Stück aufrichten, damit er genaueres sehen konnte. Die beiden Tabletten wirkten so klein in seiner großen Hand. „Hershel hat gesagt, er sorgt dafür, dass du in mein Team kommst. Dann hast erst einmal Ruhe vor den anderen Männern.“ Carver wusste nicht so genau was er meinte, die Jacke lenkte ihn zu sehr ab. Der Geruch der an ihr war, war so schön.
„Du kannst meine Jacke behalten, aber du musst die Tabletten nehmen.“ Carvers Blick wanderte über die Jacke hinweg, an Sakuyas Hand vorbei, zu seinem Gesicht. Er sah so friedlich aus. Seine blauen Augen waren schön. Carver holte eine seiner Hände unter der Jacke hervor und griff in Sakuyas Handfläche. Die Tabletten schienen in seiner eigenen Hand viel größer. Natürlich kam ihm das so vor. Er legte die Tabletten auf die Matratze und legte seine Hand in Sakuyas, die immer noch geöffnet auf der Jacke lag. Es war verrückt: Carvers Hand war so klein im Gegensatz zu Sakuyas. Komisch. Carvers Gedankengänge wurden von dem Glas Wasser gestört, welches Sakuya ihm mit seiner anderen Hand reichte. Ein letzter Blick in Sakuyas Gesicht. Carver nahm die Tabletten vom Bett und schluckte sie hastig. Sie waren bitter. Er hatte es geahnt, dass sie nicht schmecken würden. Widerlich waren sie. Er nahm hektisch das Glas von Sakuya an und spülte den bitteren Geschmack hinunter.
„Du bist bald wieder gesund, Linnai.“ sagte er ruhig und stand auf. Carver war darauf gefasst, dass er ihm die Jacke jetzt wegnehmen würde. Hastig grub er seine Finger in den weichen Stoff. Er würde sie nicht wieder hergeben. „Wir sehen uns beim Training wieder.“ Sakuya verließ die Baracke ohne die Jacke. Das hatte Carver nicht erwartet. Er durfte sie behalten. Dieses schöne Stück Stoff von diesem Mann, Sakuya.<<
Heftig atmend schreckte Carver hoch. War das ein Traum gewesen? Er erblickte Lynn vor sich, die ihn ebenfalls erschrocken ansah.
„Was...“ ihr Schrecken wich allmählich Verwunderung. Carver sah sie mit dem selben Blick an. Es verstrichen einige Minuten in denen keiner der beiden sich rührte.
„Hast du... ich meine...“ Lynn sprach nicht weiter, als ihr Blick auf die Infusion in ihrem Arm fiel. Sie löste sie und Carver tat das gleiche.
„Ich...“ auch er sprach nicht weiter. Ihre Blicke wichen einen Augenblick lang nicht voneinander ab. Erst als Lynn das weiche Futter einer Jacke an ihrer nackten Haut spürte, sah sie verwirrt an sich hinunter und realisierte, dass sie nackt war.
„Was zur Hölle ist hier passiert...?“ stammelte sie ungläubig und zog die Jacke um ihre Brust zu.
„Linnai...“ sagte Carver leise, erstaunt von seinen eigenen Worten. Lynns Blick wanderte langsam über den Tisch hinweg, direkt zu seinen Augen. „Das waren deine Erinnerungen...“ sprach er endlich das aus, was ihn so bewegte. Er hatte ihre Erinnerungen geteilt. Vielleicht war das, durch die Infusion zustande gekommen? Unmöglich... oder etwas doch?
Das Quietschen der Türe des Hotelzimmers ließ die beiden Zusammenzucken und sie blickten erschrocken Hershel entgegen.
„Gott sei dank, bist du wieder bei Bewusstsein.“ Erleichtert schlug er die Hände zusammen. Er brauchte einige Sekunden um zu realisieren, wie unglaubwürdig die beiden ihn ansahen.
„Was ist denn? Habt ihr einen Geist gesehen?“ fragte er verwundert und schloss die Tür. Lynn und Carver wechselten sprachlos ihre Blicke.
„Ich habe das richtige Geomas besorgt. Ihr dachtet doch nicht etwa, ich hätte mich aus dem Staub gemacht?“ Hershels Bewegungen schienen wie ein Traum. Er war die rüstige und schwerfällige Version des Doktors, dem beide zuvor in die Hand gebissen hatten.
„Zeigen Sie mir Ihre Hand!“ Platze es aus Lynn heraus.
„Willst du dir nicht lieber erst einmal etwas anziehen gehen?“ Entgegnete ihr Hershel verwundert. Sie stand zügig auf und verschwand im Badezimmer. Hershel blickten, den noch immer verwirrten Carver an, der in die Leere starrte.
„Was ist denn los?“ fragte er verwundert über die ganze Situation.
„Zeigen Sie mir Ihre Hand.“ forderte Carver ihn auf. Hershel zuckte emotionslos mit den Schultern und reichte ihm die Hand. „Die andere.“ befahl ihm Carver hektisch. Er wurde blass, als er sah, dass Hershel ein kleiner Teil der Fingerkuppe an seiner linken Hand fehlte.
„Ist es möglich, dass ich durch die Transfusion Erinnerungen von Lynn sehen und durchleben konnte?“ Carvers Frage schien Hershel stutzig zu machen.
„Der Gedanke ist mir noch nie gekommen...“ antwortete Hershel nachdenklich. Er reichte Carver eine Zigarette, der sie nur allzu dankbar annahm.
„Aber ja, durch das abgelagerte Geomas ist dies durchaus möglich. Es bliebe nur die Frage, wie Lynn es plötzlich geschafft hat, sich zu erinnern... .“ Sie stand im Rahmen des Badezimmers, wieder angezogen, und sah auf Hershels Fingerkuppe, mit der er Carver Feuer gegeben hatte.
„Wie ist das passiert?“ fragte sie leise und ungläubig. Hershel schmunzelte einen Augenblick lang: „Du warst es. Du hast dich geweigert Tabletten-“
„gegen das Fieber zu nehmen.“ ergänzte Lynn entgeistert seinen Satz. Hershel sah sie verblüfft an.
„Ihr hattet beide die gleiche Erinnerung?“ fragte er schließlich und sah sowohl Carver, der wieder einen entspannteren Gesichtsausdruck hatte, und Lynn, an.
„Ja.“ antworteten Beide und wechselte die Blicke.
Die Nachtmittagssonne schien schwach in das kleine Cafè, in dem sich die Drei niedergelassen hatten. Carver und Lynn hörten Hershel nachdenklich zu.
„Die gelösten Lutetiumionen, die in Lynns Körper angesiedelt sind, wirken toxisch auf Bakterien. Deshalb hatten wir es ursprünglich dem Geomas hinzugesetzt. Es sollte eine gewisse Resistenz gegen gängige Bakterielle Infektionen garantieren. Soldaten die nicht an einer Grippe erkrankten.“ Carver musterte Lynn einen Augenblick lang.
„Aber ich war auch nie krank... .“ bemerkte er schließlich. Hershel nickte nur verständnisvoll
„Ja, wir haben die Beschaffenheit später geändert. Du hast einige andere Gen-Therapien erhalten. Sie unterschieden sich zwischen den Serien.“ ergänzte Hershel.
„Aber warum habe ich das Geomas von Carver nicht vertragen...?“ fragte Lynn.
„Das Geomas in den Krankenhäusern wird, wie bereits erwähnt, manchmal mit Xanthin und Diaminopyrimidin versetzt. Es hilft bei der Untersuchung von ungewöhnlichen Basenpaarungen in der DNA , mit Hilfe von Röntgenstrahlung. Das Diaminopyrimidin blockiert die Synthese von Folsäure im Körper, welche bei Überproduktion einen Vitamin B12 Mangel überdecken kann und die Schädigung des Nervensystems zur Folge hat. Viele Patienten in Valvar haben akuten Mangel an allen möglichen Lebenswichtigen Stoffen im Körper, die Folge davon, dass die Verträge mit Efrafar gekündigt wurden, und Valvar aufgrund der schlechten Bodenbeschaffung nicht die nötigen Lebensmittel anbauen kann, die diese Mängel beheben oder verhindern würden. Um diesen Patienten zu helfen, wurde das Geomas vor Jahren schon, in die medizinische Grundversorgung der Stadt aufgenommen. Es sollte primär in der Forschung außerhalb der VCO dazu beitragen, dass die Erkrankungen der Bewohner untersucht werden konnten. Um die Basenpaarungen zu untersuchen, um herauszufinden, ob die Mängel vererblich waren, oder erst mit fortschreitendem Altar auftraten, mischte man dem Geomas Xanthin und Diaminopyrimidin bei. Eine Beimischung die für uns bei der VCO keinen Sinn ergeben hätte. Unser Ziel war es euch widerstandsfähig, ausdauernd und unberechenbar zu machen. Eure Körper können eine Vielzahl von lebensnotwendigen Vitaminen und Botenstoffen selbst herstellen. Der Grund warum ihr nicht sonderlich auf Nahrung angewiesen seit.“ Hershels Mimik verriet den beiden, dass das soeben gesagte, ihm mehr als leicht von den Lippen ging. Natürlich tat es das, dachte Lynn, schließlich war er der führende Wissenschaftler der VCO gewesen. „Entschuldigt mich kurz.“ fügte er schließlich hinzu und verließ den Tisch an dem sie saßen. Lynn verspürte das Bedürfnis sich umzudrehen und nachzusehen wo er hinging, als Carver ihre Frage bereits beantwortete: „Er geht nur zur Toilette.“ In seiner Mine lag Anspannung und offensichtlich ungeklärte Fragen.
„Ich habe deine Erinnerungen gesehen.“ sagte er schließlich und schien das Unausgesprochene endlich gesagt zu haben. Der Blick der an Lynn heftete verriet Carver, dass sie nervös und ein wenig angespannt zu sein schien. Er dachte darüber kurz nach. War es möglich, dass ihr die Erinnerung und Carvers Wissen davon so unangenehm waren? Er ging seinen Traum nochmals durch. Man hatte sie tagelang an einem Baum innerhalb des Trainingsgeländes gefesselt, nicht im strande sich rühren zu können. Und warum das alles? Weil sie die Jacke eines Teamleiters geklaut hatte. Warum ausgerechnet diese? Jeder der Offiziere und Leiter, selbst Negan trug diese Art von Jacke, mit dem Wappen der VCO darauf. Carver sah zu Lynn, deren Augen jedoch auch nur gedankenversunken, auf ein Glas mit Wasser vor ihr blickten. Sie hatte sich wieder verändert. Ihre Augenfarbe. Sie hatten wieder diesen eigenartigen blauen Schimmer. Vermutlich die Folge des Geomas. Lynn dachte daran, wie gut es tat, Sakuya in ihrer Erinnerung begegnet zu sein. Daher kannte sie ihn. Deshalb war dieser Mann, seine Stimme, seine Augen ihr so vertraut erschienen. Sie begegnete ihm bereits, als sie noch ein Kind war. In ihrer Erinnerung dachte sie an die Jacke, die er ihr gelassen hatte. Wie er sie angesehen hatte, als er ihr die Bedingungen für die Jacke unterbreitet hatte. Das beinahe unsichtbare Lächeln auf seinen Lippen. Seine rauen Hände, gegenüber denen ihre, die so klein gewirkt hatten. Carver betrachtete sie, während ein schmales Lächeln aus ihren Erinnerungen über ihre vollen Lippen zog. Es war als würde er sie das erste mal, voller Genugtuung, schwelgend in einer vertrauten Situation, betrachten.
„Was wollt ihr noch wissen?“ fragte Hershel und setzte sich, nach seiner Rückkehr von der Herrentoilette, schwermütig zurück an ihren Tisch. Carver betrachtete Lynn wie sie ihren Kopf wieder hob und Hershel einen Augenblick lang nachdenklich anblickte:
„Nachdem ich wieder gesund war... wie ging es weiter? Haben Sie wirklich dafür gesorgt, dass ich zu Sakuya ins Team durfte?“ Ihre Frage stimmte ihn nachdenklich und einige Sorgenfalten zeichneten sich auf seiner alten Stirn ab.
„Es war nicht einfach gewesen, Negan von meinem Anliegen zu überzeugen. Er war so engstirnig, der Meinung alles mit Gentherapien und Präparaten richten zu können. Er vergaß, dass wir es mit Menschen zu tun hatten. Zum Teil mit sehr jungen Menschen, wie dir Linnai.“ Ärgernis schien sich in Hershel breit zu machen.
„Er wollte immer nur Erfolge sehen. Ihr musstet schneller, besser, effizienter werden. Alles andere war ihm egal. Er beauftragte mich, im Endstadium der Geomas Entwicklung, die selbe Therapie bei dir anzuwenden wie bei Sakuya. Es war eine absolut absurde Idee. Du warst viel zu jung. Dir fehlte es an jeglichen Umgangsformen, du hast nicht gesprochen und schienst auch im Vorfeld nicht sonderlich oft mit Menschen in Kontakt gekommen zu sein. Die primäre Aufgabe hätte darin bestehen müssen, ein Vertrauensverhältnis zu dir aufzubauen. Wer entwickelt schon eine höchst tödliche Waffe, und weiß nicht mit ihr umzugehen? Wir waren bei dem selben Problem angelangt, wie bei Sakuya Kira.“ Carver sah in Lynns Augen ein merkwürdiges Aufblitzen, als Hershel seinen Namen erwähnte. War es Sakuya gewesen, zu dem sie diese Beziehung aufbaute? Ein Band der Verbundenheit zweier Soldaten?
„Du kamst in sein Team. Ich zögerte die Geomas-Therapie immer weiter hinaus. Negan blieb das natürlich nicht verborgen. Es ärgerte ihn, dass du, Lynn, dich ihm immer wieder widersetztest. Du wolltest keine Befehle von einem Mann, der dich im klirrenden Winter an einen Baum gebunden hatte. Aber du wusstest doch nicht, was du falsch gemacht hattest. Wer hätte dir beibringen sollen das man nicht stiehlt? Es war ein Rattenschwanz. Es verging eine weitere Woche, in der ich einen Anruf aus Efrafar bekam. Negan hatte Wort gehalten, und einige Soldaten zu meiner Frau geschickt. Er war es Leid, zu warten. Sie brannten ihre Wohnung nieder. Es zerriss mir das Herz, sie erneut weinen zu hören. Sie flehte mich an, den Befehlen von Negan folge zu leisten, ansonsten würden sie wiederkommen und sie hätte schlimmeres als einen Sachschaden zu erwarten. Ich konnte die Therapie also nicht länger hinaus zögern. Aber ich hatte eine andere Idee. Es war Vorschrift die Trainingseinheiten der Rekruten aufzuzeichnen. Ich sah mir ein Band nach dem anderen an. Es dauerte nicht lange, bis ich bemerkte, welchen Einfluss Sakuya auf dich hatte. Du vertrautest ihm beinahe blind. Ich suchte ihn noch in der selben Nacht auf, bewaffnet mit einigen Aufzeichnungen und Analysen von dir. Sakuya war schon immer ein äußerst intelligenter Mann gewesen. Aber in dieser Nacht stieß er mich auf etwas, was ich scheinbar übersehen hatte: in deinem Blut waren bereits Ablagerungen eines, dem Geomas sehr ähnlichen Stoffes zu finden. Es fehlten einige Bestandteile, aber es war unserem synthetischen nicht unähnlich. Jedoch würde es nicht reichen.“
Lynn und Carver hörten Hershel aufmerksam zu, aber in Lynn kam eine Frage auf:
„Wofür würde das abgelagerte Geomas nicht reichen?“ fragte sie schließlich neugierig. Hershel begann sich angestrengt die Stirn zu reiben:
„Nun, es ist ein komplizierter biochemischer Vorgang in euren Körpern, der dazu führt, dass sich das Wappen der VCO auf euren Körpern ausbildet. Ich war an dieser Forschung nicht beteiligt, ich kenne die ungefähren Abläufe, aber ich will euch nicht mit Zelldublikationen und Enzymkodierungen langweilen. Jedenfalls war dein Körper noch unbefleckt. Fest stand jedoch, dass das synthetisierte Geomas, einen erheblichen Beitrag dazu leistete, dass das Zeichen auf euren Rücken sich ausbildete. Es vereinfachte den ganzen Prozess, der dafür mit aufwändigen Gentherapien ursprünglich nötig war. Aber wie gesagt, es fiel nicht in meinen Zuständigkeitsbereich. Fest stand, wir müssten dir so viel Geomas verabreichen, dass es auch bei dir zu dieser Ausprägung kam, sonst würde Negan stutzig werden. In einer Nacht und Nebel Aktion bereiteten Sakuya und ich alles für die Sabotierung des von Negan angeordneten Versuchs vor. Aber da war noch ein Problem: der SND. Ein von einem Team aus Informatikern und Biochemikern entwickelter Chip, der notgedrungen durch Sakuyas Anomalien seinen Einsatz gefunden hatte. Auch darüber entziehen sich mir genauere Kenntnisse. Fest stand jedoch: Sakuya wollte unter keinen Umständen, dass wir dich damit ausstatten würden. Der Chip an Sakuyas Hirnstamm ermöglichte es Negan, jederzeit über die Ausschüttung des Melanins in seinem Körper zu bestimmen. Der Chip reguliert diese Ausschüttung über die Neurorezeptoren. Ebenfalls eine komplizierte biochemische Angelegenheit. Sakuya wollte jedenfalls nicht, dass Negan auch über dich bestimmen konnte. Es war klar, dass wir dir einen Chip einsetzten müssten, sonst wäre die ganze Sabotage aufgeflogen, aber wir entscheiden uns dafür, den SND zu manipulieren. Letztendlich war es dein größtes Glück, sonst würdest du vermutlich nicht mehr mit uns an diesem Tisch sitzen.“ Hershel hielt einen Moment inne, er schien den Faden verloren zu haben. Carver reichte ihm geistesgegenwärtig eine Zigarette, zur Kenntnis nehmend, dass Hershel einen Augenblick lang angestrengt nach seine Pfeife suchte, sie jedoch nicht fand. Er musste sie im Hotelzimmer vergessen haben.
„Danke mein Freund.“ erwiderte er auf Carvers Geste, in der, wie Lynn bemerkte, kein Hass oder sonstige Ablehnung wie üblich vorherrschte.
„Wir entschieden uns also dazu, dein Blut mit einem weitaus geringeren Teil, als es geplant war, mit dem synthetischen Geomas anzureichern. Dass sich die Kontrolle über deine Fähigkeiten, nach deinem Erwachen, als äußerst schwierig erweisen würde, war uns durchaus bewusst. Aber Sakuya schwor darauf, dass er wissen würde, wie er mit dir umgehen müsste. Schließlich warst du auf ihn, als eine Leitfigur, geprägt. Was dann jedoch geschah, damit hatte keiner von uns gerechnet. Die Operation für den manipulierten SND erwies sich als langwierig, das Geomas in deinem Blut anzulagern war jedoch recht zügig zu bewerkstelligen. In den Morgenstunden standen Sakuya und ich angespannt vor deinem noch bewusstlosen Körper. Alle Vorgänge waren abgeschlossen. Auf deiner Schulter zeigte sich bereits die erste bläuliche Färbung des Wappens. Es schien alles funktioniert zu haben und dann trat das Unerwartete ein... .“ Hershel stockte und fuhr mit seiner Hand über den Tisch zum Aschenbecher. Carver sah in Lynns Augen die Anspannung. Sie wäre am liebsten über den Tisch gesprungen und hätte Hershel gezwungen den Rest preiszugeben.
„Hershel...“ mahnte Carver und der alte Mann schien aus einigen Gedanken aufzublicken, ehe er verstand, dass er einfach aufgehört hatte zu sprechen.
„Ja natürlich, entschuldigt. Du bist endlich aufgewacht. Die Stundenlange Arbeit hatte sich gelohnt: das Wappen an deiner Schulter, deine Augen die charakteristisch durch das Geomas leuchteten, der Implantierte, aber sabotierte Chip. Und dann sagtest du seinen Namen. „Sakuya“ Klar und deutlich. Sakuya und ich wechselten verblüfft unsere Blicke, nicht sicher ob wir es uns eingebildet hatten. Lynn sagte Sakuyas Namen. Uns war nicht klar, wie es dazu kommen konnte. Seit du zu uns kamst, hattest du nicht ein Wort gesprochen. Nicht geweint, nicht geschrien, nichts. Ich hatte irgendwann die Vermutung, dass es ein erblich bedingtes Problem bei dir war: dass deine Stimmbänder einfach verkümmert waren. Aber in dieser Nacht, schien etwas geschehen zu sein. Bis heute habe ich keine fundierte Erklärung dafür, aber ich könnte mir vorstellen, dass es an dem Geomas lag. Es war ein kleines Wunder. Da blieb jedoch noch das Problem, mit deinen neu gewonnen Fähigkeiten durch das Geomas. Deine Sehkraft hatte sich maßgeblich verbessert, du warst in der Lage auch in der Dunkelheit sehen zu können. Darum brauchten wir uns jedoch weniger Sorgen machen, als vielmehr über die Tatsache, dass du nach einigen Tagen Spaß daran gefunden hattest, aufgrund deiner körperlichen Muskelkraft, alle möglich Dinge auf dem Gelände zu zerstören. Es kostete uns allerhand Mühen, diese Ereignisse vor Negan und den Offizieren zu verbergen. Negan war ja immerhin noch immer der festen Überzeugung, er könne deine Fähigkeiten durch den SND kontrollieren. Es raubte uns beinahe den Verstand. Aber wie Sakuya es versprochen hatte, löste er das Problem auf eine subtile Art und Weise.“ wieder heilt Hershel inne.
„Was hat er getan?“ fragte Lynn und Unbehagen breitete sich in ihr aus. Hershel jedoch begegnete ihrem Besorgten Gesichtsausdruck mit einem beruhigenden Lächeln:
„Er bat dich um ein Versprechen.“
„Mehr nicht?“ platze es aus Lynn heraus und Carver entging nicht ihre Verwunderung. Hershel lachte leise:
„Du musstest ihm versprechen, immer, auf seine Befehle zu hören. Da er dein Teamleiter war, blieb es vor Negan immer verborgen, dass du nur auf ihn hörtest. Er erklärte dir nächtelang die verschiedensten Verhaltensregeln, neben dem täglichen theoretischen Unterricht, dem alle Rekruten beiwohnen mussten. Und du hast dich daran gehalten. Was auch immer Negan verlange, du hast es getan, das Versprechen was du Sakuya gabst, stets im Hinterkopf. Du wolltest ihn nicht wütend machen und ihn zu Enttäuschen bedeutete für eure enge Verbindung eine Katastrophe für dich.“ Lynn ließ sich verblüfft in die Lehne des Stuhles zurückfallen. Ein simples Versprechen? Mehr nicht? Sie durchdachte nochmals ihre Erinnerung. Er war der einzige Mann dort gewesen, dem gegenüber sie keinen Hass oder Angst empfunden hatte. Er hatte den Grundstein ihres Vertrauens mit seiner Jacke gelegt. Sie fühlte sich in ihren jungen Jahren von ihm verstanden.
„Ein Einbruch dieser beinahe friedlichen Zeit kam dann jedoch, als du mit Sakuya auf den Außeneinsatz, zurück in die Wüste geschickt wurdest. Mehr kann ich dazu nicht, sagen, ich wusste nie was genau dort geschehen ist. Und den Rest der Geschichte kennst bereits.“ beendete Hershel die ganze Geschichte über Lynns Vergangenheit. Ein prüfender Blick von Carver fiel zu Lynn herüber die ihren Kopf auf der Lehne des Stuhls abgelegt hatte, und die wieder sichtlich angespannt aussah.
„Wo haben Sie das Geomas heute Morgen herbekommen?“ Die Frage die Carver an Hershel gerichtet hatte, hatte einen skeptischen Unterton, fand Lynn und sie hob ihren Kopf wieder in eine aufmerksamere Position.
„Ich habe so meine Quellen.“ erwiderte Hershel unsicher lächelnd, aber Carver erwiderte es nicht. Seine Mine blieb fragend und skeptisch. Noch immer hegte ab und an die Vermutung, Hershel könne noch immer zur VCO gehören. Und damit sein Plan nicht aufflog, hatte er vielleicht das Geomas direkt von der VCO bekommen.
„Woher?“ wiederholte Carver eindringlicher. Hershel schnappte nach Luft.
„Es gibt in der Nähe einen Markt. Ich kenne einige Schwarzhändler von meiner Zeit bei der VCO von dort. Sie haben immer Geomas. Wenn auch manches mal in geringen Mengen.“
„Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?“ brach es aus Carver hervor und seine Augen verfinsterten sich: „Wie ohne Geld oder Tauschmittel?“ Hershel räusperte sich, sichtlich nervös:
„Ich habe ihnen gesagt, wenn sie es mir nicht gäben, dann würde ich sie umlegen.“ erwiderte er verhalten. Prompt schlug Carver die Hände über seinem Kopf zusammen.
„Wegen Ihnen wird unsere Tarnung auffliegen! Wer auch immer Wind von der Sache bekommt, weiß, dass sich hier VCO Soldaten befinden!“ Hershel schüttelte etwas erleichtert seinen Kopf.
„Nein, macht euch darum keine Sorgen, es gibt reichlich Junkies, die auf das Geomas stehen. Es gibt auch einige Wenige, die von dem Gepanschten absehen und die richtigen Händler für das Pure kennen.“ Ein verwirrter Blick von Lynn wanderte von Carvers fragendem Gesicht, hin zu Hershels fragwürdigen Gesicht. „Sagt nicht, ihr wusstet nicht, wie verbreitet die Droge in dieser Welt ist?“ fragte Hershel erstaunt.
„Nicht direkt, ich wusste dass einige Soldaten die mit mir auf dem Stützpunkt waren, Probleme damit hatten, aber die normalen Stadtbewohner?“ Verwunderung klang in Carvers Stimme mit.
„Nun, wir sollten unsere weitere Vorgehensweise planen.“ wandte Lynn plötzlich ein.
Es war Abend geworden als Hershel alleine in das Hotelzimmer zurückkehrte. Erschöpft sank er auf das Bett und zog schwermütig seinen langen Mantel aus. Es war so einsam ohne die beiden. Mit einem Schmunzeln blickte er auf die durchtrennten Seile die am Kopfende des Bettgestells baumelten. Endlich vertrauten sie ihm. Hershel war sich sicher, dass es der Beginn einer guten Zusammenarbeit werden würde. Mit Gedanken an seinen Sohn Dakon, griff er nach einer Waffe die unter dem Kopfkissen gelegen hatte, und entsicherte sie. >>Ich werde versuchen wieder gut zu machen, was ich getan habe... koste es was es wolle...<<
„Hey alles in Ordnung?“ Der tiefe Klang von Carvers stimme durchtraf die Stille der Nacht. Lynn kauerte auf einem niedrigen Vorsprung eines Bohrturms, gegenüber von Carvers prüfendem Blick. „Mir geht es gut.“ erwiderte sie leise. Es waren viele Informationen die sie heute bekommen hatte. Und zwischen der Freude auf ihre endlich beantworteten Frage, machte sich eine schleichende Angst in ihr breit: was war in der Wüste damals geschehen, dass sie so verändert hatte? Was hatte sie nur wieder zum schweigen gebracht? Und wir war sie nach Tokio gekommen, von Efrafar aus.
„Zerbrich dir nicht den Kopf. Die Antworten werden kommen, aber es braucht Zeit.“ sagte Carver leise und einfühlsam während er den Blick wieder von ihrem nachdenklichen Gesicht abgewandt hatte, um in Ruhe die Umgebung beobachten zu können. Lynns Gedanken schwiffen noch einmal zu jener eigenartigen Situation, in der sie Sakuya mit der Frau in seinem Apartment angetroffen hatte. Das Band zwischen Ihnen schien weiter fortzubestehen, tief in ihr. Aber es war wohl eine Situation, die sie nie zuvor mit ihm erlebt hatte. Vielleicht hatte sie dieses Aufeinandertreffen deshalb so verwirrt. Ihre Mutmaßungen schienen jedoch nicht das Gefühl in ihr zu rechtfertigen, welches wieder aufkam, als sie sich an Sakuyas verschwitztes Gesicht und seinem ernsten Blick erinnerte. Ihr wurde heiß und sie schüttelte den Kopf, in der Annahme, dass dem aufmerksamen Carver, dies nicht entgangen war.
„Trotz Hershels unglaublichen medizinischen und chemischen Kenntnissen, ist es mir noch immer ein Rätsel, wie er so in unserer Biochemie herum murksen konnte. Hast du noch Nonjodtabletten?“ beendete Lynn genervt ihre Überlegungen und sah Carver erwartungsvoll an.
„Nur im Hotel.“ erwiderte er beinahe beiläufig denn er schien etwas entdeckt zu haben. Lynn rutsche ein Stück zu ihm heran und erspähte ebenfalls eine weiße Limousine, die sich einem riesigen Anwesen nährte. „Ist er das?“ fragte Lynn voller Adrenalin. Carver hatte bei seiner nächtlichen Recherche herausgefunden, wo sich Negans Residenz befand. Es war nicht einfach gewesen, aber nur wenige Kilometer trennten sie nun noch von dem riesigen Anwesen.
„Ein Schuss und die Sache wäre erledigt...“ flüsterte Lynn leise und Carver nickte zustimmend. Während ihrer Beobachtung musste Carver schnell feststellen, dass er es kaum neben Lynn aushielt. Die unglaubliche Hitze die sie ausstrahlte, zwang ihn dazu seine Jacke zu öffnen.
„Wir sollten einige Tage beobachten, wann er zurück kommt. Er war schon auf dem Stützpunkt ein Kontrollfreak. Es würde mich also nicht wundern, wenn er einen genauen Rhythmus in seinem Privatleben verfolgt.“ offenbarte Carver leise seine Vermutungen. Lynn nickte angestrengt. „Na komm, wir verschwinden von hier.“ sprach er schließlich die Worte aus, die in Lynn das Gefühl einer Erlösung erzeugten. Sie hatte keine Lust wieder in einen solch unkontrollierten Zustand zu geraten, dass sie sich ihm wieder aufzwängen würde.
„Wie ist es gelaufen? Stimmten die Angaben noch?“ fragte Hershel aufgeregt nach, als Lynn und Carver sich im Hotelzimmer ihrer Jacken und Waffen entledigten.
„Ja, die Angaben stimmten noch. Hätten wir ein Scharfschützengewehr dabei gehabt, wäre er auch bereits Geschichte. Wir kümmern uns in den nächsten Nächten darum.“ antwortete Carver und ließ sich in den Sessel fallen, ehe er sich eine Zigarette anzündete.
„Hier.“ er reichte Lynn eine Packung mit den versprochenen Nonjodtabletten.
„Alles in Ordnung?“ fragte Hershel erstaunt, als er in Lynns verschwitztes Gesicht blickte.
„Nein, hätten Sie Ihre Arbeit richtig gemacht, würden wir von so etwas verschont bleiben.“ ihre Stimme klang hart.
„Ich würde alles dafür tun, einen neuen Scan deiner Biochemie machen zu können.“ murmelte Hershel in Gedanken versunken und dachte an einige Gerätschaften aus seinem alten Labor.
„Sie werden mich unter keinen Umständen anrühren.“ erwiderte Lynn scharf und blitze Hershel gefährlich mit ihren blauen Augen entgegen, während sie die Tabletten schluckte.
„Aber es wäre-“
„Das ist mir egal! Sie bleiben weg von mir!“ unterbrach ihn Lynn harsch.
„Bleibt ruhig, hier werden keine Scans von irgendwas gemacht. Wir haben wichtigere Dinge zu erledigen.“ beschwichtigte Carver die Situation und sah Lynn noch kurz hinterher, wie sie ins Bad verschwand, die Türe jedoch aufließ.
„Was haben Sie sich eigentlich bei Ihrem Paarungstrieb gedacht?“ rief sie wieder ein wenig ruhiger aus dem Bad. Der neugierige Blick von Carver schwenkte zu Hershel.
„Wenn eine Reihe super effizienter Soldaten erschaffen werden sollen, passieren immer etwaige Fehler.“ versuchte sich Hershel zu rechtfertigen.
„Etwaige Fehler?“ wiederholte Carver ein wenig über diese Ironie belustigt. Aber Hershel erkannte schnell, wie ernst das Thema für die beiden war.
„Nun, zu Beginn rekrutierten wir Söldner. Mit den verschiedenen Gen-Therapien, Modifizierungen, Training, der Ausbildung und allem anderen, hatten wir gute Erfolge. Aber es war ein langwieriger Prozess. Uns kam die Idee, diese Art der Soldaten zu reproduzieren. Ohne Krankheiten oder körperliche Einschränkungen, die normale Söldner mit sich brachten.“ erklärte Hershel, der immer noch mit der Waffe auf dem Bett saß.
„Sie wollten also Gott spielen?“ trotzdem Lynn mit einer Zahnbürste im Mund gesprochen hatte, klang ihre Frage deutlich, und auch ihre Verachtung darin war nicht zu überhören.
„Nein, wir wollten nicht Gott spielen. Zum Teufel, wir wollten die Früchte unserer Forschungen auf eine neue, höhere Stufe der Evolution bringen. Also experimentierten wir mit einer weiteren Gentherapie, die eure sexuelle Bereitschaft in einem regelmäßigen Zyklus steigern sollte. Ähnlich wie bei Katzen. Aber es war eine Katastrophe. Die Versuchspersonen reagierten in den aktiven Zeiten der vermehrten Testesteronausschüttung zu aggressiv. Irgendetwas hatten wir verkehrt gemacht. Ein Großteil von ihnen brachte ihre Zuchtpartner um. Es war ein Desaster. Nachdem Sakuya Kira zu uns gekommen war, der erste dessen Blut mit so viel Geomas angereichert wurde, erkannten wir die Chance, erstmals die Auswirkungen der Gentherapie infolge des Zuchtprogrammes mit der Reaktion des Geomas, beobachten zu können.“ Hershel stoppte und schlug die Hände zusammen. Lynn sah noch immer mit ihrer Zahnbürste im Mund, aus dem Badezimmer hervor, ihn an.
„Ich möchte keine Einzelheiten nennen, aber es war eine rudimentäre Katastrophe. Nicht nur, dass Sakuya ohnehin aufgrund des noch fehlenden SND kaum zu bändigen war, aber das sexuelle Verlangen nach einer Reproduktion verstärkte das Ausmaß noch zusätzlich. Negan war gezwungen den gesamten Westbereich der Forschungseinrichtung meiner Abteilung abzureißen, und neu aufzubauen. Sakuya hatte nichts mehr unter Kontrolle, vor allem nicht sich selbst. Der SND beendete das ganze. Als Lynn dann Jahre später zu uns kam, versuchten wir es erneut mit zwei weiteren Soldaten und an Lynn selbst. Mit einer modifizierten Gen-Therapie und weniger Geomas im Körper sollte es schließlich funktionieren. Aber unsere Erwartungen wurden nicht erfüllt. Obwohl ich Negan gegenüber mehrmals den Einwand geäußert hatte, dass du zu jung für einen solchen Fortpflanzungszyklus seist, ließ er sich nicht davon abbringen. Dass das ganze Projekt gescheitert war, erkannten wir erst neun Monate später, als das andere Testsubjekt einen Embryo gebar, der nicht einmal ansatzweise hätte Lebensfähig sein können. Wir legten das Zuchtprojekt auf Eis. Die Gentherapie hattest du jedoch bereits erhalten, so wie auch einige andere Rekruten. Also machten wir uns an die Aufgabe, den Fehler unserer Forschung mit eigens entwickelten Tabletten zu beheben. Ein spezifischer Bestandteil sorgt dafür, dass es über die Schilddrüse nicht zur vermehrten Testestoronausschüttung, während der aktiven Phase kommt, in dem er das Jod hemmt. Die heutigen Hybriden haben diese Probleme natürlich nicht mehr.“ Lynn konnte sich nicht helfen, aber sie hatte stets das Gefühl, wenn Hershel etwas über seine vermeintlichen Arbeit erzähle, dass er dabei voller Stolz sprach. Es störte sie. Er legten ihnen soeben die Gründe für ihre, wie er es nannte, Anomalien dar, und schien noch voller Stolz darüber zu sein. Carver schien das gleiche erkannt zu haben:
„Würden Sie damit aufhören, von uns wie von paarungswilligen Tieren zu sprechen, und dabei noch Stolz mitklingen zu lassen? Sie haben absoluten Mist gebaut. Und was soll das überhaupt mit dem Zyklus und der aktiven Phase?“ die Stimme von Carver klang ruhig, aber ein wenig Unverständnis lag darin.
„Die aktive Phase, ist die Phase wo sich eure sexuelle Aktivität steigern sollte. Damit die VCO dazu imstande wäre, euch in dieser Phase aus dem Training zu nehmen, und euch von Einsätzen fernzuhalten. Ihr solltet euch eben... nun, wie soll ich es sagen... voll und ganz auf die Reproduktion von Nachkommen konzentrieren können.“ Eine beängstigende Fachbeständigkeit lag in seiner Erklärung. „Ich glaube mir wird schlecht.“ rief Lynn schließlich angewidert aus dem Bad und schloss die Türe, als sie darüber nachdachte wie ein gesamtes Team von Soldaten lüstern übereinander herfiel. Das war doch krank.
Geduscht und noch mit nassen Haaren, verließ Lynn, nach einiger Zeit, das Badezimmer wieder. Carver schien einen Netdive zu absolvieren, vermutlich war er auf der Suche nach Informationen über Elaines Schwester. Angestrengt mühten sich Hershels alte Hände mit dem reinigen seiner Pistole ab, als Lynn auffordernd, mit einer Hand danach greifend, vor ihm stand: „Geben Sie schon her, so wird das nichts.“ ein blasses Lächeln lag in ihrem mittlerweile wieder friedfertigem Gesicht. Mit einem Stöhnen reichte Hershel ihr die Waffe. Mit einem lauten Klicken setzte sie sich neben ihn auf das Bett und hatte im Nu die Waffe zerlegt. „Die Grundausbildung hat euch allen gut getan.“ sagte Hershel leise und betrachtete Lynns beiläufigen Blick zu ihm herüber, während sie mit einem Tuch den Lauf der Waffe reinigte. „Ja, es ist eigenartig, dass ich viele meiner Fertigkeiten anscheinend noch intuitiv beherrsche, während ich alle zwischenmenschlichen Ereignisse vollkommen vergessen haben scheine.“ Hershel schmunzelte kurz.
„Sakuya Kira scheinst du nicht vergessen zu haben.“ erinnerte er sie und sah ein flüchtiges Lächeln auf ihren Lippen.
„Wie kommt es, dass ich mich an die Sache mit der Jacke wieder erinnern konnte?“ Eine kurze Stille lag in dem Raum.
„Die Forschungsaufzeichnungen, könnten in deinem Unterbewusstsein etwas ausgelöst haben. Es dauert seine Zeit, bis sich verletzte Synapsen und Gehirnstränge wieder erholt haben. Aber es ist eine Kettenreaktion. Vermutlich helfen vertraute Dinge. Du lagst in der Badewanne, oder nicht?“ Lynn nickte und ein weiteres Klicken ertönte, ehe sie Hershel die Waffe sauber und zusammengesetzt entgegen hielt.
„Nun, es kann am Wasser gelegen haben. Dein Gehirn scheint sich erholt zu haben. Mehrere Faktoren wären möglich.“ Seine Antwort schien Lynn einzuleuchten. Ein lauter Aufschrei von Carver riss sie aus ihrer Konversation.
„Was ist los?“ fragte Lynn erschrocken und wandte sich zu ihm. Er zog den Netdivehelm ab und sah die beiden an: „Ich habe die Adresse von Elaìnes Schwester.“
Carver, Hershel und Lynn standen auf der Straße vor einem großen Haus. Sie hatten eine Weile, mit einem geklauten Wagen, bis ans andere Ende der Stadt fahren müssen. Carver schien in der Zeit nach seinem Dienst für die VCO einige nützliche Fähigkeiten was das Kurzschließen von Autos betraf, erworben zu haben. Nachdem Lynn aus dem Wagen gestiegen war, sah sie sich verblüfft um. Die kleine Straße die sie aufgefahren waren, endete einige Meter in der Ferne. An ihrem Rand reite sich ein Einfamilienhaus an das andere. Alle waren weiß gestrichen. Es wirkte im Gegensatz zu dem trostlosen Stadtkern, der von Bohrtürmen durchzogen war, beinahe idyllisch.
„Was willst du ihr sagen?“ fragte Lynn leise und ging einige Schritte auf Carver zu, der sich eine Zigarette angemacht hatte und die Umgebung musterte.
„Die Wahrheit. Und dann werden wir sehen was geschieht.“ antwortete er ungewöhnlich leise.
„Wir sind bei dir.“ erwiderte Lynn und sah einen Augenblick zu Carver hoch, dessen grüne Augen, in dem schwachen Licht der Sonne, glitzerten. Sein sonst getragener drei Tage Bart war etwas länger geworden. Wie Lynn ihn so ansah, kam es ihr unpassend vor, wenn sie daran dachte wie eine Frau ihn beschimpfen oder angreifen würde. Er war so männlich, ihn schien doch nichts erschüttern zu können, oder etwa doch?
„Ich werde allein gehen.“ Riss seine Stimme Lynn plötzlich aus ihren Gedanken. Er sah direkt zu ihr hinunter wie sie noch immer, ihn nachdenklich anblickend, neben ihm stand.
„Hör auf einen alten Mann, und geh nicht alleine.“ sagte Hershel plötzlich, der hinter den beiden stand. Ehe Carver etwas antworten konnte, reichte Hershel Lynn einen Zettel:
„Es sind die Koordinaten des Stützpunktes auf dem du und Sakuya warst. Er ist ganz in der Nähe. Nimm den Wagen. Wir werden hier auf dich warten.“ sagte er ungewöhnlich ernst. Lynn blickte verwirrt auf den beschriebenen kleinen Zettel in ihren Händen.
„Na mach schon und fahr.“ sagte Carver schließlich, als er sich zu den beiden umgedreht hatte und die Hoffnung in Lynns Augen sah.
„Ich bleibe bei Carver. Mach dir keine Sorgen.“ Hershels Worte klangen zuversichtlich. Lynn hielt noch einen Augenblick schweigend inne, ehe sie in den Wage stieg und losfuhr.
Der Wagen stand an einem kleinen Waldstück und Lynn konnte bereits den hohen Zaun, inmitten der dichter werdenden Bäume, erkennen. Nirgends waren Soldaten zu sehen, die sie eigentlich vermutet hatte, damit keiner die Stadt verlassen würde. Es kostete sie einiges an Anstrengung über den Zaun zu klettern, aber es gelang ihr schließlich ohne Probleme.
„Diana Carakas?“ fragte Carver laut nachdem mehrmaliges Klopfen an der Haustüre keine Wirkung gezeigt hatte. Hershel und er hielten inne und horchten nach Geräusche innerhalb des Hauses. Aber es blieb stumm im Inneren.
„Sollen wir reingehen?“ fragte Hershel schließlich und zog seine Waffe. Carver jedoch machte dem alten Mann mit einer Geste deutlich, dass er sie wieder wegstecken sollte.
„Kommen Sie.“ sagte er schließlich und lief mit Hershel um das Haus herum, zur Hintertür.
Das rauschen des Waldes umgab Lynn, während sie über einige Äste sprang und endlich an eine Lichtung gelangt war. Vor ihr lag ein riesiges betoniertes Kasernengelände. Sie konnte es kaum glauben, als ihre unsicheren Schritte den asphaltierten Boden betraten. Reste von hohen Zäunen waren noch zu erkennen, aber die Natur schien sich ihren Weg zu bahnen, und ihren ursprünglichen Lebensraum wieder erobern zu wollen. Alles wirkte verlassen, baufällig, eingestürzt. Einige Gebäude waren so zerfallen, dass Lynn der Gedanke kam, dass man es teilweise gesprengt haben musste. Sie lief über einen riesigen Platz, dessen Beton immer wieder durch kleine Pflanzen aufgebrochen wurde, die sich ihren Weg aus dem dunklen Erdreich in die Freiheit zu bahnen schienen. Die Luft war warm, und die Sonne schien schwach von einem leicht bedeckten Himmel auf den riesigen ehemaligen Stützpunkt. Lynn versuchte jedes Detail zu Kenntnis zu nehmen. Ein alter Fahnenmast zu ihrer rechten, beinahe im Wald. Die Linien auf dem Boden, als wäre dies einmal ein Landeplatz für Helikopter gewesen. Ein Reh. Ein Reh? Lynn blieb verwundert stehen. Inmitten der Trümmer eines kleinen Gebäudes, sah sie ein ausgewachsenes Reh an. Wie ein Blitz durchzog etwas ihren Körper und gipfelte im inneren ihres Kopfes. Ein stechender Schmerz. Lynn schnappte nach Luft und sackte ein wenig ein.
>> „Töte es!“ es war der erneute Aufruf eines Mannes der direkt neben ihr stand und sie in seiner Uniform anbrüllte. Lynn schüttelte heftig den Kopf. Vor ihr war ein junges und ängstliches Rehkitz an einen Baum gebunden und wandte sich mit allen Leibeskräften. Das Tier hatte die Augen weit aufgerissen. Sein Schnauben ließ die kalte Morgenluft gefrieren. Es hatte Angst. Das wusste Lynn, denn sie hatte auch Angst. Der Soldat riss an Lynns Händen und gab ihr ein großes Kampfmesser. Es war viel zu groß für ihre kleinen Hände.
„Noch einmal, du sollst es töten!“ seine Stimme wurde lauter. Das junge Reh schien zu wissen was ihm bevor stand. Aber Lynn blickte nur stumm und verzweifelt auf die große Klinge in ihren Händen. Hatte sie es nicht die letzten drei Wochen jeden Tag gefüttert? Hatte sie nicht alles getan, was man von ihr verlangt hatte? Sie war doch wirklich jeden Morgen so früh aufgestanden, ganz alleine, war in den Wald gegangen, wie man es ihr befohlen hatte, um das kleine Reh zu füttern. Warum sollte sie es jetzt töten?
„Wenn du es nicht schaffst ein verdammtes Reh zu töten, wie willst du dann ein guter Soldat werden?“ der Mann neben Lynn schrie noch immer. Alles in ihr sträubte sich gegen sein Befehl. Das braune Tier hatte doch solche Angst. Warum konnte sie es nicht einfach losbinden?
Ein Schuss . Lynn zuckte zusammen und warf sich instinktiv zu Boden, um Deckung zu suchen. So, wie man es ihr beigebracht hatte. Als sie wieder aufsah, erblickte sie den großen Mann mit den schwarzen Haaren und den blauen Augen. Aus dem Lauf seiner Waffe qualmte es noch. Lynns ängstlicher Blick glitt über den matschigen Laubboden hinweg, zu dem kleinen Reh. Es lag auf der Seite und bewegte sich nicht mehr. Ein großes Loch war in seiner Mitte und reichlich, tiefrotes Blut quoll daraus hervor. Sie wollte schreien. Sie konnte nicht. Lynn blieb stumm. Jemand riss sie aus dem Matsch hoch und zog sie mit sich.
„Das wird Konsequenzen haben.“ hörte sie den Soldaten rufen.
„Es reicht jetzt.“ erwiderte der Mann mit den blauen Augen mit seiner rauen, tiefen Stimme.
Seine Schritte waren zu groß, sie konnte kaum so schnell mithalten. Als er nach etlichen Minuten endlich ihren Arm losließ, hatte sie das Bedürfnis weg zu rennen, aber der große Mann beugte sich zu ihr hinunter und legte seine Hände auf ihre Schultern: „Du musst tun, was man von dir verlangt. Sonst werden sie dir wieder weh tun, hörst du Linnai?“ sie wollte das alles nicht hören. Er hatte das Reh erschossen. Sie hatte sich so lange darum gekümmert, und er hatte es einfach erschossen. Es war ungerecht. Es war alles ungerecht.<<
Wie in Trance blickte Lynn sich verwirrt um. Von der soeben vorherrschenden Kälte ihrer Erinnerung war nichts mehr zu spüren. Noch immer stand sie vor dem verlassenen Stützpunkt der VCO. >>Das war heftig...<< Fiel ihr gedankliches Resümee aus, mit dem sie sich weiter zum ersten Gebäude des Stützpunktes bewegte. Was hatte diese Aktion für einen Sinn gehabt? War das Negans Ziel gewesen? Kinder so sehr zu traumatisieren? Oder wollte er ihnen nur jegliches Mitgefühl entziehen, damit sie kein Erbarmen mehr, für nichts und niemanden, empfanden?
Die eingestürzten Betonbrocken überstieg Lynn einfach. Die Innenwände des Gebäudes schienen noch Intakt. Es würde wohl keinen Keller geben, dachte Lynn, als sie das Moos und das Gras im inneren des Gebäudes betrachtete. Eine Decke oder ein Dach schien es nicht mehr zu geben, und Lynn lief weiter durch den Schutt und die Betonreste.
Es hatte eine Zeit gedauert, bis sie wieder einen Teil fand, der nicht bis in seine Grundfeste zerstört war. Die Sonne schien durch einige Löcher an den Außenmauern und Lynn betrat einen langen Flur. Es schienen einst die Baracken der Soldaten gewesen zu sein. Einzelne Zellenblocks waren noch zu erkennen. Einige Türen lagen in dem dunklen Gang, und gaben den Blick auf das innere der Zellen frei. Darin waren nur einfache Pritschen mit Ketten an der Wand befestigt. Lynn betrat eine dieser Zellen. Es war stockdunkel, aber sie konnte dennoch alles gut erkennen. Sie zog an dem massiven Metall-gestellt und die Pritsche löste sich von der Wand. Ein Bett. Der einzige Ort wo sie sich ausruhen konnte, vor langer Zeit. Lynn setzte sich mit einem unruhigen Gefühl in ihrem Inneren darauf. Nichts. Ihr Kopf war leer. Sie versuchte wieder in ihrer Erinnerung an Hershel anzukommen. Wie er neben ihr auf dem Bett saß. Wie sie die Pillen nicht nehmen wollte. Sakuyas beruhigende Stimme... .
>>Ein Klopfen ließ sie hoch schrecken. Die Jacke ihrer Uniform lag auf dem Bett, ebenso wie die dazugehörige Hose. Ein weiteres Klopfen ertönte. Bei dem hektischen Versuch sich zur Tür zu drehen, schmerzte der Verband um ihrer Schulter. Sie trug nur einen Slip. Wer klopfte so spät noch an ihrer Baracke? Die Türe öffnete sich und Sakuya kam herein.
„Warum antwortest du nicht?“ fragte er ruhig. Lynn drehte sich mit einem Mal von ihm weg. „Entschuldigen Sie.“ antwortete sie leise und blickte ungeduldig auf ihre Sachen, die noch immer auf dem Bett lagen. „Linnai, Negan will dich sehen. Es geht um einen Außeneinsatz.“ seine tiefe Stimme ließ Lynn nur noch nervöser werden.
„Dreh dich um, wenn ein Teamleiter mit dir spricht.“ fügte er ruhig hinzu. Aber Lynn schüttelte nur unsicher den Kopf. Seine Worte klangen weder bedrohlich noch wütend, aber Lynn wollte sich nicht umdrehen. Sie hatte obenrum nichts an. Sie konnte sich ihm doch so nicht zeigen. Jetzt, wo sich alles an ihr plötzlich veränderte.
„Ich... ich habe nichts an... .“ stammelte sie unsicher und leise. Sakuya schien einen Moment darüber nachzudenken, denn er schwieg.
„Okay, dann zieh dir etwas an, ich komme gleich wieder.“ sie hörte wie die Tür hinter seinen Schritten wieder zu fiel. Sie war erleichtert und zog sich zügig an, ehe sie aufrecht wartend vor der Tür stand.
„Bist du fertig?“ hörte sie Sakuya von draußen fragen.
„Ja, Sir.“ erwiderte sie erleichtert. Sakuya öffnete die Tür und sah einen Augenblick zu ihr hinab:
„Ab heute werde ich immer vor der Türe warten, bis du fertig bist.“
Seine Worte klangen endgültig. Warum hatte er das plötzlich mit solch einer Gewissheit gesagt? Lynn dachte daran zurück, wie er ihr vor einiger Zeit noch, immer beim Anziehen geholfen hatte. Das würde er jetzt wohl nicht mehr tun. Natürlich nicht, sie hatte ihn doch gerade weg geschickt. Hatte sie damit einen Fehler gemacht? War er enttäuscht von ihr?
Lynns ängstlicher Blick wanderte über Sakuyas schwarzes Shirt, hoch zu seinen Augen. Er sah sie noch immer nachdenklich an. Aber es war keine Enttäuschung und kein Hass darin zu erkennen. Seine Gesichtszüge waren ernst, wie immer, aber keine Spur von Enttäuschung .
„Du bist jetzt alt genug, um dich selbst anzuziehen. Ich habe dir alles gezeigt, du weißt wie es geht.“ waren seine abschließenden Worte, ehe er den langen Flur entlangging und Lynn ihm zügig folgte.<<
Lynn riss die Augen auf und sprang von der Pritsche um wieder in den Flur, aus dem sie gekommen war zu rennen. Sie folgte Sakuyas Richtung, die sie in ihrer Erinnerung gesehen hatte. Es roch moderig zwischen den alten Mauern. Eine Stahltreppe führte am Ende des Ganges hinauf, in ein weiteres Gebäude. Der Klang der Stufen unter ihren Füßen ließ ein vertrautes Gefühl in ihr aufkommen. Wo sie eben noch so hastig gelaufen war, hielt sie nun einen Augenblick inne. Es war als könnte sie Sakuyas Schatten noch immer sehen. Wie er die Treppe hinaufstieg. Sie ging weiter.
„Nichts.“ hörte Carver Hershels angestrengte Stimme aus dem oberen Stockwerk. Sie waren durch die Hintertür in das Haus gelangt, aber sein Inneres widersprach völlig der Fassade. Carver ließ sich ernüchtert auf einem staubigen Sessel fallen und betrachtete die verkohlten Wände des Wohnzimmers. An diesem Ort hatte ein Feuer gewütet, da war er sich sicher. Es schien lange niemand mehr da gewesen zu sein. Aber sie hatten weder Blut noch andere menschliche Überreste gefunden. Carver zündete sich eine Zigarette an, als er erneut Hershels Stimme aus dem Obergeschoss rufen hörte:
„Komm her, und sieh dir das an.“ Sofort stand er auf und lief die Treppe ins Obergeschoss hinauf. Er brauchte einen Augenblick, ehe er Hershel im Schlafzimmer fand. Auf dem verstaubten, aber gemachten Bett, lag ein großer Koffer. Einige Kleidungsstücke waren bereits eingepackt worden.
„Meinst du, das war Negan und die VCO?“ fragte Hershel schließlich nachdenklich.
„Gut möglich... .“ erwiderte Carver und dachte einen Augenblick lang nach. Hershel beobachtete ihn fragend, als er zum Telefon auf dem Nachttisch schritt und es abnahm.
„Der Strom wurde nicht abgeschaltet.“ stellte er fest, als das Freizeichen ertönte. Er suchte im Menü des Telefons nach der Nummer des Anrufbeantworters, und rief an:
„Keine neuen Nachrichten. Letzte Nachricht empfangen am 22. Oktober 2024, 0 Uhr 56. Nachricht wird wiedergegeben:
Diana! Du musst verschwinden! Du musst unbedingt verschwinden, irgendetwas stimmt nicht, ich werde verfolgt, du musst Valvar verlassen, hörst du? Carver ist verschwunden, ich kann ihn nicht mehr erreichen, wenn du das hörst, bitte sag ihm, er muss zu Vater kommen, er hat große Schwierigkeiten! Diana, bitte verschwinde so schnell wie möglich aus Valvar! Ahhh.
Nächste Nachricht empfangen am 15. Oktober 2024, 14 Uhr 17. Nachricht wird wiedergegeben:
Hey Diana, ruf mich an, wenn du das abhörst, ich habe dir tolle Neuigkeiten zu erzählen.
Keine weiteren Nachrichten. Vorhandene Nachrichten löschen?“ Carver hatte den Hörer bereits wieder auf den Nachttisch gelegt und fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. Die Stimme der Bandansage war so laut eingestellt, dass auch Hershel sie hatte hören können.
„Sie hat es bestimmt noch geschafft.“ versuchte er einige Aufbauende Worte für Carver zu finden. Er schwieg jedoch.
Lynn schien im ehemaligen Büro von Negan angelangt zu sein. Es überragte den gesamten Stützpunkt, und alles war durch eine mittlerweile zerstörte Panorama Fensterscheibe gut einsehbar gewesen. Die Spuren eines riesigen Schreibtisches zeichneten sich auf dem dunklen Dielenboden ab, der seltsamerweise kaum Verfallsspuren aufwies. An den Wänden hingen verblichene Notizen, zum Teil zerrissen, zum Teil auf den Boden gefallen und von der Witterung kaum noch lesbar. Auf einer Notiz standen die Worte „Disziplin“, „Durchhaltevermögen“ und „Effizienz“. Lynn lief durch den großen Raum, zu dem offenen Panoramafenster, dessen Scherben unter ihren Schuhen leise knackten. Sie blickte auf die andere Seite des Geländes, nicht auf die, von der sie gekommen war. Es war weitläufiger. Umrahmt von den riesigen Bäumen des Waldes, die sich langsam in herbstlichen Farben zeigten. Es war ein großer Parcours zu sehen, vermutlich war es einst das Trainingsgelände der Rekruten. Außer einer großen Kletterwand waren nur noch Spuren der Verwüstung zu erkennen. Lynns Blick wanderte weiter über das Gelände. Mittig fand sich ein riesiger asphaltierter Platz, und daneben wieder einige leere Fahnenmaste auf denen nur einzelne Vögel saßen, die Lynn noch nie zuvor gesehen hatte. Ein erneuter Blitz durchzog ihren Körper. Sie schien jegliche Bodenhaftung zu verlieren und begann zu zittern.
>>“Du weißt warum du hier stehst, Soldat?“ schrie ihr eine tiefe Männerstimme von hinten ins Ohr. Natürlich wusste sie es: Weil alles an diesem Ort ungerecht war. Sie wollte das Reh nicht erschießen, das hatte der Soldat direkt Negan berichtet. Und das war nun ihre Strafe.
Es war mitten in der Nacht. Ohne Vorwarnung hatte man sie aus dem Bett ihrer Baracke gerissen und sie nur in einem T-Shirt nach draußen auf den Übungsplatz geschliffen. Obwohl sie mit dem Gesicht zur Wand stand, konnte sie spüren, wie Negan sie von oben, aus seinem Büro beobachtete. Es war aussichtslos, niemand würde ihr helfen, wenn er zusehen würde. Sie versuchte sich auf das kommende vorzubereiten. Sie hörte den harten Strahl aus dem Wasserschlauch strömen, als der Soldat der hinter ihr stand, endlich das Okay für das Wasser von einem Kollegen bekommen hatte. Schon jetzt war ihr bitterlich kalt. Es war mitten im Winter, ihr Atem gefror in den wenigen Flutlichtern des Platzes. Das Zittern ihrer Beine wollte nicht mehr aufhören. Lynn wusste nicht mehr ob es Angst oder die Kälte war. Das bisschen Schlaf was man ihr gelassen hatte, war damit auch hinfällig. In wenigen Stunden müsste sie wieder zum Training aufstehen. Ein kräftiger eiskalter Ruck zwang sie in die Knie. Es war wie ein Blitzschlag, der ihren kleinen Körper durchfuhr. Lynn fiel auf ihre Hände.
„Aufstehen!“ schrie wieder jemand und das Wasser wurde abgestellt. Ihr nasses Shirt klebte an den Konturen ihres Körpers, und der Wind ließ sie noch erbärmlicher frieren. Ein erneutes Kommando für das Wasser, und wieder wurde Lynn von dem eisigen Schub zu Boden geworfen. Sie spürte wie ihre Hände und Füße allmählich durch die Kälte und den Asphalt aufrissen.<<
Schockiert stand Lynn am Fenster der Ruine und blickte auf ihre mittlerweile filigranen Finger. Es war ein riesiger Unterschied zu denen, die sie in der Erinnerung gesehen hatte. Sie musste noch sehr jung gewesen sein. Und wieder durchzogen Blitze ihren Körper.
>>Das Zittern hatte in den letzten zwei Stunden noch immer nicht aufhören wollen. Es war eisig, selbst unter Sakuyas Jacke und der Bettdecke, als das Licht ihrer Baracke anging und sich die Türe öffnete.
„Du musst aufstehen, das Training beginnt gleich.“ ertönte die erbarmungslose Stimme eines Soldaten, den Lynn noch nie zuvor gesehen hatte. Er zog ihr die Decke weg, und blickte einen Augenblick lang verwundert auf die große Männerjacke, die über dem kleinen Mädchen lag. Aber auch sie riss er von ihr hinunter.
„Du solltest hier nicht mit sonem Mist anfangen. Mach was man dir sagt.“ brummte er genervt und holte aus einem Spind, der der Pritsche auf der Lynn sich langsam aufrichtete, gegenüberstand, ihre Uniform. Er warf sie ihr hinüber.
„Zieh dich schon an.“ brüllte er. Lynn folgte seinen Worten so schnell sie konnte, hatte jedoch Probleme ihre Stiefel zu binden. Der Soldat verdrehte schnaubend die Augen:
„Was hat Negan sich bei einem Kind nur gedacht?“ fragte er genervt und band Lynns Stiefel mit so viel Wut, dass sie erstmals wieder ihre Füße spüren konnte.
„Na los.“ wies er sie an, und sie folgte ihm ein wenig wackelig. Vor ihnen reiten sich einige junge Männer ein, die ihnen ebenfalls nach draußen, zu dem großen Trainingsplatz folgten. Das helle Licht der Flutlichter blendete Lynn und sie kniff, noch immer im Halbschlaf, ihre Augen zu. Die eisige Morgenluft, und das nasse Shirt, welches sie unter ihrer Uniform trug, ließen sie zittern.
„Antreten.“ ertönte die Stimme des Teamleiters und Lynn bemühte sich einen festen Stand einzunehmen. Das Zittern ließ sich jedoch nach wie vor nicht abstellen. Die Männer, die neben ihr standen schwiegen. Ihre Gesichter sahen stumm geradeaus in die Richtung des Waldes.
„Das gleiche wie gestern. Ihr trainiert im Zweikampf, keine Waffen. Somin und Hiroga, ihr müsst heute mehr auf eure Abwehr achten. Katsuya, du trainierst mit Linnai.“
Ein verächtliches Schnauben ertönte direkt neben ihr.
„Los.“
Ein harsches Stimmengewirr lag über dem Übungsplatz. Verschiedene Gruppen trainierten die unterschiedlichsten Kampfstile. Es waren hauptsächlich Männer unter den Rekruten.
Lynn stand nun endlich Katsuya gegenüber, und sie musste feststellen, dass es der Mann war, der sie gestern dazu zwingen wollte, das Reh zu erschießen. Er sah ihr selbstsicher entgegen.
„Ist kalt heute was?“ fragte er selbstgefällig. Lynn ballte die Fäuste. Er war das alles schuld gewesen. Dass man sie mit dem Wasserschlauch etliche Stunden gefoltert hatte. Es war allein seine Schuld, denn er hatte alles Negan verraten. Lynn sah wie seine Lippen einen weiteren Satz formulieren wollte, aber da ging sie bereits mit den erst kürzlich gelernten Kampftechniken auf ihn los. Er schien verwundert darüber zu sein, dass ein so kleines Mädchen, so flinke Schläge austeilen konnte. Das Zittern und die Kälte waren vergessen. Lynn wollte nur noch ein: diesem Mann so weh tun, wie man es ihr angetan hatte. Ein lauter Schrei ließ sie wieder zur Besinnung kommen und sie erblickte wie sich Katsuya wimmernd vor ihren Füßen wand. Er hielt sich den rechten Arm und rollte hilflos von links nach rechts. Lynn blickte sich um, der Teamleiter schien nichts davon bemerkt zu haben, einige andere Rekruten sahen jedoch zu ihr rüber und lachten. Lachten sie sie etwa aus? Trauten sie ihr etwa nicht zu, einen erwachsenen Mann zu besiegen? Ihre Gefühle, von Wut und Zorn getrieben, nahmen überhand. Sie sah suchend über den Boden, aber da war nichts, was sie als Waffe hätte verwenden können. Katsuya wimmerte immer noch, und als er wieder im Begriff war aufzustehen, entledigte Lynn sich innerhalb von Sekunden, ihrer Uniformjacke und schwang sie mit einem Hieb um seinen Hals. Er krächzte dumpf unter Lynns ziehen und reißen. Es verstrichen einige Sekunden, in denen sie ihr Umfeld völlig vergaß. Die Genugtuung Katsuyas panisch aufgerissene Augen zu sehen und sein erstickendes Ächzten zu hören, beruhigte sie. Und als zwei starke Hände sie von ihm wegrissen, realisierte sie, dass Katsuya verstummt war, und reglos am Boden lag. Sein selbstgefälliges Gesicht hatte eine eigenartig blau-rote Farbe bekommen.
„Bringen Sie sie sofort rein!“ hörte sie ihren Teamleiter schreien. Aber ihr Blick wollte nicht von Katsuyas leblosen Körper abweichen. Jetzt lag auch er da, wie das kleine Reh, ganz still. Jemand riss sie mit sich, schleifte sie beinahe hinter sich her. Die hellen Neonlichter eines fremden Ganges zogen an Lynns Augen vorbei, ehe sie das Geräusch einer Tür vernahm, und dann erkannte sie, dass es das Zimmer war, in dem sie einmal die schöne Jacke geklaut hatte.
„Du kommst erst mal unter die Dusche, du bist Eiskalt. Danach kann ich dich immer noch in Gewahrsam bringen.“ sagte eine vertraute Stimme und Lynn fand sich endlich wieder imstande das Bild des blauen Katsuyas loszulassen. Sie blickte in das angespannte, aber vertraute Gesicht von Sakuya.
„Zieh deine Sachen aus.“ befahl er ihr, während er in einem Nebenzimmer verschwand und Lynn das Geräusch von einer Dusche vernahm. Wollte er sie jetzt auch mit dem eisigen Wasser bestrafen? Aber Kasuya hatte verdient was sie getan hatte. Festgebunden zu sein, und voller Angst zu schnauben, wie das kleine Reh im Wald. Nur hätte man noch auf ihn schießen müssen. Ja, da fehlte ein Schuss. Dann hätte er bekommen, was er verdient hatte.
Die schweren Schritte von Sakuya ließen sie wieder aufmerksam werden. Er sah sie nachdenklich an und griff schließlich nach ihrer Hand.
„Komm, du kannst dich auch hier ausziehen.“ sagte er ruhig, während er sie mit, in den großen Duschraum, nahm. „Seife liegt dort, und ein Handtuch ist da. Ruf mich einfach wenn du fertig bist, ich hole dir jetzt erst einmal trockene Sachen.“ erklärte er ihr. Dunst des warmen Wassers aus der Dusche erfüllte den gekachelten Raum. Er wollte sie nicht bestrafen. Und auch am Vortag hatte er das Reh nur erschossen, weil es sein musste. Sakuya Kira war ein guter Mann. Er hatte Lynn seine Jacke überlassen. Er wollte ihr nicht weh tun. Als ihr diese Erkenntnis kam, hatte er den Raum bereits verlassen. Lynn blickte verzweifelt zu ihren Stiefeln hinunter. Der Teamleiter hatte sie so fest geschnürt, dass sie sie wohl nicht mehr alleine auf bekommen würde.
Der Versuch mit Stiefeln zu duschen erwies sich als nicht sonderlich effektiv. Ihre Füße waren noch immer Eiskalt, und nun auch ein wenig nass. Vielleicht konnte sie Sakuya fragen ob er ihr hilft? Sie stieg mit den nassen Schuhen, etwas unbeholfen, aus der Dusche und legte das viel zu große Handtuch um sich. Wenigstens ihre Hände waren jetzt wieder warm und sie hatte wieder ein Gefühl in ihren Fingern. Die Schnürsenkel ließen sich jedoch noch immer nicht lösen. Unsicher öffnete sie die Tür. Sakuya saß an einem großen Schreibtisch, mit dem Rücken zu ihr, und drehte sich bei ihren quietschenden Schritten fragend um. Ein ernüchterndes Lächeln verlief über seinen Lippen und er stand augenblicklich auf und kam zu ihr.
„Du hast sie wohl nicht alleine auf bekommen.“ bemerkte er leise und kniete sich vor sie, um ihre Schnürsenkel zu lösen. In Lynns Bauch kribbelte es. Er machte das so schön. Mit so viel Geduld, und er brüllte sie auch nicht, wie die anderen Männer, an.
„So, sie sind jetzt offen.“ sagte er schließlich und sah in Lynns nachdenkliches Gesicht. Er hatte so schöne Augen. Seine schwarzen Haare glänzten ein wenig in dem Neonlicht. Sie musste ihn einfach berühren. Sie musste wissen wie sich seine Haut anfühlte. Hatte sie überhaupt einmal Haut berührt, außer ihre eigene? Das kleine Reh war weich gewesen. Ihre Bettdecke war sehr kratzig und Beton war rau. Der Sand in der Wüste war warm, aber auch rau. Und die schöne Jacke war ganz weich. Genau wie das Reh. Wie würde sich Sakuya anfühlen? Lynn streckte neugierig ihre Hand nach seinem Gesicht aus. Zu ihrem erstaunen brüllte er nicht. Er blieb ganz ruhig und sah sie nur stumm an, während ihre kleine Hand über seine Wange glitt und schließlich über seine Lippen. Er war weich. Genau wie Lynn es vermutet hatte. Sakuyas Haut war weich und warm. Fast so gut wie das Reh, aber nicht ganz. Sie zuckte zusammen, als seine Hand nach ihrer griff und sie vorsichtig wieder zurück zu ihrem Handtuch führte. Seine Hände waren auch weich, aber nicht ganz. Sie hatten etwas raues. Wie Beton..., nein, kein Beton, eher wie Sand... nein auch kein Sand. Anders. Sie fühlten sich einfach anders an.
„Du kommst für zwei Tage in Gewahrsam. Ich werde dich dorthin bringen. Was du heute getan hast, war nicht richtig. Katsuya war nicht der Feind. Er war ein Freund. Und wir verletzten einander nicht.“ Seine Worte klangen ernst. Hatte Lynn wirklich einen Fehler gemacht? Wie kann er ein Freund sein? Was ist überhaupt ein Freund? Ist Sakuya ein Freund? Ist Negan ein Freund? Ist der Doktor ein Freund? Lynn war verwirrt.
„Du darfst nie wieder einen von uns verletzten, sonst bekommst du wieder eine Strafe.“
Die Strafen waren Lynn eigentlich egal. Der Schmerz verging von Zeit zu Zeit. Aber die Ungerechtigkeit die sie spürte war schlimm. Sie fühlte sich so unverstanden. Immer wollten alle etwas von ihr. Aber nur die wenigsten Dinge machten Sinn.
Sakuya war mit Lynn einen weiteren unbekannten Gang entlang gelaufen. An seinem Ende wartete wieder das Außengelände. Aber ein anderes, als das was Lynn kannte. Sie konnte ein kleines fensterloses Gebäude in der Ferne erkennen, und sie ahnte wohin Sakuya sie bringen würde.
Als er die schwere Metalltüre öffnete blickte sie in völlige Dunkelheit. Es war kalt darin, noch kälter als das Gelände im Morgengrauen.
„Zwei Tage, dann hole ich dich wieder ab.“ verabschiedete sich Sakuya, schob sie hinein und schloss die Türe hinter ihr.<<
Die Umgebung war noch immer die selbe. Lynn stand an dem offenen Fenster in dem ehemaligen Gelände der VCO. Hektisch realisierte sie, das soeben Erinnerte. Ich Blick blieb an einem beinahe unversehrten kleinen Gebäude, am Rande des Waldes, hängen. Das musste es sein. Das musste das Gebäude sein, in das Sakuya sie damals gebracht hatte. Sie machte sich hektisch auf den Weg dorthin.
Carver suchte entmutigt in einigen Schubladen nach Hinweisen, wohin Diana wohl geflüchtet sein könnte. Vermutlich war sie bereits nicht mehr an diesem Ort, aber er würde ihm Aufschluss darüber geben, wo er sie letztendlich finden könnte. Eine kleine selbstgeschriebene Notiz viel ihm in die Hände und er hielt inne.
„Ist es möglich, dass sie sich bereits damals einigen Widerstandskämpfern angeschlossen hatte?“ hörte er Hershels nachdenkliche Stimme direkt hinter sich im Wohnzimmer.
„Ich weiß es nicht. Aber hier auf dem Zettel steht zumindest eine Adresse, und der Name Ridorana Katarakt.“ erwiderte Carver. „Ein ungewöhnlicher Name.“ pflichtete Hershel ihm bei.
„Vielleicht ist es eine Gruppe wie Yad Wa Shem. Die sich aus der Stadt und vor Negans Sanktionen zurück gezogen hat.“
Lynn hatte das fensterlose Gebäude erreicht. Die Türe lag einige Meter weiter, inmitten der ersten Bäume des Waldes. Ansonsten wirkte alles unversehrt. Sie wagte einen Blick ins innere. Nichts außer Moos und einiger erschrockener Nagetiere fielen ihr ins Auge. Sie machte einen Schritt bei Seite und einige Mäuse suchten das Weite. Im Inneren roch es modrig und nach Schlamm. Lynn setzte sich auf den Boden und starrte zur Tür hinaus, auf die letzten Asphaltreste die noch nicht von Pflanzen überwuchert waren. Und ihre Erinnerungen brachen abermals über sie herein.
>>Lynn konnte nur vermuten, dass die zwei Tagen bald um sein müssten. Über der Türe war ein winziger Spalt durch den Tageslicht fiel. Er war beinahe nicht zu bemerken. Aber wenn es hell war, wurde es unerträglich heiß. Vielleicht hatte die Sonne geschienen und heizte das Gebäude so sehr auf, dass Lynn beinahe keine Luft mehr bekam. Wenn es so war, musste sie an die Wüste denken. Daran, dass sie dort an einem ähnlichen Platz gefangen war. Nur es roch nie so modrig wie hier. Und der Boden fühlte sich auch nicht so feucht an. In der Wüste war er aus Sand und einigen Steinen. Sie waren tückisch, denn wenn man sie übersah und drauf trat, tat es sehr weh und manchmal blutete es. Aber Lynn mochte die Hitze mehr als die Kälte. Und da, wo sie nun war, wurde es bitterlich kalt, wenn es draußen dunkel wurde. So kalt, dass Lynn sich die Hitze des Mittags wünschte. Sie hatte schrecklichen Hunger. Aber noch mehr wünschte sie sich die warme schöne Jacke. Und plötzlich hörte sie Schritte und Stimmen von draußen. Eine der Stimmen erkannte sie sofort, es war der Doktor. Die andere Stimme war noch zu weit weg. Was wollte der Doktor hier? Wollte er ihr wieder diese bitteren Tabletten zu Essen geben? Oder wieder eine Spritze? Lynns Magen zog sich zusammen. Nun hörte sie nur noch den Doktor sprechen und endlich öffnete sich die Tür. Lynn erspähte die Umrisse des Doktors und hielt sich die Augen zu. Es war so hell. Eine Hand griff nach ihr und sie spürte wie man ihr etwas über die Schultern legte. Als sie ängstlich ihre Augen wieder öffnete sah sie in das nachdenkliche Gesicht des Doktors: „Deine Strafe ist endlich vorbei.“ sagte er etwas schwermütig. Lynn blickte auf ihre Schultern und sah, dass er ihr die weiche Jacke mitgebracht hatte. Sie freute sich. Aber noch ein bisschen mehr freute sie sich, als der Doktor zur Seite trat und sie Sakuya sah. Er hatte sie wirklich wieder abgeholt. Er hatte sein Wort gehalten und sie wieder geholt. Ein Lächeln fuhr durch ihr Gesicht, als sie ungeschickt auf ihn zu stürzte und seine Hüfte umklammerte. Sie spürte wie seine großen Hände durch ihre Haare fuhren und über ihren gesamten Kopf.
„Du hast eine Verbindung zu ihr. Sie sieht in dir eine Bezugsperson.“ bemerkte Hershel und betrachtete die junge Lynn, wie sie Sakuya gar nicht mehr loslassen zu wollen schien. „Es braucht seine Zeit, Negan ist stur, das wissen wir beide, aber ich werde ihn davon überzeugen, dass sie in dein Team versetzt wird.“ erklärte er anschließend.
„Aber zuerst solltest du ihr etwas zu essen geben. Sie hat viel Gewicht in den zwei Tagen verloren.“
Lynn fand sich in dem großen Aufenthaltsraum wieder, indem sonst alle Soldaten gleichzeitig aßen. Es war immer nur viel zu wenig Zeit. Aber sie war dankbar für das Essen was man ihr gab. Wie es schmeckte wusste sie nicht recht. Aber es machte sie immer ein bisschen satt. Sonst war es hektisch und laut. Die Teamleiter aßen stets in einem eigenen Bereich. Die anderen Rekruten stritten oft um Plätze. Lynn war immer ruhig und still geblieben. Sie wollte nur schnell essen. So hatte sie sich angewöhnt, dies im Stehen zu tun.
Aber jetzt war es anders. Sie saß auf einer Bank, mitten in dem leeren Essbereich. Es war ganz Still. Niemand anderes war dort, außer Sakuya, der mit einer Schüssel Suppe zu ihr kam, und sie vorsichtig vor ihr abstellte. Sie konnte nicht glauben, dass so eine große Schüssel für sie alleine sein sollte. Das war viel zu viel. Die Zeit würde gar nicht reichen um alles zu essen. Lynn sah Sakuya mit unsicheren Augen an. Ohne ein Wort schien er ihren Einwand zu verstehen. Aber irgendwie tat er das immer. Die anderen brüllten immer nur, aber Sakuya Kira war ruhig. Wenn er etwas sagte, dann mit dieser angenehmen rauen und tiefen Stimme. Er hatte eine schöne Stimme, fand Lynn.
„Du hast so viel Zeit wie du willst. Und wenn du nicht mehr möchtest, dann lass den Rest einfach stehen.“ erklärte ihr Sakuya leise. Lynn betrachtete unsicher die Suppenschüssel und dann wieder Sakuyas Gesicht. Er schien es wirklich ernst zu meinen. Aber hatte er denn keinen Hunger? Schließlich würde die Suppe sicherlich für sie beide reichen... .
Lynn entschied sich den ersten Löffel Suppe, ihm hin zu halten. Gespannt wartete sie auf seine Reaktion.
„Ich habe keinen Hunger Linnai.“ erwiderte er nur mit einem leichten Lächeln. Hatte er wirklich keinen Hunger? Er hatte doch auch den ganzen Tag trainiert, wie die anderen? Lynns Blick ging an ihm vorbei, durch ein kleines vergittertes Fenster. Draußen war es dunkel. Die Essenszeit war schon vorüber. Aber war er wirklich satt? Unter Sakuyas beobachtenden Augen hielt sie ihm erneut den Löffel Suppe hin. Er musste einfach Hunger haben, so wie sie.
„Wenn ich den Löffel Suppe esse, isst du dann auch?“ fragte er schließlich, nach einigen Sekunden des Schweigens. Lynn nickte freudig, und beobachtete wie Sakuya den Löffel Suppe aß. Ohne das er etwas sagen musste, begann sie anschließend zu essen. Jetzt war er auch satt, und sie konnte guten Gewissens essen. Es war richtig so, dachte Lynn. Denn Sakuya war ein Freund, das hatte sie in Gewahrsam beschlossen, und Freunden tut man nicht weh. Also muss man sich darum kümmern, dass es Freunden auch gut geht. Und wenn Freunde Hunger haben, dann geht es ihnen eben nicht gut.<<
Lynn saß mittlerweile schmunzelnd an der Außenmauer des kleinen Gebäudes gelehnt und beobachtete wie sich das Gras im Wind bog. Das war eine wirklich schöne Erinnerung gewesen, dachte sie. Wie Sakuya gelächelt hatte, als sie ihm den Löffel hingehalten hatte. Natürlich hatte sie diese Augen nie vergessen können. Den Mann, dem sie als junges Mädchen so vertraut hatte.
„Ein Freund...“ flüsterte Lynn leise und noch immer lächelnd. Und doch bemerkte sie in diesem friedlichen Augenblick nicht, dass sie Jemand beobachtete.
Hershel und Carver hatten telefoniert. Sie hatten noch ein kleines Adressbuch gefunden und waren die Adressen durchgegangen, aber alle mit denen sie sprachen, wussten nicht wo sich Diana zur Zeit aufhielt. Die beiden Männer saßen in der Küche und Carver reichte Hershel eine Zigarette.
„Warum tun Sie das?“ fragte er schließlich und schenkte sich und Hershel ein Glas Whiskey ein, der in einem Regal im Wohnzimmer gestanden hatte. Hershel sah nachdenklich zum Fenster raus. Es hatte begonnen zu dämmern.
„Es gibt wohl sehr viele Dinge die ich in meinem Leben verkehrt gemacht habe. Ich hatte eine Menge Zeit nach der VCO, in dem Camp Yak Wa Shem, um darüber nachzudenken.“ Carver betrachtete Hershels alte Augen, die ein wenig senil, auf die goldene Flüssigkeit in seinem Glas, blickten.
„Es ist die gleiche Frage: Warum tust du das alles? Warum suchst du Diana? Warum willst du dich unbedingt ihrem Hass stellen, und ihren Zorn erleben?“ Hershels Worte ließen Carver schweigen. Er dachte eine Zeit lang nach und nickte schließlich nur stumm.
„Ich kann nicht ungeschehen machen was passiert ist, aber ich kann versuchen den weiteren Verlauf zu richten. Ich kann eine Hilfe sein, für das, was meiner Meinung nach jetzt das Richtige ist.“
Lynns Weg hatte sie zu den Gemeinschaftsduschen, in ihrem ehemaligen Barackenblock, geführt. Sie hatte sich einen Augenblick lang konzentriert, aber es wollten keine weiteren Erinnerungen aufkommen. Als sie schließlich wieder zum nördlichen Übungsplatz gelangt war, der mittlerweile in ein schwaches Orange der Abendsonne gefärbt war, war ihr für einen Augenblick als würde sie Sakuyas Schatten sehen.
>>Ihr Teamleiter hatte ihr eine lange Predigt gehalten, was das verletzten von Kollegen betraf. Sie war sich sicher, begriffen zu haben, dass sie niemandem von der Basis Schaden zufügen sollte. Während sie sich aufstellten, zu einem weiteren Kampftraining am Abend, kam sie nicht umhin immer wieder Sakuya Kira zu beobachten, der mit seinem Team am anderen Ende des Platzes trainierte. Er sprach nicht sonderlich viel, das konnte sie sehen, aber dennoch agierte seine Truppe problemlos. Keiner der Männer sah ihm direkt ins Gesicht, wenn er einmal seine Worte an sie richtete. Alle blieben auf großem Abstand zu ihm, aber sie schienen ihn voll und ganz zu respektieren. In Lynns Gruppe hingegen schrie der Teamleiter stets. Es herrschte eine gewisse Unruhe. Und gerade als er Lynn für einen Zweikampf einteilen wollte, viel ihm ein weiterer Teamleiter ins Wort:
„Linnai, du sollst zu Doktor Porter kommen.“ Ihr Blick wanderte augenblicklich zu Negans Arbeitszimmer an der Spitze der Basis, aber es brannte kein Licht. War er etwa nicht da? Wartete er vielleicht bei dem Doktor auf sie? Würde man mit ihr die gleichen Dinge anstellen, wie in der Wüste? Ehe sie reagieren konnte, spürte sie eine große Hand auf ihren Schultern:
„Linnai, wir gehen jetzt.“ es war Sakuyas Stimme. Es war seine warme Hand. Unter den fragenden Blicken der restlichen Soldaten, nahm er sie mit sich. Der Weg in das Labor war ihr nicht unbekannt. Und sie konnte sich nur noch daran erinnern, dass sie bei dem Doktor immer gut und lange schlief. Manchmal war sie aufgewacht, nachdem man sie zu ihm gebracht hatte, und sie fand ein Pflaster auf ihrem Arm, oder an anderen Stellen ihres Körpers.
„Das was kommen wird, wird nicht einfach werden. Es wird weh tun. Aber sei dir sicher, es ist nötig, damit Negan dich in Ruhe lässt. Es wird dich stärker machen.“ sprach Sakuya leise, während er mit einer kleinen Karte, die schwere Türe zum Doktor öffnete. Sein Labor war riesig. Darin waren viele Dinge, die Lynn nicht kannte. Es dauerte einen Augenblick ehe Hershel aus einem weiteren Raum zu ihnen kam.
„Das ist gut.“ erwiderte er erleichtert und Lynn sah zu Sakuyas Gesicht hinauf, der dem Doktor zunickte.
„Wir haben nicht viel Zeit. Hast du Negan die Pillen gegeben?“ fragte Hershel angespannt und Sakuya nickte erneut:
„Der Whiskey wurde ihm wohl zum Verhängnis.“ erwiderte Sakuya ruhig und packte Lynn, um sie auf einen großen, kalten Tisch zu setzten.
„Gut. Wir haben etwa eine Stunde für ihren Scan. So lange sollte Negan von den Pillen noch schlafen. Das Geomas muss sie bekommen, so oder so. Aber wir haben die Zeit, die Ergebnisse zur Not zu fälschen. Nur für den Fall das etwas darin nicht zu Negans Plänen passen könnte.“ fuhr Hershel fort und zog eine kleine Spritze auf. Als Lynn entdeckte, was er da gerade tat, sprang sie hektisch von dem Tisch. Aber ehe sie entwischen konnte, hatten Sakuyas Hände sie bereits gefasst und setzten sie erneut auf den kalten Tisch aus Metall.
Er betrachtete sie, und ihre Augen verrieten ihm, welche Angst sie hatte.
„Mach dir keine Sorgen, so schaut sie immer. Wir sollten sie fixieren.“ schlug Hershel vor, während er die Spritze auf einem weiteren Tisch ablegte.
„Nein.“ antwortete Sakuya knapp und beugte sich ein Stück zu Lynn hinunter, um ihr in die Augen sehen zu können:
„Es tut weh, ich weiß das. Aber du musst uns uns vertrauen.“ sprach er ruhig. Lynn sah in seinen Augen, wie ernst er es meinte. Was sollte sie tun? Versuchen zu fliehen? Sakuya wäre viel schneller als sie. Im nu würden seine Hände wieder nach ihr greifen. Sie musste es einfach über sich ergehen lassen, auch wenn sie es hasste. Bilder aus der Wüste schossen ihr vor Augen. Man hatte dort das gleiche versucht. Aber es hatte immer weh getan. Wieder und wieder. Und irgendwann, kam keiner mehr in ihr Gefängnis, sondern man schoss auf sie, und dann wurde sie sehr müde.
„Wir werden nun einen Scan von dir anfertigen. Das bedeutet wir werden schauen, was in der Biochemie deines Körpers vor sich geht. Vielleicht finden wir auch heraus, warum du nicht mit uns sprichst. Ich werde dir gleich Blut abnehmen und dich röntgen. Aber weil ich weiß, dass du es nicht magst, werde ich dir eine kleine Spritze geben. Sie liegt dort drüben auf dem Tisch, siehst du? Du wirst einschlafen, und in deiner Baracke wieder aufwachen. Dir wird nichts weh tun. Aber es ist wichtig, dass wir das tun, damit wir wissen, warum du so anders bist. Hast du das verstanden?“ die Stimme des Doktors klang ernst aber warm. Lynns Blick glitt wieder zu Sakuyas Gesicht, der noch immer vor ihr stand und sie musterte. Er schien zu ahnen, was sie gerade dachte. Und ein Kopfschütteln ihrerseits, bestätigte seinen Verdacht nur.
„Geben Sie sie mir.“ forderte Sakuya Hershel schließlich dazu auf, ihm die Spritze zu geben. Hershel zögerte nicht und reichte sie ihm. Er entfernte die Schutzkappe. Lynn beobachtete ihn, wie er zügig seine Jacke auszog und sich neben sie setzte.
„Pass jetzt gut auf.“ sagte er und Lynn sah zu, wie Sakuya sich einen Teil der Spritze in seinen geäderten Unterarm injizierte. Lynn war verwundert. Er hatte nicht einmal das Gesicht dabei verzogen. Es blieb ein kleiner blutiger Fleck an seinem Arm zurück.
„Siehst du, es ist ein Schmerz der gut auszuhalten ist.“ erklärte er schließlich, mit rauer Stimme. Hershel stand, etwas verwirrt, vor den Beiden, und füllte die Spritze erneut.
„Gib mir deinen Arm Linnai.“ forderte er sie schließlich auf. Lynn zog ihre Jacke aus, wie Sakuya es zuvor getan hatte. Ihr Blick ruhte jedoch die ganze Zeit in Sakuyas Gesicht und seinen blauen Augen. Sie reichte Hershel ihren Unterarm und ein stechender Schmerz durchfuhr ihn. Sie wollte sich wehren, aber Sakuyas Hände lenkten sie zu sehr ab. Er hatte seine Jacke über ihre Schultern gelegt. Seine Augen verrieten ihr, dass es nichts zu befürchten galt. Bereits nach wenigen Sekunden spürte sie, wie sie sehr müde wurde. Sie konnte noch Hershels Stimme hören, der etwas von einer Gen-Therapie erwähnte und einem Wappen, aber dann schlief sie ein.
Als sie wieder erwachte stand ihr Teamleiter in ihrer Baracke, und forderte sie auf, das Bett zu verlassen und sich für das Training anzuziehen.
Der Doktor hatte recht gehabt; ihr tat nichts weh. Das freute sie.<<
Verwundert über die soeben vorbeigezogenen Erinnerungen richtete Lynn sich langsam wieder auf. Sie hatte eine gemütlichere Pose eingenommen, und sich in der Dämmerung unter einen Baum am Ende des Geländes gesetzt. Wann war Sakuya so verhärtet? Wann kam all die Verschlossenheit und Stille über ihn? Was war geschehen, dass er sich bis heute so verändert hatte? Es war ihr ein Rätsel, während sie langsam, jedoch leichtfüßig durch einige Betontrümmer schritt. Ihr Blick glitt über die zerfallenen Mauern des Hauptgebäudes und da war erneut dieses Gefühl in ihr, als hätte sie Sakuyas Schatten, in einer der oberen Etagen, gesehen. Es war wohl nur ihre Einbildung gewesen. Ihr Kopf spielte ihr aufgrund der viele Erinnerungen wohl Streiche. Dennoch beschloss sie wieder ins Innere vorzudringen, in der Hoffnung Hershels altes Labor finden zu können. Während sie in der abendlichen Dämmerung und dem leichten Wind der aufgekommen war, durch die Trümmern bewegte, musste sie an Carver denken. In einem Moment, in der es ihr solche Genugtuung verlieh, sich endlich an so vieles zu erinnern, fragte sie sich dennoch wie ihm gerade zu mute war. War das ganze eskaliert? Würde Elaìnes Schwester jetzt vielleicht tot in ihrem Haus liegen? Hätte sie Carver vielleicht verletzt? Bei dem Gedanken schauderte es ihr. Er war ihr schließlich in der Zeit, die sie an seiner Seite verbracht hatte, ein wichtiger Mensch geworden. In den Bergen hatte er in nur wenigen Stunden beinahe ihre innersten Gefühle wahrnehmen können. Er hatte eine Erinnerung an ihre Vergangenheit, mit ihr, geteilt. Und obwohl er sie so manches Mal mit diesem einen Blick angesehen hatte, war er ihr nie zu nahe gekommen. Stets versuchte er die Distanz zwischen ihnen zu wahren. Und das, obwohl Lynn ihm genug Angriffsfläche geboten hatte. Wenn er sprach hatte es immer etwas beruhigendes. Seine Worte verließen stets so gewählt seine Lippen. Nicht poetisch, aber es war vergleichbar. Er hatte solche eine Tiefe in seiner Stimme. In seiner Wortwahl. Und doch verschloss er sich, wenn es um seine Vergangenheit ging. Versuchte es zu vermeiden, über Elaìne zu sprechen. Dieser starke Mann, dieser Soldat, hatte Lynn nur wenige Male seine verletzliche Seite gezeigt. Und doch reichte es ihr, damit sie begriff, wie wichtig diese Reise für ihn eigentlich war. Lynns Überlegungen fanden ein jähes Ende, als sie vor der erinnerten, massiven Türe zu stehen kam, die sie noch kurz zuzvor gesehen hatte. Sie stand vor Hershels Labor. Brandspuren bedeckten die Wände. Die massive Türe stand einen Spalt offen, so dass Lynn sich mit Mühe hindurch zwängen konnte. Der Anblick der sich ihr bot, überwältigte sie beinahe. Aber es waren keine positiven Gefühle dir in ihr ausgelöst wurden. Teile der Wassertanks, in denen auch Lynn anscheinend einige Male gesteckt hatte, reihten sich an einer langer Wand entlang. Sie waren zersprungen, Scherben lagen im gesamten Labor verteilt auf dem Boden. Hier schien ein enormer Brand gewütet zu haben. Zumindest erklärte diese Schlussfolgerung, die schwarzen Spuren an den Wänden. Kaputte Computermonitore lagen neben einigen umgekippten Baren und Operationstischen. Einige verkohlte Notizen fanden sich dazwischen. Lynn erschrak als sie auf etwas Weiches trat. Sie bückte sich und hielt einen weißen Arztkittel in den Händen. Das schwache Licht, das durch einen Teil der eingestürzten, meterhohen Decke fiel, ließ sie ebenfalls dunkle Flecken und Ruß daran erkennen. War es möglich, dass Negan die ganze Anlage angezündet hatte? Helle Lichtblitze begannen vor Lynns Augen zu wüten, und ehe sie wieder von Erinnerungen überflutet wurde, ließ sie sich auf einem verdreckten Operationstisch nieder und schloss die Augen, in den Händen noch immer den Kittel haltend.
>> Sie saß erneut in dem Labor des Doktors. Das grelle Neonlicht der Decke blendete ihre müden Augen etwas. Aber man hatte ihr gesagt, dass die heutige Behandlung wichtig sei. Der Doktor hatte sie selbst im Morgengrauen aus ihrer Zelle abgeholt. Von Sakuya Kira war keine Spur, das enttäuschte sie ein wenig. In den vergangenen Wochen, war sie tatsächlich in sein Team versetzt worden. Sie fragte sich, ob er vielleicht böse auf sie wäre, und deshalb nicht da war. Ja, das musste es sein. Er war sauer. Schließlich hatte er ihr doch gesagt, dass man Freude nicht verletzten durfte. Aber bei den letzten Trainingseinheiten war sie so gut gewesen, dass sie die Rekruten, gegen die sie kämpfte, immer besiegt hatte. Sie hatte schon gespürt, dass das Team das nicht sehr gut fand. Mittags beim Essen, rutschten die Männer auf der Bank immer so weit auseinander, dass auf der Bank kein Platz für sie war. Offensichtlich wollten sie nicht mit ihr essen. Das war schade, denn sie mochte die Männer eigentlich. Aber es wunderte sie auch, dass einer von ihnen etwas zu ihr rüber gerufen hatte, was sie aber nicht verstanden hatte. So etwas wie „Mutant“. Was das bedeutete wusste sie nicht. Aber jetzt wo sie so darüber nachdachte, war es bestimmt nichts nettes.
Der Doktor beendete ihre scharfsinnigen Überlegungen, in dem er Lynns Shirt an ihrem Arm hochkrempelte. Sie sah geduldig auf die große Spritze, die er vorsichtig in eine ihrer blauen Adern einführte und die bläuliche Flüssigkeit, die im inneren der Spritze immer weniger wurde. Es brannte und nachdem Hershel die Spritze entfernte, spürte sie wie ihr schlecht wurde. Ein Zucken erfüllte ihren Körper. Es war nicht so wie sonst. Etwas war anders. Das Zucken war anders. Aber auch jetzt überkam sie ein Anflug von Müdigkeit. Nachdem der Doktor sie behutsam auf den kalten Metalltisch platziert hatte, spürte sie etwas kaltes an ihren Gliedern. Was tat er da? Etwas benommen hob Lynn neugierig, aber verwundert, ihren Kopf. Er hatte sie festgeschnallt. Warum? Das hatte er noch nie gemacht. Lynn versuchte sich, mit einigen unbeholfenen Bewegungen, zu wehren. „Du musst dich nicht fürchten. Was wir heute tun, ist sehr wichtig dafür, dass du ein guter Soldat wirst.“ versuchte sich Hershel einer beruhigenden Erklärung, aber Lynn war gar nicht mehr beruhigt. Eher besorgt. Nein, es war tiefe Angst die sie verspürte. Denn sie konnte sich daran erinnern, dass man etwas ähnliches in der Wüste bereits mit ihr versucht hatte. Aber es waren nur vermummte Gesichter und unermesslicher Schmerz, den sie erinnerte. Die Schläfrigkeit nahm zu, als das mechanische Öffnen der Labortüre und heftiges Geschreie sie wieder aufmerksam werden ließen. Es war ein höllischer Lärm und Lynn hob erschrocken den Kopf. Eine Truppe Soldaten kam hereingestürmt, im Gepäck einen scheinbar verletzten Mann. Er zog reichlich Blut hinter sich her. Lynn bemühte sich mehr zu sehen. Die Soldaten die den Verletzten stützten, waren sichtlich aufgebracht und hatten sich um ihn gescharrt. Hershel reagierte hektisch aber gezielt. Direkt neben Lynn auf einem weiteren kalten Tisch, räumte er hastig einige Utensilien beiseite und wies die Männer, mit einem lauten Brüllen inmitten des Geschreis an, den Verletzten darauf zu legen. Lynn vielen beinahe die Augen zu, aber sie konnte noch mit letzter Kraft erkennen, dass es Sakuya war, den sie neben sie legten.
Ein heisernes Husten, das von ihr selbst kam, ließ Lynn in ihrer Baracke wieder erwachen. Das Licht war ausgeschaltet und verriet ihr somit, dass es Schlafenszeit war. Also musste es Nacht sein. Hastig überprüfte sie ihren gesamten Körper. Sie trug ein langes, aber viel zu großes Shirt, was man ihr zum schlafen gegeben hatte. Aber nirgends waren weitere Pflaster oder Einstiche zu finden. Lynn überlegte einen Moment und dann fiel ihr wieder ein, dass sie doch Sakuya gesehen hatte. Er war verletzt gewesen. Er hatte viel Blut verloren. Wie ein Stromschlag durchfuhr es ihre Glieder bei dem Gedanken daran. Blut zu verlieren war nie gut, dass wusste sie selbst am besten. Nachdem eine Truppe bewaffneter Soldaten ihr Gefängnis gestürmt hatten, als sie noch in der Wüste war, hatte sie sich schwer verletzt, als sie sich gegen ihre vermeidlichen Angreifer zu Wehr setzten wollte. Nachdem sie endlich alle fünf Männer erledigt hatte, kam ein sechster mit einem Messer. Er hatte ihr tief in den Bauch geschnitten. Sie verlor viel Blut. So viel dass sie einschlief, beinahe auf der Stelle. Aber es war ein sehr, sehr langer Schlaf. Als sie erwachte fand sie sich bei den neuen Soldaten wieder. Sie wusste dass es ihre Angreifer waren, weil sie eine andere Uniform trugen. Man sagte ihr, dass sie fast gestorben wäre. Und was es bedeutete Tot zu sein, das wusste sie. Man lebte nicht mehr, atmete nicht mehr, fühlte nicht mehr. Das hatte sie zu oft bei den anderen Kindern in der Wüste gesehen. Und Sakuya? Er hatte auch so viel Blut verloren, würde er etwa auch sterben? Mit einem Male sprang Lynn von ihrer Pritsche und hastete zur Tür. Nein, sie musste eine Hose anziehen. Sie hastete zurück, zu ihrem Spind, und zog sich eine Hose über, ehe sie den Weg aus ihrer Baracke suchte. Sie rannte, so schnell sie konnte, den langen Flur entlang. Wo würde Sakuya sein? Noch immer bei dem Doktor im Labor? Oder in seinem Zimmer? Lynn hielt kurz inne, und beendete ihren abrupten Weg, mitten im Flur. Sie müsste sich schnell entscheiden; würde man sie hier sehen, gäbe es eine Strafe. Sie durften die Baracken Nachts nicht verlassen. Um das sicherzustellen, patrouillierten Nacht für Nacht Soldaten. Labor oder Zimmer? Sie musste sich schnell für ein Ziel entscheiden, denn sie konnte bereits am anderen Ende des Flures schwere Schritte hören. Zimmer!
Ihre Entscheidung war gefallen, und blitzschnell tappten ihre nackten Füße über den glatten Boden des Flures. Hätte sie lieber die warme Jacke mitnehmen sollen? Vielleicht brauchte Sakuya sie dringender als sie. Während Lynn in einen weiteren Gang abbog und auf die Türe zum Außengelände zusteuerte, verwarf sie ihren Einfall jedoch wieder. Sie konnte jetzt nicht zurück. Wenn Sakuya sterben würde... sie wollte sich die Geschichte nicht weiter ausmalen, und kniff beängstigt ihre Augen zusammen, während sie mit voller Wucht die Ausgangstüre aufstieß. Ohne nach weiteren Patrouillen Ausschau zu halten, hetzte sie mit ihren nackten Füßen über den rauen Beton, zu dem Gebäude, in dem die Teamleiter ihre Zimmer hatten. Noch ein langer Flur, dann das dritte Zimmer auf der linken Seite. Lynn stieß abermals mit voller Wucht die Türe auf. Der Anblick der sich ihr bot erleichterte sie keinesfalls. Er machte sie nicht trauriger. Er ängstigte sie nicht. Er ließ in ihr nur eine große Leere zurück. Auf dem großen Sofa in Sakuyas Zimmer lag nur eine, von Blut durchtränkte, Jacke. Nichts weiter. Lynn schloss leise die Türe hinter sich. Ihre Schritte waren vorsichtiger geworden. Sie traute sich nicht zu atmen. Zu viel Angst hatte sich in ihrem Körper angestaut, jederzeit bereit, den leblosen Körper von Sakuya zu finden. Sein Schreibtisch wirkte unverändert . Es lagen einige Ordner darauf. Ihr behutsames Tapsen führte Lynn zum Bad. Ängstlich und für alles bereit, öffnete sie vorsichtig die Türe. Aber es war dunkel im inneren. Niemand schien darin zu sein. Es verblieb eine weitere Türe. Lynn wusste nicht was sich dahinter verbergen könnte. Unsicher lief sie erneut durch das Zimmer und drückte, mit stockendem Atem, die Klinke hinunter. Der Raum war ebenfalls dunkel, und ein großes Bett stand darin. Aber nicht die Art von Bett auf der Lynn schlief. Dieses war nicht an der Wand befestigt. Es stand im Raum, nur am Kopfende an der Wand. Es sah frisch gemacht aus. Ihm gegenüber befand sich ein Spind, wie in Lynns Baracke. Sie hatte nicht das Bedürfnis darin nachzusehen, ob Sakuya vielleicht darin war. Er war viel zu groß um hinein zu passen. Was ihr jetzt noch blieb war eine drohende Ungewissheit. Wieder lief sie zu der Jacke auf dem Sofa. Es war so viel Blut daran. Zögerlich hob Lynn sie hoch. Der Stoff fühlte sich schwer und rau an. Sie war ebenfalls dunkelblau, wie die Jacke, die Sakuya ihr überlassen hatte. Der Geruch des Blutes stieg ihr in die Nase. Wenn eines der Kinder in der Wüste gestorben war, und man seinen blutenden Leib erst morgens aus dem Gefängnis holte, dann roch es überall so wie Eisen. Fast wie das Eisen der Gitterstäbe dort, wenn man sie lange Zeit mit den Händen angefasst hatte. Aber Sakuyas Blut roch anders. Nicht so unangenehm. Sie betrachtete den großen Fleck genauer. Er hatte einen bläulichen Schimmer. Anders, als das Blut was sie bisher gesehen hatte. Ein Moment verstrich, in dem Lynn ratlos, mit der Jacke in der Hand, vor dem Sofa stand. War Sakuya etwa schon tot? Hatte man ihn hier heraus geholt, wie die Kinder der Wüste aus ihrem Gefängnis? Oder war er noch bei dem Doktor im Labor? Die vielen Fragen und das nachdenken ließen Lynn erneute Müdigkeit spüren. Sie beschloss noch etwas zu warten, in der stillen Hoffnung, dass Sakuya noch lebte. Dass er bei dem Doktor wäre. Sie legte sich nieder, auf das weiche, braune Sofa. Zuerst war der Stoff kalt auf der Haut ihrer nackten Füße, aber allmählich wurde er warm. Der Stoff war wie die Fesseln, mit denen der Doktor sie festgebunden hatte. Lynn zog die Jacke vom Boden herauf, über ihr weißes T-Shirt. Sie roch so sehr nach Sakuya. Und der nasse Fleck störte sie nicht. Auch nicht, als das Blut ihr Shirt durchdrang und die Haut ihrer Brust benetzte. Die letzte Frage, bevor sie erneut einschlief, die ihr durch den Kopf ging, beschäftigte sich damit, wie Sakuyas Blut wohl schmecken würde.
Das leise Zufallen der Türe, weckte Lynn aus einem verwirrenden Traum von den anderen Kindern der Wüste, die sie mit ihrem Blut beschmiert hatten.
„Linnai...“ vernahm sie ihren Namen. Beim öffnen ihrer Augen sah sie gerade noch wie Sakuya seine Jacke von ihr nahm. Sie wollte sie festhalten, aber er hatte sie bereits an sich genommen und kniete sich zu ihr hinunter, um sie verwundert zu mustern.
„Was machst du hier?“ fragte er sie mit ernster Stimme. Lynn richtete sich langsam auf und betrachtete Sakuyas Arme. Er trug in schwarzes T-Shirt, aber nirgends an seinen Armen war eine Verletzung zu erkennen. Er schien ihre Verwunderung und ihr Misstrauen entdeckt zu haben und stand wieder auf.
„Du hast dir wohl Sorgen gemacht. Hershel musste deine Behandlung abbrechen, wegen mir, was?“ Es klang weniger nach einer Frage, als vielmehr einer Schlussfolgerung in Lynns Ohren. Aber sie war noch immer damit beschäftigt, den Ursprung des vielen Bluts zu finden. Es war an der Jacke gewesen, also musste es sein Oberkörper, oder zumindest seine Hüfte gewesen sein, die verletzt war. Sakuya beobachtete ruhig, wie Lynn, noch immer vor ihm auf dem Sofa kniend, vorsichtig ihre Hand, nach dem unteren Saum seines Shirts, ausstreckte. Ein fragender und prüfender Blick in sein Gesicht folgte anschließend. Würde er das mit sich machen lassen? In seinem Markanten Gesicht ließ sich kein offizieller Einwand für Lynns Vorhaben finden. Mit Behutsamkeit hob sie den Saum langsam hoch. Ihr Blick wanderte an seinem Gürtel vorbei höher zu einem riesigen Verband. In Lynns Kopf herrschte Verwirrung. Wie konnte er beinahe den ganzen Boden des Labors mit Blut bedecken, und nun noch vor ihr stehen? Ungläubig streckte sie ihre andere Hand nach dem Verband aus. Mit einer vorsichtigen Berührung fuhren ihre Finger darüber, und ein jähes Zucken in Sakuya Hand, die zuvor noch entspannt neben seinem Körper herabgehangen hatten, ließ sie zurück schrecken. Sakuya versuchte zu verstehen, was sie gerade so sehr zu faszinieren schien. Sie zog den Saum seines Shirts ein wenig höher. Dort musste noch eine Verletzung sein, sie war sich sicher. So viel Blut konnte nicht nur von einer stammen. Zu ihrem Erstaunen jedoch, war da kein weiterer Verband. Ganz im Gegenteil, schien sie gewisse Parallelen zu ihrem Körper, zu entdecken. Er war an seiner Brust fast so flach wie sie, nur irgendwie massiger. Ja, er hatte viel mehr Muskeln. Aber sein Bauch war ebenso flach wie ihrer. Nur seine Statur war weitaus breiter und größer als sie. Lynn freute sich einen Augenblick, scheinbar waren sie gar nicht so verscheiden. Erneut widmete sie sich dem Verband. Er färbte sich an einer Stelle leicht rosa. War es wieder Blut darunter? Sie legte einen Augenblick vorsichtig ihre kleine Hand darauf und spürte eine ungewöhnliche Hitze. Schließlich ließ sie von Sakuya ab und sah ihn traurig an. Er versuchte ihren Blick zu deuten.
„Es tut nicht weh, der Doktor hat gute Arbeit geleistet.“ sagte er beruhigend und sofort erhellte sich Lynns Ausdruck wieder.
„Aber du weißt, dass du nicht hier sein solltest oder?“ fragte er schließlich und Lynn wurde nach all der Erleichterung, dass er noch lebte wieder bewusst, dass eine Strafe auf sie warten würde.
„Ich ziehe mich eben für das Training an, und dann bringe ich dich zurück zu deiner Baracke, du musst dich auch umziehen. Aber vor allem, musst du mir versprechen, nicht wieder hierher zu kommen. Du hast nichts bei den Teamleitern zu suchen, hast du verstanden?“ seine Augen strahlten absolute Ernsthaftigkeit aus und Lynn spürte wie er sie einschüchterte. Sie nickte und wandte ihren Blick schnell ab, ehe Sakuya in das Zimmer mit dem Spind verschwand und sich umzog.<<
Aus irgendeinem Grund fühlte sich Lynn bei ihrem Erwachen, auf dem veralteten Operationstisch, ein wenig ertappt. Auch wenn sonst niemand an diesem verlassenen Ort war. Völlig in der Erinnerung versunken, hatte sie sich zurückfallen lassen und in die dunkler werdenden Wolken des Himmels geblickt. Sie war verblüfft darüber, welchen Mut sich doch als Mädchen gehabt hatte. Sicher hatte Sakuya sie damals nicht verraten. Aber er schien noch nicht Enden zu wollen, der Schwall der Erinnerungen.
>>Ein Soldat den Lynn nie zuvor gesehen hatte, hatte sie zu Hershels Labor gebracht. Ungeduldig stand sie vor der Tür. In der Regel war Sakuya ebenfalls mit dabei, wenn der Doktor sie „verbesserte“, wie er es nannte. Voller Freude Sakuya wieder zu sehen, stürmte Lynn in das große Labor. Zu ihrer Überraschung sah sie jedoch nur einen Arm von ihm, hinter einem Sichtschutz, hervor schnellen. Die Türe hinter ihr schloss wieder und Lynns Neugierde ließ sie nicht los. Sie rannte an dem Sichtschutz vorbei und fiel Sakuya in die Arme. Seit man ihn verletzt hatte, hatte Negan scheinbar veranlasst, dass er sich schonen sollte. So, dass Lynns Team, einem anderen zugeordnet wurde. Sakuya strich ihr anerkennend über den Kopf, und löste sich dann langsam aus ihrer freudigen Umarmung. Er trat in einem Shirt, in einer grauen Jogginghose, hinter dem Sichtschutz, mit ihr hervor. So sehr sie den Anblick seiner blauen Augen und seines Gesichts vermisst hatte, so sehr brannte in ihr die Frage, wie seine Verletzung jetzt wohl aussehen würde. Unter Hershels verwirrtem Blick, der gerade mit einigen Utensilien zu ihnen kam, hob Lynn neugierig Sakuyas Shirt. Der Verband war verschwunden, seine Haut war makellos, an der zuvor verletzten Stelle. Überrascht und zugleich erschrocken blickte Lynn in Sakuyas vertrautes Gesicht. „Ich sage ja, Hershel hat ganze Arbeit geleistet.“ sagte er entspannt.
„Kommt her ihr beiden.“ Unterbrach Hershel die eigenartige Situation ,und gebar den beiden Platz, auf einem seiner Operationstische zu, nehmen. Sakuya folgte seiner Anweisung, aber Lynn verfolgte noch immer die Frage, wie Sakuya das so schnell gemacht hatte, die Verletzung wieder los zu werden. Noch immer, voller Skepsis und Neugier, schlich sie um Sakuya herum. Hershel beobachtete das Treiben nachdenklich. Lynn war an Sakuyas Rücken angelangt, aber der Tisch auf dem er saß reichte zu hoch, als das sie sein Shirt so weit hätte anheben können, dass sie seinen kompletten Rücken zu Gesicht bekommen hätte. Hershel schüttelte den Kopf:
„Du lässt sie zu viel mit dir machen.“ In seinen Worten klang bitterer Ernst mit.
„Lass ihr doch die Neugier.“ Erwiderte Sakuya der ,auf Lynns verzweifelten Versuch hin, seinen Rücken betrachten zu können, sein Shirt auszog.
„Das ganze wird problematisch, wenn sie älter ist, das weißt du Sakuya.“ erwiderte Hershel nachdenklich und sah dabei zu, wie Lynn scheinbar vor dem Anblick, der sich ihr bot, erstarrte. Ein leuchtendes blaues Zeichen verlief über Sakuyas gesamte Schulter, bis hin zur Wirbelsäule. Es schimmerte auf eine Art und Weise, wie Lynn es nur von Wasser im Sonnenlicht kannte. Das Bild, dass die geschwungenen Linien, gefasst in einem gestückelten Kreis bildeten, erinnerten sie ein bisschen an das Reh aus dem Wald. Aber es war doch anders. Solch ein Tier hatte Lynn noch nie gesehen. Vielleicht waren es auch zwei oder drei. Egal um welchen Preis, sie musste es berühren, sofort. Als Hershel ihre Bemühungen sah, packte er sie mit einem male und beendete das Ganze. Lynn verstand nicht, warum sie es nicht berühren durfte. Sie wollte wissen wie sich die blauen Linien anfühlten. So weich wie Sakuyas Haut, oder anders? Hershel setzte sie vorsichtig gegenüber von Sakuya, auf einen weiteren Tisch.
„Das mit dem anfassen verschieben wir lieber. Ich habe nämlich keine Ahnung, was geschieht, wenn du mit externen Geomas in Berührung kommst. Und da die Haut innerhalb des Wappens deutlich dünner ist, kann es auch über die Haut minimal übertragen werden. Und das lassen wir mal lieber, sonst muss ich neue Berechnungen für die Dosierung deiner Therapie anstellen. Und das Dauert. Und Negan will dass du endlich Einsatzbereit bist.“ der Doktor klang nicht sehr erfreut. Und auch Sakuyas Miene blickte ernst zu Lynn.
„Du wirst bald das gleiche Zeichen auf deinen Schultern haben. Du und Sakuya, ihr seit etwas besonderes, verstehst du das?“ fuhr Hershel fort, und zog einen Tisch, mit einigen chirurgischen Utensilien, an sich heran. Lynn nickte. Aber was sollte es heißen, dass sie bald das gleiche Zeichen haben würde? Hatte sie denn keins? Sie war Sakuya doch ähnlich, oder etwa nicht? Mit einem Male hatte sich Lynn ihres Oberteils entledigt und versuchte nun, voller Neugier und etlichen Verränkungen ,einen Blick auf ihren Rücken zu erhaschen.
„Und ich sage dir, es wird definitiv problematisch, wenn sie älter ist... .“ argwöhnte Hershel der einen Moment brauchte ,um sich wieder vor Staunen zu sammeln, während Sakuya versuchte ihr das Oberteil wieder anzuziehen.
Lynn lag ruhig atmend und fixiert, auf einer weichen Unterlage. Ein helles Licht einer Lampe strahlte auf ihren gesamten Körper nieder. Sakuya stand ruhig neben ihr und betrachtete ihre neugierigen Blicke, die jedoch immer wieder in seinem gipfelten.
„Was ich dir nun gebe, Linnai, wird sich in deinem Körper ablagern. Zu Beginn wirst du müde. Wenn du jedoch wieder aufwachst, wirst du dich stärker fühlen. Es wird dir helfen, der Soldat zu werden, den nichts in der Welt aufhalten kann.“ Lynn sah bei den Worten des Doktors, deutliche Verärgerung in Sakuyas Gesicht. Er schien nicht von dieser Sache überzeugt zu sein. Der Griff nach seiner Hand schien Lynn geeignet, um ihn abzulenken, aber sie war fixiert. Irgendetwas in Sakuyas Blick machte ihr Angst. Es war, als läge darin ein verborgener Ruf. Und er würde sich bald als wahrhaftig und berechtigt erweisen.
Lynn spürte ein heftiges Brennen in ihrer Armbeuge, das sich langsam aber sicher, seinen Weg durch ihren gesamten Körper suchte. Sie bemerkte noch wie die Türe aufging und Negan auf die drei zu schritt.
„Wie hoch ist die Dosierung, Dr. Porter?“ erkundigte er sich mit einer Kälte in der Stimme, die Lynn nur von den anderen Soldaten kannte.
„Fünfhundert Milliliter. Das sollte für die erste Behandlung reichen. Wir werden weiter aufstocken, jedoch langsamer als bei Sakuya, damit es nicht wieder zu solch einem Zwischenfall wie vor fünf Jahren kommt.“ erwiderte der Doktor, unter Lynns beobachtenden und leidenden Augen. Negan nickte nur stumm und ausdruckslos.
„Gut. Morgen das gleiche nochmal.“ Er war bereits im Begriff zu gehen, als Sakuya das Wort an ihn richtete:
„Sir, Ihnen ist klar, dass die Abstände zu kurz sind, nicht?“ Mit einem Male hatte Negan sich umgewandt und seine Augen hatten sich zu kleinen wütenden Schlitzen geformt:
„Sakuya Kira, ich muss dich nicht daran erinnern, dass wir im Krieg sind oder? Sie muss in den Einsatz, und das schnell, damit dieses Irrsinnige Treiben in der Wüste ein Ende findet! Und dafür brauchen wir zwei von deiner Sorte, um alle Kollateralschäden auszuschließen.“ Er wandte sich um und verließ das Labor mit schweren, jedoch wütenden Schritten, das konnte Lynn hören. Auch wenn sie ihre Wahrnehmung derweilen so verändert hatte, dass sie tausend Stimmen in ihrem Kopf vernehmen konnte. Es war ein unerträgliches Gewirr. Sie kniff benommen die Augen zusammen, in der Hoffnung, dass es endlich wieder aufhören würde. Elektromagnetische Blitze durchzogen jeden Millimeter ihres Körpers, durch jede Ader schien Säure zu fließen, die ihr das atmen erschwerte. Sakuya war aufgestanden und hatte sich von ihr entfernt, das spürte sie, jedoch mit der Hoffnung, dass er wiederkehren würde. Ein weiterer stechender Schmerz durchfuhr ihre andere Armbeuge. Das Szenario in ihrem Körper steigerte sich ins Unermessliche und ließ sie bald darauf ihr Bewusstsein verlieren.
Mit Herzrasen wachte sie auf. Ungebändigte Wut machte sich augenblicklich in ihrem Inneren breit. Was hatten sie nur mit ihr gemacht? Schmerz durchzog ihren ganzen Körper. Jemand stieß ihre Türe auf und war gerade im Begriff seine Befehle an sie zu richten, als ihre Füße bereits blitzschnell den kalten Boden erreicht hatten, und sie sich mit zwei Sätzen auf die Person stürzte. Zwei Tritte, drei Schläge, und sein nicht ganz zu ende formulierter Befehl war verstummt. Ein absolutes Gefühlschaos brach in ihr aus. Was hatte sie da gemacht? Was war das gerade eben? Sie würde Ärger bekommen. Man würde sie wieder einsperren. Wider stieg Wut in ihr auf. Sie wollte das nicht. Niemand sollte sie mehr einsperren. Als sie laute Schritte aus dem Flur vernahm, rannte sie zu ihrem Spind. Noch ehe die Stimmen sie erreicht hatten, trat sie, mit einem Mal, den Spind um und beförderte ihn, mit einem weiteren Tritt ,direkt vor die halb offene Türe, in der noch immer einer der Teamleiter lag. Die Stimmen schafften es nicht zu ihr vorzudringen, der schwere Spind blockierte die Tür. In Lynns Kopf herrschte noch immer schieres Chaos. Was sollte sie jetzt tun? Was wenn Sakuya davon erfuhr? Sie dachte an seinen ernsten Blick, der doch die Spur von Zufriedenheit enthielt, wenn sie beim Training gut gewesen war. Mit diesem Blick brauchte sie jetzt wohl nicht rechnen. Und schon konnte sie bereits seine Stimme hören. Angst machte sich in ihr breit. Sie überlegte sich einfach zu Boden zu werfen, um seinem Blick zu entgehen, aber es war bereits zu spät. Mit einem überaus lauten Knall flog die Türe auf, und der Spind rutsche bis zu ihren Füßen vor. Sakuya stand im Raum. Sie und ihn trennte nur das massive Metall des Spindes.
„Linnai, hör auf damit.“ sagte er und sie kam nicht umhin, seinem gefürchteten ernsten Blick zu begegnen. Was sollte sie nur tun? Eine nie zuvor da gewesene Intuition lenkte Lynns Blick auf das Messer an Sakuyas Hosenbund. Darin steckte ein ziemlich großes Messer. Was? Was waren das für Gedanken in ihr? Warum wollte sie das Messer? Sie wollte ihm nicht weh tun. Oder doch? Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er einen Schritt auf sie zu machen wollte. Blitzschnell machte sie einen Satz über den Spind und war gerade im Begriff nach seinem Messer greifen, als seine starken Hände sie davon abhielten. Es war wie ein Drang tief in ihr. Sie wollte es nicht. Sie wollte nicht angefasst werden. Davon hatte sie in der Wüste genug bekommen. Ein heftiger Tritt von Lynn zwang Sakuya dazu, eine ihrer Hände loszulassen, um sie zügig um hundertachzig Grad zu drehen und ihr mit seinem muskulösen Arm die Luft abzudrücken. Lynn wand sich voller Angst zu ersticken und trat mit aller Kraft um sich. Sie keuchte und gab dumpfe Laute von sich, aber kein Schrei verließ ihre Lippen. Das Letzte, was sie spürte war, dass ihre Füße den Boden verließen, und Sakuya sie so lange an seinen warmen Körper drückte, und ihr die Luft mit seinem Arm abschnürte , bis ihr schwarz vor Augen wurde.
Sie erwachte wie aus einem Alptraum bei Hershel im Labor. Erneut festgebunden. Erneut viel zu grelles Licht, das ihr ins Gesicht schien. Wo war ihre Kleidung? Hatte man sie ausgezogen? Es fühlte sich eisig unter ihr an. Sie sah das vertraute Gesicht des Doktors.
„Es ist eine Farce, dass das immer wieder geschieht. Aber ich bin froh, dass sie nicht die Dosis erhalten hat, die ich dir gegeben habe.“ sprach Hershel und kurz darauf konnte sie auch sehen mit wem. Sakuya trat an seine Seite und in seinem Gesicht spiegelte sich nichts weiter als Ernsthaftigkeit wieder. „Es ist, als hätte Negan nichts gelernt, aus dem was geschehen ist.“ sagte Sakuya und in seiner Stimme klang Wut und Ärgernis mit. Lynn konnte sich vorstellen, dass er wütend auf sie war. Wider hatte sie Freunde verletzten wollen. Und sie konnte sich nicht erklären, woher dieses Bedürfnis so plötzlich gekommen war. Ihre hilflosen Augen suchten Sakuyas Blick, aber als er ihren erwiderte, fröstelte es ihr nur noch mehr. Er sah sie so kalt an, dass es ihr weh tat. Ein Augenblick verstrich, ehe er an ihre Seite herantrat und ihre fixierte Hand nahm.
„Ich bin nicht böse auf dich, du musst erst lernen mit deinen Fähigkeiten umzugehen.“ sagte er plötzlich, und die von ihm gewohnte Ruhe lag wieder in seiner tiefen Stimme. Lynn schämte sich beinahe, ihn in diesem Augenblick anzusehen. Sie hatte sich gegen ihn gewendet. Ihn angegriffen. Den Mann, der immer gut zu ihr war. Und trotzdem stand er jetzt wieder hier im Labor, neben ihr und hielt ihre Hand, als wäre nichts geschehen.
„Es wird wieder weh tun, aber Negan wird dich dann bald in Ruhe lassen. Und du kannst mit Sakuya auf Außeneinsätze gehen, das wäre doch was, oder?“ Lynn blieb die Mühe, mit der Hershel das Nachfolgende beschönigen wollte, nicht verborgen. Warum taten sie das mit ihr? Brennender Schmerz durchfuhr ihren Körper erneut. Es waren solche Qualen, dass Lynn sich für einige Momente den Tot herbeisehnte. Nichts in der Welt konnte schlimmer sein, als das was gerade geschah. Nichts. Sie spürte noch, dass Sakuya ihre Hand losließ und sich die Labortür öffnete, durch die Negan wiedereinmal, schweren Schrittes auf sie alle zukam, und dann verlor sie erneut das Bewusstsein.
Wasser... überall war Wasser. Lynn erschrak von der Kälte. Ertrank sie etwa gerade? Wo war sie? Alles war verschwommen. Sie hatte keine Chance zu atmen, stattdessen riss Etwas, oder Jemand an ihren Armen. Die Kälte verblasste, ihre nackte Haut wurde auf einen harten Untergrund gezogen und sie öffnete keuchend die Augen. Ein unterdrückter und beinahe verstummter Schrei entwich ihr, voller Panik. Sie hatte unendliche Angst. Ihre Augen schienen wieder zu funktionieren, sie sah wieder alles in gewohnter Schärfe, oder? Nein, es war anders... es war näher? Nein auch nicht. Lynn blickte auf Hershels Labor herab. Dinge in der Ferne konnte sie plötzlich erstaunlich gut erkennen. Die Hände, die sie gerade noch aus dem Wassertank gezogen hatten, die sie soeben bemerkt hatte, hielten sie zugleich fest und stiegen eine Treppe mit ihr hinunter. Was sollte das? Wer hat sie da versucht zu ertränken? Mit einem Male trat sie hinter sich, mit voller Wucht. Ein Keuchen war zu hören, und Lynn bemühte sich mit aller Kraft, dem starken Griff ihres Peinigers zu entfliehen, als sie bereits den Doktor sah, der erschrocken auf sie zu gerannt kam.
„Linnai, hör auf!“ durchdrang sie plötzlich eine laute und raue Stimme, beinahe bis ins Mark ihrer Knochen. Augenblicklich hielt sie inne. Ihre Muskeln entspannten sich langsam. Es war erneut Sakuya gewesen, der sie nun immer noch von hinten festhielt. Hershel, scheinbar durchaus aktionsbereit, mit einer Beruhigungsspritze bewaffnet, atmete erleichtert aus.
„Du musst dich beruhigen. Dieses Gefühlschaos wird aufhören. Aber du musst begreifen, dass dir hier Niemand etwas tun möchte.“ Versuchte Hershel die Situation zu beruhigen.
„Du hast Sakuya gerade weh getan. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du das wolltest... .“ Redete der Doktor weiter auf sie ein. Sakuya spürte unter dem festen Druck seiner Hände, auf Lynns dünnen Armen, wie sie sich weiter entspannte, bis er sie schließlich los ließ. Sie wollte sich umdrehen und ihn berühren. Sie wollte ihm wirklich nicht weh tun, nicht ihm. Aber Sakuya machte einen Schritt zurück, und legte ihr seine Jacke um die Schultern. Erst in diesem Moment realisierte Lynn, wie kalt es ohne ihre Kleidung war. Ihr verzweifelter Blick erreichte Sakuya und er schien ihn erneut richtig gedeutet zu haben:
„Ist schon gut.“ sagte er ernst und Lynn glaubte ihm. Er müsste doch wissen, was er ihr bedeutete.
Einige Wochen vergingen in denen Lynn angefangen hatte, ihre neuen Fähigkeiten besser kennen zu lernen. Zwar hatte sie einige Waffen zu Bruch gehen lassen, weniger aus Unachtsamkeit als mehr aus purem Zerstörungsdrang, aber beim Training war sie nach wie vor darum bemüht gewesen, ihr Bestes zu tun. Nach wie vor verließ kein Lob Sakuyas Lippen. Er beschränkte sich stets darauf, Lynn am Ende des Trainings, beiläufig über den Kopf zu streicheln.
Als sie in der Nacht von dem Licht geweckt wurde, das in ihrer Baracke angeschaltet wurde, schnellte sie verschwitzt hoch. Ein Rekrut schien sich in der Tür geirrt zu haben. Zumindest vermutete sie das, während sie die weiche Jacke von Sakuya zu ihrer Brust hochzog und dem Mann verwirrt entgegenblickte. Zu ihrer Verwunderung wirkte er jedoch keinesfalls verschlafen. Er schloss die Türe hinter sich mit Bedacht und ging einige stumme Schritte auf ihre Pritsche zu.
„Du bist nicht wie wir, was?“ fragte er sie mit einem eigenartigen Lächeln. Lynn vermutete bereits, dass seine Gegenwart nichts gutes Bedeutete. Er kam gefährlich nahe an sie heran.
„Scheinst es wohl zu genießen, besser als wir zu sein.“ redete er leise vor sich hin, während er begann den Gürtel seiner Hose zu lösen. „Deine Haare sind lang geworden.“ bemerkte er schließlich und musterte sie. „Du bist wirklich eine kleine Schönheit. Obenrum ein wenig Flach, aber ansonsten... .“ Mit einem leisen Ruck, viel seine Hose zu seinen Knien. Was wollte er von ihr? Was war denn mit ihren Haaren? Und warum zog er seine Hose aus? Lynn rückte ein Stück nach hinten, als er einen weiteren Schritt auf sie zu tat. Er zog seine Shorts herunter und Lynn blickte verwirrt auf das, was sich ihr offenbarte. Das war neu. Warum zeigte er ihr so viel von sich? Sie hatte ihn nicht darum gebeten.
„Wenn du deinen Mund aufmachst, dann verspreche ich dir, dass ich Sakuya Kira hiervon nichts erzählen werden.“ sagte der Mann eindringlich und Lynn sah an seinen Augen, dass etwas absolut nicht richtig an dieser Situation war. Was sollte sie tun? Sollte sie ihn angreifen? Aber er war doch ein Freund... . Er hatte ihr einen Befehl erteilt, also musste sie ihn befolgen. Lynn schloss unsicher die Augen, mit Furcht vor dem, was als nächstes geschehen würde, als die Türe aufflog und Sakuya im Rahmen stand. So schnell wie er reagierte, konnte Lynn kaum seinen Bewegungen folgen. Er packte den Soldaten und drückte ihn gegen die nächstgelegene Wand:
„Du Idiot solltest auf den Plan schauen, wer genau den Wachdienst hat! Sehe ich dich auch nur noch einmal in ihrer Nähe, sorge ich dafür, dass du nie wieder auf die Idee kommst, ein Mädchen mit deinen niederen Trieben zu belästigen, hast du mich verstanden?“ Sakuyas letzte Worten gipfelten in einem Gebrüll. So hatte Lynn ihn noch nie gesehen. Aber die Augen des Soldaten erinnerten sie in diesem Moment an die ängstlichen Augen des Rehs. Die Adern an Sakuyas Hals traten pulsierend hervor. Er ließ den Mann wütend los, und dieser verschwand augenblicklich und voller Panik, aus Lynns Baracke. Sakuya schien einen Moment zu brauchen um sich wieder zu beruhigen. Schließlich drehte er sich zu Lynn, die ihm ängstlich entgegen sah:
„Jetzt zu dir. Wenn dir noch einmal ein Mann zu nahe kommt, hast du ab sofort mein Wort dafür, dass du ihm weh tun darfst. Hast du mich verstanden?“ es klang alles nach einem Befehl. Darin war keine Frage verborgen. Es war ein strikter Befehl. Sakuya schien noch immer außer sich zu sein, das konnte Lynn an seiner angespannten Körperhaltung deutlich erkennen. Zögerlich und eingeschüchtert von seiner Präsenz, nickte sie.
„Gut, und jetzt schlaf noch etwas.“ mit einem lauten Knall war er verschwunden. Kurz darauf wurde das Licht wieder abgeschaltet und Lynn sank verwirrt zurück in ihre ursprüngliche, bequeme Position. Sie war nicht mehr bequem. Aber das spielte keine Rolle mehr. Lynn fragte sich, was Sakuya genau, so verärgert hatte. Er hatte, ausgehend von seinen Worten, den Wachdienst und hat wohl bemerkt, dass Jemand in Lynns Baracke war. Natürlich kam hinzu, dass niemand das Zimmer Nachts verlassen durfte, außer um zur Toilette zu gehen. Die Duschräume waren auch Tabu. Lynn hatte stets das Glück, am Abend als letzte duschen zu dürfen, wenn alle Männer fertig waren. Sie genoss es ungestört zu sein. Verloren in den Gedanken an den entblößten Unterleib des Soldaten und an Sakuyas Wut darüber, schlief sie allmählich wieder ein.
Es kam der nächste Tag. Anscheinend hatte Lynn einiges zu Verarbeiten gehabt die Nacht, denn sie fühlte sich, als hätte sie kein einziges Auge zugemacht.
Beim Schießtraining im Wald traf sie alle Ziele exakt an ihrem vorherbestimmten Punkt, im Nahkampf jedoch, stellte sie schnell fest, wie müde sie eigentlich war. Die anderen Rekruten schnitten dennoch schlechter ab, als sie. Ihr stetiger Blick galt Sakuya, der alle Leistungen seiner Rekruten überwachte, und stets protokollierte, um sie am Abend, vermutlich Negan vorzulegen. In den letzten Tagen war Lynn oftmals aufgefallen, wie sie sich beim Anblick von Sakuya, in seiner Erscheinung verlor. Natürlich erledigte sie ihre Aufgaben mehr als zufriedenstellend, aber sein Anblick und der Klang seiner Stimme, hatten etwas, das ihr Genugtuung verschaffte. Es beruhigte sie, wenn er da war und ihr Befehle erteilte. Was würde sie darum geben, ihm einmal sagen zu können, was sie in seiner Nähe spürte. Aber es war wohl ein weit hergeholter Wunsch. Nur beim Versuch einen Laut von sich zu geben, durchfuhren höllische Schmerzen ihren Hals. Mehr als ein Stöhnen und Ächzten brachte sie nicht zu Stande.
Als gegen Abend, das hektische Treiben bei der Essensausgabe seinen Höhepunkt erreicht hatte, fand Lynn sich erneut an einer Wand, im stehen wieder. Schnell versuchte sie das Obst, was man ihr gegeben hatte, zu verschlingen. Als sie bei einer Banane angelangt war, hörte sie wie eine Gruppe von Soldaten, an einem Nebentisch laute Bemerkungen von sich gaben. Sie sah zu ihnen herüber, und folgte mit ihrem scharfen Blick der Bewegung, die einer der Rekruten hinab zu seinem Schoß machte. Sollte das eine Anspielung auf letzte Nacht sein? Auf das was Sakuya so wütend gemacht hatte? Wut stieg in ihr auf, und sie suchte das Gesicht des Mannes; Es war der gleiche der gestern Nacht in ihrer Baracke war. Sie überlegte nicht lange und ergriff die Gabel ihres Tabletts, machte einen Satz, und rammte sie schließlich, mit voller Wucht, in die Hand des Soldaten, die auf dem Tisch geruht hatte. Ein überaus lauter Schrei ,ließ die restlichen Rekruten verstummen. Lynn blickte sich um. Alle sahen sie entsetzt an. Sie waren wie erstarrt. Die Schreie des Soldaten waren noch nicht verstummt, und es dauerte nicht lange, ehe einer der Teamleiter seinen Weg zu dem Geschehen fand. Er deutete Lynn an zu gehen, und kümmerte sich um den Verletzten, der seine Hand, noch immer schreiend mit der Gable und dem Tisch verbunden sah.
Erneut waren einige Tage vergangen und Lynn lag auf dem mittlerweile unliebsamen Tisch von Hershel. Ihr war nicht mehr wohl bei der Sache. Ganz und gar nicht. Es tat weh. Es waren Qualen.
Als Sakuya endlich neben sie trat, nachdem sie sie zu zweit fixiert hatten, wohlgemerkt gegen ihren Willen, suchte sie seinen Blick. Er erwiderte ihn.
„Heute ist es das letzte Mal, Linnai. Danach kommen nur wenige weiteren Eingriffe. Aber wir werden dir heute einen Mikrochip in den Nacken transplantieren. Negan will es so. Wenn du morgen früh aufwachst, wirst du vermutlich das gleiche Zeichen wie Sakuya an der Schulter tragen. Dann bist du keineswegs mehr wie die anderen. Du wirst wachsen und stärker werden. Sowohl körperlich als auch mental.“ Die Worte von Hershel klangen voller Optimismus. Aber in seinen Augen war Trauer zu sehen, beinahe Mitleid. Lynn erkannte es sofort. Sakuya nahm Abstand von ihr und wandte sich zu Hershel der damit beschäftigt war einige Spritze vorzubereiten.
„Haben die Rekruten in 5D bereits die Gentherapie für den Reproduktionszyklus erhalten?“ harkte er angespannt nach und Hershel antwortete auf seine Frage mit einem Nicken.
„Das muss aufhören, ihr müsst etwas dagegen unternehmen. Ich kann es nicht länger dulden, dass sich meine Rekruten wie wilde Tiere benehmen.“ erwiderte Sakuya angespannt. Lynn beobachtete wie er sich mit der Hand durch seine schwarzen Haare fuhr.
„Es wird dich nicht milder stimmen, wenn ich dir jetzt sage, dass Negan die gleichen Pläne mit Linnai hat, oder?“ Deutliches Entsetzten war in Sakuyas Gesicht abzulesen.
„Du machst Witze?“
„Nein, ich habe heute Morgen den Auftrag von ihm bekommen, die gleiche Prozedur an Lynn durchzuführen, zusammen mit zwei ähnlichen Rekruten und einem leicht verändertem Wirkstoff.“
Hershels Stimme klang professionell und kühl.
„Hast du eine Ahnung welche Gefahren du damit beschwörst, Hershel?“
„Ja, habe ich. Ich hege sowieso die Vermutung, dass das ganze ein Hirngespinst von Negan ist. Elite Soldaten lassen sich nicht züchten. Es ist eine gute Ausbildung die einen dazu macht. Mit dem Geomas erreichen wir ohnehin schon verbesserte Fähigkeiten. Aber ihm kann es nicht schnell genug gehen, du kennst ihn.“ Lynn sah wie Sakuya die Fäuste ballte bei Hershels Worten.
„Sie ist viel zu jung für die Therapie.“ Gab Sakuya weiter zu bedenken und sein Blick wanderte zu ihr hinüber.
„Ich weiß das, aber Negan ist es egal. Er erhofft sich aufgrund ihres jungen Alters eine bessere Entwicklung des Zuchtprogramms. Wenn sie es jetzt verabreicht bekommt, ist es eine Frage der Zeit bis ihr natürlicher Zyklus und die damit einhergehende Hormonveränderung einsetzt. Und wenn es nicht verläuft wie geplant, entfernen wir ihr die Gebärmutter. Zudem arbeiten wir an einem weiteren Präparat was die Anomalien eindämmen soll. Mit dem SND lassen sich ebenfalls bestimmte Vorgänge steuern, vergiss das nicht.“ Sakuya stand Kopfschüttelnd neben Hershel der ihm derweilen seine ganze Aufmerksamkeit geschenkt hatte.
„Du weißt wie es um meine Frau und meinen Sohn steht. Dass wir den SND sabotiert haben und ihr eine viel geringere Menge des Geomas verabreichen, ist schon riskant genug. Wenn ich jetzt auch noch anfange bei ihr an der Reproduktionstherapie herum zu fuschen ist es nur eine Frage der Zeit, bis Negan das Ganze auffällt. Es ist zu Riskant.“ Hershels Worte schienen Sakuya nicht endgültig überzeugt zu haben, aber er schwieg zumindest nachdenklich, bei einem flüchtigen Blick in Lynns unschuldige Augen.
„Wir können anfangen.“
Die beiden Männer nährten sich ihr wieder und zeitgleich durchströmte ein brennender Schmerz beider ihrer Arme. Lynn keuchte stumm vor sich hin und wandte sich unter Schmerzen. Sie kniff die Augen zu, aber ihr wäre es viel lieber gewesen, wenn sie die Kontrolle über ihre Hände gehabt hätte und sich die Ohren hätte zuhalten können. Ohrenbetäubender Lärm erreichte ihren Kopf. Woher auch immer er kam. Brennen durchzog ihren gesamten Körper. Es war nicht auszuhalten. Der Schmerz ließ sich allmählich ohnmächtig werden.
Sie schien Ewigkeiten geschlafen zu haben. Eine Welle von unzuordbaren Bildern hatte sie durchdrungen, wie Wasser ein Handtuch. Als sie mühselig ihre Hände zu ihrem Nacken führte, durchzog sie ein betäubender Schmerz am Hinterkopf. Sie öffnete benommen die Augen. Helles Licht blendete sie. Aber man hatte sie losgebunden. Ein heftiges Kratzen lag in ihrem Hals und sie holte tief Luft. Ein lautes Husten erfüllte für wenige Sekunden den Raum und augenblicklich sahen Hershel und Sakuya von einigen Unterlagen auf und kamen zu ihr geeilt. Sie war froh, dass Sakuya noch da war. Die Bilder in ihrem Kopf hatte ihn wieder und wieder voller Blut an ihren inneren Augen vorbeiziehen lassen. Sie war sich zeitweise nicht mehr sicher, ob alles nur ein böser Traum war. Hershels Augen formten sich zu einem erleichterten Lächeln als er sie ausdruckslos musterte.
„S...a...ku..ya...“ verließen plötzlich leise Laute, stockend ihre Lippen. Sie konnte nicht glauben was da gerade geschehen war. War es nur ihre Benommenheit, die ihr einen Streich spielen wollte? Die Schmerzmittel? Noch nicht verflogenes Beruhigungsmittel? Die Worte die sie so oft in ihrem Kopf wiederholt hatte, dieser eine Name, sie hatte ihn ausgesprochen. Hershels und Sakuyas Miene versicherten ihr diese unglaubwürdige Wahrheit. Die beiden Männer blickten sich fassungslos an.
„Linnai... .“ erwiderte Sakuya schließlich leise.
„Sakuy..a.“ bestätigte sie ihn lächelnd, aber dennoch schwach. Ihre Stimme hatte einen angenehmen Klang, fand sie. Sie könnte die Buchstaben jedoch etwas flüssiger aussprechen, fand sie.
„Wasser...“ sagte sie schließlich, beinahe flüsternd. Augenblicklich verschwand Sakuya einen Moment lang und kehrte schließlich mit einem Becher zurück. Lynn trank hastig davon, noch immer mit dem pochendem Schmerz im Nacken.
„Sakuya, ich habe dich vermisst.“ sagte sie schließlich ein wenig stockend, aber dennoch mit solch einem lieblichen Klang, dass es Hershel beinahe die Tränen in die Augen trieb.
Sakuya hingegen blieb stumm, aber sein Blick verriet ihr, dass er sie sehr gut verstanden hatte.
„Herr Doktor, ich bin froh...dass... ich lebe.“ War das nächste was sie mühevoll sagte. Über Hershels Gesicht zog ein erbauendes Lächeln.
„Hey, hörst du mir zu?“ erklang Sakuyas unbarmherzige Stimme in dem gedimmten Licht eines ansonsten leeren Lehrraumes. Die Basis verfügte über allerhand, hatte Lynn mit der Zeit feststellen müssen. Auch ein großer Raum für taktisches Kampfwissen gab es, in dem den Rekruten in regelmäßigen Abständen alles nötige für Außeneinsätze, Spionage und Verhörtechniken beigebracht wurde. Lynn hatte das Programm bereits hinter sich. Vieles was dort gesagt wurde, hatte sie nicht verstanden, aber nachdem Sakuya sie kurz nach dem Einsetzten des Chips in ihrem Nacken ein wichtiges Versprechen abverlangte, war sie um alles in der Welt davon überzeugt, den Befehlen die man ihr gab folge zu leisten. Schnell, effizient und wenn es sein musste tödlich.
Abgelenkt von ihren eigenen Überlegungen hob Lynn ihren Kopf und sah in Sakuyas ernste Augen. Er sah nicht sonderlich erfreut aus. Wahrscheinlich hatte er gemerkt, dass sie nicht bei der Sache war.
„Ja, Sir... .“ erwiderte sie leise. Sakuya nickte zufrieden und stand auf.
„Das reicht für heute. Hol dir bei der Kleiderausgabe eine neue Uniform, die alte scheint dir zu klein zu werden.“ waren seine abschließenden Worte, während er einige Unterlagen von dem großen Schreibtisch, der ihn und Lynn getrennt hatte, räumte. Was war denn mit ihrer Uniform? Sie sah an ihren Armen hinunter, zu ihren freilegenden, dünnen Handgelenken.
„Was ist Linnai, sprich mit mir.“ forderte er sie auf, als er ihre fragenden Blicke bemerkte.
„Was ist mit ihr?“ erwiderte sie schließlich leise und voller Verwirrung.
„Sie ist zu klein, du bist in den letzten Monaten gewachsen. Langsam sollten dir die Einheitsuniformen passen.“ Irgendetwas in Sakuyas Stimme klang ablehnend, das merkte sie deutlich. Hatte sie ihn verärgert damit, dass sie bei ihrem Gespräch in Gedanken versunken war? Entschlossen rückte sie mit dem Stuhl vom Tisch weg und stand unter Sakuyas beobachtenden Blick auf:
„Ich werde mir sofort eine neue Uniform holen. Und bitte Entschuldigen Sie, dass ich so abwesend war, Sir.“ Sakuyas Blick wandelte sich von Überraschung zu Ernsthaftigkeit. Ein kühles Nicken seinerseits signalisierte ihr, gehen zu dürfen. Auf dem Weg zur Kleiderausgabe sinnierte sie über die Förmlichkeiten innerhalb des Stützpunktes. Eine junge Teamleiterin, die neu hinzugekommen war, wurde damit beauftragt, Lynn regelmäßig in die gesellschaftlichen Verhaltensregeln einzuführen. Sie stellte sicher, dass Lynn bald auf Außeneinsätze gehen konnte, ohne aufzufallen. Sakuya war es gewesen, der sie mit den Regeln der Basis vertraut gemacht hatte. Teamleiter waren immer mit „Sir“ anzusprechen und zu siezen. Die Ärzte waren mit vollem Namen und Titel anzusprechen, genau wie das psychologische Team, das seit neusten ebenfalls an der Basis beschädigt wurde, und sich um das innerliche Befinden der Rekruten zu kümmern hatte. War Negan Valcours, der oberste Leiter der VCO zur Stelle, hatte man ihm unaufgefordert Bericht über die erst kürzlich vergangenen Ereignisse zu erstatten. Wie die Rekruten untereinander sprachen, überließ man ihnen. Die Rangordnung die sich im Speisesaal etabliert hatte, durfte nicht gestört werden. Zwischen Männern und Frauen, die mehr und mehr Einzug in die Teams fanden, wurde alles strikt getrennt. Da Lynn jedoch als eines der längsten Mitglieder dabei war, war sie die einzige die mit den Männern ihres Teams aß. Immer wieder hatte sie kritische Blicke der anderen wahrgenommen. Aber es schien sich niemand anzumaßen sie zu beleidigen; der Vorfall mit der Gabel und der Hand des Rekruten hatte sich wohl herumgesprochen.
Lynn hatte ihre Uniform dankend erhalten und war auf dem Weg zur Dusche. Einige Männer kamen ihr entgegen und musterten sie. In letzter Zeit taten sie das oft. Vielleicht war es ihr früher nie aufgefallen, aber irgendetwas schien sich verändert zu haben. Lynn dachte daran, dass sie sich beeilen musste. In wenigen Stunden würde Sakuya sie wieder zum Training abholen, ihr die Stiefel binden, wie es zu einer von ihr sehr geliebten Gewohnheit geworden war. Sie hätte ihm Stunden lang dabei zusehen können, wie er mit reichlich Geschick die schwarzen Schnürsenkel durch seine schmalen Finger gleiten ließ. Einen Augenblick lang kam in ihr die Frage auf, ob er es vielleicht als lästig empfinden würde. Sie verwarf diesen Gedanken jedoch, würde er es nicht wollen, würde er es nicht tun.
Die Duschräume waren beinahe leer, nur zwei junge Frauen unterhielten sich kichernd über einige Männer, dessen Namen Lynn unbekannt waren. Sie pflegte stets den Kontakt zu ihrem Team. Das war wichtig. Aber die anderen und ihre Blicke interessierten sie nicht. Als Lynn die Dusche anstellte, verstummte das Gemurmel in der Ecke und die beiden Frauen sahen einen Augenblick lang stumm zu ihr hinüber, ehe sie ihre Sachen nahmen und gingen. Im vorbeigehen war Lynn aufgefallen, welch üppige Brüste sie hatten. Ihre Becken waren ausladend gewesen, die Blonden Haare der einen, reichten ihr bis über das Zeichen am Rücken hinab. Überhaupt waren ihre Zeichen anders als das von Lynn. Vor dem Spiegel und beim Zähneputzen hielt sie einen Augenblick inne und betrachtete ihre länger gewordenen braunen Haare, die nun bereits über ihren Brüsten endeten. Sakuya hatte recht gehabt, stellte sie erstaunt fest. Sie hatte sich wirklich verändert, und war gewachsen. Ihre Taille war schmaler geworden, ihr Po rundlicher und auch ihre Brüste begannen allmählich größer zu werden. Bis sie so aussahen, wie die der beiden Frauen von vorhin, würde es wohl noch etwas dauern.
Eine unglaubliche Hitze überkam sie im Schlaf. Es erinnerte sie wieder an die Wüste, jenen Ort den sie mit der Zeit aus ihrem Gedächtnis verbannt hatte. Die Erinnerungen daran waren sowieso nur lückenhaft und nicht mit guten Erinnerungen verbunden. Wenn sie daran dachte wurde sie traurig und bekam Angst. Sie wollte nicht mehr daran denken.
Als am frühen Morgen das Licht ihrer Baracke anging, quälte sie sich schläfrig aus dem Bett. Im Schlaf hatte sie wohl ihre Hose ausgezogen, da ihr so warm war. Sakuyas Jacke legte sie behutsam gefaltet neben ihr Kopfkissen. Wenige Minuten vergingen, in denen sie bereits fertig angezogen auf ihrer Pritsche saß und auf Sakuya wartete. Als er kam schien er wütend zu sein. Irgendetwas musste ihn verärgert haben. Dennoch bemühte er sich darum Lynns Stiefel nicht all zu fest zu binden. Sie folgte ihm und einigen anderen Teamkameraden, die sie aus ihren Baracken abgeholt hatten, auf den Trainingsplatz.
„Für heute steht ein Training im Wald an. Es soll euch auf einen kommenden Einsatz in der Wüste von T`schadna Ham vorbereiten. In den nächsten Wochen werdet ihr lernen, wie man sich im Gelände tarnt, seine Umgebung beobachtet und den Gegner sowohl im Fern- als auch im Nahkampf schnell und effizient unschädlich macht. Habt ihr das alle verstanden?“ erkundigte sich Sakuya lautstark nach seiner Einführung in die nachfolgenden Trainingseinheiten.
„Ja, Sir.“ ertönten die zu einem Chor gebildeten Stimmen seiner Rekruten.
Nachdem sie einige Zeit durch den Wald gelaufen waren, versammelten sie sich an einem kleinen Bach um ihren Teamleiter herum. Er deutete auf eine Auswahl an Waffen, die er auf einem großen flachen Stein am Ufer für sie vorbereitet hatte.
„Nehmt euch die Waffen, mit denen ihr zurzeit am besten zurecht kommt. In den nächsten Wochen, wird jeder seine Waffen wechseln, damit ihr mit allem vertraut seit.“ Lynn griff nachdenklich, jedoch konzentriert nach einem großen Kampfmesser und einem H&K Scharfschützengewehr im Kaliber 7,62 Millimeter. Ihre Lieblingswaffe. Beim Training auf harte und unbewegte Zielscheiben, hatte sie damit stets die hundert Prozent erreicht, was die Zielgenauigkeit anging. Nachdem ihr gesamtes Team mit Waffen ausgerüstet war, wandte Sakuya wieder sein Wort an sie:
„Das Gelände ist eingezäunt, jedoch weitläufig. Eure Ziele werden feindliche Soldaten sein, die jedoch nur mit Messern ausgestattet sind. Sie sind menschlich, aber feindlich. Trefft ihr auf einen von ihnen, bleibt es euch freigestellt ihn zu verhören, oder zu töten. Wir nehmen keine Gefangenen. Oberste Priorität ist es, das Gelände zu säubern, und die feindlichen Einheiten auszuschalten. Habt ihr das verstanden?“
Ein erneuter Chor voller Stimmen bejahte augenblicklich seine Anweisungen.
„Gibt es Fragen?“ fügte er anschließend hinzu und sah aufmerksam in die Gesichter seiner Rekruten.
„Was geschieht wenn ich einen von uns treffe?“ ertönte plötzlich die dunkle Stimme eines bärtigen Rekruten.
„Ihr könnt euch frei entscheiden, ob ihr in kleineren Teams, zu zwei oder alleine agieren wollt. Für jeden ist ein feindlicher Soldat vorgesehen. Also seit schnell, damit ihn euch niemand zuvorkommt.“ erwiderte Sakuya laut.
Ein kurzes Gemurmel brach aus, ehe Sakuya mit einem lauten „Los, los los.“ den Beginn ihrer Mission signalisierte. Augenblicklich verließ Lynn zügig das Ufer des kleines Baches und lief weiter in den Wald hinein. Sie würde sich, getarnt mit Blättern, in eine Kuhle des Waldbodens legen und auf ihr Opfer warten. Leise und lautlos, wie man es ihr beigebracht hatte. Aufmerksam und voller Konzentration verlangsamte sie ihre Schritte nach einiger Zeit. Nachdem sie zum stehen gekommen war, um zu lauschen, fand sie ein geeignetes Plätzchen unter einigen dichten Nadelbäumen. Alle ihre Muskeln waren angespannt, sie war in sofortiger Bereitschaft, bei dem kleinsten Geräusch ihre Kampfposition einzunehmen. Aber es blieb ruhig. Nur der Wind rauschte durch die hohen Baumwipfel und wirbelte ab und an durch das Laub des Waldbodens. Mit akribischer Genauigkeit hatte Lynn reichlich Äste und Laub über sich positioniert, bevor sie ihr Scharfschützengewehr in Position brachte, entsicherte und lud. Es verstrich einige Zeit, in der es still blieb. Sie dachte darüber nach, wer diese feindlichen Soldaten wohl waren. Aus einem ihr unerklärlichen Grund, durchzog jedoch immer wieder Sakuyas Bild, wie er bewaffnet vor ihnen gestanden, und zu ihnen gesprochen hatte, ihre Gedanken. Er war der perfekte Soldat. Alles was sie konnte, hatte sie von ihm gelernt. Er strahlte solch eine Männlichkeit aus, wie es sonst niemand in der Basis tat. Ja, der Boss... ihr Teamleiter.
Ein verdächtiges Knacken, einige Meter von Lynns Versteck entfernt, ließ sich hellhörig werden. Ein Mann in einem schwarzen Pullover schlicht ängstlich jedoch aufmerksam zwischen einigen Tannen hindurch. Er war das Ziel. So würde keiner von ihnen laufen. Er wirkte beinahe erstarrt, als er scheinbar etwas gehört hatte. Lynn visierte präzise seine Brust an und drückte den Abzug. Mit einem nahezu lautlosen dumpfen Schrei sackte der Mann zusammen. Wenige Augenblicke später trat einer ihrer Teamkollegen hinter einem Baum hervor und sah sich fragend um. Es war ziemlich riskant sich nun so offen im Wald zu bewegen fand Lynn, während sie ihren Kameraden dabei beobachtete, wie er eine aufrechte Haltung einnahm und sich umsah. Sie erkannte, dass es der bullige Mann mit dem Bart war, der zuvor bei der Einweisung die Frage gestellt hatte. Sie erkannte augenblicklich die Gefahr, die aus ihrem rechten Augenwinkel auf ihn zu schnellte. Dort war anscheinend ein weiterer feindlicher Soldat gewesen, der nun im Begriff war, ihren Kameraden mit seinem Messer zu attackieren. Er war nicht sonderlich flink, und erhaschte einen tiefen Schnitt an seiner Schulter, von seinem Gegenüber. Lynn rang einen Moment mit sich, ihm die Situation allein zu überlassen, oder einzugreifen. Sie erinnerte sich an Sakuyas Worte, daran, dass man Freunden zu helfen hatte. Das Handgemenge der beiden war zu hektisch. Würde sie schießen, konnte sie nicht ausschließen ihren Teamkameraden zu verletzten. Voller Adrenalin, aufgrund der gefährlichen Situation, verließ Lynn blitzschnell ihr Versteck und überbrückte in nur wenigen Sekunden die Distanz zu den beiden Männern. Sie vernahm gerade noch einen wütenden Aufschrei, als sie bereits ihr Messer gezückt und dem feindlichen Soldaten die Kehle durchgeschnitten hatte.
„Was soll der Mist, er gehörte mir!“ raunte sie eine undankbare und tiefe Stimme von der Seite an. Lynn wandte sich um und steckte ihr Messer wieder ein. Ihr fehlten die Worte. Ohne sie könnte er jetzt tot sein und trotzdem zeichnete sich überschäumende Wut in seinem breiten Gesicht ab.
„Was willst du Mutant eigentlich hier? Das war meine Richtung.“ fügte er hinzu. Lynn war sich nicht ganz sicher, ob sie ihn gerade richtig verstanden hatte. Hatte er sie soeben als „Mutanten“ betitelt? Was sollte das?
„Du kannst dir Nichtmals selbst die Schuhe binden, ständig muss der Boss dir dabei helfen, was hast du eigentlich hier verloren, mit deinen pseudo-Superkräften?“ Lynn war bereits im Begriff gewesen ihn stehen zu lassen und sich wieder auf die Mission zu konzentrieren, aber das soeben gesagte ließ ihr keine Ruhe. „Pseudo-Superkräfte“ war definitiv nichts Gutes.
„Na komm, greif mich schon an! Dieses Mal kann der Boss dir nicht zur Hilfe eilen!“ beschwor er Lynn provozierend, die ihn jedoch nur verwirrt ansah. Sie standen so offensichtlich und ungetarnt im Wald herum, dass sie ein allzu leichtes Ziel bildeten. Das musste aufhören. Erneut ihm Begriff zu verschwinden, spürte Lynn plötzlich den festen Griff des Mannes an ihrer Schulter. Ein brennen durchzog augenblicklich ihren Körper, als würde sich alles in ihr gegen diese Berührung sträuben. Blitzschnell wandte sie sich zu ihrem Kameraden um und sah ihm wütend in seine zornigen braunen Augen. Seine Nasenflügel bebten.
„Und heute Abend lässt du dich wieder von Sakuya zudecken, was?“ Ein Schlag. Ein weiterer. Ein blitzschneller Tritt gegen seine Knöchel beförderten den Mann augenblicklich auf den Waldboden. Das reichte. So etwas musste sie sich nicht anhören. Er hatte sie angefasst, er hatte kein recht dazu gehabt. Sie stürzte sich rittlings auf ihn und spürte seinen sich dagegen sträubenden Körper unter ihren Oberschenkeln. Als sie ihr Messer zog und es stumm zu seinem Mund führte versuchte er verzweifel ihre Richtung abzuwenden, aber sie war zu stark gewesen. Unter einem heftigen sich winden und keuchen, taxierte Lynn die Klinge zwischen seinen Zähnen. Sie würde ihm die Zunge herausschneiden, dann würde er nie wieder solch ein dummes Zeug von sich geben. Laute und heftige Schritte nährten sich ihr rasch, und sie spürte, wie jemand ihm begriff war an ihr zu zerren, jedoch keine Chance hatte. Mit einem gezielten Tritt zur Seite entledigte sie sich eines weiteren Teamkameraden, der das Geschehen wohl aus der Ferne beobachtet haben musste, und sie nun von ihrem Vorhaben abbringen wollte. Der Mann blieb keuchend auf dem Boden liegen, während Lynn die Klinge ihres Messers mit all ihrer Kraft zwischen den Zähnen ihres Kameraden drehte, der ihr voller Angst und Panik entgegen sah. Aber ihre unbarmherzigen Augen waren sich in diesem Moment sicher, dass er genau das verdient hatte, als plötzlich Sakuyas Stimme ertönte:
„Hör auf damit, sofort!“ sie dachte nicht daran und wurde prompt mit einer Kraft von ihrem Kollegen hinunter gerissen, die sie so noch nie erlebt hatte. Obwohl sie sich mit allen Kräften wehrte, hatte sie gegen Sakuya jedoch keine Chance, mit drei gezielten Griffen, hatte er sie zu Boden gedrückt und kniete nun mit einem Bein auf ihrem Rücken. Sie zerrte an ihren Händen, aber er hielt sie mit nur einer zusammen, dicht an ihre Wirbelsäule gepresst. Der Verschluss einer Einwegspritze viel neben ihrem Gesicht zu Boden, und sie ahnte, dass sie gleich nichts weiter als schlafen würde. Unter ihren stummen Bemühungen, sich von Sakuyas Gewicht zu befreien, spürte sie den Einstich in ihren Rücken. Die Wirkung setzte augenblicklich ein und ließ Lynns Bewegungen erstarren.
Aus einem Schock ähnlichen Zustand erwacht, rieb sich Lynn verwirrt durchs Gesicht. Man hatte sie wieder in ihre Baracke gebracht. Das Gutachten über ihre Leistungen würde Negan nicht sonderlich erfreuen, ganz zu schweigen von Sakuya. Er würde sauer sein, dass sie schon wieder einen „Freund“ verletzt hatte. Aber dieses Mal hatte er es wirklich verdient. Sie hoffte, dass sie mit ihrem Messer so viel Schaden angerichtet hatte, dass er nie wieder ein Wort zu ihr sprechen würde. Die Tür ging auf und riss sie aus ihren Gedanken. Augenblicklich sprang sie auf und begab sich vor Sakuya in Kampfstellung. Wollte er sie nun bestrafen, weil sie wieder einen Fehler gemacht hatte? Das würde sie nicht zulassen. Sie war im Recht. Er machte einige ernste Schritte auf sie zu, anstatt ihre Position zu erwidern. Nichts als Ernsthaftigkeit lag in seinem Blick, mit dem er Lynn ansah.
„Hör auf damit.“ warnte er sie, nachdem er registriert hatte, wie sie vor ihm stand. Aber Lynn dachte nicht daran. Sie würde sich nicht erneut kampflos ergeben und ihre Strafe annehmen. Eine zügige Bewegung von Sakuya, mit der er sie erreichte, drückte sie augenblicklich gegen die Wand ihrer Baracke. Sie spürte jeden einzelnen seiner angespannten Muskeln, wie sie sich in ihren Rücken stemmten, und er mit seiner kräftigen Hand ihre linke Gesichtshälfte an die raue Wand drückte.
„Ich bin nicht gekommen um dich zu Bestrafen. Josh hat mir von dem Vorfall berichtet, den er zwischen dir und Himura beobachtet hatte. Also hör auf damit, mir auf solch eine respektlose Art und Weise entgegen zu treten, hast du mich verstanden?“ Mit einem Male, war das Gewicht dass sie soeben noch an sämtlichen Handlungen gehindert hatte, verschwunden. Lynn drehte sich keuchend um:
„Ja, Sir.“ erwiderte sie und mied seinen vermutlich wütenden Blick. Ihr Herz raste.
„Glückwunsch, du hast die beste Leistung von allen erzielt.“ waren seine letzten Worte, mit denen er sie einfach stehen ließ und die Türe laut hinter sich schloss. Was war das denn gewesen? Lynn schüttelte ihren noch immer von dem Betäubungsmittel dröhnenden Kopf. Keine Strafe? Wahrscheinlich war es Strafe genug gewesen, dass er sie so hart angefasst hatte. Aber sie hatte es schließlich provoziert.
Als Lynn unter der Dusche stand, entging ihr das Gespräch dreier Rekrutinnen neben ihr nicht. Sie redeten über Sakuya Kira. Darüber wie gerne sie ihm beim Training zusahen. Und dass er sich mit einer von ihnen an einem Abend der letzten Woche getroffen habe. Weitere Informationen waren kaum zu Verstehen, da sie mit einem kontinuierlichen Kichern überdeckt wurden. Nach einer Weile verschwanden die drei jedoch, als sie Lynn und eine weitere junge Frau bemerkt hatten, beschämt. Beim herausgehen öffnete ein männlicher Rekrut die Türe und rief einen Namen. Augenblicklich begannen die jungen Frauen zu Kreischen und rissen sich ihre Handtücher vor die Brüste. Anscheinend war Nacktheit etwas, was man anderen nicht einfach so präsentierte, schloss Lynn aus dieser kurzen Szene. Es wurde wieder ruhig und sie dachte beim duschen darüber nach, wie oft sie schon nackt vor Dr. Hershel Porter oder Sakuya gestanden hatte. In letzter Zeit nicht mehr. Man war stets darum bemüht, ihr etwas zum Anziehen zu geben. Vielleicht wurde sie langsam zu alt für solche Dinge. Anscheinend schickte es sich nicht.
Die Nacht war kurz und es kam am Morgen zu der Szene, die Lynn bereits schon einmal gesehen hatte. Lynn verwies unsicher Sakuya aus dem Zimmer, da sie nichts an hatte. Er akzeptierte das, scheinbar gewillt, ab sofort draußen vor der Türe auf sie zu warten, wie auf seine anderen Rekruten.
Beim Training blieb beinahe alles beim alten.
Erneut streifte sie konzentriert durch den Wald, auf der Suche nach feindlichen Soldaten. Wo auch immer man diese Männer hergeholt hatte, was auch immer sie getan hatten, es war Lynn egal. Sie hielt sich schweigend an Sakuyas Instruktionen. Himura, mit dem sie gestern die Auseinandersetzung gehabt hatte, war heute nicht zum Training erschienen. Entweder war er tot, oder auf der Krankenstation. Was von beidem jedoch der Wahrheit entsprach, war ihr ebenfalls egal.
Nachdem sie erneut zwei vermeidliche Feinde erledigt hatte, kehrte Lynn mit den anderen zum Sammelpunkt zurück. Während sie sich bückte und dabei half, die Waffen in einer geeigneten Kisten zu verstauen, die nahe dem großen Felsen am Bach stand, auf dem sie zuvor erneut bereit gelegen hatten, wurde Lynn das Gefühl nicht los beobachtet zu werden. Sakuya hatte das Wort soeben an seine Rekruten gerichtet und schien einen Moment inne zu halten. Als Lynn sich unter seinem Blick überrascht umdrehte und ihn fragend ansah, nahm er seine Befehle jedoch wieder auf und sprach weiter. Es folgte wie üblich das gemeinschaftliche „Ja, Sir“ ehe sie sich auf den Rückweg machten. Ein jüngerer Rekrut stieß Lynn plötzlich vorsichtig an, im Begriff etwas zu sagen. Sie kannte ihn. Er war ebenfalls schon lange Teil des Teams. Seine Leistungen waren durchschnittlich, aber er zeigte mehr Ehrgeiz als die anderen.
„Hat es bei dir schon angefangen?“ fragte er sie schließlich so leise, dass niemand anderes es hören konnte, während sie Sakuya zurück zum Stützpunkt folgten. Lynn erwiderte verwirrt seinen Fragenden Blick.
„Was meinst du?“ in seinem Gesicht zeichnete sich jähe Verwunderung ab.
„Ich meine die Hitzewallungen; du bist doch auch von dem Zuchtprogramm betroffen, oder nicht?“ Ihren Kopf wieder auf den Weg fokussiert, musste sie einen Augenblick überlegen. Ja, sie hatte das Gespräch zwischen Sakuya und Hershel im Kopf. Die beiden hatten vor einigen Monaten darüber gesprochen, in ihrem Beisein.
„Wie kommst du darauf?“ fragte sie schließlich und abrupt fiel ihr wieder der Name des jungen Mannes ein, „Cade“.
„Ich frage dich, weil ich wissen muss, wie es um die Mädchen aus Saviors Team steht. Sie sind ein wenig älter als du, aber weißt du vielleicht ob es bei ihnen schon angefangen hat?“ Neugierde blitze in seinen schmalen braunen Augen auf.
„Tut mir leid, ich weiß es nicht.“ erwiderte sie zurückhaltend und prompt schossen ihr die Bilder aus den Duschräumen vor Augen.
„Schade, ich hatte gehofft es irgendwie so wenden zu können, dass ich Saya zugeteilt werde. Ich glaube ich habe mich in ihre langen blonden Haare verliebt.“ nuschelte Cade enttäuscht vor sich hin. Was? War Saya vielleicht das Mädchen, welches gestern noch davon schwärmte, dass Sakuya sich mit ihr getroffen haben sollte? Lynn schüttelte den Kopf. Was sollte das, darüber nachzudenken. Es diente keinem Ziel. Sie verwarf den Gedanken. Cade war ein gut aussehender junger Mann, zwar etwas fülliger als die anderen, aber sehr wohl ebenso trainiert. Dunkelbraune Haare und ein fast schwarzer, die Konturen seines Gesichts betonender Bart ließen ihn ein wenig düster wirken. Aber er lächelte Lynn nur verwegen an, und setzte dann seinen Weg stumm fort. Er war nett, dachte Lynn. Vielleicht war er ein wahrer Freund.
Nachdem auch das Ausdauertraining mit einem lang-läufigen Run durch ein weiteres Waldstück absolviert war, zog sich Lynn auf ihre Baracke zurück. Sie hatte heute keinen Hunger verspürt, trotz des harten Trainings und sie hoffte, dass Sakuya ihr Fehlen entgangen war. Eigentlich hatte sie stets zum Einnehmen der Mahlzeit am Abend anzutreten, aber heute war ihr nicht danach gewesen. Ein Klopfen ließ sie aus ihrem Dämmerschlaf erwachen. Als sich die Tür öffnete stand Savior, der Teamleiter den Cade zuvor im Wald erwähnt hatte im Raum, und gebar Lynn ihm zu folgen. Er bliebt stumm, bis er sie in Hershels Labor abgesetzt hatte und wieder verschwand. Ein ihr unbekannter Mann kam mit einigen Akten in den Händen auf sie zu. Er trug, ebenfalls wie Doktor Porter, einen langen weißen Kittel.
„Linnai, mein Name ist Dr. Allan Wake, ich werde alle weiteren Prozesse mit deiner Person übernehmen.“ Eine harsche Bewegung seiner Hand machte ihr deutlich sich auf einen Untersuchungstisch zu setzten.
„Hallo, Herr Dr. Wake, ich bin Linnai.“ erwiderte sie ihm etwas verunsichert. Er trug eine Runde Brille mit einer silbernen Fassung, die seine grauen ernsten Augen kleiner wirken ließen. Sein Haar war grau, obwohl er noch nicht sonderlich alt aus sah. Er war vielleicht ein paar Jahre älter als Sakuya, aber er hatte deutlich mehr Falten auf der Stirn.
„Sir, warum bin ich hier?“ fragte sie schließlich leise und begegnete prompt seinem ärgerlichen Blick, den er von einigen Unterlagen auf einem Klemmbrett abwandte.
„Es müssen noch einige Modifikationen an dir vorgenommen werden. Der Geomas Wert in deinem Blut hat sich soweit stabilisiert. Es sollte langsam mehr hin zugeführt werden.“ Angst machte sich in Lynns Gesicht breit, das spürte sie deutlich, obwohl sie krampfhaft versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Wie lapidar er das gesagt hatte, wusste er überhaupt was es für Schmerzen waren, die sie mit jedem Eingriff ertrug?
„Wo ist Dr. Porter?“ entwich ihr schließlich diese brennende Frage. Er war auch nicht ihr liebster Gesprächspartner, aber er hatte trotz seiner rabiaten Methoden immer etwas Warmes und Mitfühlendes an sich gehabt. Ein verächtliches Schnauben ging von Wake aus und er warf beinahe die Akten, die er soeben noch studiert hatte, auf einen benachbarten Tisch.
„Hershel Porter hat sich lange genug nicht an Dakons Vorschriften gehalten. Er hätte schon vor zwei Wochen mit der Gen-Therapie weiter machen sollen, aber er tat es nicht. Er wurde somit zurück versetzt zur Forschung für die Nanotechnologie. Aber keine Sorge, er wird die kommenden Konstitutionstests mit dir durchführen. Lynn war sich nicht sicher, ob das was sie hörte ihr gefiel. Sie hatte genug von irgendwelchen Tests, bei denen man offensichtlich versuchte sie zu ertränken, oder sie so lange auf dem Laufband behielt, bis sie beinahe ohnmächtig wurde. In der Vergangenheit hatten diese Tests nur Nachts stattgefunden, und stets hatte Hershel sie durchgeführt und protokolliert. Vermutlich damit Negan die Früchte seiner Angestellten beobachten konnte.
Ihr Gesichtsausdruck musste in etwa das ausgedrückt haben, was sie von der ganzen Sache hielt, und prompt spürte sie den festen Griff von Wake an ihrem Arm:
„Es ist mir herzlich egal, was du dem allen hier hältst. Du bist Negans Eigentum. Wenn er dich nicht aus der Wüste geholt hätte, hätte dir noch weitaus Schlimmeres bevorgestanden, also zeig dich etwas dankbar.“ eine Tropfen seines Speichels berührten Lynns Gesicht während er seine wütenden Worte auf sie niederprasseln ließ. Ein Gefühl der Wut stieg in ihr hoch, als er sie wieder losließ und sich von ihr abwandte. Die Beruhigungsspritzen lagen zu ihrer Rechten, unmittelbar neben seinem Rücken. Es wäre eine schnelle Bewegung und sie wäre ihn erst einmal für ein paar Stunden los. Aber Sakuya würde davon vermutlich nicht viel halten. Entgegen ihrem Drang Doktor Wake zu narkotisieren und womöglich noch weitaus schlimmeres mit ihm anzustellen, bemühte sie sich, bei seinem Vorhaben sie festzuschnallen, nicht um sich zu schlagen.
Das war nicht richtig. Sie wollte Hershel zurück. Dieser Mann hatte keinen Funken Mitgefühl. Er zog die Gurte um ihre Glieder so fest, dass nach wenigen Sekunden bereits die ersten Taubheitsgefühle in ihrem Füßen auftraten. Lynn kniff die Augen zu. Sie wollte nicht wissen was er tat, wie erbarmungslos er sie keines Blickes würdigte. Und plötzlich waren sie wieder da: die Bilder aus der Wüste. Die quälende Hitze, der Sand, das ständige Geschreie und die Schüsse, der Sandsturm. All die Erinnerungen die Lynn so weit in das hinterste ihrer Seele verdrängt hatte kamen plötzlich wieder zum Vorschein. Was sie die letzten beiden Jahre zu mühevoll dachte überwunden zu haben, jene Fragmente die ihr mehr Rätsel als Antworten aufgaben, weigerten sich zu einem vollständigen Bild zu werden. Es zeriss sie beinahe innerlich, bei dem Gedanken daran, wie sie Sakuya das erste mal gesehen hatte. Inmitten der Trümmern und des Sandsturmes. Begleitet in einem Gewusel aus Schüssen, Soldaten und Aufsehern. Ein heilloses Durcheinander. Aber sie sah nur den Mann in ihm, der gekommen war, um ihr etwas Schlimmes zuzufügen, so wie all die anderen vor ihm. Und als er den Befehl gegeben hatte, dass sein Team sie mitnehmen sollte, begann ein Sturm aus Wut, Verzweiflung und Hilflosigkeit in Lynn loszubrechen. Was danach geschah wusste sie nicht mehr.
„Es geht los.“ riss die unliebsame Stimme von Wake sie plötzlich aus diesen Fragmenten aus verdrängten Erinnerungen. Stechender, pulsierender, brennender Schmerz begann sich in ihrem ganzen Körper auszubreiten, ehe ihr Stöhnen verstummte.
„Was ist passiert?“ Sakuyas Stimme. Voller Aufregung und Besorgnis.
„Sie hat das Labor verwüstet, von Allan Wake können wir getrost so schnell keine Dienste mehr erwarten.“ Es war Hershels Stimme und ihr klang Ernüchterung bei.
„Hat sie ihn verletzt?“ Hershel gab ein leises lachenden Stöhnen von sich:
„Nein, sie hat ihn festgebunden und ihm drei Spritzen Geomas verabreicht. Beinahe wie ein Profi.“
Lynn hörte deutlich wie Sakuya aufzuatmen schien.
„Einige Leute aus der Forschungsabteilung sind durch seine Schreie aufmerksam geworden, und haben sie letztendlich mit einem Betäubungsgewehr außer Gefecht setzten können.“ erklärte Hershel noch immer schmunzelnd.
„Du hast deinen Posten wieder.“ stellte Sakuya mit gewohnt ruhiger Stimme fest.
„Was uns jedoch zu einem weiteren Problem führt: Negan will mit sofortiger Wirkung das Zuchtprogramm an ihr fortsetzten. Gestern haben zwei unserer Rekrutinnen entbunden; Es war eine Farce. Keiner der Säuglinge war auch nur annähernd in einem überlebensfähigem Stadium. Die Berichte liegen Negan vor. Wir werden sehen, wie er sich entscheidet, in den nächsten Tage, denke ich.“ Hershels Stimme hatte einen nachdenklichen Unterton bekommen.
„Das muss aufhören. Sie ist mitten in einer natürlichen hormonellen Umstellungsphase. Es wird nicht mehr lange dauern, bis sie beginnt deine Entscheidungen abzulehnen oder infrage zu stellen. Negan scheint das alles zu übersehen.“ Sakuya schwieg einen Moment nachdem Hershel seine Bedenken geäußert hatte.
„Sie wird versuchen sich von den anderen zurückzuziehen. Das ist völlig normal, aber du darfst den Draht zu ihr nicht verlieren. Es ist wichtig, dass sie dich weiter als Boss und Ansprechpartner ansieht. Abgesehen von den bevorstehenden sexuellen Impulsen und dem Drang nach Körperlichkeit sehe ich da kein Problem. Lass ihr etwas Spielraum, was die Interaktion mit anderen Teammitgliedern angeht. Es ist wichtig für sie, in dieser Phase ihre eigenen Erfahrungen zu machen. Sollte Negan noch immer nicht von dem Zuchtprogramm abzubringen sein, lasse ich mir was einfallen. Und wenn es zu Komplikationen innerhalb des Teams kommt, können wir immer noch auf den Prototyp der Jodtabletten zurückkommen. Aber ich halte es für besser, ihren Organismus noch nicht damit zu belasten.“ Das Gespräch hatte eine eigenartige Ernsthafte Wendung angenommen.
„Ich werde den Wachdienst vor ihrer Tür verstärken. Ich weiß, dass ich meinem Team trauen kann, aber bei den anderen Soldaten bin ich nicht sicher. Ich habe schon etwas länger festgestellt, wie sie, sie neuerdings ansehen.“ erwiderte Sakuya mit tiefer und sorgenvoller Stimme. Lynn hatte sein Gesicht vor Augen, wie ernst er Hershel dabei ansehen würde.
„Das sollte dich nicht wundern, sie ist eine hübsche junge Frau geworden.“ antwortete Hershel erneut mit einem von Lynn vermuteten Lächeln im Gesicht.
„Negan wird gleich hier sein, es wird Zeit sie zu wecken. Wollen wir hoffen, dass sein Urteil nicht zu hart ausfällt.“ fügte Hershel schließlich hinzu.
„Sie erinnert mich ein wenig an dich, als ich dich das erste Mal auf dem Operationstisch hatte. Nur dass du vor dem gesamten Forschungstrakt kein Halt gemacht hast und nicht mehr zu bändigen warst.“
Ein unglaublicher Schmerz durchfuhr augenblicklich, nach Hershels Worten, Lynns Körper. Sie rang nach Luft. Es war ihr als hätte man eiskaltes Wasser über sie gegossen. Völlig erschrocken blickte sie sich um, nachdem man ihr etwas von den Augen genommen hatte, dass sie nun wieder sehen ließ. Sie saß fixiert auf einem Stuhl, in einem weiß gekachelten Raum. Eine großer Spiegel lag zu ihrer rechten. Hilfesuchend suchte sie Sakuyas Blick, der direkt vor ihr stand, und den nur ein gradliniger Metalltisch von ihr trennte.
„Es... es tut mir leid, Sir...“ wimmerte sie leise und atemlos.
„Das war Adrenalin. Man hat dich narkotisiert, nachdem du begonnen hattest, mein Labor zu verwüsten.“ versuchte Hershel sie ihrer Situation bewusst werden zu lassen. Ein ungläubiges Kopfschütteln folgte von Lynn.
„Negan ist auf dem Weg hierher. Er wird dich gleich befragen, was passiert ist. Antworte ihm wahrheitsgemäß, hast du verstanden?“ erläuterte Sakuya ihr die weitere Vorgehensweise. Ein Moment verstrich und er schien die Unwissenheit in ihren Augen lesen zu können.
„Du hast keine Ahnung was passiert ist, oder?“
„Nein... Sir, ich weiß es nicht.“ erwiderte sie voller Angst.
„Sag ihm das. Es wird schon alles wieder werden.“ Pflichtete Hershel ihr von der Seite bei. Lynn nickte, nicht fähig ihren Mund vor Entsetzten über sich selbst zu schließen, als sich bereits die Türe öffnete und Negan mit schweren Schritten herein trat.
„Sie beiden warten draußen, ich mache das alleine.“ Negan Worte klangen wütend, und irgendwie seiner überdrüssig. Als wäre er genervt. Hershel war im Begriff Lynns Fesseln von dem Stuhl zu lösen, aber Negan unterbrach ihn:
„Die bleiben dran. Ich habe keine Lust schon wieder angegriffen zu werden. Die Narbe von Sakuyas Aktion vor Jahren ist gerade wieder dabei zu verschwinden. Und jetzt lassen Sie uns alleine.“ Wortlos ging Sakuya am wütenden Negan vorüber. In ihm schien keinerlei Angst vor diesem Menschen zu herrschen. Hershel hingegen verschwand zügig und mit kleinen unsicheren Schritten.
Lynn atmete angespannt und sah dabei zu, wie Negan beiläufig einige Akten vor sich auf dem Tisch fallen ließ, ehe er sich setzte. Arrogant auf scheinbar irgendetwas wartend, blickte er Lynn entgegen.
„Was ist passiert?“ Dabei hatte jedes seiner Wörter einen solchen Nachdruck und so viel Stärke in seiner Stimme evonciert, wie es Lynn eigentlich nur von Sakuya kannte. Lynn schwieg. Was sollte sie ihm sagen? Sie wusste es nicht. Sollte er nicht lieber einer der Männer fragen, die Lynn scheinbar betäubt hatten? Sakuya hatte gesagt, sie solle ihm ehrlich antworten.
„Ich weiß es nicht, Sir.“ diese Antwort schien ihn keinesfalls milder zu stimmen. Mit einer Wucht die Lynn zusammenzucken ließ, knallte er massive Lederriemen auf den Tisch, die Lynn äußerst vertraut aus Hershels Labor waren.
„Kannst du mir verraten, wie du es geschafft hast, dich betäubt und fixiert loszureißen, so dass das Metall der Fixierungsveankerung sich verbogen hat?“ Entsetzen zeichnete sich in Lynns Gesicht ab. War das wirklich sie gewesen?
Ein weiterer Knall ließ sie zusammen zucken, und sie blickte auf drei leere Ampullen.
„Drei Spritzen, randvoll mit Geomas, befinden sich zur Zeit noch im Körper meines besten Wissenschaftlers. Er zittert so stark, dass er Nichtmals mehr in der Lage ist, einen Stift zu halten. Was ist also geschehen?“ und wieder hatten seine letzten Worten solch einen zornigen Nachdruck, dass Lynn jeden Moment damit rechnete, dass er eine Waffe ziehen und sie augenblicklich erschießen würde.
„Dr. Wake hatte mich bereits betäubt. Mir schossen alte Erinnerungen durch den Kopf, nichts schönes. Nachdem er mir das Geomas verabreicht hatte, kann ich mich an nichts als an Schwärze erinnern. Sir, ich weiß es wirklich nicht, es tut mir leid.“ Ihre aufrichtig leidende Stimme schien Negan nicht zu erreichen. Voller Verzweiflung beschwor sie ihn förmlich, dass sie ahnungslos war. Wieder und wieder erinnerte sie verzweifelt die letzten Momente, an die sie sich erinnern konnte. Das konnte nicht sie gewesen sein, was er da versuchte auf sie abzuwälzen. Ein lautes Summen riss sie aus dem schmerzhaften Versuch etwas in der Leere ihrer Erinnerung herauszufiltern.
„Das ist das Band der kürzlich angebrachten Überwachungskamera, sieh hin.“ Aus seiner Wut schien eine wartende Gefahr geworden zu sein. Nachdenklich blickte er auf einen kleinen Monitor, gegenüber des großen Spiegels.
Lynn sah dabei zu, wie sie sich mit nur einem heftigen Ruck von dem Operationstisch erhob und hinter Dr. Wakes Rücken zum stehen kam. Ein gezielter Schlag gegen seinen Hals brachte ihn zu Boden. Mit einer ungewohnten Leichtigkeit in ihrer Bewegung, zog sie ihn hoch und legte ihn auf den Tisch. Zielsicher griff sie nach einigen Spritzen, die aus der Ferne der aufnehmenden Kamera jedoch nicht genauer zu erkennen waren. Mit einer beinahe professionellen Akribie setzte sie, sie an den Unterarmen des regungslosen Doktors an und entleerte den Inhalt in seinem Körper. Nachdem sie fertig war, wandte sie sich um, und starrte einen Augenblick die Wassertanks an, die am Ende des Raumes positioniert war. Eine Blitzschnelle Bewegung brachte sie zu ihnen. Ebenso schnell ergriff sie einen Schreibtischstuhl in unmittelbarer Nähe und schleuderte ihn mit voller Wucht gegen das Glas, welches mit einem lauten Klirren zu Bruch ging. Die Wassermassen stürzten auf sie zu, aber sie blieb reglos zwischen den Scherben stehen. Laute Schreie übertönten plötzlich das Platschen der Wassermassen. Lynn wandte sich langsam um, und betrachtete den Doktor der offensichtlich wieder zu sich gekommen war und nun ein entsetzliches Geschreie von sich gab. Negan beendete das Bild des Monitors und sah abwartend zu Lynn herüber, die nur wie gebannt und voller Entsetzten auf den schwarzen Bildschirm starrte.
„Das warst du Linnai. Und jetzt Frage ich dich noch einmal; Wie konnte es dazu kommen?“
Ungewissheit, Hilflosigkeit und noch mehr Angst stiegen in ihr auf. Sie hatte es doch schon gesagt; sie wusste es nicht. Warum schenkte Negan ihr keinen Glauben? Was wollte er mit seiner Endlosen Befragung erreichen?
„Meinst du, eine Ladung Geomas bringt dich wieder zum sprechen?“ Es waren einige Minuten vergangen, in denen Lynn sich in Überlegungen verloren hatte, ehe Negan sie mit einem leisen Klirren aufschreckte. Er hatte eine Ampulle des leuchtend blauen Geomas zwischen ihnen Beiden auf den Tisch gelegt. In seinen Augen lagen Zorn und Provokation, das konnte Lynn sehen. Wäre Hershel jetzt in diesem Raum würde er wohl einschreiten. Er wusste doch stets, was für Lynn das Beste war, auch wenn sie schon oftmals unter seinen Torturen zu leiden gehabt hatte. Aber etwas in ihr glaubte, dass es sein müsste, und das Hershel, hätte er die Wahl je gehabt, es nicht zulassen würde, dass man sie so sehr quält. Und Sakuya? Er würde Negan wahrscheinlich in diesem Moment zu Boden schlagen oder ihn direkt erschießen.
Eine der drei Spritzen lag nicht mehr vor Negan auf dem Tisch. Vielmehr zog er sie mit dem Geomas aus der Ampulle auf und stand auf, im Begriff sich Lynn zu nähren. Ein Poltern und Hämmern an der einzigen Türe des kleinen Raumes ertönte.
„Sir, sie werden ihr Zentralesnervensysthem damit überlasten! Hören Sie auf!“ Es war tatsächlich Hershels Stimme die Lynn dumpf und leise vernahm. Die Türe musste dick sein, dass ahnte sie. Aus massiven Stahl vielleicht. Negans eiskalte Hand an ihrem fixiertem Arm ließ sie zusammen zucken. Nein, das durfte er nicht tun. Sie wollte diese Schmerzen nicht mehr. Nicht jetzt und auch nie wieder. Es waren Bruchteile einer Sekunde, in denen Lynn so heftig an den Handschellen ihrer Handgelenke riss, dass sie mit einem Mal klirrend zu Boden vielen. Ein Schlag und ein Tritt mit voller Kraft folgten seitens Lynn, und Negan wurde mit einer enormen Wucht über den Tisch geworfen und fiel am anderen Ende keuchend zu Boden. Was hatte sie da gerade getan? Ihre zitternden Hände versuchten nach dem Stuhl zu greifen, auf dem sie gerade noch gesessen hatte und schoben ihn vor ihren Körper, wie ein Schutzschild. Würde er wieder aufstehen und auf sie los gehen, hätte sie somit den Hauch einer Chance. Vielleicht.
Ein Ächzten und Röcheln war vom Boden zu hören, und Lynn beobachtete voller Angst wie sich Negan langsam wieder aufrichtete und sie mit einem nicht zu deutenden Gesichtsausdruck ansah:
„In wenigen Wochen wird deine Reise in den Außeneinsatz gehen. Bis dahin solltest du besser lernen deine Fähigkeiten zu kontrollieren.“ Er klang nicht mehr wütend. Aber Lynn konnte nicht sagen, was sie in diesem Moment mehr verunsicherte; die Tatsache dass er „Außeneinsatz“ gesagt hatte, oder dass er augenscheinlich keine weitere Reaktion auf ihre Gegenwehr zeigte. Mit einem lauten Knall flog die Türe hinter ihm zu. Er war gegangen und Lynn blieb stumm zurück.
Es waren einige Tage vergangen, so vermutete Lynn in ihrem stillen Unterbewusstsein und ließ sich weiter durch ihre Erinnerungen führen. Es fehlten Teile, das war klar, aber sie würde die Zeit mit sich bringen.
Hershels Stimme ließ sich an einen neuen Punkt gelangen.
Er saß nachdenklich vor ihr und musterte sie verwundert:
„Deine Beobachtungsgabe hat sich in dem letzten Jahr durchaus positiv entwickelt.“ Auf seinem Schoß lagen einige Akten, die er nun aufmerksam durchsah:
„Deine Ausdauer ist immens. In wenigen Monaten hast du die Besten der Basis eingeholt. Es ist fast wie ein Wunder, wenn man bedenkt wie eingeschränkt deine Fähigkeiten zu Beginn waren. Sakuyas Protokolle über deine Kampffähigkeiten und das Schusstraining sind ebenfalls sehr gut. Du gehörst mit Abstand zu den Besten. Ich bin mir sicher, ich kann dich getrost zu dem von Negan angeordneten Außeneinsatz schicken. Hast du bereits mit Sakuya Kira darüber gesprochen?“
Lynn sah aufmerksam in Hershels Augen und nickte.
„Ja Sir, er hat mir bereits eine erste Einweisung in meine Aufträge gegeben.“ erwiderte sie zügig und beinahe mechanisch. Seit sich der Vorfall in Hershels Labor ereignet hatte, hatte sie sich stets an die Regeln gehalten. Kam ihr Jemand zu nahe, zog sie es vor, die Distanz zu erhöhen oder sich komplett zurück zu ziehen. Die Blicke der anderen Soldaten hatten dennoch nicht aufgehört. Nach wie vor spürte sie die Blicke hinter ihrem Rücken. Aber sie war anders, als die anderen, das hatte sie nun begriffen. Auch Sakuya hatte sein Verhalten ihr gegenüber geändert; er war distanzierter, sprach mit ihr, wie mit den übrigen Rekruten und er begleitete sie nun nicht mehr zu den Routine mäßigen Untersuchungen in Hershels Labor. Es fehlte ihr. Mit jedem Training packte sie mehr den Entschluss, ihm ihr Bestes unter Beweis zu stellen. Er lobte sie nicht mehr, indem er ihr durch die Haare strich. Es war nur ein ttummer Blick, in den Lynn stets so viel Hoffnung legte. Eines Tages würde er sie vielleicht wieder wie früher behandeln, aber nicht jetzt. Eine eigenartige Anspannung lag in der Luft, und sie konnte sich nicht erklären woher dieses unbehagliche Gefühl kam. Aber bald wäre sie sowieso im Außeneinsatz. In der „wirklichen“ Welt da draußen, und würde das tun, was man von ihr verlangte. Sie würde ihr Team beschützen, ihre Familie, alles was sie hatte.
„Hast du noch Fragen Linnai?“ Hershel holte sie aus ihren Überlegungen in sein Labor zurück und sie blickte ihm mit großen Augen entgegen:
„Sir, werde ich schaffen, was man von mir verlangt?“ Ein zutiefst trauriges aber mit einem versuchten Lächeln überdecktes Schnaufen entglitt Hershel. Er strich ihr mit der Hand über den Kopf.
„Ganz bestimmt, Linnai. Du wirst auf Sakuya aufpassen, und er wird dich beschützen, da bin ich mir sicher.“
Auf der Pritsche ihrer Baracke starrte Lynn eine Ewigkeit an die Decke. Ihre Hände hatten sich tief in den Stoff von Sakuyas Jacke vergraben. Wie würde es da draußen sein? Sie würde wieder in die Wüste zurückkehren, ob es allerdings der Ort war, an dem man sie befreit hatte, wusste sie nicht recht. Man hatte sie nächtelang das Kartenlesen gelehrt. Koordinaten, Sternenbilder, alles was bei der Orientierung half. Verlaufen würde sie sich also voraussichtlich nicht. Sakuya hatte ihr gesagt, dass sie in erster Linie als Präzisionsschützin die Sicherheit des Teams gewährleisten würde. Er hatte etwas von einer Rekrutierungsmission gesagt. Würde sie es schaffen? Es war nicht mehr wie bei dem Training, plötzlich würden echte Leben auf dem Spiel stehen. Oder, war es vielleicht nur eine getarnte Aktion von Negan, der von Lynn irgendetwas abverlangen wollte? Wie, als er sie so in dem Verhörraum, provoziert hatte? Sie spürte wie sie Kopfschmerzen von diesen etlichen Fragen bekam, und entschied sich Duschen zu gehen. Die anderen Frauen würden mit Sicherheit bereits schlafen, dann hätte Lynn ihre Ruhe vor ihren nachdenklichen Blicken.
Das Plätschern einer einzelnen Dusche war noch zuhören, als Lynn die gekachelten Räume betrat. Ein leises schmerzvolles Stöhnen ließ sie hellhörig werden und sie nährte sich unsicher dem Geräusch. Hatte man hier eine der Rekrutinnen belästigt? In Lynn stieg ein unwohles Gefühl auf, als sie dicht an einige Fliesen gepresst stand, und aufmerksam hinter eine Ecke horchte. Wieder ein leises Stöhnen, aber diesmal tiefer. Männlicher? Lynns Neugierde brachte sie dazu einen hastigen Blick hinter die Ecke, zu der laufenden Dusche zu werfen. Was sie sah, raubte ihr beinahe den Atem. Es waren die blonde Saya und Cade. Seine Hände fassten voller Kraft in ihre helle Haut unterhalb ihres Pos, und ihre Beine baumelten hinter seinem nackten Rücken in der Luft. Lynn verschwand wieder hinter der Ecke. Irgendetwas in ihr sagte ihr, dass es absolut nicht richtig war das Ganze mit anzusehen. Vielleicht hatte Saya Schmerzen, Cade war um so vieles Stärker als sie, aber ein erneuten lustvolles Stöhnen verriet Lynn, dass es sich hier um keinerlei Gefahr handeln würde. Mit gemischten Gefühlen verließ sie ungeduscht die Duschräume.
Die Beiden hatten so vertraut miteinander gewirkt. So voller Leidenschaft, wie die, die Lynn empfand wenn Sakuya sie nach guten Leistungen ansah. So, wie sie ihn ansah, wenn er ihnen die neusten Waffe erklärte, oder ihr und den anderen Rekruten half, sie richtig für das entsprechende Ziel zu positionieren oder zu halten. Alles was er tat, war mit so viel Gelassenheit aber auch Konzentration verbunden. Und er wirkte trotz seiner wenigen Worte so männlich, so besonders, zwischen all den anderen. Seine rauen Hände, seine tiefe Stimme, wie er sich bewegte.
Unruhig wechselte Lynn ihre Position auf der Pritsche. Ihr wurde allmählich heiß. Aber warum? Eigentlich fror sie Nachts in der Baracke oftmals, aber heute war es irgendwie anders. War ihr nur so heiß, weil sie plötzlich diese Gedanken über Sakuya hatte? Saya und Cade hatten anscheinend extra gewartet, bis alle weg waren. Vielleicht war es etwas Verbotenes was sie getan hatten. Vielleicht sollte sie Sakuya davon am Morgen erzählen? Nein, besser nicht. Und besser nicht mit Sakuya sprechen. Bei dem Gedanken wie er zu ihr hinunter sehen würde, und sie anblicken würde, wurde ihr erneut ganz heiß. Nein, am besten gar nicht mehr an Sakuya denken. Sonst würde sie nie einschlafen.
Der nächste Morgen kam, und alles war beim alten. Beinahe.
Beim Schusstraining fiel Lynn mehrmals auf, dass Sakuya zu ihr hinüber sah. Eigentlich war er stets konzentriert, wenn er den anderen Rekruten etwas erklärte, aber an diesem Tag schien ihn etwas zu beschäftigen. Nur konnte sie sich keinen Reim darauf machen was es war. Vielleicht hatte man ihm gesagt, dass Lynn die Geschehnisse von gestern Nacht mit Saya und Cade beobachtet hatte. Unwahrscheinlich. Jemand müsste sie gesehen haben, wie sie die beiden beobachtet hatte. Da war jedoch niemand anderes gewesen. Das hätte sie mitbekommen. Hatte sich Lynn etwa etwas zu schulden kommen lassen? Nein. Sie hatte Hershel in den üblichen Formen geantwortet. War beim Essen gewesen. Hatte gute Leistungen beim Training erzielt. Das konnte es also auch nicht sein.
Die vielen Fragen in Lynns Kopf lenkten sie zu ihrem Ärgernis davon ab, den Granatwerfer im Kaliber 40 an das vor ihr liegende Sturmgewehr zu montieren. Eigentlich war sie immer schnell mit dem zerlegen der Waffen gewesen, aber heute war sie abgelenkt. Sakuyas Stimme riss sie aus dem Vorhaben, die Waffe erst einmal zu zerlegen um zu prüfen, woran es lag, dass der Aufsatz sich nicht montieren ließ.
Was hatte Sakuya gerade gesagt? Lynn war so nervös, durch die Erkenntnis, dass er genau hinter ihr stand, dass ihre Hände begannen zu zittern. Wieder schoss eine ungewöhnliche Hitze durch all ihre Glieder. Sie sah schließlich, ein wenig geblendet durch die Sonne, über ihre Schulter, hinauf zu ihm:
„Sir?“ fragte sie mit ungewöhnlich dünner Stimme.
„Linnai, geht es dir gut?“ erwiderte er ihr ernst.
„Ja, Sir.“ antwortete sie, wieder im Begriff sich der Waffe zu widmen, als seine Hand sanft nach ihrem Handgelenk griff. Sie hielt inne. Diese Berührung fühlte sich zwar vertraut an, aber irgendwie erschien sie ihr fremd.
„Ich zeig es dir.“ sagt er schließlich und setzte sich zu ihr auf die Bank. Er erzählte etwas über die Eigenarten in dem Modell der neuen HK AG36, aber Lynn konnte ihm nicht folgen. Zu sehr verspürte sie das Bedürfnis ihren Teamleiter zu berühren. Wie würde er wohl reagieren? Wie in Trance sah sie ihm dabei zu, wie seine Hände voller Übung über die schwarzen Metallteile glitten.
„Du strahlst eine ziemliche Hitze aus, geht es dir wirklich gut?“ beendete Sakuya schließlich seinen Versuch, Lynn zu zeigen, wie man alles Fachgerecht montierte. Sie sah ihn ein wenig verwirrt an:
„Ja, Sir.“ In ihrer Stimme lag ein schwaches Zittern. Sakuya hatte das sofort bemerkt. Er kannte sie besser als jeder andere auf der Basis. Sie betete, dass er nicht darauf kam, was in ihrem Kopf vor sich ging.
„Geh zu Dr. Porter, jetzt gleich. Sprich mit ihm, oder mit einem Angestellten aus dem Psychologen Team. Du bist für heute vom Training freigestellt.“ Endgültige unabdingbare Worte. Er hatte sie vom Training ausgeschlossen. Und das so kurz vor dem bevorstehenden Außeneinsatz. Was sollte sie Hershel sagen? Geschweige denn, einem der Psychologen? Nein, sie würde nirgendwo hin gehen. Es würde doch nur wieder darauf hinauslaufen, dass irgendetwas in ihrer Biochemie nicht stimmte, und man wieder an ihrem Kopf, oder ihrem Blut herumbasteln würde. Nein.
Lynn spürte Sakuyas Erstaunen in ihrem Nacken, als sie sitzen blieb, nachdem er bereits aufgestanden war. Es verstrichen einige Sekunden in denen sie darauf wartete, dass er sie erneut auffordern würde. Aber scheinbar ließ er ihre Entscheidung zu. Aber sie könnte ihm nicht einfach eine Aufforderung verwehren. Sie hatte ihm ihr Versprechen gegeben, sich nie gegen sein Worte aufzulehnen, damit Negan nie erfahren würde, dass der Chip in ihrem Kopf nicht richtig funktionierte.
„Sir, darf ich bitte bleiben? Ich bin mir sicher, dass es mir gut geht.“ richtete sie ihre Worte an ihn, ohne Sakuya dabei anzusehen.
„Ja.“ erwiderte er ihr, in einem Tonfall der Lynn verriet, dass es wirklich für ihn in Ordnung war.
Am Abend hatte sie nach dem duschen lange wachgelegen, und sich dazu entschlossen noch in den großen Raum für die Lehrveranstaltungen zu gehen, um sich ein wenig mit Büchern von ihren verwirrenden Gedanken abzulenken. Ein Teamleiter hatte sie dorthin gebracht. Nach den Jahren auf der Basis genossen sie und einige andere, die Freiheiten, auch nach der Ruhezeit noch den Raum zur persönlichen Intensivierung des angeeigneten Wissens über Waffen, Verhörtechniken und strategischen Maßnahmen zu nutzen.
Völlig vertieft hatte Lynn sich in einem Fachaufsatz über Verhörtechniken. Sie schrieb konzentriert einige Passagen in ihr persönliches Notizbuch heraus, als ihr bei einem flüchtiger Gedanken an das Bild von Saya und Cade in den Sinn kam, und der Stift aus ihrer Hand glitt und zu Boden fiel. Genervt von dieser Unachtsamkeit, beugte sie sich unter den Tisch. Der Stift war beinahe bis zum anderen Ende der Tischkante gerollt, und mit einem leisen Stöhnen schob Lynn den Stuhl beiseite und kletterte unter den Tisch. Das Geräusch der Türe unterbrach sie in ihrem Vorhaben; Wer kam so spät noch hierher? Meistens war sie die Einzige so spät in der Nacht. Die anderen Rekruten zogen es vor, ausreichend zu schlafen. Aber Lynn hatte mit der Zeit festgestellt, dass sie auch mit wenig Schlaf auskam und am nächsten Tag konzentriert bei dem Training war. Wer auch immer gerade hereingekommen war schwieg. Vielleicht bei ihrem Anblick, wie sie unter dem Tisch kniete. Mühevoll zog sie ihren Oberkörper wieder hervor und stand auf. Sakuya hatte direkt hinter ihr gestanden und sah sie nun stumm an. Was wollte er hier noch so spät? Vielleicht machte er seine Protokolle hier? Aber er hatte doch einen Schreibtisch in seiner Baracke. Lynn sah sich plötzlich nicht mehr im Stande ihn ordnungsgemäß zu zu begrüßen. Warum sagte er nichts? Er stand direkt vor ihr und sah sie nur stumm mit seinem ernsten und überlegenen Blick an. War darin etwa die Spur von Herausforderung zu sehen? Provokation? Verlangen? Es war etwas was Lynn nicht zuordnen konnte und ehe sie die Chance hatte, weiter darüber nachzudenken ging Sakuya um den Tisch herum, und hob von der anderen Seite ihren Stift auf.
„Danke.“ murmelte Lynn leise, mit ihren Blick, seinen erwidernd.
„Setz dich.“ durchbrach seine Aufforderung die unheimliche Stille des großen Raumes. Sie folgte seiner Anweisung, und er tat es ihr, am anderen Ende des Tisches, gleich. Die darauffolgenden Stunden vergingen in Stille. Die Beiden saßen sich gegenüber, Sakuya bearbeitete einige Akten und Protokolle, wie es Lynn bei einem flüchtigen Blick auffiel, und sie beschäftigte sich weiterhin mit den unterschiedlichsten Verhörtechniken.
Ein kleiner Windzug ließ Lynn aus ihren Überlegungen auffahren. Eine Berührung? Nein, es war die Nähe und die Wärme eines Mannes. Lynn spürte wie Sakuya direkt neben ihr stand und ihr langsam den Stift aus der Hand nahm. Sie ließ ihn zwischen ihren Fingern hindurch gleiten, während sie Sakuyas Atem in ihrem Nacken spürte. Was schrieb er auf? Diese überflüssige Frage rückte immer mehr in Vergessenheit, während Lynn langsam ihre Augen schloss und ihren Kopf an Sakuyas Bauch legte, der noch immer, leicht über sie gebeugt, etwas nieder zu schreiben schien. Seine Wärme durchfuhr ihren ganzen Körper und sie spürte wie ihr Herz begann schneller zu schlagen. Sie atmete tief ein, mit der Sicherheit, dass ein lang ersehnter Wunsch sich soeben erfüllte. Das Geräusch der Bleistiftmine auf dem dünnen Papier war verstummt. Mehr. Sie wollte mehr von diesem Gefühl, welches sie beinahe zu zerreißen schien. Behutsam und doch voller Verlangen schmiegte sie ihre linke Gesichtshälfte enger an den warmen Stoff von Sakuyas Shirt. War sein Geruch doch so vertraut. Hitze durchflutete ihre Beine, ihre Oberschenkel eng aneinander gepresst, in der Ungewissheit von welchem Bereich ihres Körpers das Kribbeln genau ausging. Leere ergoss sich über ihre Gedanken, es waren nur noch Gefühle die sie leiteten. Dieses eine vertraute Gefühl, einige Bilder die vor ihren geschlossen Augen Wiederholung fanden. Wie sie noch vor einigen Jahren mit Sakuya im hohen Gras des Waldes gelegen hatte. Nur sie beide und ihre Gewehre. Stundenlang. Ohne auch nur ein Wort. Ihr Blick der konzentriert immer wieder Sakuya suchte, und ihr angespannter Körper der nur auf Zeichen gewartet hatte, um endlich schießen zu dürfen. Er war immer da gewesen. Sakuya war immer an ihrer Seite gewesen, er hatte ihr alles beigebracht. Mit seiner Ruhe, seiner Geduld, seinem Durchsetzungsvermögen, aber auch mit seiner Härte und seiner Männlichkeit. Seine ernsten blauen Augen, die sie stets beobachteten. Und da waren ihre Gedanken wieder: Warum hatte er sich in letzter Zeit so sehr zurückgezogen? Warum behandelte er sie stets wie all die anderen seines Teams? Als sie noch kleiner war, war er anders, einfühlsamer, verständnisvoller... . Und nun?
Lynn hob ihre Hände, im Begriff endlich den Mann berühren zu dürfen, nach dem sie sich so sehr sehnte. Ihre Hände Griffen in die Leere. Die Wärme war mit einem Mal verschwunden und Lynn öffnete verwirrt die Augen. Sakuya war nicht mehr da. Ihr kamen Zweifel. War er überhaupt da gewesen? Sie sah in ihr Notizbuch: Nichts. Nur ihre Handschrift. War es möglich, dass sie sich das gerade eingebildet hatte? Ihr Blick wanderte voller Verwirrung zum anderen Ende des großen Tisches. Er war da gewesen, einige Akten lagen noch auf seiner Seite. Aber er hatte nie hinter ihr gestanden und war ihr so nahe wie eben gekommen.
Die Wüste. Ein schwerer Sandsturm und die verloren Schreie irgendwo in der Ungewissheit, außerhalb des Aussichtspunktes, auf dem Lynn mit ihrem Gewehr kauerte. Sie hatte das Team aus den Augen verloren. Ihr Team. Dreck und Sand klebten an der Sonnenverbrannten Haut ihres Gesichtes. Ihre Augen versuchten etwas in der grau-braunen Masse zu erkennen, die innerhalb von wenigen Minuten das gesamte Camp eingehüllt hatte. Ein Riss. Ein Schlag. Tiefes Schwarz. Schüsse in der Ferne, und nicht enden wollende unerhörte Schreie.<<
-19- It dusted us over, and it covered us under
Ein solch unliebsamer Ort, an dem Lynn sich noch immer auf einem verrosteten Operationstisch liegend befand. Abwesend rieb sie sich die Stirn, und blickte mit offenen, jedoch nicht sehenden Augen, in den dunklen Nachthimmel. Die Sonne war bereits vor Stunden untergegangen, über den alten Ruinen des ehemaligen VCO Stützpunktes.
Nichts ahnend, dass Carver ihr direkt gegenüberstand, versuchte Lynn die letzten Fragmente ihrer Erinnerungen zu begreifen. Sie wusste nicht, wie lange er sie dabei beobachtet hatte, wie sie da lag und gedankenversunken in den nächtlichen Himmel blickte. Abseits der Stadt, abseits jener Lichter. Und doch konnte er sie nicht stören.
Das unruhige Herumgewusel von Hershel, in einem anliegen Raum völlig ausgeblendet, realisierte Carver erst nach einigen Minuten, dass Lynn sich aufgerichtet hatte und ihn wie gebannt anstarrte.
„Du bist wieder da.“ bemerkte er schließlich mir ruhiger Stimme, und augenblicklich stoppten die Geräusche im Nebenraum und Hershel trat durch einige Trümmer, mit einer Taschenlampe aus der Dunkelheit:
„Wie fühlst du dich?“ fragte er Neugierig jedoch angespannt. Wie hatte Lynn ihre Erinnerungen empfunden? Er musterte sie, nicht sicher ob sie ihn töten oder ihm in die Arme fallen würde.
„Hershel... .“ Mehr kam Lynn nicht über die Lippen. Sie sah ein wenig abwesend in das blendende Licht der Taschenlampe, mit dem er sie anstrahlte.
„Machen Sie schon das Licht aus.“ forderte Carver ihn auf und zückte eine Schachtel Zigaretten. Hershel folgte seinem Rat. Lynn blickte, nicht mehr geblendet von dem grellen Licht, in das alte Gesicht jenes Mannes, der sie so lange begleitet hatte. Der ihr endlose Schmerzen zugefügt hatte, aber dennoch dafür verantwortlich schien, dass sie nun an diesem Ort sein konnte. Lebendig. Sie schwang sich mit einem Ruck von dem kalten Metall.
„Sie waren einer von den Guten... .“ entwich es ihr langsam, zu Carvers Verwunderung.
„Lass dich von deinen Erinnerungen nicht täuschen Linnai, ich habe dir vieles angetan, was ich wünschte rückgängig machen zu können.“ erwiderte er ihr leise.
„Ganz zu schweigen von dem, was Sakuya Kira erdulden musste.“ seine Stimme war in tiefe Trauer umgeschlagen. Es verstrich ein Moment ehe Lynn stumm ihren Blick Carver zu wandte:
„Habt ihr sie gefunden?“ Ein unbefriedigendes Kopfschütteln folgte von Carver, der den Rauch seiner Zigarette ruhig in die kalte Nachtluft blies.
„Nein. Wir sind einigen Anhaltspunkten aus ihrem Haus auf den Grund gegangen, aber Dìana scheint unauffindbar. Ich werde mich morgen darum kümmern. Für heute sollten wir sehen, dass wir zurück in die Stadt kommen.“ Lynn nickte stumm und folgte ihm schließlich, zusammen mit Hershel durch den zerstörten Stützpunkt. Es war als wäre sie aus einem langen Traum erwacht. Als würde sie nun den Ort verlassen, an dem scheinbar alles begonnen hatte. An dem Sakuya und sie begonnen hatten. Noch immer neigten sich einzelne Schleier ihrer Erinnerungen über zerstörten Mauern, aber es schien ihr, als hätte das Warten endlich ein Ende. Als hätte Jemand eine Seifenblase zerplatzen lassen und all die grausamen und schmerzhaften Erinnerungen hätten ihr Bewusstsein überflutet, wie der Regen die Straßen, nach einem warmen Tag. Die Trümmern jenes Ortes, an dem sie ein solch unliebsames Zuhause gefunden hatte, würde sie nun zurücklassen, vielleicht mit Hinblick darauf, nie wieder zurückkehren zu können. Und all das musste sie nun hinter sich lassen. Die Erinnerungen würden kommen. Wenn die Zeit reif wäre. Was auch immer in der Wüste geschehen war, bei ihrem Außeneinsatz, würde sie bald ebenfalls einholen. Da war sich Lynn sicher.
Als die Drei durch den ehemaligen Barackentrackt liefen, huschte Lynn ein Lächeln über die Lippen. Sakuya Kira, er war in ihren jüngsten Jahren bei ihr gewesen. Und doch schien er bis zum Schluss an ihrer Seite gewesen zu sein. Es war der Moment in dem Lynn beschloss, zurück zu kehren. Zurück nach Elaìs, nach Dakon, ihrem „neuen“ Team. Zurück zu Sakuya. Aber zuerst würden sie und Carver sich um Negan kümmern. Um jenen Mann, der ihr so vieles Zugemutet hatte. Ihr Körper gehörte vielleicht ihm, und dem Team seiner hiesigen Entwickler und Forscher, aber ihre Seele würde bald frei sein. Endlich Frei von seinen Anweisungen und Maßnahmen. Von seinen Modifikationen und seinen Strafen. Frei von seinen widerlichen Plänen. Und doch würde Lynn das bleiben, was er aus ihr gemacht hatte: Ein Soldat, eine Mörderin, eine eiskalte Killerin die doch immer wieder dem niederen Trieb erlag, töten zu müssen.
Hershel war bereits in dem dunklen Waldstück, das in einigen Metern Entfernung lag und zurück hinter die Stadtmauern führte, verschwunden.
Lynn sah nachdenklich Carver an, der jederzeit bereit zum Schuss, mit einem Gewehr neben ihr herlief.
„Ich dachte ich könnte weglaufen. Die VCO verlassen und auch alles andere hinter mir lassen.“ Carvers Stimme klang schwermütig. Lynn sah ihn ,während sie weiterliefen, stumm an.
„Aber du kannst nicht vor deiner eigenen Schuld davon laufen. Sie wird dich immer wieder einholen. Ich muss Dìana finden. Ich bin es Elaìne schuldig, mich dem zu stellen, was ich zerstört habe.“ Was hätte Lynn ihm antworten sollen? Sie waren Soldaten. Man hatte sie mit allen Mitteln zum töten ausgebildet. Wie blinde Wachhunde, fixiert auf das Ziel. Ohne Rücksicht auf Verluste. >>Du bist das, zu was man dich gemacht hat. Und du bist erst frei, wenn du dich von alten Wegen abwenden kannst. Dann bist du frei.<< Aber Lynn blieb stumm.
„Wir können Negan heute noch nicht erledigen. Hershel sagt, es muss kurz vor unserer Abreise geschehen. Er hat zu viele Leute hinter sich. Wenn wir es tun, müssen wir uns sicher sein, dass wir es mit der gesamten VCO aufnehmen können. Alles andere wäre nur der Tropfen auf den heißen Stein.“ Diese Worte überraschten Lynn. Aber es machte Sinn. Was hatte sie auch geglaubt? Negan einfach töten zu können, und dann wäre alles gut? Wie naiv von ihr. Ihr Hass hatte sie nicht mehr taktisch klug denken lassen.
„Ja, wir werden ihn töten. Und dann wird das Ganze ein für alle mal ein Ende finden. Die Trauer und der Schmerz.“ Entschlossenheit füllte Lynns leise Stimme und ließ Carver zustimmend nicken, während sie den Pfad des Waldes betraten. Carver hielt inne, als er bemerkte, dass Lynns Schritte verstummt waren. Sie stand noch an der Lichtung und blickte zurück auf die Trümmer, die im schwachen Mondlicht lagen. Die Blätter der Bäume und das Laub darunter, raschelten in dem lauen Wind, während sich das Gras sanft Bog.
„Carver... ?“
„Mhm?“
„Glaubst du an Schicksal?“ der Wind rauschte stärker durch die Bäume, unter denen sie standen.
„Nein, ich glaube an die Freiheit, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.“ erwiderte Carver leise.
„Aber wir hatten so lange keine Chance dazu... .“
„Wenn dir jemand deine Selbstbestimmung entziehen kann, sagt es dann nicht aus, dass sie die Grundlegung des Mensch-Seins ist?“ Lynn verstummte einen Augenblick. Ihre Augen wanderten noch ein letztes Mal über die zurückliegenden Ruinen.
„Du meinst, etwas existiert dann mit Gewissheit, wenn man es dir entziehen kann?“
„Ja. Du bist dein eigenes Schicksal. Du kannst es lenken und verändern. Du kannst die Konsequenzen beeinflussen.“
„Und was ist, wenn dir jemand die Entscheidung abnimmt?“
„Dann bist du nicht mehr frei. Aber du kannst die Freiheit zurückerlangen. Auch wenn es schmerzvoll ist.“
Ein Hupen durchfuhr die Nacht. Es war Hershel, der den Wagen endlich erreicht hatte.
„Wir sollten gehen.“ beschloss Lynn und folgte Carver in den Wald hinein.
Hershel war kurz nach ihrem Eintreffen in ihrem Hotelzimmer, auf dem Bett eingeschlafen. Es war kein Wunder. Der alte Mann hatte heute einen langen Weg mit ihnen zurücklegen müssen. Es war viel gewesen, in seinen alten Tagen.
Carver kam aus der Dusche und betrachtete Lynn einen Augenblick lang. Völlig in sich gekehrt, saß sie in einem der Sessel. Ihre Knie dicht an ihren Oberkörper gepresst, und ihr Gesicht auf ihren schmalen Armen abgelegt, die ihre Knie umfassten.
„Deine Worte in den Bergen... du wusstest genau wie ich mich gefühlt hatte, nicht?“ Lynn hob ihren Kopf und setzte ihre Füße wider auf den verdreckten alten Teppich ab. Carver nickte langsam und griff nach seinen Zigaretten, die zwischen ihm und Lynn auf dem Tisch lagen.
„Ich habe mich nicht anders gefühlt. Aber ich wollte es mir nicht eingestehen.“ Verwunderung machte sich in Lynn breit. War es möglich, dass dieser beinahe undurchdringliche Mann tatsächlich seine eigenen Gefühle verleugnet hatte? Fand er denn nicht stets die richtigen Worte für alles?
„Ich bin froh, dass du in jener Nacht zu mir nach Tokio gekommen bist. Ohne dich, wäre ich weiter davon gelaufen.“ sagte Carver nachdenklich und ließ sich in den anderen Sessel fallen.
„Ich weiß bis heute nicht, warum ich mich dazu entschlossen hatte, zu dir zu fahren.“ Carver betrachtete Lynns blaue Augen, die geheimnisvoll in dem schwachen Licht der Nachttischlampe, schimmerten. Er zog langsam an dem Filter seiner Zigarette und blies nachdenklich den kalten Qualm durch den Raum.
„Weil du mir vertraut hast.“ bemerkte er schließlich leise. Ihre Blicke trafen sich erneut.
„Das tue ich noch immer.“ erwiderte Lynn langsam. Ihre Gesichtszüge verrieten, dass es ihr absolut ernst war. Carvers Blick wanderte von Lynns dunklen Augenbrauen über ihre schmale Nase, hinüber zu ihren hohen Wangenknochen. Ihre vollen Lippen zeichneten ein leichtes, aber erschöpftes Lächeln. Ja, auch ihr Tag war lang gewesen, und wichtig. An was hatte sie sich wohl alles erinnert? Carver dachte daran, wie eigenartig es für sie gewesen sein musste, als auch er einen Teil ihrer Erinnerungen durchlebt hatte. Er fragte sich ob es für sie nicht verletzend gewesen wäre, dass ein fremder Mann einfach darin involviert gewesen war. In ihre innersten Gefühle und Empfindungen.
Lynn hatte bemerkt, wie nachdenklich er sie angesehen hatte. Mit welcher Intensität. Es war nicht schwer, dahinter zu kommen, worüber er gerade nachgedacht hatte.
„Ich bin froh, dass ich sie mit dir geteilt habe, und mit niemand anderem.“ Das der Satz, den sie soeben gesagt hatte, absolut zu Carvers Gedanken gepasst hatte, ließ ihn verwundert schauen. Er war im Begriff etwas zu sagen, aber entschied sich dagegen. Es waren ihre Erinnerungen. Es sollten auch ihre bleiben, und er würde sie für sich behalten.
„Was willst du tun, wenn du Dìana gefunden, und ihr die Wahrheit über den Tot ihres Vaters und ihrer Schwester erzählt hast?“ Lynns Frage kam unerwartet. Carver hatte keine genaue Antwort.
„Wirst du zurück nach Tokio kommen?“ Hoffnung lag in Lynns unsicherer und leiser Frage. Carver vermutete, dass sie ihn für Dakons Team und die UEF anheuern wollen würde.
„Ich weiß es nicht.“ erwiderte er ihr, in der Hoffnung, dass sie ihm keine Entscheidung abverlangen würde. Und sie tat es nicht. Stattdessen saß sie wieder in Gedanken versunken da, und blickte aus dem Fenster, auf die dunkle Straße vor dem Haus. Es fuhren keine Autos mehr. Sie saß da und Carver begriff langsam ,wie verloren sie sich die ganze Zeit fühlen musste. Und mit einem Mal erkannte er, dass sie in diesem Augenblick nicht mehr die junge Frau verkörperte, die voller Kraft steckte, sondern ein junges Mädchen, das in diesem Moment verletzlicher nicht hätte sein können. Sie hatte alles zurück gelassen. Man hatte sie verlassen. Aber sie war im Begriff ihren Weg zu finden, so wie er selbst. Lynn blickte zu ihm rüber, wie er entspannt in dem Sessel saß und das graue Shirt das er trug, einige Falten über seinen trainierten Oberkörper warf. Er hob seinen Arm mit den Worten: „Komm her.“
Ohne zu zögern, war Lynn aufgestanden und setzte sich, ein wenig unsicher, neben ihn auf die Lehne. Ihr Geruch war warm und angenehm und sie legte vorsichtig ihren Kopf auf seine Brust und atmete schwerfällig aus. Lynn spürte wie Carver behutsam seinen Unterarm auf ihrer Schulter ablegte. Seine Brust war warm und sie konnte in der Stille seinen Herzschlag hören. Sie schloss die Augen. Für einen Augenblick würde das in Ordnung sein. Er würde keine weiteren Anstalten machen sie anzufassen, da war sie sich sicher. Dennoch tat es gut, in seiner Nähe zu sein. Als könnte ihr nun nichts in der Welt mehr etwas anhaben. Sonst war es immer Sakuya gewesen, in dessen Nähe sie sich so fühlen konnte.
Sein Atem war ruhig und regelmäßig. Carver spürte wie sich Lynns Muskeln langsam entspannten. Wie lange hatte er niemanden mehr in seine Nähe gelassen. Elaìne war noch immer in seinen Gedanken, täglich begleitete sie ihn. Aber das war nicht Elaìne. Es war Lynn und das war gut so. Nur für diesen einen Moment, in dem er ihr etwas von dem zurückgeben konnte, was sie für ihn getan hatte. Es war Lynn gewesen die ihn wachgerüttelt hatte. Die ihn bat, sie in diese Welt zu bringen. Und nun konnte er ihr einen Augenblick lang das geben, wonach sie sich vermutlich gesehnt hatte. Einen Menschen, dem sie vertrauen konnte.
>>Linnai<<
Eine tiefe männliche Stimme hatte ihren Namen laut ausgesprochen. Entschlossen, Stark, voller Kraft und Männlichkeit.
Lynn schlug erschrocken die Augen auf. Sie war tatsächlich eingeschlafen. Ja, auch ihr Tag war wohl anstrengender gewesen, als sie sich eingestehen wollte. Zu ihrem Erstaunen saß sie alleine auf ihrem ursprünglichen Platz, und Carver ihr direkt gegenüber. Wo war diese Stimme hergekommen?
Lynn blickte verwirrt zur Türe. Es war ihr einen Moment so, als hätte sie Sakuya im Rahmen stehen sehen. Seine Silhouette war wie durch Nebel schemenhaft. Einen Augenschlag später jedoch, musste Lynn einsehen, dass sie es sich vermutlich nur eingebildet hatte. Nur das leise Schnarchen von Hershel drang an ihre Ohren.
Wieder im Begriff sich zurück in die Lehne des Sessels fallen zu lassen, bebte plötzlich der Boden unter ihren Füßen. Das war Real gewesen. Und auch Carver schreckte hoch und blickte entsetzt in Lynns verwundertes Gesicht.
„Was war das?“ deutliche Angst war in seinen Augen zu sehen.
„Ein Erdbeben?“ antwortete Lynn zaghaft, als bereits eine weitere Erschütterung zu spüren war. Es folgte ein ohrenbetäubender Knall, der Hershel wachwerden ließ. Lynn war bereits aufgesprungen und riss die Gardine beiseite. Auf der Straße loderten meterhohe Flammen. Und wieder war sie sich einen Augenblick lang nicht mehr sicher, ob sie wirklich nicht Sakuyas Erscheinung in dem Flammenmeer gesehen hatte.
„Wir müssen hier weg!“ Noch bevor Carver die Worte ausgesprochen hatte, waren Lynn und Hershel bereits im Begriff ihre Waffen zusammen zu packen.
„Was ist hier los?“ rief Lynn in die aufkommende Ungewissheit aller.
Ein weiterer dumpfer und tiefer Knall folgte, und Lynn war sich nicht mehr sicher, ob es das Geräusch eines schweren militärischen Geschosses war, oder ein ohrenbetäubender grollender Donner. Das letzte was Carver sah, bevor ihn etwas am Kopf traf, waren Hershels weit aufgerissene Augen, als auch er einen Blick auf die Straße vor dem Hotel wagte. Eine Erschütterung unbekannten Ausmaßes folgte, und Lynn sah gerade noch, wie die gesamte Decke auf sie hinunter brach.
Wallende Hitze, der metallische Geschmack von Blut. Staub in ihren Lungen. Schreie, Schüsse, Fahrzeuge. War Lynn wieder in der Wüste? War das möglich?
„Wach auf! Lass nicht zu, dass die Erinnerung dich zerstört.“ deutliche, klare, männliche Worte. Lynn lag begraben, unter den Trümmern des Hotels. Ihre Augen brannten von dem Staub. Unkoordiniert versuchte sie, ihre einzelnen Glieder zu bewegen. Völlige Dunkelheit. Blinzelnd stellte sie fest, dass sie alleine war. Sie musste mit reichlich Glück in einen Hohlraum gerutscht sein. Einige zerstörte Betonpfeiler hinderten den oberen Teil des Hohlraumes daran, über Lynn einzustürzen. Jemand musste mit schwerem Geschoss auf das Gebäude gefeuert haben. Aber wer hatte solch eine militärische Technologie? Es musste die VCO gewesen sein. Vielleicht hatte man ihren Aufenthaltsort ausfindig gemacht. Und nun waren sie gekommen, um sie zu töten. Oder um sie zurück zu bringen.
Ein dumpfer Aufschrei entglitt Lynn, nachdem sie ihren Arm unter einigen Trümmern herausziehen konnte. Der Staub brannte in ihren Lungen und ließ sie immer wieder husten und nach Luft ringen. Wo waren Carver und Hershel? Waren sie tot? Hektisch begann Lynn sich einen Weg durch die instabilen, schmalen Nischen zu bahnen. Nicht sicher, wie tief sie in den Überresten des Hotels begraben worden war. Sie kroch mit aller Kraft durch den Schutt und versuchte immer wieder Hershels Namen zu rufen, aber ihren Stimmbändern entglitt lediglich ein erbärmliches und heiseres Krächzten. Wie war das möglich gewesen? Wie hatten sie sie finden können?
Ein leises Wimmern erreichte ihre Ohren. Zwischen den dumpfen Schüssen und Schreien, die irgendwo von Oberhalb kommen mussten.
Unsicher nährte sie sich dem verzweifelten Jammern. Vor ihr lagen einige Stützpfeiler, die über eine junge Frau eingebrochen waren. Sie klemmte zwischen ihnen, und noch bevor Lynn sie erreicht hatte, konnte sie erkennen, dass ihr Bein völlig zerquetscht unter einem Schrank begraben war.
„Bitte hilf mir....“ jammerte die Frau verzweifelt, nachdem sie Lynn bemerkt hatte. In der Dunkelheit konnte Lynn gerade noch erkennen, dass die junge Frau die Uniform der VCO trug. Ihr Verdacht bestätigte sich augenblicklich, als sie das Sturmgewehr neben ihr wahrnahm. Was sollte sie nun tun? Die Frau zu töten wäre das Klügste. Sie war der Feind, gekommen um sie zu töten.
„Ich will nicht sterben... .“ Ihr leises Weinen schob Lynns erste Intention beiseite. Sie war ein Mensch. Sie war es wert gerettet zu werden. In ihrem ganzen Leben hatte man ihr beigebracht ihre Feinde gnadenlos zu töten. Aber das letzte Jahr hatte die Grenzen zwischen Freund und Feind arg durcheinander gebracht. Sie waren beide Soldaten der VCO. Lynn konnte entkommen und vielleicht könnte sie der jungen Frau ebenfalls helfen, auszusteigen.
Mit Mühen zog sich Lynn näher an sie heran. Die Frau lag hilflos auf dem Rücken. Der rostige Geruch ihres Blutes erfüllte den gesamten Hohlraum.
„Ich...ich helfe... dir...“ brachte Lynn endlich die ersten hörbaren Worte hervor. Aber sofort begann sie wieder zu husten. Der Staub war überall. Mit einem entschlossenen Griff packte Lynn einen Teil des riesigen Schrankes, der auf dem Bein der Frau gelegen hatte, und schob ihn vor. Ein entsetzlicher Schrei durchfuhr sie bei ihren Bemühungen. Sie hielt inne und die Frau verstummte in einem gurgelndem Schluchzen. Selbst wenn sie den Schrank entfernen würde, würde die Frau verbluten, so viel stand fest. Von den erdrückenden Trümmern getrieben, öffnete Lynn entschlossen den Gürtel ihrer Hose. Sie müsste ihr das Bein abbinden, sofort.
„Das...wird schon wieder... .“ sprach sich Lynn selbst Mut zu, in dieser aussichtslosen Situation, und legte den Gürtel um das verletzte Bein der Frau. Weggetreten durch den Schmerz, atmete diese wieder etwas ruhiger, ehe Lynn mit einem kräftigen Ruck, das Lederband zusammenriss um die Blutung zu unterbinden. Ein weiterer ohrenbetäubender Schrei durchfuhr die kleine Nische.
Der Sauerstoff wurde knapper, das spürte Lynn, während sie sich von allen Vieren auf den Rücken drehte und ihre Füße gegen den Schrank stemmte. Sie würden hier nicht mehr lange überleben. Mit aller Kraft drückte Lynn gegen den Schrank, der sich nur wenige Zentimeter bewegte, aber immerhin tat sich etwas. Ein beunruhigter Blick zu der mittlerweile stillen Frau, versicherte Lynn, dass sie ohnmächtig geworden war. Zumindest schrie sie nun nicht mehr. Ein weiterer kräftiger Ruck von Lynns Beinen beförderte den Schrank nun endlich von ihrem Bein hinunter. Er gab einem Stützpfeiler jedoch die Gelegenheit weiter herunter zu stürzten und Lynn hielt voller Panik die Luft an, bis das Rieseln des Staubs von Oberhalb endlich verstummt war. Panisch tasteten ihre Hände nach dem Sturmgewehr und schließlich in das Gesicht der Frau, an die sie nun näher heran gekrochen war. Zwei sanfte Schläge ließen sie wieder zu Bewusstsein kommen, während das leise Rauschen eines Funkgerätes aus ihrer Uniform ertönte. Geistesgegenwärtig, und scheinbar wieder klarer, versuchte sie danach zu greifen, aber Lynn schlug es ihr aus der Hand.
„Willst du leben, oder sterben?“ brach es aus ihr heraus, aber die Antwort der Frau wurde von Lynns eigenem Husten übertönt. Mit einem festen, und unausweichlichen Griff, packte Lynn die Frau an den Schultern und zog sie unter Schreien auf ihre Beine.
„Wir müssen hier raus, sofort.“ Was man ihr bei der VCO beigebracht hatte, überdeckte nun alles andere. Es galt in diesem Augenblick so viele wie nur möglich zu retten. Ob Feinde, zum anschließenden Verhör, oder weil es es Kameraden waren.
Die beiden Frauen schleppten sich durch einige weitere schmale Gänge, die sie endlich zum stehen kommen ließen. Noch immer wirbelte reichlich Staub durch die Dunkelheit, und von Oberhalb drangen noch immer reichlich Schüsse und ein Gewirr aus Stimmen und Schreien herab.
Endlich das Ende eines Ganges erreicht, musste Lynn voller Panik feststellen, dass kein Weg weiter zu finden war. Eingestürzte Stützpfeiler und Möbelstücke versperrten ihnen den Weg. Würde sie etwas davon beiseite schaffen, wäre die Gefahr zu groß, den kleinen Gang einstürzen zu lassen. Mit letzter Kraft ließ Lynn die Frau zu Boden nieder und begann mit dem Gewehr gegen einen Metallpfeiler zu schlagen. In ihr lag die Hoffnung, dass das Geräusch bis nach Außen dringen würde. Jemand musste sie finden, wer war egal. Aber würden sie hier unten bleiben, wäre das ihr sicherere Tot.
Die Luft wurde zunehmend knapper, und Lynn spürte wie der Staub in ihren Lungen ihr jede Ambition zum atmen nahm. Vielleicht hätte sie doch das Funkgerät mitnehmen sollen. Sie hätte die VCO auf sich aufmerksam machen können. Irgendjemand, egal wer, musste sie doch herausholen. Ihre Schläge wurden langsamer, und kosteten sie immer mehr Kraft. Die Minuten verstrichen und Lynn spürte wie in ihr langsam die Hoffnungslosigkeit aufstieg. Sie würden hier unten sterben. Niemand würde sie mehr finden. Aber das Schlimmste war, dass sie den Anderen noch hatte so vieles sagen wollen. Vielleicht hatten Hershel und Carver mehr Glück gehabt als sie. Und vielleicht hatte sie selbst dieses Schicksal verdient gehabt. Dakon, Serah, Rin, Tetsuya... sie würden sicherlich nichts von alle dem mitbekommen, dort wo sie nun waren. Sie würden der VCO weiterhin den Kampf ansagen. Zusammen mit Sakuya. Sie würden ihre Welt schon retten. Und Lynn würde ihnen nicht weiter dabei im Weg stehen, mit ihren riskanten Aktionen. Aber Sakuya... was hätte Lynn dafür getan, ihm noch einmal gegenüber stehen zu können. Noch einmal in seine Augen zu sehen, nun, mit der sicheren Gewissheit, dass sie endlich wusste, wer sie war. Wer er war. Was würde sie ihm sagen?
Das Sturmgewehr war Lynn aus der Hand geglitten und sie sackte über dem Metallpfeiler in sich zusammen. Hektische Bilder zogen an ihr vorbei. Bilder der Menschen, denen sie begegnet war. Menschen die sie verletzt hatte, die ihr weh getan hatten. Negan, Dakon, Hershel. Die wenigen Male die Dakon gelächelt hatte. Die vielen Male in denen Lynn sich eingestehen musste, dass in Hershels Blick, wenn er sie ansah, Stolz lag. Gesichter die lächelten, die ihr dankbar gegenüber gestanden hatten. Serah, die nie die Hoffnung aufgegeben hatte. Die so vieles verloren hatte, aber noch immer für eine bessere Welt kämpfte. Rin und Tetsuya, die so vieles verloren hatten, aber noch immer auf ein Happy End hofften. Menschen die ihr vertraut hatten, denen Lynn vertraut hatte. Carver, der die Frau hinter der Fassade einer Soldatin gesehen hatte, Sade und Kenny, die anstandslos zwei Fremde aufgenommen hatten. Und das Gesicht des Mannes, den sie als einzigen geliebt hatte; ihr Teamleiter, ihre einzige Bezugsperson. Der ihr all das beigebracht hatte, was sie zum überleben brauchte. Der sie immer wieder vor dem Tod bewahrt hatte. Gegen den sie sich aufgelehnt hatte, und der doch noch, bis zum Schluss an ihrer Seite gewesen war: Sakuya.
Warme Hände gruben sich unter ihren Körper. Eiskalte Luft zog über ihr schweißbedecktes Gesicht. Hinweg. Ihre Lungen griffen nach dieser klaren, kalten Luft. Staub brannte in den Verletzungen ihres Körpers, und langsam kam ihr Geist zurück.
Lynn schlug hustend die Augen auf. Im Begriff sich zu wehren, absolut bereit ihr Gegenüber zu töten, noch bevor er ihr etwas Schlimmeres antun würde. Eine starke Kraft hinderte sie jedoch augenblicklich daran.
„Beruhig dich.“ eine vertraute Stimme ließ Lynn inne halten. Die einzige Stimme, die sie immer vermisst hatte, die immer ihr Herz erreicht hatte. Die Erkenntnis, dass sie keine Chance gegen diesen Mann haben würde, ließ ihre Gegenwehr verstummen, und das Gesicht von dem suchen, der sie festhielt, der sie gerettet hatte, schon wieder.
Sakuyas blaue Augen musterten sie mit der gewohnten Ernsthaftigkeit. Erst nachdem er sicher war, dass Lynn aufhören würde, ihn töten zu wollen, ließ er langsam von ihren Armen ab. Das Feuer, das immer in ihren Augen gebrannt hatte, wann auch immer er sie angesehen hatte, war wieder da. So lange hatte er es es nicht mehr in ihren Augen gesehen, aber nun war sie wieder da. Im vollen Bewusstsein ihrer Kräfte. Ihrer Macht. Ihrer selbst. Aber was auch immer es war, was sie ihm mit solch einer Dringlichkeit zu sagen wollen schien, sie blieb stumm. Stattdessen sah sie ihn mit einem Blick an, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Es war nicht der unschuldige Blick eines Mädchens, das da gerade verletzt vor ihm lag. Es war der entschlossene Blick einer Frau, in deren Augen so viel Vertrauen zu ihm lag, welcher ihn für einen Augenblick die ganze Situation vergessen ließ.
„Sakuya...“ murmelte sie am Ende ihrer Kräfte. Ihre Worte brachten ihn in die Realität zurück. Sie mussten von diesem Ort verschwinden. Aus dieser ganzen Welt. Ein Schuss schlug unmittelbar neben ihnen ein. Während Lynn ihm Begriff war, nach dem Sturmgewehr zu greifen, war Sakuya bereits in dem Meer der Flammen und der kalten Nacht verschwunden. Wo waren Carver und Hershel? Lynns Blick fiel neben sie, wo die verletzte Soldatin etwas abseits lag. Sakuya hatte auch sie aus dem schmalen Tunnel gezogen. Er musste gehört haben, wie Lynn auf das Metall geschlagen hatte.
Mit ihrer letzten verfügbaren Kraft, zog Lynn die fremde Frau über ihre Schultern und begab sich schließlich in die Richtung, in der Sakuya verschwunden war.
Die Straße, die ursprünglich vor dem Hotel gelegen hatte, war nicht wieder zu erkennen. Tote Soldaten und Zivilisten pflasterten den Weg. Trümmer, Schutt und Fahrzeugteile lagen zwischen den Flammen. Mit jedem Schritt den Lynn tat, betete sie, nicht Hershel oder Carver zwischen den Toten zu entdecken.
Ein plötzlicher Schuss, ließ sie zusammen zucken. Noch gerade eben konnte Lynn entdecken, wie sich ein Soldat hinter einem alten Fahrzeugwrack wegduckte. Unbeholfen ließ sie die verletzte Frau von ihren Schultern gleiten und begab sich in Deckung. Der Soldat war nicht sonderlich schlau, das stellte Lynn schnell fest. Denn er hatte nichts eiligeres zu tun, als seiner Kameradin zu Hilfe zu eilen. Lynn jedoch nutze die Gelegenheit und schoss ihm zweimal ins Bein, so dass er wimmernd in den Trümmern liegen blieb.
„Lynn...“ ihre Ohren vernahmen Hershels schwache Stimme. Sofort schnellte sie um, und entdeckte ihn zwischen einigen Autowracks. Sein Gesicht war vor lauter Staub kaum zu erkennen.
„Hershel...“ brach es voller Erleichterung aus ihr heraus.
„Können Sie gehen?“
„Ja, ich glaube schon...“ hustete er benommen, und ließ sich von Lynn auf die Beine helfen.
„Hershel!“ rief Sakuya, der zwischen einigen brennenden Überresten angelaufen kam. In der Hand hielt er einen Sender, der Lynn stark an ein Funkgerät erinnerte.
„Wir müssen hier weg.“
„Geht schon.“ entgegnete ihm Hershel und griff nach Lynns Sturmgewehr.
„Sie werden mitkommen!“ Lynns Stimme zerriss die Luft. Wollte Hershel etwa zurück bleiben?
„Linnai... ich kann nicht mit euch kommen. Mein Platz ist in dieser Welt. Sakuya, sag ihr was ich getan habe, was ich euch und meiner Familie angetan habe. Ich kann nicht mit euch kommen, ich kann Dakon nicht gegenüber treten... .“ Es war, als würde die Welt stehen bleiben. Lynn konnte nicht begreifen, wie Hershel so etwas sagen konnte. Er war ein Teil ihres Lebens, sie würden ihn doch nicht zurück lassen.
„Hershel, komm mit uns, wir brauchen dich. Ich habe dir ein Versprechen gegeben, nun gib mir deines, und komm mit.“ Der Blick den Sakuya und Hershel tauschten verriet Lynn, wie nahe sie sich immer gestanden hatten. In ihrem Blick lag ein solches Vertrauen. Hershels alte Augen sahen zu Sakuya auf, als würde er einem Sohn entgegen blicken.
„Komm Hershel, wir müssen dich hier weg bringen.“ Sakuyas Worte besiegelten seine Entscheidung, ihn zurück nach Elaìs mitzunehmen. Der Sender in seiner Hand begann zu blinken.
„Uns bleibt keine Zeit mehr.“ Sakuya holte aus seiner Jackentasche ein Steckmodul, welches exakt auf den Kopf des Senders zu passen schien.
„Wir können nicht ohne Carver gehen!“ entglitt es Lynn, die langsam erkannte, dass sie einem Weltenwechsel gegenüber standen. Im Begriff davon zu stürmen, wurde sie jedoch durch Sakuyas festen Griff aufgehalten. Wütend blickte sie zu ihm auf, und versuchte sich zu befreien.
„Carver ist ein Soldat der VCO, vertrau mir, er wird es auch schaffen.“ sagte Sakuya rau und bestimmend. Was wenn er tot war? Wenn er irgendwo in den Trümmern liegen würde, nicht fähig sich zu bewegen? Wenn die VCO ihn gefangen genommen hätte? Aber Carver war ein Kämpfer. Er würde sich nicht aufhalten lassen. Er würde es schon geschafft haben. Ihr Blick wanderte wieder in Sakuyas Gesicht. Es war ihr, als hätte er, wie damals auf der Basis, ihr einen Befehl erteilt. Hatte sie ihm nicht versprochen, nie dem entgegen zu handeln?
Eine tiefe Vertrautheit fiel über Lynns Zweifel herein und Sakuya ließ sie los. Gemeinsam eilten sie zu der verletzten Soldatin und das Letzte was Lynn noch sehen konnte, in den Flammen der Nacht, war Sakuyas kraftvolle Bewegung, mit der er den Sender in das Steckmodul rammte.
Helle Lichtblitze umflogen die Vier, ausgehend von Sakuya, und allmählich lösten sich ihre Gestalten in dem Dichten Funkennebel zu einer wabernden grauen Masse auf.
„Hershel, tief einatmen, es ist gleich vorbei!“ die Bedrohlichkeit in Sakuyas Stimme ließ Lynns Verstand wieder klar werden, und sie schreckte hoch. Während wieder Gefühl in ihre Glieder trat, beobachtete sie vom Boden aus, wie Sakuya versuchte Hershels, scheinbar kollabierenden Körper zu beruhigen. Der Übergang musste zu viel gewesen sein, für sein altes Herz. Ein Husten ließ Lynn die Soldatin bemerken, die unmittelbar neben ihr, auf dem Boden lag.
Die Vier waren zurück in Elaìs, da war sich Lynn sicher.
Sie war aufgesprungen und zu Hershel und Sakuya herüber geeilt. Scheinbar waren sie in einem Bürogebäude gelandet, musste Lynn feststellen, als sie beinahe über einige herumliegende und zerstörte Monitore gestolpert wäre. Der Eintritt in diese Welt hatte Spuren hinterlassen. Vermutlich war das Ganze auch für Außenstehende nicht unbemerkt geblieben.
„Wir müssen ihn zu Doktor Shenkerl bringen, ich kann hier nichts für ihn tun.“ Stöhnte Sakuya, während er Hershels Arm über seine Schulter zog, um ihn zu tragen. Lynn reagierte stumm, indem sie mit letzter Kraft die verletzte Soldatin schulterte und Sakuya folgte.
„Wo sind wir?“ fragte Lynn angestrengt und folgte Sakuya die Treppe hinunter.
„In Nagoya, die Praxis ist nicht weit entfernt.“ Verwundert über diesen scheinbar so nahen Eintrittspunkt wanderten Lynns Gedanken zu Carver. War er wirklich entkommen, ging es ihm gut?
Nach etlichen Treppen hatten sie endlich eine große Vorhalle des Gebäudes erreicht. Wenn bereits die VCO Wind davon bekommen hätte, dass jemand durch die Welten gewechselt war, dann würden sie vor der großen Türe bereits auf sie warten. Sie hätten keine Chance.
„Lass sie hier. Ich werde sie mitnehmen. Kümmere dich um Hershel. Ich werde mich um die VCO kümmern und nachkommen.“ sagte Sakuya plötzlich, während er Hershel an eine Wand lehnte. Lynn tat es ihm mit der Soldatin gleich und suchte schließlich seinen Blick. Sie war nicht bereit dazu, in dieser Nacht noch einen Menschen zu verlieren. Und erst recht nicht Sakuya. Sie hatte bereits jemanden zurück lassen müssen. Gemeinsam waren sie stärker.
Das Quietschen einiger Reifen, vor der Tür der Eingangshalle, bestätigte Lynns Verdacht, dass die VCO draußen bereits auf sie warten würde. Sakuya lud entschlossen seine Waffe nach.
„Ich werde nicht ohne dich gehen.“ entwich es Lynn und Sakuya sah sie endlich an.
„Habe ich dir jemals Grund zu der Annahme gegeben, ich würde dich verlassen?“ seine Worte trafen sie. Das Band, welches sie vor so langer Zeit zwischen ihnen gespürt hatte, war in diesem Augenblick wieder da. Immer hatte sie ihm blind vertrauen können. Und wenn er ihr einmal weh getan hatte, dann nur weil es keine andere Möglichkeit gab. Er hatte Recht. Sie würde ihm wieder vertrauen.
Sakuya blickte in Lynns blaue Augen, die ihn aus einem glänzenden und blutigen Gesicht entgegen sahen. Ihre Haut war aufgerissen, an etlichen Stellen. Ihre braunen Haare noch immer voller Schutt und Staubreste. Aber in ihren Augen loderte das Feuer, welches er so mochte. Nachdem sie getrennt waren, hatte er so oft an diese Augen zurück gedacht. Daran, wie hilfesuchend, begehrend und unschuldig sie ihm immer wieder gegenübergestanden hatte. Und doch war nun alles anders. Er sah ihr an, dass sie sich an vieles erinnert hatte. Das Schlimmste von all dem lag jedoch noch unter einem schwarzen Tuch aus Ungewissheit. Womöglich spürte sie tief in sich, dass es da etwas gab, was dazu geführt hatte, dass sie sich an nichts erinnerte. Vielleicht ahnte sie, dass er der gewesen war, der ihr ihre Erinnerung genommen hatte. Weil sie ihn darum gebeten hatte, sie zu töten. Er hatte keine andere Möglichkeit gehabt. Ihr Blick war so leer gewesen. Ihr Bewegungen so lethargisch. Ihr Körper so zerstört. Aber all das war nun vergessen. Sie stand vor ihm, sah zu ihm auf, mit diesem alten Feuer in den Augen.
„Ich vertraue dir.“ formten ihre vollen Lippen die Worte, die sie schon damals zu ihm gesagt hatte, kurz bevor ihre Seele zerbrochen war.
„Nimm den Hinterausgang, dort steht mein Wagen.“ Ein Nicken besiegelte Sakuyas Anweisung und Lynn verschwand zusammen mit Hershels leblosem Körper.
Sakuyas Wagen hatte Lynn zielsicher zu Doktor Shenkers Praxis gebracht. Voller Wucht hämmerte sie gegen die Kellertür. Erst nach einigen Sekunden ertönten dahinter hektische, kleine Schritte.
„Lynn!“ die blonde Ärztin half ihr sofort dabei, Hershel in das Innere der Praxis zu bringen. Gemeinsam fixierten sie ihn auf einem Operationstisch.
„Was ist passiert? Wo bist du gewesen?“ brach es aus ihr hervor. Lynn jedoch antwortete ihr nicht. Zu sehr machte sich die Befürchtung in ihr breit, dass Hershel es vielleicht nicht mehr schaffen würde. Er atmete, das konnte sie sehen, aber er war weit entfernt von einem geregelten Herzschlag.
„Wir sind vor circa einer halben Stunde gewechselt, und seit dem wacht er nicht mehr auf.“ Endlich hatte Lynn ihre Worte wiedergefunden. Doktor Shenker zog gerade eine Spritze auf, mit etwas was Lynn nicht definieren konnte.
„Ein Weltenwechsel?“ versicherte sie sich noch einmal.
„Ja.“
„Vermutlich ist sein Blutdruck abgefallen, sein Herz-Kreislauf-System scheint versagt zu haben. Das wird wieder.“ Nachdem sie Hershel die Spitze gegeben hatte, musterte sie Lynn einen Augenblick lang. Sie sah schrecklich aus. Ihre teilweise kaputten Sachen waren voller Dreck und Staub. An ihren Händen, Gesicht und Dekolletee zeichneten sich etliche blutige Abschürfungen ab. Noch bevor sie Lynn zu einer Untersuchung raten konnte, ertönte bereits ein weiteres Hämmern an der Kellertür. Lynn stürmte zurück und öffnete sie, in der Hoffnung, dass es Sakuya wäre, aber sie sah ihn die erleichterten Augen von Serah:
„Lynn! Du bist zurück! Gott sei Dank, du bist wieder da!“ überwältigt von ihrem Schwall der Erleichterung umarmte Serah die junge Frau voller Emotion. Niemals hätte Lynn damit gerechnet, dass Serah sie so empfangen würde. Aber es tat gut, sie in den Armen zu halten. Niemals wäre Lynn auf die Idee gekommen, einem Menschen so nahe zu treten, oder solch eine Nähe, bei klarem Bewusstsein, zu zulassen. Dem entgegen hatte man bereits alles auf der Basis der VCO getan. Außer zu Fortpflanzungszwecken oder im Kampf, war Körperkontakt völlig unnötig. Das hatte man ihnen mehr als nur einmal eingebläut. Aber es tat gut, jemanden so nah zu spüren. Die Wärme die nicht nur Serahs Lächeln und ihre Worte ausstrahlten, sondern auch ihr Körper. Dennoch reichte das nun, und Lynn löste sich sanft aus der Umarmung.
„Wo ist Sakuya, geht es euch gut?“ brach es aus Serah heraus.
„Uns geht es gut, Sakuya kommt nach.“ bestätigte Lynn ihre Antwort, die sie Sakuya gegeben hatte. Sie vertraute ihm. Voll und Ganz. Und es würde ihm gut gehen.
„Wie hast du von uns erfahren?“ fragte Lynn schließlich verwundert darüber, dass Serah überhaupt gekommen war.
„Sakuya hat mich informiert. Nur knapp, aber ich wusste, dass ihr hier sein würdet.“ Wieder lag solch eine Zuversicht in der Stimme von Dakons Frau.
Ein lauter Ruf unterbrach die beiden, und Lynn sah an Serah vorbei, zu Sakuya, der mit der verletzten Soldatin auf sie zu gerannt kam.
„Sie kollabiert!“ rief er, während er zusammen mit Lynn und Serah zu Doktor Shenker eilte. Sie schien völlig überfordert mit der Situation, während Sakuya einen sporadischen Tisch, mit nur einer Handbewegung leerräumte, auf der er die Soldatin schließlich ablegte.
„Lynn, geh nach hinten und hol mir Morphium!“ wies Abbygail sie an, und Lynn folgte augenblicklich ihrer Aufforderung. Serah betrachtete aufgelöst die Situation, ehe sie Hershel bemerkte, der auf dem Operationstisch lag und wieder regelmäßig atmete.
„Hier.“ Lynn reichte das Morphium an die Ärztin weiter, die zusammen mit Sakuya einige Gerätschaften an die Soldatin angeschlossen hatte.
„Sie wird das Bein verlieren!“ rief sie hektisch und legte eine Infusion gegen den Blutverlust.
„Das spielt keine Rolle, sie muss am Leben bleiben.“ entgegnete Lynn ungewohnt ruhig in dieser Situation. Sakuya sah von einigen Schläuchen auf, die er anschloss, Lynn an. Ja, das war die, die er kannte.
Eine lange Operation hatte alle Beteiligten den Atem anhalten lassen. Lynn saß nachdenklich vor dem Einwegspiegel, der ihr einen unbeteiligten Blick in den Untersuchungsraum gewährte. Ihre Gedanken kreisten um vieles. Nun war Hershel da, in einer Welt die er nicht kannte, bald konfrontiert mit seinem Sohn. Würde Dakon seinem Vater verzeihen?
Ein Blick nach links zu Hershel, verriet Lynn, dass sie sich um die Beziehung zwischen ihm und Serah keine Sorgen machen brauchte. Er war vor etwa einer Stunde wieder aufgewacht, nachdem sein Zustand sich stabilisiert hatte. Und nun saß Serah bei ihm. Sie unterhielten sich, und es machte den Anschein als würden sie sich auf Anhieb verstehen.
Sakuya stand aufmerksam neben der Soldatin, deren Bein sie zuvor amputiert hatten. Vielleicht würde sie nie mehr laufen können. Aber Lynn gab die Hoffnung nicht auf, dass Hershel mit seinen medizinisch unglaublichen Fähigkeiten nicht doch noch etwas einfallen würde. Warum glaubte sie eigentlich so naiv, dass sie die junge Frau für sich gewinnen würden? Oder war es doch nur ein Befehl, dem sie unbewusst gefolgt war, um die Soldatin anschließend zu verhören? Sie würde sicherlich hilfreiche Informationen über die VCO haben. Wer auch immer sie war, sie würde garantiert einen Nutzen haben.
Die Kellertüre war ins Schloss gefallen und Lynn sah neugierig auf, wer gekommen war. Es war Dakon, der im Rahmen zum Untersuchungsraum stand, und wütend seiner Frau und seinem Vater entgegen blickte. Lynn stand langsam auf. An seiner Körperhaltung konnte sie bereits sehen, dass dieses Aufeinander treffen nicht gut verlaufen würde. Und während Dakon eine Waffe aus seinem Mantel zog, bestätigte Lynns Vermutung sich.
„Dakon!“ rief Doktor Shenker entsetzt, die die Situation soeben erst mitbekam. Niemand sagte etwas, alle schwiegen für einen Augenblick. Hershel war aufgestanden, im Begriff sich seinem Sohn zu nähren. Lynn konnte deutlich sehen, dass ihm die Tränen in den Augen standen. Er hatte ihn doch so lange nicht gesehen. Jahre waren vergangen.
„Dakon...“ entrüstet und voller Unsicherheit hatte er den Namen seines Sohnes gesagt.
Lynn blickte zu Sakuya. Ohne, dass er wissen konnte, wo genau sie stand, war sie sich sicher, dass er sie durch den Spiegel hindurch ansah. Mit einem Blick der ihr verriet bloß abzuwarten.
„Du wagst es dich, in dieser Welt blicken zu lassen? Warum bist du eigentlich noch am Leben?“ Dakons Worte drückte nicht ansatzweise die Fassungslosigkeit aus, die er beim Anblick seines Vaters empfand.
„Wegen dir, ist das alles geschehen! Wärst du nur nie gewesen, dann wäre meine Mutter noch am Leben und dann hätten wir es nicht mit Mutanten aus einer Welt zu tun, die in ihrer eigenen leben sollten!“
Hatte er die Soldaten der VCO gerade eben wirklich als Mutanten betitelt? Lynns Blick glitt erneut zu Sakuya, aber in seiner Mine war keinerlei Regung bezüglich Dakons Worte zu sehen. Scheinbar ließ ihn so etwas kalt.
„Ich bin damals zu dem medizinischen Team in Valvar gegangen, weil du krank warst! Du wärst deiner Mutter und mir unter den Händen weggestorben, Herr Gott nochmal! Dass Valvar zwischenzeitlich die Verträge mit Efrafar auflöst, damit konnte niemand rechnen. Versteh doch, dass ich alles getan habe, was ich konnte... . Negan drohte mir immer wieder damit, dir oder Ichinose etwas anzutun, würde ich mich nicht seinen Anordnungen fügen. Was hätte ich denn tun sollen?“
Das Gesagte machte Sinn in Lynns Kopf. Das war auch die Geschichte, die Hershel ihr erzählt hatte. Und es war die Geschichte in seinem Leben, die er so sehr zu bereuen schien.
„Du hast nur zweimal in deinem Leben etwas richtig gemacht, Hershel. Als du meiner Mutter den Antrag gemacht hast, weil sie dich wirklich über alles liebte, und als du dich dazu entschieden hast, Linnai und Sakuya Kira endlich gehen zu lassen. Sieh dir das Leid an, das du mit deinen sinnlosen Forschungen verursacht hast. Und dann sieh mich nochmal an, und sag mir, dass du getan hättest, was du nur konntest.“
Noch bevor Hershel antworten konnte, hatte Dakon sich seiner Frau zugewandt, die mittlerweile aufgestanden war, und ihre Hände feste gegen ihr Dekolletee presste, als würde sie beten.
„Es ist mir egal, was mit diesem Mann geschieht, aber ich will ihn nicht bei uns haben, ist das klar?“ Es klang nicht wie eine Frage. Es war ein Befehl. Unumgänglich und voller Wut. Serah schluckte. Sie wusste wie sehr Dakon seinen Vater gehasst hatte. Aber nachdem das Gerücht aufgekommen war, dass er tot sei, hatte er nie wieder von ihm gesprochen. Nun, wo er vor ihnen stand, hatte sie gehofft, dass sich das Blatt noch einmal wenden würde. Serah war kein Mensch der Streit mochte. Sie hoffte stets auf das Gute im Menschen. Und genau das war die Stärke, mit der sie die UEF schon oftmals zusammen gehalten hatte, bevor sie in Gefangenschaft war.
Noch während Lynn über die Worte von Dakon nachdachte, hatte er bereits die Praxis wieder verlassen. Sakuya folgte ihm.
„Meinst du, ihr werdet einen sicheren Platz für Hershel finden?“ fragte Lynn nochmals unsicher nach, nachdem sie sich mit Serah beraten hatte. Sie nickte entschlossen.
„Es ist egal, was er mit mir und den anderen angestellt hat. Er bereut es so sehr, er sollte eine zweite Chance bekommen, und er kann uns helfen.“ Auch wenn Lynn diese Worte nicht ausgesprochen hätte, wäre Serah auf ihrer Seite gewesen. Es bestärkte sie nur noch mehr. Hershel war mit den wesentlichen Abläufen innerhalb der Entwicklungen der VCO mehr als vertraut. Ihn an ihrer Seite zu haben, wäre ein großer Gewinn. Und das Dakon so manches mal überaus engstirnig war, musste ihr auch niemand mehr sagen. Sie kannte ihren Mann besser als alle anderen. Aber noch viel mehr wollte sie, dass das Leiden in Efrafar endlich ein Ende nahm.
„Hier, ich habe die Adresse aufgeschrieben. Er bleibt in einem sicheren Versteck, solange, bis ich Dakon davon überzeugen kann, dass Hershel eine zweite Chance verdient hat.“ Ein kleiner Handgeschriebener Zettel lag in Serahs Händen. Lynn nahm ihn schwermütig entgegen.
Einen Moment betrachtete Serah Lynn.
„Du bedeutest Sakuya viel, das solltest du wissen.“ Mit diesen Worten hatte Dakons Frau Lynn stehen lassen und lief zusammen mit Hershel zum Wagen. Der alte Mann drehte sich flüchtig zu ihr um:
„Du bist jederzeit willkommen bei mir, Linnai.“
Ihr Motorrad hatte sie in der Auffahrt zu Rins Haus stehen lassen, bevor Lynn mit entschlossenen Schritten zur Haustür ging. Wie würden die anderen reagieren? Sie hatte mit ihrem ersten Weltenwechsel einen Einsatz riskiert und war nun so lange verschwunden. Würde Dakon sie überhaupt wieder aufnehmen? Ihr Kopf drehte sich vor lauter Fragen. Plötzlich schien ihr ihre Entscheidung herzukommen, nicht mehr all zu klug. Nachdem sie und Sakuya schließlich auch noch Hershel mitgebracht hatten, wäre Dakon sicherlich nicht gut auf sie zu sprechen. Jedoch war Sakuya ihm gefolgt, bei seinem Verschwinden aus Doktor Shenkers Praxis. Vielleicht hatte er mit Dakon sprechen können.
Unsicher hatte Lynn den Schlüssel zu Rins Haus aus ihrer Jackentasche geholt und sträubte sich, ihn ins Schloss zu schieben. Zu ihrem erstaunen öffnete sich jedoch die Tür, und Rin stand vor ihr im Rahmen, und blickte sie ungläubig an: „Lynn?“
Die Sonne ging bereits langsam wieder auf, als Dakon mit seinem Team noch immer auf der Terrasse saß, und sie heftig diskutierten. Sakuya war erst spät in der Nacht nachgekommen, und er lehnte gegenüber von Lynn, die mit angezogenen Beinen auf einem Campingstuhl saß und stumm den Gesprächen folgte, an der Brüstung. Ihm war nicht entgangen, dass sie nicht einmal seinen Blick gesucht hatte, und ungewöhnlich still gewesen war in dieser Nacht.
Erst nachdem die einzelnen Stimmen verstummt waren, bemerkte Lynn, dass nur noch Dakon dort war und sie nachdenklich ansah. Rin und Tetsuya hatten sie, wie immer, mit offenen Armen empfangen. Beide schienen ihre Gründe für den Weltenwechsel nachempfinden zu können. Aber in Dakons ernsten Augen loderte eine Wut, die sie selten gesehen hatte.
„Was hast du dir dabei gedacht, Lynn?“
Schweigend ließ sie ihre Knie aus der Umklammerung gleiten und setzte ihre Füße wieder auf dem Boden ab.
„Jeder Mensch hat eine zweite Chance verdient... .“ entglitt es ihr leise.
„Hershel wollte immer nur helfen. Wie kann er gut sein, wenn alles in seinem Umfeld ihn plötzlich dazu zwingt, das Schlechte zu tun?“
„Ich will ihn nicht sehen. Er hat nichts mit der UEF zu schaffen. Das habe ich Serah auch schon gesagt, also verschont mich, mit euren Rechtfertigungen für meinen Vater.“ Dakon war bereits im Begriff zu gehen.
„Wie wird es weiter gehen?“
„Kümmer dich um die verletzte Soldatin. Hol Informationen aus ihr heraus, mit denen wir etwas anfangen können.“ Es war eine kalte und klare Anweisung gewesen, mit der er Lynn stehen ließ.
Ein Anruf von Serah hatte Lynn nach Chikusa-ku, dem Stadtteil in der die alte Universität Nagoyas lag, diktiert. Auf dem Campus herrschte ein reges Treiben von jungen Studenten. Die Sektorpolizei schien sich an diesem Ort zurück zu halten, nur ab und an, begegnete Lynn in den schmalen, hohen Gängen einem Wachmann, der sie zwar musterte, sie jedoch augenscheinlich ebenfalls für eine Studentin hielt.
Die Gänge waren weiß gestrichen, durch hohe Fenster flutete Licht die langen Flure. Eine Treppe in den Keller des Gebäudes, führte Lynn in einige dunklere Flure. Warum hatte Serah sie wohl angewiesen an diesen Ort zu kommen? Unsicher öffnete Lynn die Türe, an der die passende Bezeichnung hing, die Serah ihr per SMS geschickt hatte. Ein ungewöhnlicher Geruch von Anästhetikum und anderen Chemikalien lag in der Luft. Und der Duft von frischem Kuchen. Kuchen?
Unsicher durchquerte Lynn einen kleinen Vorraum in dem reichlich Aktenschränke standen, die nur von dem schwachen Licht einiger Neonröhren beleuchtet wurden. Es war kühl an diesem Ort, und als Lynn zwei Stufen hinab nahm, kam ihr bereits Hershel in einem weißen Kittel entgegen, der sie freudig in die Arme schloss.
„War es schwer zu finden?“ Serah stand mit einem Stück Kuchen neben einigen Apparaturen, die Lynn an Hershels altes Labor auf dem Stützpunkt erinnerten. Verwirrt sah sie sich weiter um und löste sich aus Hershels Umarmung.
„Es ist das Labor eines alten Freundes gewesen, der lange Zeit hier an der Universität einen Lehrauftrag hatte. Jetzt ist er emeritiert und hat sich dazu entschlossen, zurück nach Efrafar zu kehren. Ich dachte, das wäre das richtige für Hershel.“ Ein Lächeln zog über ihre Lippen.
„Linnai, magst du ein Stück Kuchen haben? Serah war so freundlich gewesen, mir einige Zutaten zu besorgen. Es ist ein herrlicher Pfirsichkuchen geworden.“ die Absurdität der ganzen Situation die Lynn soeben überrollte, wurde nur noch dadurch gesteigert, dass sie Schritte hinter sich vernahm, und in Sakuyas ernstes Gesicht blickte.
„Ich möchte keinen Kuchen, danke Hershel...“
„Setzt euch.“
Lynns Konzentration auf die bevorstehende Aufgabe wurde nur von Hershels unruhigem Herumgewusel, durch sein Labor gestört. Er war wie ein kleines Kind, das ein neues Spielzeug bekommen hatte. Stets darum bemüht, Serah weitere Besorgungen zu zurufen, die sie sorgfältig auf einem kleinen Zettel notierte. Sie hatten die letzte Stunde über die weitere Vorgehensweise bezüglich der Soldatin diskutiert. In dem einen Tag der vergangen war, und den wenigen Stunden, die Hershel nun sein neues Labor bezogen hatte, war er bereits eifrig darum bemüht gewesen, eine Prothese für das verlorenes Bein zu planen. Es schienen ihm noch reichlich Bestandteile dafür zu fehlen und so rief er immer wieder Materialstoffe, Kleber und Verbindungen durch den riesigen, abgedunkelten Raum, die Serah ebenfalls notierte.
„Hershel, setz dich endlich.“ wies Sakuya ihn schließlich ungeduldig an, denn auch ihn schien das rege treiben im Hintergrund zu stören.
„Sakuya, habe ich dir schon Kuchen angeboten?“
„Herrgott Hershel, wir wollen keinen Kuchen.“ entglitt es ihm rau und er zündete sich ungeduldig eine Zigarette an.
„Also, zurück zum Thema. Die junge Frau heißt Yennifer, soviel konnte ich bereits herausfinden. Sie ist teilhybrid, eine ältere Generation der VCO Soldaten. Vermutlich wurde sie noch, ebenfalls wie ihr, rekrutiert. Die Frage ist nun, ob wir sie auf unsere Seite ziehen können, und ob sie überhaupt kooperieren wird.“ Serah war mit einem Male ungewöhnlich ernst geworden. Der Frohmut in ihrem Gesicht schien absoluter Konzentration gewichen zu sein.
„Ich werde mich darum kümmern.“ entgegnete Sakuya.
„Nein, das halte ich für keine gute Idee.“ unterbrach ihn Hershel, der damit beschäftigt war, einige Unterlagen durchzusehen, die vor ihm auf dem Tisch lagen.
„Überlass das Lynn. Wir wissen nicht, wie sie auf Männer reagiert. Wenn sie auf der Basis schlechte Erfahrungen gemacht hat, wirst du keinen Zugang zu ihr finden können, Sakuya.“ Überrascht musterte Lynn Sakuya. Seine blauen Augen hatten Hershels Blick fixiert.
„Nein. Lynn ist noch nicht bereit für so etwas.“ antwortete Sakuya entschlossen. Warum wollte er nicht, dass sie Yennifer verhörte?
„Ich werde das machen. Danach werden wir weiter sehen. Sobald sie ansprechbar ist, kümmere ich mich darum.“ Niemand wagte es Sakuya zu widersprechen.
„Du wirst ihr doch nicht weh tun, oder?“ harkte Serah besorgt nach.
„Ungewöhnliche Situationen, erfordern ungewöhnliche Maßnahmen.“ entgegnete Lynn ihr, mit einer ungewohnten Kälte in der Stimme. Auch Sakuya hatte das bemerkt, aber er wusste, dass Lynn noch immer eine Soldatin war. Auch wenn sie sich vielleicht nicht an alles erinnern konnte, so war ihr Unterbewusstsein und ihr ganzer Körper doch darauf geprägt, effizient und professionell zu agieren.
„Ich werde euch Bescheid geben, sobald ich etwas von Doktor Shenker erfahre.“ beendete Serah das Gespräch.
Sakuya war bereits gegangen, als Lynn sich seit über einer Stunde die Empfangskonsole für Signale aus den anderen Welten von Hershel erklären ließ.
Ein Blick auf die Ihr verriet ihr, dass es draußen bereits dunkel sein musste. Es war weit nach 22 Uhr und Lynn ließ sich auf ihrem Stuhl zurückfallen und schnaufte. Im schwachen Licht einer Schreibtischlampe saß Serah und sah einige von Hershels alten Akten durch. Sie suchte einige Aufzeichnungen zu Prothesen, die sie im Rahmen eines Forschungsprojektes der VCO entwickelt hatten.
„Hershel, ich habe sie gefunden.“ murmelte sie leise, und Lynn sah die Verwunderung in ihren Augen, die konzentriert über die Aufzeichnungen glitten.
„Haben sie diese Experimente etwa mit Kindern durchgeführt?“ Fassungslosigkeit lag in ihrer Stimme.
„Das ist grausam...“ Noch bevor sie weiteres lesen konnte, hatte Hershel ihr bereits die Akte abgenommen und warf selbst einen prüfenden Blick darauf.
„Wir hatten ein langwieriges Zuchtprogramm zu der Zeit laufen. Wir wollten, dass sich unsere Soldaten selbst reproduzieren. Die Ergebnisse waren jedoch nicht wie erhofft. Die Kinder waren nur zum Teil lebensfähig. Negan bestand jedoch darauf, sie für unsere Medizinischen Forschungen zu verwenden, ehe sie liquidiert wurden.“ Kopfschüttelnd war Lynn aufgestanden.
„Das kann nicht Ihr ernst sein Hershel. Sie haben diese Kinder „verwendet“? Es waren Menschen.“
„Natürlich waren es Menschen, aber was hätte ich tun sollen? Wir mussten seinen Befehlen nachkommen. So grausam das gesamte Forschungsprojekt war, so sehr hat es uns jedoch geholfen mit den hybriden Technologien weiter zu kommen.“ Ein verächtliches Schnauben seitens Serah durchfuhr das Labor.
„Das ist absolut grausam.“
„Ja, aber es ging nicht anders. Wir haben die Kinder ebenso behandelt wie unsere Soldaten. Sie bekamen Schmerzmittel und die gesamte medizinische Versorgung. Sie haben nichts gespürt.“
„Hören Sie auf damit, das ganze legitimieren zu wollen.“ Hershel hatte sich zu Lynn umgedreht, die ihm entsetzt entgegen blickte.
„Was vergangen ist, ist vergangen.“ entgegnete er ihr leiser.
„Finden solche „Studien“ innerhalb der VCO noch immer statt?“ fragte Serah schließlich. Ihr Gesicht wirkte älter als sonst, in dem schwachen Licht. Lynn war sich sicher, dass ihre Augen pure Trauer ausdrückten.
„Vermutlich.“ Hershel Antwort milderte diesen Ausdruck keineswegs. Schnaubend griff Lynn nach ihrer schwarzen Jacke, die über einem Stuhl gehangen hatte.
„Ich verschwinde. Wir sehen uns morgen.“
„Fährst du noch zu Doktor Shenker?“ fragte Serah nachdenklich. Mit zuckenden Schultern verließ Lynn nachdenklich das Labor.
Der kühle Wind wirbelte durch ihre braunen Haare, während Lynn ihr Motorrad abstellte und ihre Sonnenbrille abnahm. Der Himmel war klar in dieser Nacht und nur entfernte Rufe einer Sektorkotrolle waren zu hören, während sie die Treppen zu Doktor Shenkers Praxis hinunter lief. Ihr Klopfen war bereits seit einigen Momenten verstummt, aber im inneren der Praxis war nichts zu hören. Entschlossen öffnete sie in nur wenigen Sekunden das Schloss mit ihrem Taschenmesser. Es war Dunkel im Vorraum, im hinteren Teil der Praxis brannte jedoch noch Licht.
„Doktor Shenker?“ fragte Lynn leise und schloss nachdenklich die Türe. Eigentlich war sie immer da. Gerade jetzt wo die Soldatin hier war, hätte sie doch in ihrer Praxis sein müssen. Mit lautlosen Schritten nährte sich Lynn dem Licht, als ein erbittertes Schluchzten sie hellhörig werden ließ. Ein raues Gemurmel folgte und als Lynn um die Ecke trat, sah sie gerade noch wie Sakuya neben Yennifer stand und ihr etwas von hinten ins Ohr flüsterte, während sich seine rechte Hand in die Haut ihrer Schulter grub. Obwohl er bemerkt haben musste, dass Lynn gekommen war, ließ er nicht von der Frau ab. Sein Blick war konzentriert und wieder sagte er etwas, so leise, dass Lynn es nicht hören konnte. Yennifers Muskeln traten an ihrem nackten Bein deutlich hervor. Sie trug nur einen ergrauten OP-Kittel, aber der verbundene Stumpf ihres anderen Beines war deutlich zu sehen. Tränen rannen ihr Gesicht hinunter. Sie schien nicht fähig sich zu bewegen. Was auch immer Sakuya ihr da gerade zuflüsterte, es musste ihr gewaltige Angst bereiten, das sah Lynn deutlich.
„Hast du mich verstanden?“ Sakuyas dunkle Stimme ertönte nun in einer Lautstärke, die auch Lynn verstand. Yennifer nickte nur apathisch und Sakuya nahm seine Hand von ihrer Schulter, was sie augenblicklich zusammen zucken ließ. Zitternd schlang sie ihre Hände um ihren Oberkörper. Er trat einige Schritte weg von ihr und kam mit einer Wolldecke zurück, die er ihr um die Schultern legte. Es war nicht zu übersehen, dass er sie extrem eingeschüchtert hatte, denn sie zuckte erneut weinend zusammen, als der Stoff sie berührte. Als er aufsah betrachtete er Lynn einen Moment lang, und es war ihr, als würde sie Befriedigung in seinem Blick sehen. Sie brauchte einen Augenblick um ihre eigenen Gefühle zu ordnen, denn aus irgendeinem Grund hatte diese Situation sie so erregt, dass sie sich auf ihre Lippen beißen musste, um ein leises Aufstöhnen zu unterdrücken. Und genau das schien Sakuya ihr anzusehen.
„Du solltest nach Hause fahren.“ sagte er leise, während er an ihr vorüber lief und sich eine Zigarette anzündete.
„Sakuya...“ Er blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Seine blauen Augen hatten ihre fixiert und sein Blick wanderte hinunter zu ihren Lippen. Die Hitze die ihren Körper überrollte, konnte sie nicht ausblenden, während sie stumm sein Gesicht betrachtete. Er war älter geworden. Der Teamleiter aus ihren Erinnerungen hatte mittlerweile einige Falten um die Augen herum bekommen. Seine Hände waren älter geworden und die Sehnen seiner Unterarme traten deutlicher hervor. Er war noch immer so trainiert wie damals, dass ließ sie ein Blick über sein dunkelgraues Shirt wissen. Er war ein erwachsener Mann, ein Soldat. Und doch war er so anders als sie selbst.
Er sah an ihren Augen, mit welchem Verlangen ihr Blick über seinen Körper wanderte, wieder hinauf zu seinen Augen. Ihre Erregung konnte auch er spüren und zugleich das Verlangen in ihr, ihn anfassen zu wollen. Etwas daran gefiel ihm, dass diese junge Frau nun so vor ihm stand. Aber da war noch etwas in ihrem Blick, dass er nicht kannte.
>> „Wie fühlst du dich, Linnai?“ die raue Stimme ihres Teamleiters ließ sie die Augen aufschlagen. Sie erinnerte sich langsam wieder daran, dass sie beim Training umgekippt war, und man sie daraufhin zurück in ihre Baracke gebracht hatte.
„Nicht so gut, Sir. Mir ist heiß und kalt zugleich. Meine Glieder schmerzen... .“ ein verschwommener Blick vorbei an Sakuyas Gesicht, bestätigte ihre Vermutung. Sie war tatsächlich wieder in ihrer Baracke und lag bewegungslos auf ihrer Pritsche.
„Du hast Fieber. Das wird schon wieder. Die letzten Wochen waren anstrengend.“ pflichtete Sakuya ihr leise bei. Er hielt ihr eine Flasche Wasser hin.
„Kannst du dich aufsetzten?“ Lynn nahm all ihre Kraft zusammen, jedoch wollte ihr Körper nicht gehorchen und sie blieb mit einem heiseren Stöhnen unbewegt liegen.
„Komm her.“ behutsam schob er eine Hand unter ihren Kopf und hielt die Flasche Wasser an ihre Lippen, damit sie trinken konnte.
„Hershel wird später nochmal nach dir sehen. Du bist die nächsten zwei Tage vom Training freigestellt. Danach sehen wir weiter.“ er stellte die Flasche zurück auf den Boden und war bereits im Begriff aufzustehen, als Lynn kraftlos nach seinem Arm griff.
„Bitte gehen Sie nicht, Sir.“ murmelte sie wie in Trance.
„Du brauchst nur Ruhe, Linnai. Der Außeneinsatz ist bald, bis dahin solltest du wieder auf den Beinen sein.“ antwortete Sakuya kühl.
„Bitte... .“ Ihre blassen Lippen hatten kaum ein Geräusch hervor gebracht, aber sie wollte jetzt nicht alleine sein. Sie fühlte sich so verlassen und nutzlos in diesem Moment, dass sie es kaum ertragen konnte. Nicht am Training teilnehmen zu können, machte ihr am meisten zu schaffen. Sie wollte niemanden enttäuschen. Und sie wollte nicht weiter darüber nachdenken müssen.
Sakuya schien das zu bemerken, denn er tat etwas, womit sie niemals gerechnet hatte. Während er sich zu ihr hinunter beugte und einige ihrer Haarsträhnen aus ihrer Stirn strich, war sie sich nicht mehr sicher, ob das alles nicht nur ein Traum war. Die Wärme die er ausstrahlte vertrieb für wenige Sekunden die Kälte der Baracke. Voller Verzweiflung sog Lynn Sakuyas Geruch ein. Seine warmen Lippen berührten behutsam ihre Stirn.
„Das wird wieder werden.“ Die Kälte kehrte zurück, nachdem er aufgestanden war, und ihre Baracke verlassen hatte.<<
Die Leere die plötzlich Lynns Augen erfüllt hatte schien wieder verschwunden zu sein und sie blinzelte verwirrt. Sakuya stand noch immer vor ihr und sah sie an. Die Erinnerung hatte sie so schnell überrollt, dass nun alle anderen Gefühle verschwunden waren.
„Du erinnerst dich an alles...“ ihre Stimme klang unsicher, beinahe unwirklich in Sakuyas Ohren.
„Ja, das tue ich.“ antwortete er. Zu seiner Verwunderung nahm er einen Anflug von Unsicherheit in Lynns Blick war. Sie wollte noch etwas sagen, beließ es jedoch nach einigen Sekunden bei einem Schweigen.
„Soll ich dich fahren?“ fragte Sakuya schließlich, aber Lynn schüttelte nur nachdenklich den Kopf.
„Ich komm schon klar.“ sagte sie leise und er ging.
Es waren einige Tage vergangen, in denen sich das alltägliche Leben des Teams wieder eingespielt hatte. Zwar war Dakon immer noch nicht dazu zu bringen, das Gespräch mit seinem Vater zu suchen, aber er schient über die Fortschritte mit Yennifer erfreut zu sein. Hershel hatte zusammen mit Serah einen neuen Prototypen entwickelt, der ähnlich wie die Hybridtechnologie funktionierte. Sie würde Yennifer erlauben wieder uneingeschränkt gehen zu können.
Am frühen Mittag hatten sie sich alle in Hershels Labor versammelt und warteten gespannt darauf, dass Hershel zusammen mit Doktor Shenker die neue Prothese transplantierte. Die nötigen Teile dafür hatten sie durch einen Mittelsmann der UEF bekommen.
Während Rin und Tetsuya noch in einer Diskussion über Dakon und seinen Vater steckten, standen Lynn und Sakuya abseits von ihnen und warteten schweigend darauf, dass Hershel den Eingriff fertigstellen würde.
Als ein lautes Summen durchbrach die Stille. Tetsuya und Rin verstummten und sahen verwundert zu Serah hinüber, die neben der Empfangskonsole für die Weltenübergreifenden Signale stand und ein Stück Kuchen aß, den Hershel die Nacht über gebacken hatte. Das Backen half ihm offensichtlich beim nachdenken.
„Was war das?“ fragte Rin verwundert und kam zu Serah, die ihren Teller beiseite gestellt hatte und sich nun zu einem Monitor begeben hatte, auf dem sich zwei Audiowellen sich synchronisierten. „Jemand schickt uns ein Signal.“ stellte sie verwundert fest und gab hektisch etwas auf der Tastatur ein. Rin zückte seine Brille und setzte sie auf: „Weißt du schon woher es kommt?“ fragte er angespannt. Serah schüttelte den Kopf.
„Könnte es von Renè aus Efrafar kommen?“ fragte Tetsuya verwundert, aber Serah schüttelte erneut den Kopf: „Nein, das Signal von Renè erkenne ich. Sein Sender schaltet andere Frequenzquellen. Diese hier habe ich noch nie gesehen.“
„Wie lange bis zur Synchronisation?“ hakte Rin nach, der sich neben Serah gesetzt hatte und nun ein technischen Gerät, dass an ein Mobiltelefon erinnerte, an den Monitor anschloss.
„Weniger als eine Minute. Soll ich es abbrechen?“
„Nein, lass es durchkommen, wer auch immer es sendet, sendet auf unserer Sequenz. Solange wir nicht antworten, erfasst er unseren Standort nicht.“ erwiderte Rin nachdenklich. Lynn sah fragend zu Sakuya herüber, der jedoch nur nachdenklich zu den anderen blickte.
„Übertragung in weniger als zehn Sekunden. Läuft der Trakker?“
„Trakker läuft.... Standort Valvar. Wer zum Teufel schickt von dort ein Signal aus? Das ist unsere Technologie!“ Rin war fassungslos aufgestanden und gerade im Begriff Serah dazu zu bewegen, die Übertragung abzubrechen, als bereits die ersten Worte zu hören waren.
„Ich schicke diese Nachricht dem Team von Dakon. Keine Angst, ihr seit sicher.“ die Aufnahme stoppte einen Augenblick, in dem Lynn sofort die Stimme erkannte:
„Das ist Carver!“ sprudelte es aus ihr hinaus.
„Ich weiß nicht wie lange das Signal braucht, damit es bei euch ankommt. Bisher habe ich immer nur eure Signale abgefangen. Jedenfalls wollte ich euch, speziell Lynn und Hershel, wissen lassen, dass ihr auf unsere Unterstützung zählen könnt. In der Nacht der Explosion habe ich den Übergang noch mitbekommen, ich hoffe es geht euch allen gut. Ich bin zurück ins Camp von Sade und Kenny. Das eine führte zum anderen, sie wissen jedenfalls Bescheid, und sind auf unserer Seite. Es sind einige gute Leute dabei, ehemalige Soldaten und Offiziere die sich gegen die VCO gestellt haben. Falls Hershel gerade mithört, der junge Arzt macht sich gut hier. Na, wie dem auch sei, wenn ihr etwas braucht funkt einfach an dieses Signal. Wir werden in den nächsten Wochen versuchen mit den anderen Camps hier zu kooperieren. Kenny meinte, es wäre eine sichere Sache, auch die anderen für die UEF zu gewinnen. Die Sendestation hier ist rund um die Uhr bewacht. Ich muss jetzt Schluss machen, die Signalkapazität schafft unsere Generatoren. Passt auf euch auf.“
Das Signal trennte sich wieder und es herrschte einen Moment lang stille.
„War das gerade Carver?“ unterbrach Hershel das Schweigen, und trat in einem Blutverschmierten Operationskittel aus dem Nebenraum.
„Ja, es geht ihm gut.“ erwiderte Lynn mit einem erleichterten Lächeln.
„Sehr gut. Dann haben wir nun auch Unterstützung aus Valvar.“ Rins Worte wurden mit einem Handschlag seitens Tetsuya besiegelt.
„Wenn Dakon davon erfährt wird er völlig aus dem Häuschen sein!“ rief Tetsuya freudig. Serah nickte nachdenklich.
„Oder er sieht das ganze als eine potentielle Gefahrenquelle.“ meldete sich Sakuya zu Wort.
„Es heißt ja nicht, dass wir unsere Informationen mit ihnen teilen müssen, aber wenn es hart auf hart kommt, sind wir um einige mehr, als im Moment.“ erklärte Rin, der mittlerweile ebenfalls nachdenklich geworden war.
„Dakon wird das entscheiden. Aber es ist eine positive Wendung und ein großer Erfolg. Das haben wir dir zu verdanken, Lynn.“ Serah hatte sich umgedreht und warf ihr ein Lächeln zu.
„Ja, vielleicht.“ erwiderte Lynn leise.
„Aber jetzt weiß ich endlich, dass er lebt... .“ ihre letzten Worte hatte nur Sakuya hören können und er blickte verwundert in Lynns zufriedenes Gesicht. Sie hatte gelächelt, als sie seine Stimme gehört hatte. So wie sie ihn, vor vielen Jahre angelächelt hatte, wenn er sie zum Training abholen kam. Ein Lächeln das er lange nicht mehr gesehen hatte.
„Leute... .“ Rins Verwunderte Stimme ließ alle Anwesenden aufsehen. Doktor Shenker kam vorsichtig mit Yennifer aus dem anliegenden und zum Operationssaal umfunktionierten Lagerraum gelaufen. Sie stützte die junge Frau behutsam, die scheinbar wenig Probleme mit der neuen Prothese zu haben schien. Ihre Schritte wirkten vorsichtig, jedoch nicht unkoordiniert. „Hallo zusammen.“ sagte Yennifer leise und blickte in die überraschten Gesichter, die sie musterten.
„Wer von euch ist...“ sie wollte weitersprechen, aber ihr Blick hatte Lynn bereits entdeckt, wie sie an einem der Schreibtische lehnte und zu ihr hinüber sah.
„Lassen Sie gerne los.“ wies sie Doktor Shenker an, und nachdem diese ihren Arm freigegeben hatte, ging Yennifer einige Schritte in Lynns Richtung.
„Wie fühlst du dich?“ fragte sie ausdruckslos. Yennifer antwortete ihr nur mit einem Kopfnicken. Sie war nur wenige Zentimeter größer, aber ihre Haare waren länger und glänzten in einem satten Schwarz. Schwarze Locken fielen über ihre üppigen Brüste. Lange dichte Wimpern umrahmten ihre braunen Augen. Vielleicht hatte sie etwas mehr als Lynn auf den Rippen, aber das konnte daran liegen, dass ihr Körper im ganzen nicht so trainiert wirkte, wie ihr eigener. Der Klang ihrer Stimme war jedoch angenehm. Nicht so wie Shioris hohe, quietschende Stimme, eher so angenehm warm wie die von Serah. Zu Lynns Erstaunen wich ihr Blick einige Sekunden von ihr, zugunsten von Sakuya. Aber von der Angst, die sie gestern Nacht gehabt zu haben schien, war nichts mehr zu sehen. Im Gegenteil, sie schien ihn gar nicht wieder zu erkennen.
„Ich habe dir mein leben zu verdanken, Lynn. Hättest du mich nicht aus den Trümmern gezogen, wäre ich nun tot.“ Lynn jedoch schüttelte nur den Kopf: „Dank Sakuya Kira, er hat uns beide daraus geholt.“ erwiderte sie. Aber Yennifers Blick galt weiterhin ihr.
„Du hättest mich töten können, das weißt du. Aber du hast mir geholfen.“ Ihre Worte waren undurchdringlich. Und so sehr es Lynn auch zuwider war, dass Jemand in ihrer Schuld stehen würde, so konnte sie diese Tatsache nur akzeptieren.
„Wie lange warst du bei der VCO?“ fragte Lynn schließlich.
„Etwa ein Jahr.“ erwiderte die junge Frau und blickte sich suchend nach einem Stuhl um. Doktor Shenker eilte augenblicklich herbei und zog ihr einen heran. „Setz dich erst einmal. Willst du ein Glas Wasser?“ Yennifer nickte dankend und widmete sich anschließend wieder Lynn, die sich ebenfalls gesetzt hatte und sie betrachtete. Während die beiden Frauen begannen sich zu unterhalten, war Serah bereits aufgestanden und zupfte an Rins Jacke: „Komm schon, lassen wir sie alleine. Wir werden noch genug Zeit haben sie kennen zu lernen.“
„Ach Serah, jetzt wo es so spannend ist?“ murrte Rin und sah zu Tetsuya herüber, der die beiden Frauen fasziniert beobachtete.
„Habt ihr jemals zwei so schöne Frauen gesehen?“ fragte er wie hypnotisiert, als bereits Sakuya zu ihnen herüber kam und ihn verständnislos anblickte.
„Also gut.“ lenkte Tetsuya enttäuscht ein. Zu gerne hätte er die beiden Frauen weiterhin beobachtet.
Lynn bemerkte nur im Augenwinkel, dass Sakuya zusammen mit den anderen das Labor verließ. Der einzige der blieb, war Hershel, der sich derweil umgezogen hatte, und mit einigen Backutensilien auf dem Weg in den anderen Teil seines Labors war. Vermutlich würde er wieder etwas backen.
„Wie fühlt es sich an?“ fragte Lynn und betrachtete die silberne Prothese am Ende von Yennifers Knie.
„Ungewöhnlich gut.“ erwiderte sie und beide mussten lächeln.
„Du bist auch eine von uns, nicht wahr?“ fragte sie schließlich und trank einen Schluck Wasser. Lynn nickte nachdenklich:
„Ja. Ich war eine der ersten.“ erwiderte sie leise und sah zu Boden.
„Bei dir haben sie sich richtige Mühe gegeben. Du bist wunderschön geworden.“ stellte Yennifer fest und umklammerte nachdenklich das Glas Wasser in ihren Händen.
„Nein, sie ist nicht aus dem Genpool, Lynn ist eine der ersten, die noch Rekrutiert wurden.“ Mischte sich Hershel aus dem Hintergrund ein.
„Hat Jemand von euch den Mixer gesehen?“ fragte er schließlich und blickte suchend über die Laborgerätschaften.
„Er liegt neben der Zentrifuge.“ erwiderte Lynn lächelnd. Es war gut, dass Hershel sich so schnell eingelebt zu haben schien. Er war wieder aktiver und nicht so lethargisch wie in Valvar.
„Wurdest du im Genpool geschaffen?“ fragte Lynn schließlich und widmete sich wieder Yennifer, nachdem Hershel zufrieden mit seinem Mixer im anderen Teil des Labors verschwunden war.
„Zum Teil.“ erwiderte sie.
„Mein Vater war lange Zeit Offizier in der VCO, er lernte meine Mutter bei einem Außeneinsatz kennen. Sie war Ärztin. Nachdem Negan jedoch Wind davon bekam, dass einer seiner Soldaten etwas mit einer normalen Frau gehabt hatte, ließ er sie ebenfalls auf die Basis bringen. Es schien für ihn ein gefundenes Fressen gewesen zu sein, um zu sehen, wie sich Mischembryos entwickelten. Ich kam zum Glück gesund zur Welt.“
„Warum zum Glück?“ hakte Lynn verwundert nach.
„Mein Vater war Teilhybrid, bereits in der zweiten Generation. Scheinbar schien die Nachzüchtung von hybriden Soldaten enorme Probleme aufzuwerfen. Die Embryonen waren nie Lebensfähig.“
„Warte einen Moment... wie alt bist du?“ Das was Yennifer da gerade erzählte ergab keinen Sinn. Sie sah nicht älter als Anfang Zwanzig aus, sie wäre auf dem selben Stützpunkt wie Lynn aufgewachsen, aber daran konnte sie sich absolut nicht erinnern. Und die Forschungen an der Hybridtechnologie dauerten erst wenige Jahre an.
„Ich bin drei, warum?“ Lynn stockte der Atem. Da saß eine Frau vor ihr, die genauso alt sein sollte wie sie selbst, aber stattdessen war sie erst drei Jahre alt?
„Wie ist das möglich?“
„Ich vermute, dass Negan meine Forschungen mit seinem Team weiter voran getrieben hat.“ mischte sich Hershel erneut ein, der mit einer Schüssel Teig in den Armen zu ihnen kam.
„Yennifer ist ebenfalls Teilhybrid, ist mir bei der Transplantation aufgefallen. Ich habe vor einigen Jahre an einer Theorie gearbeitet, zusammen mit einigen anderen Wissenschaftlern, die dazu beitragen sollte, dass Embryonen schneller wachsen. Um für den Ernstfall schneller Einheiten nach produzieren zu können. Ich habe es irgendwann aufgegeben. Ziel war es, die Homöostase, also die Systemeigenschaft von Zellen und Organismen, welche die Gesamtheit der endogenen Regelvorgänge, die für ein stabiles inneres Milieu sorgen, einzustellen, damit es nicht mehr zur Alterung kommt, ab einem Alter von etwa zwanzig Jahren. Es ist uns zwar gelungen, den Wachstumszeitraum zu beschleunigen, aber das vorzeitige Ziel bildeten nach nur zwei Monaten alte Greise. Wir sind nicht auf die Lösung gekommen, diesen Prozess wieder zu beenden.“
„Ich vermute Negan ist das ganze durch den Chip in meinem Nacken gelungen. Der SND steuert meine Alterung.“ bemerkte Yennifer mit einem Griff an ihren Hals.
„Weißt du ob er geortet werden kann?“ Eine plötzliche Panik überkam Lynn bei dem Gedanken daran.
„Nein, ich habe keine Ahnung.“ erwiderte Yennifer unsicher.
„Da haben wir ein Problem.“ augenblicklich hatte Hershel von der Teigschüssel abgelassen.
„Darf ich mal deinen Nacken sehen?“
„Sicher doch.“ Yennifer hatte ihre dicken schwarzen Haare zusammengefasst und Hershel warf einen Prüfenden Blick auf ihren Nacken. Daran war eine kleine Wunde zu sehen, die jedoch bereits wieder verheilte.
„Zeig mir mal bitte deine Unterarme.“ Es fiel Lynn nicht schwer zu bemerken, wie hektisch Hershel wurde. Irgendetwas schien ihn zu beunruhigen, abgesehen von der Tatsache, dass man ihr Versteck durch Yennifers Ortung finden könnte.
Frische Einstiche waren an ihren Unterarmen zu sehen.
„Lynn, war Sakuya gestern Nacht bei Doktor Shenker?“ verwirrt sah Lynn von Yennifers Armen zu Hershel auf, der deutliche Sorgenfalten auf der Stirn bildete.
„Ja, warum? Er hat sie verhört.“ Hershel hatte mit einem Mal von Yennifer abgelassen und war auf dem Weg zu seinem Handy, als er kurz inne hielt:
„Yennifer, was ist das Letzte woran du dich erinnern kannst?“ die junge Frau blickte ihn fragend an und überlegte kurz:
„Ich hatte den Auftrag bekommen, das Hotel in Valvar mit meinem Team zu sprengen, warum?“
„War sie gestern Nacht bei Bewusstsein, als du dort warst, Lynn?“
„Ja, sie schien ein wenig in sich gekehrt, aber ich dachte weil Sakuya mit ihr gesprochen hatte... .“ Noch bevor Hershel ihr eine Antwort gab, hatte er sein Telefon am Ohr und verließ hektisch die Praxis.
Lynn und Yennifer blieben verwundert zurück.
„Hershel?“ meldete sich Sakuya am anderen Ende der Leitung.
„Sakuya, was hast du mit Yennifer gemacht?“ er war außer sich. Würde sich seine Vermutung etwa bestätigen?
„Ich habe ihr den SND abgenommen. Er war eine Gefahr für uns alle.“
„Bist du noch ganz bei dir? Du kannst ihr doch nicht einfach den SND herausschneiden!“ Hershel hatte das Bedürfnis zu schreien. Aber so respektlos würde er sich seinem alten Freund gegenüber nicht verhalten.
„Hershel, sie haben in der Wüste damals das selbe mit Lynn gemacht. Sie hat ebenfalls überlebt.“
„Aber Lynn ist nicht wie Yennifer, Herrgott. Ihr Blut besteht zu zwanzig Prozent aus Geomas, und sie hat keinerlei hybride Technologie in sich.“
„Das weiß ich Hershel. Ich habe Yennifer einige Mengen Geomas verabreicht. Wir werden den Pegel aufstocken müssen, nach und nach, damit ihr Organismus nicht vorzeitig verfällt.“ Sakuyas Stimme klang rau und sachlich, beinahe wie immer.
„Wann hattest du vor, mir davon zu berichten?“
„Ich hätte es dir schon noch gesagt, beruhige dich endlich.“
„Das synthetisierte Geomas ist kein Zaubermittel. Wir können es nicht anstelle von einem funktionstüchtigen SND verwenden.“
„Doch Hershel, es wirkt doch. Hab etwas mehr Vertrauen. Das wichtigste ist im Moment, dass die UEF geschützt bleibt. Jetzt müssen wir uns immerhin keine Sorgen mehr darum machen, dass die VCO in irgendeiner Weise Zugriff auf sie hat. Sie ist raus, aus ihrem System.“ Hershel schnaubte und atmete tief ein.
„Wann bist du eigentlich zum Arzt geworden, Sakuya... .“ es folgte ein heiseres Lachen.
„In der Zeit, als du nicht mehr da warst.“ erwiderte er und Hershel wurde stiller.
„Hast du noch die Aufzeichnungen über Lynns Gentherapie?“
„Ja, ich müsste sie nur von meinem alten Server herunterladen.“ antwortete er.
„Gut, dann frag Rin, er wird dir dabei helfen. Wenn du die Gentherapie an Yennifer anpasst, sollten jegliche Zweifel in ein paar Monaten überwunden sein.“ erklärte Sakuya.
„Das könnte Funktionieren.“ Hershel klang wieder zuversichtlicher.
„Aber das nächste mal, wenn du mal wieder Arzt spielst, möchte ich vorher informiert werden.“
„Ja Hershel. Die Sicherheit der UEF steht jedoch an erster Stelle, und das weißt du auch.“
„Natürlich weiß ich das.“ erwiderte Hershel, und legte auf.
Yennifer saß nicht mehr bei Lynn, als Hershel zurück in sein Labor kam.
„Was ist?“ fragte sie nur und stand auf.
„Sakuya hat sich bereits darum gekümmert. Wir werden mit Yennifer eine abgewandelte Form der Gentherapie testen, die du damals bekommen hast. Ich muss zuvor jedoch noch herausfinden, wie sich die hybriden Teile zu dem Geomas verhalten. Aber ich bin zuversichtlich.“ Lynn hatte sich wieder zurück auf ihren Stuhl fallen lassen.
„Wo ist sie?“ fragte Hershel schließlich.
„Sie hat sich in Ihrem Arbeitszimmer etwas hingelegt. Die Transplantation hat sie sehr geschafft.“ Ein zufriedenes Nicken strich über Hershels altes Gesicht.
„Sie ist er drei Jahre alt...“ wiederholte Lynn ungläubig diese Tatsache.
„Ja, sie scheint mir aber auf reichlich Außeneinsätzen gewesen zu sein. Sie ist eine junge Frau, die scheinbar mitten im Leben stehen könnte, wäre sie keine Soldatin. Es gibt keine Anzeichen für Traumata und ihre geistige Entwicklung scheint ebenfalls auf dem Stand einer zwanzigjährigen zu sein. Die VCO hat ihre Sache gut gemacht, das muss ich ihnen lassen.“
Kopfschüttelnd war Lynn aufgestanden und ging einige Schritte.
„Nein Hershel, das ist alles nicht richtig. Hybride Soldaten, Kinder die schneller wachsen, perfekte Soldaten. So sollte es nicht sein. Die VCO verursacht mehr Leid als alles andere. Und das nur für Ressourcen. Selbst die Bewohner von Valvar haben es satt. Und haben Sie sich mal überlegt, was geschieht, wenn niemand mehr altert? Wo soll das alles hinführen?“ natürlich verstand Hershel sie, aber er war zugleich auch Wissenschaftler. Die neuesten Ergebnisse der Forschung faszinierten ihn zutiefst. Aber auch er wusste, dass es Grenzen gab. Menschen unsterblich werden zu lassen, war nicht der richtige Weg. Und menschenähnliche Maschinen zu erschaffen, erst recht nicht.
„Es ist schon spät. Du solltest Heim fahren. Mach dir um Yennifer keine Sorgen. Sie kann erst einmal hier bleiben, Platz genug haben wir. Ich werde mich einfach in dem anderen Zimmer einrichten. Und ich bin mir sicher, wenn sie wieder einsatzbereit ist, wird Dakon sich um alles weitere kümmern.“ Lynn hatte sich zu ihm umgedreht und blickte ihn nachdenklich an.
„Ist noch etwas?“ fragte er verwundert.
„Sagen Sie es nicht so... „Einsatzbereit“... wir sind Menschen. Vielleicht nicht so normal wie die anderen, aber dennoch menschlich.“
Unruhig wälzte sich Lynn in ihrem Bett umher. An Schlaf war in dieser Nacht kaum zu denken. Zu viel Platz nahmen die Ereignisse der letzten Tage Platz in ihren Gedanken ein. Carvers Stimme gehört zu haben tat gut. Und auch die Tatsache, dass sie auf die Unterstützung des Camps in Valvar hoffen konnten.
Aber die Situation zwischen Sakuya und Yennifer, einige Tage zuvor, ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Es hatte sie so erregt ihn bei ihr zu sehen. Woran genau das lag, konnte sich sich jedoch nicht erklären. Und bei den Gedanken daran verspürte sie wieder die Hitze, die sich langsam in ihrem Körper ausbreitete. Mit einem Schwung verließ sie das Bett und begann in ihrer Jackentasche, die noch auf dem Sofa lag, nach Geomas zu suchen. Aber sie fand weder dies, noch Nonjod Tabletten.
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-21- Efrafar
„Dakon, was gibt es?“ hellwach rollte sich Lynn auf die andere Seite ihres Bettes und sah auf die Uhr. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, es war gerade einmal kurz vor eins in der Nacht.
Die letzten Tage waren ruhig dahergekommen. Yennifer und Lynn hatten sich immer besser miteinander verstanden. Und auch Dakon lernte sein künftiges neues Teammitglied kennen. Trotz der Prothese bereiteten ihr Trainingsübungen im Nahkampf keine Probleme. Tetsuya hatte sich dazu bereit erklärt mit ihr zu trainieren, damit Dakon sehen konnte, wo ihre Fähigkeiten lagen. Sein Ergebnis fiel jedoch ernüchternd aus. Zwar war Yennifer gut, aber bei weitem nicht so schnell und geübt wie Sakuya oder Lynn. Dennoch würde sie ein Hilfreiches Mitglied der UEF abgeben. Hershel hatte mit der Gentherapie angefangen. Nach Sakuyas Einschätzung jedoch, würden noch einige Wochen vergehen, bis Yennifer Zugriff auf ihr gesamtes körperliches Potential haben würde.
„Kannst du in einer halben Stunde im Labor sein? Wir müssen etwas besprechen.“ Die Stimme von Dakon klang nicht so sehr nach einem Offizier wie sonst, das merkte Lynn sofort. Nachdem sie eingewilligt und aufgelegt hatte, dachte sie noch kurz darüber nach. Warum zur Hölle diktierte er sie so spät in der Nacht noch ins Labor? Zu jenem Platz, wo auch sein Vater war? Hastig schwang sie sich vom Bett hinunter und packte ihre Sachen.
Die Flure der Universität lagen in einer ruhigen Dunkelheit, die nur von den Schatten der Bäume, die die Straßenlaternen beleuchteten, durchbrochen wurde. Ein Muster aus unruhigen und mystischen Gestalten, die sich schunkelnd hin und her bewegten. Die Wachleute kümmerten sich nicht um Lynn. In den letzten Tagen hatten sie sie oft, spät Nachts, noch kommen oder gehen sehen.
Unsicher und zugleich gespannt öffnete Lynn die Türe zu Hershels Labor. Der Geruch von kalten Qualm lag in der Luft. Aber der Duft von Hershels Süßspeisen fehlte gänzlich.
„Lynn?“ Dakons Stimme hätte sie beinahe zusammen zucken lassen, aber stattdessen hatte sie in alter Gewohnheit blitzschnell ihre Waffe gezogen, und zielte damit in seine Richtung. Ernüchtert nahm sie, sie wieder hinunter.
„Was gibt es hier mitten in der Nacht so geheimnisvolles zu besprechen?“ fragte sie, noch immer angespannt von diesem kurzen Schrecken. Dakon trat aus einer Ecke hervor und schaltete eine kleine Schreibtischlampe an.
„Wo sind Hershel und Yennifer?“
„Die beiden bereiten einen Übergang vor.“ antwortete Dakon knapp.
„Wohin?“ Verwundert blickte Lynn sich einen Augenblick lang in dem großen Labor um.
„Nach Efrafar.“
Dakon und Lynn saßen im schwachen Licht an einem der Labortische.
„Sakuya wird den gesamten Übergang leiten. Rin muss hier bleiben, ich brauche ihn für die Datentransfers. Aber uns fehlt somit ein entscheidender Mann. Ich habe die Nacht lange mit meinem Vater gesprochen. Er wird ebenfalls hier bleiben und mit Rin weiterarbeiten.“ fragend hörte Lynn ihm zu. Was wollte er nun von ihr? Sollte sie etwa mit in diese fremde Welt kommen?
„Du willst, dass ich mitkomme?“ stellte sie angespannt fest. Sie kannte diese fremde Welt nicht, wusste beinahe nichts darüber, nur, dass dort ein erbitterter Krieg herrschte. Während sich Dakon eine Zigarette anzündete nickte er.
„Wir haben Informationen von Shiori erhalten, dass außerhalb der Hauptstadt eine gesamte Stadt von der VCO eingenommen wurde. Die Bewohner wurden bereits nach Valvar deportiert. Die VCO hat jedoch damit begonnen, sich in dieser Stadt zu sammeln und von dort aus zu operieren.“ Ungläubig schüttelte Lynn den Kopf. Wollte Dakon tatsächlich eine ganze Stadt voller VCO Soldaten erledigen? Sie waren definitiv zu wenig Leute für eine solche Mission.
„Welche Teams wären noch an dem Einsatz beteiligt?“ unterbrach ihn Lynn.
„Alle. Wir werden sie in Yevon treffen, einem Ort an der Küste, und von dort aus die weitere Operation starten.“ Lynn war sich sicher, dass Dakon nicht ganz mit der Sprach heraus kam. Da war noch etwas, sonst hätte er sie nicht mitten in der Nacht ins Labor zitiert. Ungeduldig stand sie auf und ging einige Schritte, ehe sie sich ihm wieder zuwandte: „Dakon, was willst du von mir?“ Er zog seufzend an seiner Zigarette.
„Mein Vater sagte mir, wir könnten auf Unterstützung aus Valvar hoffen. Er sprach von einigen Outsidern, die sich ebenfalls gegen die VCO und Negan stellen. Du hast den Kontakt zu einem von ihnen, Carver. Wir brauchen in Efrafar jeden Mann.“ Ein schwerfälliges Kopfschütteln ging von Lynn aus. Nein, sie würde Carver da nicht mit reinziehen, geschweige denn, Kenny und Sade, oder den Rest des Camps. Das war Irrsinn. Eine ganze Stadt überrennen zu wollen, für was?
„Lynn, verstehst du nicht? Wenn sie sich weiter in Efrafar ausbreiten, wird bald nichts mehr von dieser Welt übrig sein, geschweige denn von ihren Bewohnern. Das alles muss ein Ende haben. Wir haben endlich genügend Informationen, und wenn wir ihre Zelle dort zerschlagen können, haben wir erst einmal eine kleine Verschnaufpause. Negan wird genug damit zu tun haben, neue Einheiten Kampffähig zu machen, und wir können ihn im Anschluss da treffen, wo es am sinnvollsten ist: in Valvar.“ Vor ihrem innere Auge sah Lynn bereits ihren alten Stützpunkt brennen. Natürlich wollte sie das. Aber es war auch ihre Welt. Wie viele Menschen sollten noch sterben?
„Ich soll also ein Signal an Carver funken, das ist es was du willst?“ Dakon nickte.
„Es wird nicht einfach werden, aber das ist dir sicher klar. Wir werden es mit Hybriden zu tun haben, und Verluste sind vorprogrammiert.“ Vielleicht sollte das ganze wie eine Warnung klingen, aber es beeindruckte Lynn nicht. Dass einzige was sie an diesem Plan störte, war es, noch mehr mit hinein zu ziehen. Aber vielleicht würden Kenny und die anderen auch ablehnen. Womöglich würden sie sich nicht auf diesen Irrsinn einlassen, schließlich war es nicht ihre Welt. Sie hatten schließlich nur ein Problem mit Negan.
„Gut. Schalte das Signal. Ich werde mit Carver sprechen, aber den ganzen Plan wirst du ihm erklären.“ Kopf nickend stand Dakon auf und ging zu der Empfangskonsole herüber.
Die gesamte Nacht hatten Dakon und Lynn mit dem Camp aus Yad VaShem kommuniziert. Carver hörte sich mehr als distanziert von diesem Plan an, erklärte sich jedoch dazu bereit, mit Kenny und Sade zu sprechen.
Erleichtert ließ sich Dakon im Morgengrauen zurück in seinen Stuhl fallen.
„Ich hoffe, du weißt, was du da vor hast.“ sagte Lynn kritisch während sie einen Apfel aß und ernüchtert auf den schwarzen Monitor starrte.
„Unsere Teams haben sich bereits abgesprochen. Der Plan ist gut durchdacht. Wir werden dem ganzen ein Ende setzten.“
„Wie kam der Sinneswandel mit Hershel?“ Es war eigenartig, Dakon so ruhig zu erleben. Aber vielleicht war dies nur die Ruhe vor dem Sturm. Dakon blieb stumm. Lynn kam der Gedanke, dass Sakuya an seiner Entscheidung maßgeblich beteiligt gewesen sein musste. Vielleicht hatte er Dakon davon überzeugen können, mit seinem Vater zusammen zu arbeiten. Es war eine gute Entscheidung. Denn der, der Hershel nun war, war ein anderer Mensch, der eine zweite Chance verdient hatte.
Serahs leise Schritte, und das zufallen der Labortüre durchbrach die Stille. In ihrem Gesicht zeichneten sich Sorge und Ärgernis ab.
„Und?“ fragte sie nur knapp und stellte eine Papiertüte mit Lebensmitteln auf einem weiteren Tisch ab.
„Das Camp in Yad VaShem wird sich noch heute melden.“ erwiderte ihr Mann. Serah begann kopfschüttelnd die Tüte auszuräumen. Es waren Eier, Backpulver und Zucker dabei. Lynn schloss daraus, dass Hershel sie darum gebeten hatte. Vermutlich wollte er wieder backen.
„Du weißt, was ich davon halte, Dakon.“ sagte sie leise. Aber ihre Stimme schwoll voller Zorn.
„Wir brauchen jede Unterstützung, die wir bekommen können, Serah.“ Dakon war aufgestanden und ging zu ihr herüber.
„Es ist nicht ihre Welt! Du ziehst Menschen mit in unsere Angelegenheiten, die ihre eigenen Kämpfe führen. Und du willst sie als Kanonenfutter missbrauchen!“ fassungslos knallte sie einen Liter Milch auf den Tisch und ließ von der Tüte ab, um ihren Mann schnaubend anzusehen.
„Und doch geht es um ihre Welt! Wenn wir Negan einmal los sind, werden die Verträge vermutlich wieder aufgenommen, zwischen Efrafar und Valvar.“
„Und was kommt dann? Alle Leben friedlich miteinander? Was ist mit denen im Hintergrund, die Negans Pläne für gut heißen? Glaubst du wirklich alle hassen diesen Mann? Denkst du wirklich, dass mit seinem Tod alles besser wird? Und nun missbrauchst du noch seine eigenen Leute. Dakon, lass Unbeteiligte daraus. Wir haben genug Soldaten innerhalb der UEF. Wir schaffen es ohne sie, aber das siehst du eben nicht, weil du völlig besessen bist!“
Einen Augenblick lang, sagte niemand etwas. Serah wandte sich von ihrem Mann ab und räumte weiter die Tüte aus.
„Sie sind nicht Unbeteiligt, Serah. Es herrscht Krieg. Und wir können nicht herumsitzen und auf das Beste hoffen! Wir hängen da alle drin! Und vergiss nicht, was die VCO mit dir und unserer Tochter angestellt hat, willst du das so etwas weiterhin geschieht?“ Ein lautes Klatschen folgte. Lynn blickte erschrocken Serah an, die ihrem Mann eine Ohrfeige gegeben hatte und ihn nun bebend vor Wut ansah:
„Ich würde es nur zu gerne vergessen, wenn du mich nicht ständig daran erinnern würdest.“ Atemlos verharrte Serah noch einen Moment an Ort und Stelle, ehe Dakon seine Jacke nahm und das Labor stumm verließ. Verwirrt blickte Lynn zu Serah, die ihr Gesicht in ihren Handflächen vergraben hatte und weinte.
„Lynn du verstehst mich doch, oder?“ fragte sie verzweifelt und setzte sich auf einen Stuhl. Einen weiteren zog sich Lynn heran und setzte sich zu ihr, während sie eine Hand in ihre legte und sie nachdenklich ansah.
„Ich verstehe dich, ja. Mir passt das auch nicht. Aber ich bin mir sicher, dass Dakon weiß, was er tut.“ Serah sah auf, Lynn an. Er verstrichen einige Sekunden und sie nickte resigniert.
„Was hat dich so aufgebracht?“ schob Lynn schließlich hinterher. Denn so kannte sie Serah nicht. Es war stets sie gewesen, die hinter ihrem Mann und seinen Plänen stand.
Mit einer Hand holte sie ihr Handy aus der Jackentasche und hielt es Lynn hin. Darauf war ein Video geöffnet. „Was ist das?“ fragte sie verwirrt und nahm es.
„Das Video kursiert im Dark Web. Ein Informant hat es mir geschickt. Sieh es dir an.“
Lynn drückte die Taste zum abspielen des Videos und sofort ertönten bittere Schreie. Die Aufnahme war schlecht, aber man konnte sehen, wie einige Männer um eine junge Frau herumstanden. Sie trugen die Uniform der UEF. Wo sich das ganze Abspielte konnte Lynn nicht erkennen, aber es war ein kleiner abgedunkelter Raum. Immer wieder Schlug man der Frau ins Gesicht, ehe sie vom Stuhl fiel, und man so lange auf sie eintrat, bis sie kein Geräusch mehr von sich gab. Dann endete das Video. Lynn sah fragend in Serahs entsetztes Gesicht.
„Das Video wurde von einem unserer Leute gedreht. Es zeigt ein Verhör, mit einer Bewohnerin aus Valvar, die scheinbar in Machenschaften der VCO verstricht war. Wie können wir zu so etwas nur fähig sein? Wenn das unsere Mittel sind, dann verachte ich unsere Organisation!“ Serah war aufgestanden und nahm eine Flasche Wasser.
„Sag mir etwas, Lynn.“ forderte Serah sie zitternd auf.
„Was soll ich dir sagen? Es sind Verhörtechniken. Ich habe so etwas zu meiner Zeit bei der VCO zu genüge gelernt. Es geht nicht um den Einzelnen. Wenn es darum geht, seine Einheit zu schützen, tust du, was auch immer du tun musst. Und wenn es um Informationen geht, um den Feind, dann ist dir jedes Mittel recht.“ Entsetzten und Sprachlosigkeit zeichneten sich in Serahs Gesicht ab. Natürlich war das das letzte, was sie hatte hören wollen. Aber Lynn war nun mal ein Soldat. Von Kindheitstagen an, hatte man ihr eingebläut, dass jedes Mittel zum Schutze der Einheit recht war.
„Was seid ihr nur für Menschen...“ sagte Serah leise. Und doch, erkannte sie in dieser Erbarmungslosigkeit, mit der Lynn es gesagt hatte, noch immer eine junge Frau voller Empathie.
„Serah, ich bin eine von ihnen. Was ich gesehen und gelernt habe, lässt sich nie mehr vergessen. Und glaub mir, wäre einer von euch in Gefahr, dann würde mich nichts in der Welt davon abhalten, das Gleiche für euch zu tun.“
„Vielleicht erfordert Krieg auch einfach andere Maßnahmen, die nichts mehr mit Menschlichkeit zu tun haben.“ lenkte Serah leise ein, und fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht.
„Verzeih mir, ich habe das alles miterlebt, und ich würde nie wollen, das ein Mensch diese Qualen ertragen muss. Aber vielleicht ist auch für mich die Zeit gekommen, umzudenken.“ Lynn war aufgestanden und legte Serah eine Hand auf ihre Schulter:
„Du bist die, die die UEF mit ihrer unergründlichen Zuversicht stützt. Und das weiß Dakon mit Sicherheit auch. Entschuldige dich niemals, für deine Menschlichkeit. Wir brauchen jemanden wie dich, jetzt mehr, als vielleicht zuvor.“ resigniert nickte Serah stumm und betrachtete Lynn.
„Und nun sollten wir alles für Hershels Backkünste vorbereiten.“
Erschöpft ließ sich Lynn auf ihr Bett fallen. Die letzten zwei Tage hatte sich alles um die Beschaffung von Waffen gedreht. Sie hatte Dakon zu einigen Zwischenhändlern begleitet, die altmodisch in dunklen Bars auf sie gewartet hatten, und die beiden anschließend in Dunkle Gassen führten, um ihnen Taschen voller Sturmgewehre und Handfeuerwaffen zu überreichen. Dakon war ein souveräner Profi darin, unauffällig Geschäfte ab zu wickeln. Den kuriosesten Lieferanten hatten sie in einem Stripclub getroffen. Er trug ein viel zu großes Hemd, obwohl er mehr, als einige Kilos Übergewicht hatte. Die Kommunikation zwischen ihnen hatte sich nur ein kurzes Kopfnicken, und dem Blick zu einem der Hinterzimmer beschränkt. Der Mann hatte nicht ein Wort gesagt. Hershels Labor diente der weil als eine Mischung aus Rehabilitationszentrum, Waffenlager, Einsatzzentrale, und Backstube. Es hatte sich herausgestellt, dass Serah und Yennifer äußerst affin darin waren, die gebrachten Waffen zu zerlegen und zu reinigen. Während Rin stets an seinem Laptop saß und gleichzeitig Signale nach Yad VaShem schickte, half Tetsuya so gut es ging Hershel, der rege seiner Leidenschaft zum Backen nach ging. Sakuya und Dakon ließen sich nur selten blicken, meist nur um weitere Utensilien für die bevorstehende Mission ab zu liefern. Den letzten Pfirsich-Biskuitt Kuchen aßen sie alle gemeinsam, und gingen nochmals einige Karten durch, durch die sich auch Lynn ein Bild von Efrafar und der Umgebung machen konnte. Die Stadt Mi`hen, die von den Hybriden übernommen wurde, befand sich wenige Stunden von Yevon entfernt. Sie würden also zuerst in Yevon bleiben, wo sie auf die Verstärkung der anderen Teams hoffen würden, ehe sie bei Nacht durch einige kleinere Dörfer und Städte, den Weg nach Mi`hen einschlagen würden. Kenny hatte sich ebenfalls endlich gemeldet. Ein Teil seines Camps, sowie zwei weitere, würden sich dem Plan anschließen. Die Voraussetzung dafür war jedoch, dass Rin ihnen die Pläne für den Bau eines Transfergerätes zukommen lassen würde. Obwohl Dakon nicht überzeugt von der Idee war, und es für besser erachtete, dass Sakuya nach Valvar wechselte, um sie von dort aus rüber zu holen, und anschließend nach Efrafar zu wechseln, hatte er sich von Serah schließlich doch dazu breitschlagen lassen. Sie hatte auf die Eigenständigkeit der Leute plädiert.
Der Schwall an Gedanken in Lynns Kopf ließ langsam nach. Sie würden das sicherlich alles schaffen. Ohne Verluste.
Der nächste Morgen kam schnell, und Lynn packte hastig einen Rücksack mit den wichtigsten Dingen. Ihr Blick blieb an der Uniform auf dem Sofa hängen. Nein, es war auch nicht ihre Welt, in die sie wechseln würde. Die Uniform würde sie Zuhause lassen. Sie war eine Soldatin aus Valvar. Und die Menschen die ihr etwas bedeuteten, wusste das auch.
Hastig streifte sie ihre schwarze Jacke über und verließ ihr Apartment.
Im Labor angekommen herrschte eine rege Diskussion. Dass Lynn kam bemerkte nur Yennifer, die angespannt auf einem Bürostuhl saß und Sakuya anblickte, der mit Dakon diskutierte.
„Das reicht jetzt. Sie wird mit kommen.“ waren Sakuyas letzte Worte an Dakon, der sich nur Kopfschüttelnd abwandte. Lynn hatte ihren Rucksack neben Yennifer, auf den Boden gestellt.
„Was ist los?“ fragte sie leise und Yennifer seufzte.
„Scheinbar hat Dakon ein Problem damit, dass ich mitkommen möchte.“ Verwunderung machte sich in Lynn breit.
„Aber dein Bein?“ fragte sie leise und Yennifer lächelte.
„Ich bin doch Teilhybrid. Zwei, drei Teile mehr oder weniger, werfen mich so schnell nicht aus der Bahn.“ Auch Lynn musste bei ihren Worten Lächeln. Dass sie so offen über ihre Technologie sprach, beeindruckte sie.
„Boss ich sehe da keine Probleme, sie macht sich die letzte Woche extrem gut beim Training.“ mischte sich schließlich Tetsuya ein. Dakon warf ihm jedoch nur einen stummen Blick zu.
„Ich denke, das Problem liegt eher bei der Gentherapie. Wenn wir sie nicht weiterführen, kann es sein, dass Komplikationen auftreten.“ Wandte Hershel schließlich ein, der mit einem Tablett Kuchen in den Raum kam. „Andererseits, Sakuya ist mit allem vertraut, er könnte die Gentherapie in Efrafar weiterführen.“ fügte er hinzu, nachdem Hershel das Tablett auf einen Tisch mit Munition gestellt hatte.
„Ihr treibt mich noch in den Wahnsinn. Warum will keiner Einsehen, dass es taktisch völlig unklug ist, jemanden zu überführen, der angeschlagen ist?“ meldete Dakon sich genervt zurück, und reichte seinem Vater ein Messer für den Kuchen.
„Wenn sie es doch selbst möchte, nehmt sie doch einfach mit.“ Entglitt es Rin lautstark, nachdem er seinen Laptop zugeklappt hatte.
„Tetsuya, hast du auch noch was zu sagen?“ Er wollte gerade Antworten, wurde jedoch von Serah mit einem großen Stück Kuchen zum schweigen gebracht. Lynn musste bei dem Anblick der beiden Lächeln. Ja, sie waren wie eine kleine Familie geworden. Und wie sie so daran dachte, dass sie in dieser Konstellation vielleicht nie wieder zusammen sein könnten, unterbrach Sakuya mit einem Handzeichen die gesamte Diskussion.
Mit einem Male hielten alle inne, und als Lynn bemerkte, dass Sakuya nach seiner Waffe griff, tat sie es ihm gleich und wandte sich zur Labortüre, die sich langsam öffnete.
Carver und Kenny blickten verwundert in die Runde der Menschen, die allesamt ihre Waffen auf sie gerichtet hatten.
„Carver?“ entglitt es Hershel und er ging auf die beiden Männer zu. Erleichterung machte sich in der Gruppe breit. Lynn fragte sich, wie Sakuya hören konnte das jemand kam, denn sie selbst hatte rein gar nichts bemerkt, außer ihre eigenen Konversationen.
„Was macht ihr denn hier?“ fragte Hershel erleichtert und begrüßte zugleich seinen Freund Kenny.
„Heute geht es doch los, oder nicht? Und da Kenny noch nie in Elaìs war, dachten wir uns, wir machen einen Zwischenstopp.“
„Und da dachtet ihr euch, ihr wechselt mal eben ohne viel Aufsehen die Welt, und kommt geradewegs hierher marschiert?“ raunte Tetsuya, den ihm Unbekannten an. Carver betrachtete Tetsuya einen Augenblick, schien in ihm aber keinerlei Gefahr zu sehen. Dementsprechend Antwortete er nur: „Glaub mir, ich habe das schon oft genug gemacht.“ Ein Schmunzeln konnte Lynn nicht unterdrücken. Hatte Tetsuya eigentlich eine Ahnung was Carver war? Wahrscheinlich nicht, sonst hätte er nicht so reagiert. Es war eigentlich nicht seine Art, so respektlos zu sein.
„Wo ist Dakon?“ fragte Kenny schließlich in die Runde, und wie er sich kurz umsah, bemerkte er Lynn, und schenkte ihr ein wohlwollendes und anerkennendes Lächeln. Scheinbar hatte er die Sache mit dem Wildschwein noch nicht vergessen.
„Ich bin Dakon, schön euch hier zu haben.“ begrüßte er Kenny, aber anstatt dass sie sich die Hand gaben, bot Dakon ihm eine Zigarette an. Kenny nahm sie wohlwollend.
„Oh man, ihr habt hier aber ein ziemliches Arsenal an Waffen.“ bemerkte er und nahm ein Sturmgewehr in die Hände. Die beiden Männer gingen ein Stück durchs Labor und unterhielten sich. Während langsam wieder Ruhe in die ganze Aufregung einkehrte, kam Lynn nicht umhin, Carver dabei zu beobachten, wie er seinen Rucksack ablegte und die anderen begrüßte. Dass ihr Blick ihm folgte, hatte auch Serah bemerkt. Mit einem Stück Kuchen ging sie zu Lynn.
„Das ist also Carver.“ stellte sie mit einem Lächeln fest, und auch Lynn musste Lächeln. Ja, das war er. Er war wieder zurück. Und aus irgendeinem Grund war Lynn sich sicher, dass die Leute aus dem Camp und ihre Gruppe gut miteinander auskommen würden. Es war eine gute Basis für eine Zusammenarbeit. Verschiedene Welten hin oder her.
Es würde nur noch wenige Stunden dauern, bis Sakuya den Übergang einleiten würde. Die Nacht war bereits über dem Campus der Universität hereingebrochen.
Kenny und Dakon hatten sich lange unterhalten. Die Einweisung hatte Serah übernommen, ebenso hatte Yennifer die Lagepläne von Yevon und Mi`hen verteilt. Rin hatte ebenfalls eine kurze Ansprache für einen Notfallplan gehalten. Wenn es hart auf hart kommen würde, würde er versuchen, sich in das Netzwerk der VCO zu hacken, um die Hybriden auszuschalten. Es war der Notfallplan, weil vieles dafür sprach, dass er das Sicherheitssystem der VCO letztendlich womöglich doch nicht überschreiten könnte.
Nachdem etwas Ruhe eingekehrt war, wandte sich Lynn Carver zu, der abseits der Anderen seine Waffen noch einmal checkte.
„Schön dich zu sehen.“ sagte er und sah von seiner Waffe auf, Lynn an. Sie nickte nur.
„Warum seid ihr wirklich hier?“ fragte sie schließlich leise.
„Ich brauchte noch einige Sachen aus meiner Wohnung.“ erwiderte er. Ein Blick in seine grünen Augen verriet Lynn, dass er es ernst meinte.
„Ich bin froh, dass du lebst.“ entwich es ihr unbedacht. Natürlich war sie froh, dass er lebte. Warum hatte sie das jetzt auch noch sagen müssen?
„Und ich bin froh, dass es dir und Hershel gut geht.“ seine Antwort verwarf die unstimmigen Gedanken in Lynns Kopf.
„Hört mal alle her!“ Unterbrach Hershels laute Stimme plötzlich die Gespräche.
„Wir werden den Übergang auf der Sanjo-Bridge in Kyoto durchführen. Aktuell ist sie gesperrt, also haben wir mit keiner Sektorpolizei dort zu rechnen. Kenny, sag deinen Leuten, dass es in einer Stunde losgeht. Wir werden sie am östlichen Ende treffen.“ rief Rin.
„Also, packt eure Sachen, jeder nimmt mindestens drei Waffen, und sieben Magazine. Achtet darauf, dass sie geladen sind. Alles weitere machen wir vor Ort.“ Fügte Dakon, gewohnt professionell, hinzu.
„Sakuya, Serah, Dakon und Kenny fahren. Nehmt nur das Nötigste mit.“ rief Hershel aus einem Nebenraum.
„Das wissen sie bereits, Hershel.“ antwortete Dakon, genervt von seinem Vater. Lynn blickte Carver an und atmete tief ein. Nun würde es also losgehen. Die anderen verließen bereits nach und nach das Labor, während Lynn noch einige Waffen in ihrem Rucksack verstaute und Hershel erstaunt anblickte, als er plötzlich neben ihr stand. Behutsam legte er seine Hand auf ihre Schulter und sah sie nachdenklich an:
„Versprich mir, dass du auf sie aufpasst.“
„Auf wen?“ fragte Lynn verwundert über Hershels plötzlichen emotionalen Ausbruch.
„Auf meine neue Familie.“ antwortete er ihr leise. Lynn nickte.
„Ich werde auf sie aufpassen, sie sind auch meine Familie, genauso wie du es bist, Hershel.“ ohne, dass sie damit gerechnet hatte, nahm er ihre Hand und gab ihr etwas, das sich wie ein Stück Stoff anfühlte. Sie wollte fragen was es war, aber da schickte Hershel sie bereits los.
„Geh, und komm bloß wieder zurück, Linnai.“
Während sie durch den dunklen Flur der Universität lief, öffnete sie gespannt ihre Hand: es war ein blaues, weiches Stück Stoff, das sehr alt zu sein schien. Und wie sie es umdrehte, erkannte sie bereits das kleine Wappen darauf: es war das Wappen der VCO. Es war ein Stück von Sakuyas Jacke, die während Zeit auf der Basis, ihr gehört hatte. >>Dieses schöne Stück Stoff...<<
Lynn saß neben Serah auf dem Rücksitz in Dakons Pick Up, und betrachtete die dunklen Straßen und die Lichter der Laternen, die abwechselnd den Innenraum des Wagens erleuchteten.
„Hast du Angst?“ fragte Serah sie plötzlich leise und Lynn wandte sich vom Fenster ab:
„Nein, warum sollte ich?“ erwiderte sie, fest das Stück von Sakuyas Jacke in ihrer Hand.
„Es ist riskant, aber wir können es schaffen, es wird schon alles gut gehen.“ lenkte Serah nachdenklich ein. Hatte sie etwa gerade einen Anflug von Unsicherheit? Das war Lynn neu.
„Egal was passiert, wir werden zusammen halten.“ rief Dakon von Vorne, der Serahs Unsicherheit ebenfalls bemerkt hatte.
Die Sanjo-Bridge in Kyoto lag in einem dichtem Nebel, der sich über dem Wasser des Flusses, der darunter zu hören war, verdichtete. In etwa einer Stunde würde die Sonne bereits wieder aufgehen, bis dahin sollten sie verschwunden sein.
Während Lynn, zusammen mit den anderen die Brücke betrat, sah sie bereits Sakuya auf der Mitte der Brücke. Er hielt das Empfangsgerät für den Weltenwechsel in seinen Händen, den Lynn bereits in Valvar schon einmal gesehen hatte. Rin war bei seinem Wagen geblieben, konnte seine Truppe jedoch genaustens beobachten, wie sie sich langsam Sakuya nährten. Er würde in wenigen Sekunden die Synchronisation starten, damit sich die Magnetwellen der beiden Welten überschneiden. Voller erstaunen sah Lynn nach einigen Metern eine weitere Gruppe von Männern, aus dem dichten Nebel der anderen Seite treten. Es waren Carvers Leute aus Valvar, die ebenfalls auf Sakuya zusteuerten.
„Rin, Hershel, hört ihr mich?“ sprach Dakon in sein Funkgerät und griff anbei nach Serahs Hand, die neben ihm lief.
„Wir hören dich, Boss.“ erwiderte Rin.
„Hershel, starte den Transmitter.“ gab Dakon die Anweisung, dass sein Vater im Labor den Transmitter für die Wellen frequenzierung starten solle, den Rin ihm ausgiebig erklärt hatte.
„Verstanden.“ meldete er sich knapp zurück. Die Gruppe der Fremden aus Valvar stand nun endlich vor Dakon und seinem Team.
„Sind wir vollzählig?“ fragte Kenny laut, und in einem ungewohnten Militärton. Stumm nickte die andere Gruppe. „Ihr habt die Anweisung bereits erhalten. Dakon wird nun die Sender verteilen, damit wir alle den gleichen Punkt außerhalb von Yevon erreichen. Am Stadtrand wartet bereits ein Informant, er wird uns in einen sicheren Unterschlumpf bringen. Von dort aus geht es dann nach Mi`hen.“ erklärte er.
„Ihr müsst diese Sender auf Sakuyas Kommando einschalten. Geschieht dieser Vorgang zu früh, oder zu spät, synchronisiert sich das Signal nicht mehr, und wir können nicht sicherstellen, wo ihr auskommen werdet. Habt ihr alle verstanden?“ rief Dakon laut, während er die Sender verteilte. Lynn blickte den Stiftgroßen schwarzen Gegenstand an, den Dakon ihr überreicht hatte, und fand einen kleinen Knopf daran, der dem einschalten diente.
„Boss, Synchronisation in 40 Sekunden.“ ertönte Rins Stimme aus dem Funkgerät in Dakons Tasche. „Verstanden Rin.“ gab er zurück. „Entsichert eure Waffen. Wenn etwas schief läuft, und ihr woanders auskommt, sammelt euch in Yevon, Shiori ist eure sichere Quelle, sie gehört zur UEF und wird sich um alles kümmern.“ Waren Dakons letzte Worte, ehe er neben Sakuya trat und ihn entschlossen anblickte. Lynn hatte bereits bemerkt, wie sich der Sternenhimmel über ihnen mit dunklen Wolkenschwaden zuzog. Sie blickte zu Yennifer, die fasziniert ihr Gesicht in den aufkommenden kalten Wind hielt.
„Synchronisation in 10 Sekunden. Passt auf euch auf.“ War der letzte Funkspruch von Rin. Sakuya warf seine Zigarette von der Brücke, und holte aus seiner Jackentasche ein Steckmodul, dass er nun langsam in das Empfangsgerät in seinen Händen schob. Helle Lichtblitze durchzuckten den Nebel, der über der Brücke lag. „Betätigt jetzt den Sender.“ Gab er Anweisung, und Lynn drückte auf den kleinen Kopf, ehe alles um sie herum verschwamm und sie in ein schwarzes Loch zu fallen schien.
Das erste was sie nach einem gefühlt tagelang andauernden Schlaf wieder wahrnahm, war das Husten einiger Männer um sie herum. Erschrocken schlug Lynn ihre Augen auf, und fand sich neben Yennifer wieder, die sie mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Es herrschte Dunkelheit, von der Brücke jedoch war keine Spur mehr. Sie standen mitten auf einem verlassenen Flugplatz, umgeben von endlosen Wiesen.
„Geht es dir gut?“ fragte Lynn besorgt, aber Yennifer nickte nur und musste dann lächeln. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Bei ihrem letzten Übergang war sie schließlich bewusstlos gewesen. Lynn blickte sich um, und fand zugleich die anderen. Es schien niemand zu fehlen.
„Sind alle wohl auf?“ hörte sie Dakons erschöpfte Stimme hinter sich.
„Es sind alle Da.“ entgegnete ihm Kenny, der sein Basecap gerade wieder aufsetzte, und seine Schrotflinte schulterte. Lynn konnte deutliche Erleichterung in Dakons Gesicht erkennen.
„Dann los, wir gehen nach Osten, dort wird unser Kontaktmann uns erwarten.“
Ein unscheinbarer Mann und Shiori hatten bereits an einer kleiner Flughalle auf die Truppe gewartet. Zu Lynns erstaunen trugen beide ein langes schwarzes Cape, vermutlich um unentdeckt zu bleiben.
Gespannt blickte Yennifer aus dem Fenster, nachdem sich alle auf mehrere Vans verteilt hatten, und nun dem vorderen Wagen von Shiori und dem Unbekannten folgten.
„Wo fahren wir nun hin?“ fragte sie leise, und stieß Lynn an, die versuchte in der umliegenden Dunkelheit etwas zu erkennen. „Nach Yevon, dort sollten im laufe des nächsten Tages die anderen Teams zu uns stoßen.“ erwiderte sie leise und Geistesabwesend. In ihren Händen hielt sie das Stück von Sakuyas Jacke, welches Hershel ihr bei der Abreise gegeben hatte.
„Wo bist du mit deinen Gedanken?“ Yennifers Stimme war beinahe nicht zu hören. Lynn blieb jedoch stumm und die beiden Frauen sahen erneut aus dem Fenster.
Erst als die Sonne langsam wieder aufging, hatte die Truppe eine kleine Stadt erreicht. Die Gemäuer der Häuser bröckelten, von vielen waren nur noch die Grundmauern zu erkennen. Die Natur schien sich ihren Platz wieder zurück zu holen, etliche Fassaden waren von Pflanzen bewuchert. Die Stadt schien seit Jahrzehnten verlassen zu sein. Ausgebrannte Fahrzeuge standen mitten auf den Straßen. Kaputte Fensterscheiben, wo man hin sah. Papier, Plakate, Konserven, Kanister, alles lag verstreut auf den Straßen umher. Ja, an diesem Ort hatte ein erbitterter Krieg stattgefunden. Lynn konnte etliche getrocknete Blutlachen erkennen. Patronenhülsen säumten die Straßen, kaputte Gewehre, Schuhe, und Militärfahrzeuge der VCO, all das wurde zurück gelassen. An diesem Ort war nichts mehr, wie es hätte sein sollen.
Der Wagen vor Lynn und Yennifer kam langsam zu stehen, und Dakon gab aus einem anderen Fahrzeug das Zeichen auszusteigen.
„Von hier aus, gehen wir zu Fuß weiter!“ rief er seiner Truppe zu. Er und Kenny bedeckten die Autos mit einigen Planen in einer schmalen Gasse, ehe sie und die anderen Shiori und dem Fremden folgten.
Serah hatte den ganzen Weg über, noch kein Wort gesprochen. Erwartungsvoll blickte Dakon sie an, aber Serah blieb stumm und musterte lediglich erschüttert ihre Umgebung.
Sakuya und Carver waren an Kennys Seite, und Lynn sah sich nach Tetsuya um, der mit einigen Männern hinter ihr lief. Es herrschte beängstigende Stille.
>>Ihre Heimat liegt in Schutt und Asche... hier ist nichts mehr, wie es einmal war... Serah hat recht, es muss ein Ende finden. Wie viele unschuldige Menschen sollen noch für Negans Habgier sterben?<<
„Es tut mir leid, einen anderen Weg gibt es nicht.“ meldete Shiori sich weiter vorne zu Wort, und die Gruppe kam zum stehen. Ein reißender Fluss hatte sich unter einer kleinen Brücke gebildet, der von einigen umgefallenen Bussen in ein anliegendes Gebäude gelenkt wurde.
„Hier nehmt das Seil, und folgt uns. Es ist ungefährlich, wenn man sich gut festhält.“ erklärte Shiori weiter. Sie hatte endlich die Kapuze des Capes abgenommen. Ihre Augenringe verrieten Lynn, dass sie kaum geschlafen hatte. Ihre Haut wirkte in dieser Welt noch wesentlich blasser als in Nagoya.
Ein Stöhnen von Yennifer erhaschte schließlich Lynns Aufmerksamkeit.
„Ich kann Wasser nicht ausstehen... .“ schnaubte sie angestrengt und schloss ihre Jacke.
„Da wären wir schon zu zweit.“ sagte Lynn leise und tat es ihr gleich, ehe sie auf einige festgeklemmte Holzpaletten sprang, und schließlich in das Wasser hinab stieg.
Erst am späten Nachmittag hatten sie endlich ihr Quartier für die Nacht erreicht. Zu Lynns erstaunen unterschied sich der Zustand des riesigen Einkaufszentrums kaum von dem, der anderen Gebäude. Die Straße sah ebenso so zerstört aus, wie die, durch die sie gekommen waren. Hier würde Niemand mehr nach Überebenen suchen, da war sie sich sicher. Shiori lotste die Gruppe durch einen kleinen Seiteneingang, und der Fremde versperrte hinter ihnen die schwere Metalltür mit einigen umgekippten Regalen. Die Wände im Treppenhaus schimmelten und der Putz kam bereits von der feuchten Decke.
Ein Schild verriet Lynn, dass sie hinunter in das erste Untergeschoss geführt wurden, ehe Shioris Pfiff sie aufhorchen ließ.
Eine riesige Halle, mit angrenzenden Geschäften eröffnete sich vor ihnen. Von dem Krieg und den Plünderungen fehlte auch hier keine Spur. Kaputte Schaufenster und zerstörtes Mobiliar lagen überall umher. Und doch schien eine gewisse Ordnung dahinter zu stecken. Scheinbar gab es hier noch Strom, ein alter Generator, direkt neben dem Treppenhaus, summte leise vor sich hin. Die wenigen Neonröhren erhellten das Untergeschoss gerade so viel, dass Lynn im hinteren Teil ein Waffenlager und einige Tische und notdürftig zurecht geschobene Bänke erkennen konnte. Von weiter oben ertönte ein fremder Pfiff und Schritte waren zu hören.
„Da bist du ja endlich wieder!“ rief ein bärtiger Mann, und eilte eine kaputte Rolltreppe hinunter.
„Dakon!“ rief er verblüfft und zugleich freudig, nachdem er die Menschenmenge einen Moment inspiziert hatte.
„Renè, wie schön dich wiederzusehen.“ Die beiden Männer begrüßten sich mit einer Umarmung.
„Lynn, wer ist das?“ fragte Yennifer leise.
„Ein Teamleiter, der sich hier in Efrafar um den Informationsfluss kümmert. Shiori gehört zu seinem Team.“ antwortete sie skeptisch. Renè schien um die fünfzig zu sein. Seine blonden Haare hatten einen etwas dunkleren Ton, als sein Bart. Die Muskeln seines Körpers zeichneten sich selbst noch unter seinem Pullover ab, den er an den Ärmeln hochgekrempelt hatte. Seine Unterarme waren von Sehnen und Narben überzogen.
Nachdem Shiori die Truppe in das erste Obergeschoss geführt hatte, und ihnen verschiedenen Übernachtungsstätten gezeigt hatte, war sie ebenso wie Sakuya, Kenny, Dakon und Carver verschwunden. Von Renè war auch keine Spur mehr zu sehen. Wahrscheinlich würden sie die Pläne für die nächsten Tage durchgehen, und versuchen Funkkontakt nach Nagoya, zu Hershel und Rin herzustellen. Die anderen Teams würden sicherlich auch nicht mehr lange auf sich warten lassen.
>>Es ist wie das Warten auf den Tod...<< stellte Lynn ungeduldig fest, während sie die weiteren Stockwerke des Einkaufszentrums erkundete. Draußen waren bereits die letzten Sonnenstrahlen zu sehen. In den oberen Stockwerken gab es kein Licht. Nur im Untergeschoss. Alles andere hätte man jedoch in der Nacht bereits aus der Ferne entdecken können.
Eine kleine, unscheinbare Treppe, die an einem schmalen Gang, hinter einigen Geschäften angrenzte, hatte Lynn auf das Dach geführt. Als sie die Türe zum Dach aufstieß, eröffnete sich vor ihr die gesamte Stadt. Am Horizont waren nur noch wenige letzte Sonnenstrahlen zu sehen die, die Ruinen eines einst belebten Ortes in ein sanftes Orange tauchten. Das Klima in dieser Welt war wesentlich milder, stellte Lynn fest, als sie sich auf den Vorsprung einer abgerissenen Werbetafel setzte. Yevon schien riesig. In der Ferne waren einige Straßen zu erkennen, die weit ab, zwischen einigen Bäumen in einem dichten Gewirr aus Baumkronen und Grün verschwand. Ein warmen Wind wehte ihr durch die Haare, während sie andächtig ihre Finger über das Stück von Sakuyas Jacke gleiten ließ.
>>Hershel hat es bestimmt bei unserer Rückkehr zum Stützpunkt gefunden... irgendwo dort muss es gelegen haben. Oder vielleicht hatte er es all die Jahre bei sich?<< Kopfschüttelnd musste sie schmunzeln. Dieser alte Mann überraschte sie immer wieder.
„Du solltest nicht alleine Grübeln!“ ertönte plötzlich Yennifers Stimme. Verwundert drehte Lynn sich um. Mit einer Flasche Bourbon in der Hand, gefolgt von Serah lief sie lächelnd über das Dach, auf sie zu.
„Worüber denkst du nach?“ fragte sie und setzte sich mit einem Schwung neben Lynn.
„Über alles mögliche.“ Antwortete Lynn leise. Wo hatte Yennifer nur ihren stetigen Frohmut her? Vielleicht war es ja eine Eigenart aller Teilhybriden. Schließlich war sie gerade einmal drei Jahre alt, obwohl ihr Erscheinungsbild Lynn diese Tatsache ständig vergessen ließ. Schweigend blickte Serah in den Sonnenuntergang und es entging ihr völlig, dass die beiden jungen Frauen sie nachdenklich ansahen.
„Du hast kein Wort gesagt, seit wir hier sind.“ bemerkte Yennifer und öffnete die Flasche um einen großen Schluck zu nehmen. Einige stumme Minuten verstrichen, in denen die drei nur auf die Stadt blickten.
„Was sollte ich auch sagen... nach all den Jahren, sehe ich diesen Ort endlich wieder... aber nichts ist mehr, wie es einmal war.“
„Haben Dakon und du hier gewohnt?“ fragte Yennifer und reichte Lynn die Flasche Bourbon. Serah schüttelte den Kopf:
„Nein, wir lebten in einem kleinen Ort, südlich an der Küste, einige Meilen von hier entfernt. Aber früher war ich oft mit Miku hier. Sie hat den kleinen Spielzeugladen im Erdgeschoss so geliebt. Es gab eine Serie von Kinderbüchern die zu der Zeit sehr populär wurden... „Die Dango Familie“. Und nur dieser Laden hatte kleine Plüschtiere von diesen Buchfiguren. Auf ihr Drängen hin, entscheid ich mich, einen Tagestripp mit ihr zu machen, um ihr eines dieser „Dango“ Plüschtiere zu holen. Die gesamte Heimfahrt lang, lächelte sie noch. Es war so ein wunderbarer Tag. Danach machten wir das alle paar Monate wieder. Wir gingen Eis essen, machten zusammen Fotos und besuchten den botanischen Garten. Und anschließend bekam Miku immer ein Plüschtier der „Dango Familie“.“ Serah verstummte. Lynn konnte deutlich die Tränen in ihren Augen erkennen, während Serah in die untergehende Sonne sah.
„Ist Dakon nie mitgekommen?“ fragte Yennifer verwundert und reichte die Flasche Bourbon an Serah weiter, die sich nun endlich neben die beiden setzte. Sie lächelte.
„Nur einmal kam er mit. Sonst hatte er stets zu viel mit der Arbeit zu tun. An diesem Tag ging so vieles schief.“ sie schmunzelte, und Lynn und Yennifer blickten sie gespannt an.
„Bereits als wir losfuhren, stellten wir nach einigen Metern fest, dass kein Sprit mehr im Tank war. Also musste ein Freund uns Benzin bringen. Unterwegs überfuhren wir einen Fuchs, und als wir endlich am botanischen Garten ankamen, regnete es in Strömen. Uns blieb also nur noch die Flucht ins trockene. Und zu allem Überfluss, hatte an diesem Tag die Eisdiele wegen Inventurarbeiten geschlossen. Miku war den Tränen nahe und Dakon hatte schon lange genug von dem Tag. Aber dann gab uns einer der Verkäufer einen Flyer für den Vergnügungspark in der Stadt, und es hatte sogar aufgehört zu regnen. Es wurde einer der schönsten Abende, die wir zusammen hatten. Bei dem anschließenden Feuerwerk schließlich, fragte mich Dakon, ob ich seine Frau werden wolle.“ Völlig gerührt wischte Yennifer sich einige Tränen von den Wangen.
„Du weinst doch nicht etwa?“ fragte Lynn lächelnd, aber Yennifer nickte nur verschämt.
„Das ist so eine schöne Geschichte...“ schluchzte sie leise mit einem Lächeln.
„Und nun ist nichts mehr, wie es einmal war.“ stellte Lynn leise fest und Serah nickte.
„He, seht mal da unten...“ sagte Yennifer plötzlich und verwies auf Dakon, der zusammen mit Kenny, Sakuya und Carver an einem Van stand. Sie hatten einige Pläne auf der Motorhaube ausgebreitet und schienen zu diskutieren.
„Carver ist so ein schöner Mann...“ stellte Yennifer verträumt fest und nahm den letzten Schluck aus der Falsche Bourbon.
„Ich geh noch welchen holen.“ entschied sich Serah, während die beiden jungen Frauen zu den Männern hinunter blickten und verließ das Dach.
„Sag mal, lief da mal was zwischen dir und Carver?“ fragte Yennifer plötzlich und sah Lynn nachdenklich an. Unsicher erwiderte sie Yennifers Blick: “ Wie kommst du darauf?“
„Ich sehe doch, wie er dich ansieht... eure Blicke wirken so vertraut... .“ Mutmaßte sie leise. Es war nicht zu übersehen, dass Yennifer gefallen an Carver gefunden hatte.
„Nein.“ erwiderte Lynn nur knapp und sah wieder zu den Männern hinunter.
„Sag mal, wie kommt es, dass du so vertraut mit allem bist?“ fragte Lynn schließlich, um das Gespräch wieder in eine andere Bahn zu lenken.
„Was meinst du?“
„Ich meine, dass du eigentlich noch so jung bist, man es dir aber absolut nicht anmerkt.“ Lynn hatte den Satz bewusst vorsichtig formuliert. Sie mochte Yennifer und wollte ihr keinesfalls zu nahe treten, aber das Geheimnis um ihr Wissen, ließ sie nicht los.
„Ach das meinst du... nun ja, es liegt an dem SND an meinem Hirnstamm. Zumindest formulierte Hershel es so. Weißt du, er plaudert gerne, wenn er mal wieder beginnt zu backen. Jedenfalls beharrt er darauf, dass mir ein SND von einem älteren Soldaten eingepflanzt wurde, der sich mit irgendwelchen Nervenzellen in meinem Klein- oder Großhirn verbunden hat, und Erfahrungswerte überspielt hat. Aber da musst du Hershel nochmal fragen, so genau kann ich ihm bei diesem ganzen medizinischen Biokram nicht folgen. “ Wieder lächelte sie, obwohl sie von sich selbst, wie von einer Maschine sprach. Lynn konnte jedoch nur daran denken, dass Sakuya ihr den SND herausgeschnitten hatte. Wie kam es also, dass sie nicht auf anhieb alles vergessen und verlernt hatte?
„Viel erstaunlicher ist es für mich jedoch, was in dir oder Sakuya Kira von statten geht. Du hättest Hershel sehen sollen, als er von euch sprach... er war so stolz und doch schien er so voller Trauer zu sein... .“ Einen Moment lang schwiegen die Beiden ehe Yennifer erneut das Wort ergriff, jedoch in einem wesentlich ruhigeren Ton:
„Sakuya und Hershel haben dich großgezogen, nicht wahr?“ Lynn schnaubte und stand auf.
„Nein... es war wesentlich komplizierter. Ich bin ein Projekt der VCO. Eine Soldatin von Negan. Und das spüre ich mit jedem Tag mehr. Sakuya und Hershel waren immer da, sie sind die ersten, an die ich mich erinnern kann... aber...“
„Aber was?“ harkte Yennifer vorsichtig nach, und betrachtete Lynns braune Haare, wie sie von dem Wind aus ihrem Gesicht geweht wurden.
„Nichts.“ beendete Lynn die Stille leise. Es gab nichts mehr zu sagen. Was auch immer in der Wüste geschehen war, bei ihrem Außeneinsatz... und was auch immer geschehen war, bevor sie ohne Gedächtnis aufgewacht war, sie konnte sich nicht daran erinnern. Aber etwas in ihr sagte ihr, dass das Geschehene nicht ohne Folgen geblieben war. Es war der Blick mit dem Sakuya sie immer wieder ansah. Da war noch etwas. Was auch immer.
Die Sonne war bereits seit Stunden untergegangen und irgendwo hinter den Baumkronen des Waldes verschwunden, als Lynn als Letzte das Dach verließ. Serah und Yennifer hatten sich zurück gezogen, vermutlich würden sie bereits schlafen.
Carver saß nachdenklich vor einem der Fensterlosen Rahmen im zweiten Geschoss, und blickte in die Dunkelheit, während er langsam eine Zigarette rauchte. Als er Schritte hinter sich hörte, drehte er sich um, und erblickte Lynn, die sich neben ihn setzte.
„Sind wir hier sicher?“ fragte sie leise, und blickte in die Dunkelheit der Straßen.
„Renè sagt ja.“ antwortete er ihr leise.
„Alles hier wirkt so leer... so verloren. Und in Valvar geht noch immer alles seinen Gang. Ressourcenknappheit hin oder her, aber diese Ausmaße... Ich schäme mich, einer von ihnen zu sein.“ Unsicher blickte Lynn Carver an. Seine Gesichtszüge spiegelten seine Anspannung wieder. In seinem Blick lag nur Nachdenklichkeit.
„Das hier, ist nicht unsere Schuld.“ erwiderte Lynn leise.
„Nein, ist es nicht, aber wir sind ein Teil davon.“
Es war spät in der Nacht und wesentlich stiller als in Nagoya oder Tokio, stellte Lynn unruhig fest, während sie sich auf einer schmalen Matratze umdrehte und zur Türe blickte. Eine unendliche Leere hatte sich in ihr ausgebreitet. Als würde etwas fehlen, in dieser fremden Welt. Vielleicht war da draußen niemand mehr. Vielleicht waren alle weg, oder tot, oder sonst irgendwas. Unsicher griff Lynn nach ihrer Waffe, die neben dem Bett lag. Sie hatte jetzt nicht die Möglichkeit aufzustehen und auf ihr Motorrad zu stiegen. Durch die Straßen zu fahren, mit der stillen Einsicht, dass sie nicht alleine auf der Welt war. Nicht völlig alleine.... wie damals, in der Wüste...
>>Keuchend schreckte sie hoch, jemand war soeben durch die Türe der kleinen Baracke gekommen. Der Sand brannte immer noch in den Verletzungen ihrer Beine. Sie hatten ihr alles weg genommen. Es war alles zu schnell gegangen. Ein Schlag, zwei, Tritte. Und als sie wieder aufwachte, hatte man sie nackt in eine Zelle geworfen. Wo genau sie war, konnte sie noch immer nicht sagen. Das Tageslicht hatte sie ewig nicht mehr gesehen. Aber wenn jemand kam, war es nie ein gutes Zeichen.
Langsam aber sicher schien ihr Körper das letzte Geomas ab zu bauen. Der Schmerz in ihrem Nacken war auch noch nach Tagen deutlich spürbar. Was genau geschehen war, konnte Lynn jedoch nicht fassen.
Schritte nährten sich ihr, und sie rutsche so weit sie konnte, an die hinterste Wand. Ihre Hände waren noch immer gefesselt. Jeder Versuch sie zu befreien blieb erfolglos, ihre Glieder schienen Taub, ihre Kraft nicht mehr anwesend.
„Lik èn“ es war eine dunkle männliche Stimme. Diese Stimme war neu. Und die Sprache die sie an diesem Ort sprachen, war es auch. Lynn hatte sie auf der Basis nie gelernt. An seinem Wortlaut hörte sie jedoch, dass es ein Befehl gewesen sein musste. Was wollte er von ihr?
Schwere Schritte nährten sich ihr schnell, ein Stechender Schmerz durchfuhr ihren Kopf, als der Mann sie an den Haaren mit sich riss.
„Du wirst uns jetzt endlich unsere Fragen beantworten, hast du gehört?“ Den Akzent mit dem er sie anschrie, während er sie über den sandigen Bogen mit sich zog, hatte sie noch nie zuvor gehört.<<
Keuchend und starr vor Angst hatte Lynn ihre Augen geöffnet. Es war eine Erinnerung. Eine Erinnerung aus der Wüste. Das beklemmende Gefühl in ihr hielt jedoch an. Was hatten diese Männer dort mit ihr gemacht? Zitternd richtete sie sich auf, sicher noch immer die Präsens eines Fremden zu spüren. >>Woher kommt diese Angst in mir...<<
Unsicher lief Lynn durch einige Gänge des Einkaufszentrums. Das Licht in den unteren Etagen hatte man ausgeschaltet. Natürlich, normale Menschen schliefen auch in der Nacht. Wo sollte sie nur hin? Das unruhige Gefühl der Panik schnürte ihr beinahe die Kehle zu. Sie war nicht alleine. Sie war nicht alleine an diesem Ort. Und sie war sicher. >>Sakuya schläft mit Sicherheit nicht...<< Sie erinnerte sich daran, als man ihnen die Schlafplätze gezeigt hatte. Es war eine grüne Tür gewesen, an der der Putz bereits abblätterte. Bei ihm wäre sie sicher. Wie sie es immer war.
Es hatte sie einige Minuten gekostet, endlich die grüne Türe zu finden. Vorsichtig öffnete sie, sie. Zu ihrem erstaunen brannten nur noch eine einzelne Kerze hinunter, die auf einem Schreibtisch voller Papiere stand. Wider erwarten lag Sakuya auf dem Bett. Er trug noch immer seine normalen Sachen, die Waffe direkt neben seinem Kopf. Vorsichtig schloss Lynn die Türe und bewegte sich unsicher auf ihn zu. Er sah so friedlich aus. Wie er da lag, die Arme verschränkt, als könnte ihm selbst in diesem Augenblick nichts weltliches etwas anhaben.
Ein eigenartiges Gefühl überkam Sakuya und er öffnete verwundert die Augen, als er Lynn vor seinem Bett stehen sah. Ein Blick in ihre Augen, verriet ihm augenblicklich, dass sie Angst hatte. Ihr Blick war voller Unsicherheit und Panik. Auf der Basis, vor vielen Jahren, hatte er diesen Blick zu beginn häufig gesehen. Aber nie, nachdem sie zu Dakon gekommen war. Nachdem sie erwachsen war. Sie stand einfach da, schweigend, ihre frierenden Schultern fest umschlungen.
„Komm Linnai.“ sagte er leise und schlug die Decke um, auf der er lag. Ohne ein Wort hatte sie sich zu ihm gelegt und ihre Augen fest geschlossen. Mit gerade noch so viel Abstand zwischen ihnen, dass sie trotzdem seinen leisen Herzschlag noch hören konnte. Einen Augenblick lang, sah er sie noch an. Ihre Haare waren so viel länger, als damals. Aber ihre Augen, sagten immer noch dasselbe. Und wie er sie so ansah, und darüber nach dachte, was wohl gerade in ihr vor sich ging, spürte er wie sie vorsichtig ihre Hand auf seine Brust legte und leise atmete. Nie hatte sich etwas zwischen ihnen geändert. Das Vertrauen, das sie einst zu ihm hatte, war noch immer da.
Müde wachte Lynn im Morgengrauen auf. Das Gefühl, als hätte sie wochenlang nicht geschlafen, saß ihr tief in den Knochen. Während sie langsam aufstand und ihre Jacke von einem Stuhl nahm, bemerkte sie jedoch erst, dass sie in ihrem Zimmer wach geworden war. Aber war sie nicht gestern Nacht noch hinaus gegangen? Hatte sie sich etwa nur eingebildet, Sakuyas Zimmer gesucht zu haben? Einen Moment lang hielt Lynn inne und ging die Aktivitäten der letzten Nacht nochmals durch: sie hatte sich an etwas aus der Wüste erinnert. Ein Hauch des Gefühls, welches sie gestern Nacht noch hatte, durchfuhr sie augenblicklich wieder. Aber es verschwand so schnell, wie es gekommen war. Daraufhin hatte sie doch Sakuyas Zimmer gesucht. Er war doch auch dort gewesen? Kopfschüttelnd widmete sich Lynn ihren Schuhen. Vermutlich hatte sie sich das alles nur eingebildet- ein Schutzmechanismus ihrer Psyche, aufgrund der Angst. Während sie ihr Zimmer verließ, versuchte sie diese Gedanken ab zu schütteln.
Es war noch früh, die Sonne war gerade erst aufgegangen und nur Carver und Yennifer waren im ersten Stock anzutreffen.
„Die anderen schlafen wohl noch?“ stellte Lynn verwundert fest und sah sich um. Yennifer nickte, sichtlich mit einer Schüssel Haferflocken beschäftigt. Als sie neben Carver trat, der auf einer improvisierten Arbeitsfläche damit zu gange war, einen türkischen Kaffee aufzugießen, bemerkte Lynn seinen besorgten Blick, während sie sich einen Apfel nahm.
„Geht es dir gut?“ fragte er verwundert, denn er hatte ihre tiefroten Augenränder bemerkt. Verwundert biss Lynn in den Apfel ehe sie antwortete: „Ich glaube manchmal, meine Einbildung spielt mir einen Streich.“ entgegnete sie ihm leise mit vollem Mund. Selten hatte er sie essen sehen, aber er fand Gefallen daran, wie hingebungsvoll sie erneut in den Apfel biss.
Als er in den Morgenstunden aus der obersten Etage gekommen war, hatte er gerade noch gesehen, wie Sakuya Lynn in ihr Zimmer getragen hatte. Er war nicht verwundert über die Tatsache die beiden zusammen zu sehen, nur hatte es für ihn ausgesehen, als wäre etwas mit Lynn gewesen. Und wie sie nun vor ihm stand, mit ihren geröteten Augen, als hätte sie lange nicht geschlafen und viel geweint, fragte er sich, was wirklich in der Nacht gewesen war. Vielleicht hatte irgendeine schmerzhafte Erinnerung sie heim gesucht und sie hatte daraufhin Sakuya aufgesucht um mit ihm zu sprechen.
„Glaub deiner Einbildung, du hast schon die richtigen Intuitionen.“ sagte er schließlich nur und setzte sich zu Yennifer an den Tisch. Nachdenklich blieb Lynn noch einen Augenblick zurück.
„Als ich aufgestanden bin, hab ich hier unten Stimmen gehört.“ erklärte Yennifer und stocherte mit ihrem Löffel in dem Milch-Haferflocken Gemisch herum.
„Kenny ist heute morgen schon mit Dakon los.“ klärte sie Carver auf und nahm einen Schluck Kaffee, während er Lynn dabei zu sah, wie sie sich einen Stuhl nahm und sich zu ihnen setzte.
„Ob sie eines der anderen Teams irgendwo abholen?“ harkte Yennifer nach und ließ von dem Müsli ab.
„Vermutlich.“ antwortete Carver und legte eine Schachtel Zigaretten auf den Tisch. Yennifers Blick haftete verwundert an Lynn, die gerade den letzten Bissen ihres Apfels herunter schluckte. Als sie es bemerkte, sah sie Yennifer fragend an: „Was?“
„Hast du die Kerne und den Stiel etwa mitgegessen?“ schmunzelnd blickte sie Carver an, der es auch bemerkt hatte.
„Na und?“ erwiderte Lynn unverständlich, ehe Yennifer in Gelächter ausbrach und Carver schmunzelte.
„Was ist so komisch daran?“ wollte Lynn erneut wissen, aber Yennifers Lachen übertönte ihre Frage.
„Normalerweise isst man den Stiel nicht.“ erklärte Serah laut und lächelte, während sie amüsiert die Treppe hinunter gelaufen kam, und in die Runde blickte.
„Gut, dann lasse ich es beim nächsten mal.“ lenkte Lynn, noch immer verwundert, ein. Warum sollte sie einen Apfel nicht ganz essen? Hatte sie eigentlich zuvor schon einmal einen Apfel gegessen? Serahs Stimme riss sie aus diesem Gedanken.
„Dakon ist bereits mit Kenny unterwegs um ein weiteres Team ab zu holen.“ erklärte sie und setzte sich mit einem Glas Wasser neben die Drei. Scheinbar war dies aber keine Neuigkeit, wie sie an den Gesichtern ablesen konnte.
„Er hat mich gebeten, einige Leute von uns los zu schicken, um Benzin zu besorgen. Es stehen noch reichlich Autowracks in der Stadt herum, und das Benzin können wir nur zu gut gebrauchen in den nächsten Tagen.“ erklärte sie.
„Das können Lynn und ich übernehmen.“ entschied Yennifer, deren Lachen allmählich wieder verflogen war. Serah blickte fragend zu Lynn, die nur zustimmend nickte.
„Gut, ich kann mich ebenfalls auf den Weg machen, den Stadtplan hat Dakon mir bereits gestern Abend gegeben.“ fügte Carver hinzu und zündete sich eine Zigarette an.
„Dann begleite die beiden, ich würde mich besser fühlen, wenn ich wüsste, dass sie nicht ganz alleine unterwegs sind.“ fügte Serah nachdenklich hinzu, aber sie spürte bereits die Blicke der anderen.
„Serah wir sind Elitesoldaten aus Valvar. Jeder von uns ist effizienter und gefährlicher als zehn aus deiner Welt.“ erklärte Yennifer angespannt. Lynn spürte sofort, dass sie sich in ihrer Ehre gekränkt fühlte. Aber sie hatte recht mit dem, was sie sagte.
„Das weiß ich doch, verzeiht mir, ab und zu scheine ich das zu vergessen.“ revidierte Serah ihre Sorge. Von der Treppe waren erneut Stimmen zu hören, und allmählich schienen die Teams wach zu werden und hinunter zu kommen.
Das Untergeschoss hatte sich gefüllt und ein Gewirr aus Stimmen war von den unterschiedlichen Leuten zu vernehmen. Serah hatte noch weitere Freiwillige gefunden, die bei der Suche nach Benzin helfen würden. Es hatten sich mehrere kleine Gruppen gebildet und auch zu Lynn, Yennifer und Carver hatte sich ein Bekannter aus Yad VaShem hinzugesellt. Serah ging mal wieder völlig in der Rolle der Koordinatorin auf. Konzentriert verteilte sie Stadtpläne und Munition. Renè und Sakuya waren ebenfalls herunter gekommen und schienen sehr erfreut darüber, dass sie ihrem Beschluss aus der Vornacht folge leistete.
Nachdem Lynn mit Yennifer über die nötige Anzahl an Rucksäcken diskutiert hatte, fiel ihr Blick auf Sakuya, der abseits neben dem Generator stand und mit Renè diskutierte. Ja, vielleicht hatte sie sich das ganze letzte Nacht nur eingebildet, aber etwas in ihr wollte nicht aufhören die Wahrheit zu erfahren. In Gedanken versunken spürte Lynn erst nach ein paar Minuten, dass Sakuya sie bereits seit einer Weile ansah. Als sich ihre Blicke trafen, war sie sich plötzlich augenblicklich sicher, dass es nicht nur Einbildung gewesen sein musste. Da war etwas in seinem Blick, dass ihr verriet, dass er sie ansah, weil er wissen wollte, ob es ihr besser ging. Woher sie das wusste, oder woran sie es ablesen konnte, in seinem ernsten Gesicht, war ihr nicht klar. Vielleicht lag es einfach daran, dass sie sich schon so lange kannten.
„Siehst du, ich hab es dir doch gesagt.“ flüsterte Carver ihr leise, im vorbeigehen in den Nacken.
Am Mittag hatten sich die Vier bereits auf den Weg in die Stadt gemacht. Der Fremde entpuppte sich als gut ausgebildeter Soldat einer Söldnertruppe, die sich jedoch bereits vor einigen Jahren in Valvar aufgelöst hatte. Near, so hieß der bärtige, blonde, etwas kleinere Mann als Carver, war ebenfalls ende dreißig. Er war geschickt mit den Händen, und alle Art von Schlössern die ihnen die Wege versperrten, schienen ein Kinderspiel für ihn zu sein.
„Hey, da vorne über dem Supermarkt, die Feuerleiter, seht ihr die?“ meldete er sich zu Wort und deutete auf ein riesiges zerfallenen Gebäude.
„Ja, was ist damit?“ fragte Yennifer verwundert, während sie mittels einem Schlauch, den sie in den Tank eines Kleintransporters geschoben hatte, versuchte den Inhalt an zu saugen und ihn in einen Kanister umzuleiten.
„Da ist eine Werbung für eine Autowerkstatt.“ machte Lynn sie aufmerksam und beobachtete wartend ob der Tank noch voll sei.
„Wir sollten uns das mal ansehen.“ stimmte Carver mit ein und folgte Near.
„Wieder nichts.“ stellte Yennifer ernüchtert fest und ließ von dem Wagen ab.
Behutsam zog Near Yennifer einen kleinen Vorsprung hinauf, der ihnen den Aufstieg über eine Feuerleiter erleichterte, und sie schließlich in einen Hinterhof führte, der scheinbar nur durch ein riesiges Tor zu erreichen war, welches jedoch von einigen Autowracks blockiert wurde. Lautlos folgte Lynn Carver. Ihr Blick wanderte durch die Ruinen und Gebäude der einstigen Stadt, die allmählich von allerhand Pflanzen überwuchert wurden. Mit einem Male blieb sie jedoch zurück, unfähig sich zu bewegen; ihr war es, als würde sie Sakuyas Blick spüren. Unsicher drehte sie sich um und ließ ihre Augen über die Straßen gleiten, aber von Sakuya war keine Spur.
„Hey, kommst du?“ rief Carver, der gerade im begriff war, eine Feuerleiter, hinunter in den Hof, zu nehmen. Hastig nickte Lynn und folgte ihm.
„Na, wenn das keine Goldgrube ist!“ rief Yennifer euphorisch, nachdem sie einige Kanister in dem Innenhof auf ihren Inhalt untersucht hatte. Unzählige Autoteile lagen auf dem hellen Schotterboden. Umringt von Werkzeugen, Arbeitskleidung und Werkbänken.
„Seltsam, dass all diese Dinge hier zurück gelassen wurden...“ stellte Carver skeptisch fest, und betrachtete die Häuserfassade, die sie einkreiste.
„Ja, das denke ich auch.“ stimmte Lynn ein und untersuchte einige der Kanister.
„Alles hier ist voller Dreck, aber die Kanister sehen sauber aus.“ fügte sie hinzu. Yennifer blickte ihr enttäuscht entgegen: „Ihr müsst alles schlechtreden, oder?“ fragte sie und folgte Near in die anliegende Garage, dessen Tür er mit einem lauten Knall eingetreten hatte.
„Ich halte hier nichts von.“ sagte Carver leise und ging einige Schritte auf Lynn zu, die nun damit beschäftigt war ihre Waffe nachzuladen.
„Ich auch nicht.“ erwiderte sie und musterte nochmals die Hausfassade, die ihnen gegenüber lag. Schließlich folgten sie stumm Yennifer und Near in die Garage.
„Hier stehen reichlich Vorräte.“ bemerkte Carver leise, während er sich eine Zigarette anzündete. „Wir sind hier in irgendeinem Lager gelandet. Sicherlich werden seine Besitzer nicht erfreut über unseren Besuch sein.“ fügte Lynn leise hinzu.
„Oder sie warten bereits auf uns.“ Rief Near aus einem weiteren anliegenden Raum. Es war Dunkel, die zwei Fenster die in dem Raum hätten sein können um genug Tageslicht zu spenden, wurden bereits vor langer Zeit mit Brettern verbarrikadiert. Eine Lichtquelle gab es nirgends. Yennifer half Near sich zurecht zu finden, ihren Augen sahen ebenso wie Lynns und Carvers bestens in der Dunkelheit.
„Lasst uns die Sachen zusammenpacken und verschwinden.“ rief Near unsicher, von weiter vorne, nachdem er gegen eine Schippe gestoßen war, und sich vor ihrem lauten Poltern erschrocken hatte.
„Dem stimme ich zu.“ erwiderte Lynn, als sie plötzlich das laute Zufallen der Eingangstür vernahm. Augenblicklich hielten sie alle inne, als bereits im Hof ein startender Motor zu hören war.
„Wer hat uns denn heute schon wieder besucht?“ hallte eine raue Männerstimme durch die Dunkelheit. Lynns Blick glitt zu Carver, der sich hinter ein Regal mit Vorräten gehockt hatte und leise seine Schrotflinte Nachlud. Bei einem Blick hinter sich, fiel Lynn auf, dass von Yennifer und Near keine Spur mehr zu sehen war. Aber sie bemerkte eine Türe am Ende des Raumes. Die beiden musste augenblicklich geflohen sein. Ärger überkam Lynn. So etwas hätte es in ihrem Team auf der Basis niemals gegeben. Jeder hätte seinen Kameraden geholfen. Mit einigen Handzeichen vermittelte sie Carver, dass die beiden weg waren. Er nickte nur, und deutete ihr, dass sie warten solle bis der Fremde bei ihnen wäre, um ihn dann zu überwältigen.
Schwere Schritte nährten sich ihnen, und hinter der Tür, aus der Near und Yennifer verschwunden sein mussten, hallte ein aufheulender Motor. Es folgte Schreie, es waren Yennifers. Schüsse folgten. Panisch blickte Lynn zu Carver, der ihr endlich das Zeichen gab, um zuschlagen zu können. Mit all ihrer Kraft stürzte sich Lynn auf den Fremden Mann, der unmittelbar vor ihr gestanden, sie wegen der Dunkelheit jedoch nicht gesehen hatte, und riss ihn zu Boden. Mit nur zwei gezielten Schlägen brachte sie ihn zur Bewusstlosigkeit und stand aus dem Staub auf. Carver, stand bereits an der Tür, und riss sie auf, als er gerade noch einen weißen Lieferwagen sah, der auf einem weiteren Hof drehte und schließlich mit Vollgas auf die anliegende Straße fuhr. Er feuerte mehrmals auf die Reifen des Wagens, nur einer platze, aber der Wagen fuhr weiter.
„Wir müssen ihnen folgen!“ schrie Lynn und stürzte sich in einen weiteren Lieferwagen, der dort parkte. Als Carver endlich in den Wagen sprang, lenkte ihn Lynn angestrengt auf die Straße und trat das Gas durch.
„Das war definitiv eine Falle.“ fluchte Lynn, verärgert über ihre eigene Naivität.
„ Yennifer und Near hätten ohnehin nicht locker gelassen.“ versuchte Carver sie zu beschwichtigen.
An einer Kreuzung, außerhalb der Stadt, hatten Lynn und Carver den Wagen stehen lassen, und waren zu Fuß weitergegangen. Entschlossen folgten sie den Bremsspuren, die der Wagen mit den Angreifern hinterlassen hatte.
„Es dämmert bereits.“ bemerkte Lynn und wurde prompt von Carver hinter einige der Straße anliegenden Bäume gezogen. Ein kleiner Transporter fuhr an ihnen vorbei, und schien den Reifenspuren bis ans Ende der Straße zu folgen, ehe er links abbog und hinter einigen dicht bewachsenen Hügeln verschwand.
„Die anderen werden sich Sorgen machen.“ dachte Lynn weiterhin laut nach und befreite sich aus Carvers Griff um wieder der Straße folgen zu können.
„Sie werden so schlau sein und abwarten.“ erwiderte Carver und zündete sich eine Zigarette an.
„Ich kann nicht glauben, dass wir in solch eine Situation geraten sind.“ ärgerte sich Lynn und verschwand erneut, zusammen mit Carver, hinter einigen Bäumen. Wieder fuhr ein Wagen an ihnen vorbei.
„Es sind verdächtig viele Fahrzeuge, die diesen Weg nehmen.“ bemerkte Carver und hielt einen Augenblick inne, um sich umzusehen. Einige Türme und ein teil des Einkaufszentrums waren noch immer am Horizont, hinter ihnen zu erkennen.
„Wo auch immer die Männer mit Near und Yennifer hingefahren sind, sie werden dort nicht die einzigen sein.“ während Lynn einige Schritte weiter ging, beobachtete Carver sie, wie sie eine kleine blaue Ampulle aus ihrer Jackentasche hervorholte. Zügig holte er sie wieder ein.
„Geht es dir gut?“ während Lynn eine Spritze aufzog nickte sie nur stumm.
„Um zurück zu gehen, ist es bereits zu spät. Wir sollten sie aber möglichst bald finden, bevor die Nacht herein bricht. Wir kennen diese Welt nicht.“ entschlossen nickte Lynn bei Carvers Worten und sah sich hastig um, als sie glaubte Motorengeräusche gehört zu haben.
„Du siehst es auch, oder?“ fragte sie schließlich leise, und blickte Carver an, der ebenfalls den Weg hinauf sah, der sich über einige enge Bergpässe schlängelte und stets aufwärts durch dichte Bäume führte. Die Reifenspuren in dem unebenen Erdboden glichen denen der Straße.
„Komm schon.“ forderte Carver sie leise auf und die beiden bogen in den Wald ein.
Der Wald war dichter geworden und es hatte begonnen zu regnen, so dass Carver und Lynn sich immer wieder in acht nehmen mussten, vor herabfallenden Gesteinsbrocken der kahlen Felswände.
„Da vorne...“ bemerkte Carver schließlich und sie blieben stehen. Ihre Blicke vielen den Hang hinab, auf ein ein weiter unten liegendes Plateau, umrahmt von dichten Tannen, auf dem einige Fahrzeuge parkten. Nur ein schmaler Weg führte dorthin.
„Sie müssen ganz in der Nähe sein. Ein gutes Versteck für ein feindliches Camp.“ stellte Lynn leise fest und sah sich weiter um.
„Meinst du es sind Soldaten der VCO?“ Lynn schüttelte den Kopf.
„Ich dachte eher an Plünderer, die hier zurück geblieben sind, nachdem die Stadt durch die VCO geräumt worden ist.“ Carver nickte zustimmend bei Lynns Mutmaßungen.
„Schwarze Schafe gibt es überall.“ stimmte er zu und holte seine Waffe hervor.
„Vielleicht haben sie in den Fahrzeugen weitere Waffen...“
„Lass uns nachsehen.“
Carver kostete es wenig Mühe mit dem Stück einer Autoantenne eines der Schlösser der Fahrzeuge zu knacken. Lynn hatte auf dem Rücksitz bereits einige Gewehre entdecken können.
„Hier.“ er warf ihr ein Scharfschützengewehr hinüber und Lynn schob es zwischen die Riemen ihres Rucksacks.
„Ich kann hinter der Felswand Rauch erkennen. Das Lager kann nicht mehr weit sein.“ stellte Lynn leise fest und deutete auf einige Schwaden oberhalb der angrenzenden Felswand.
„Und dort steht der Wagen mit dem zerschossenen Reifen. Ein Wunder dass sie so noch hier hoch kommen konnten.“ fügte Carver hinzu und hielt Ausschau nach einem Anhaltspunkt, wie die Entführer die Felswand hatten überwinden können.
„Schau dort.“ Lynn hatte unter einigen angelegten Zweigen eine lange Metallstange entdeckt. An ihrem Ende befand sich ein kleiner Haken.
„Hier muss irgendwo eine Leiter sein.“ sofort begann Carver sich die Felswand genauer anzusehen. „Probiere es mal dort oben!“ er deutete auf etwas, dass wie das Stück einer Strickleiter aussah, von unten jedoch beinahe nicht zu sehen gewesen wäre, da es oberhalb einiger aus dem Felsen herauswachsenden Pflanzen lag. Zielsicher angelte Lynn mit dem Harken danach, ehe mit einem leisen Rascheln, die Leiter zu ihnen hinab fiel.
„Sehr gut.“ Vorsichtig zog Lynn mit einem festen Ruck an der Strickleiter. Sie schien ordnungsgemäß befestigt worden zu sein, und sie begann den Aufstieg. Der Regen und die Dunkelheit erschwerten ihr jedoch einen sicheren stand.
„Geht es?“ rief Carver so leise er konnte, und Lynn nickte angestrengt, bis sie spürte, dass er ihr endlich folgte. Durch sein Gewicht gewann die Leiter ein wenig an Stabilität.
Als er oben angekommen war, sah er bereits Lynn einige Meter vorwärts, an einem Abhang im Gras liegen. Konzentriert blickte sie durch das Visier des Gewehrs. Den beiden Bot sich, weiter unterhalb, ein gewohnter Anblick; Überall waren militärische Zelten aufgeschlagen, einige Container, die scheinbar als Lager dienten, waren ebenfalls zu sehen. Alles erinnerte an die militärischen Basen, die sie aus der Wüste kannten.
„Glaubst du immer noch, dass es nur Laien sind?“ fragte Carver skeptisch.
„Wenn ja, dann haben sie jedenfalls reichlich Bücher über militärische Verteidigung gelesen...“ erwiderte Lynn leise.
„Oder sie wurden schon oft angegriffen. Was schlägst du vor?“ fragte sie und blickte Carver an, der nach einem günstigen Abstiegspunkt Ausschau hielt.
„Der Regen und die Dunkelheit kommen uns zu gute. Ich bin mir sicher, dass wir Near und Yennifer finden werden...“
„Aber wie bekommen wir sie da wieder raus...“ beendete Lynn seinen Satz.
„Ich will dich da unten nicht sehen... bleib du hier oben und gib mir Feuerschutz. Es ist zu gefährlich, wenn wir beide gehen.“ sagte er schließlich leise und lud seine Waffe nach.
„Zusammen sind wir stärker und besser.“ fiel Lynn ihm jedoch ins Wort und Carver sah deutlich das Unverständnis in Lynns Augen. „Wir wissen nicht, in welchem Zustand die beiden sind. Wenn sie verletzt sind, kannst du unmöglich beide tragen.“
„Du bleibst hier. Ende der Diskussion.“ Noch ehe Carver zu ende gesprochen hatte, war Lynn bereits zur Leiter zurück gekrochen und ließ sie vorsichtig den Abhang vor Carver hinunter.
„Lynn, hör auf damit, es ist zu gefährlich.“ er packte sie an der Schulter und riss sie von der Leiter weg, die mit einem stumpfen Schlag gegen die Felswand prallte. Augenblicklich hielten sie beide inne, aber in dem Camp regte sich auch nach wenigen Sekunden niemand innerhalb der Zelte.
„Willst du uns umbringen?“ zischte Lynn leise und war gerade wieder im Begriff nach der Leiter zu fassen, als Carver sie erneut wegzog und das ganze in einem kurzen Handgemenge zwischen den Beiden ausartete.
Atemlos blieb Lynn unter Carvers schwerer Brust liegen, der ihre Hände tief in das Moos drückte. Sie hätte ihn wegtreten können, aber sie wusste, dass er ihr nichts böses wollte und atmete tief ein, während sie seinen ernsten Blick suchte.
„Wenn mir da unten was passiert, habe ich hier noch immer die beste Schafschützin, die ich kenne. Ich will dich da unten nicht sehen.“ seine raue Stimme klang gefasst.
„Und ich will nicht, dass dir auch noch etwas zustößt.“ erwiderte Lynn leise. Einen Augenblick lang betrachtete Carver Lynns nasses Gesicht. Sie blinzelte angestrengt aufgrund des Regens.
„Wir sind Soldaten.“ beendete er die Diskussion und ging von ihr hinunter.
„Dort unten ist niemand zu sehen. Vermutlich schlafen sie, oder haben sich zurück gezogen. Ich werde mir Near und Yennifer schnappen und zurück kommen. Hörst du Schüsse, dann eröffne auch du das Feuer.“ unzufrieden nickte Lynn und beobachtete Carver dabei, wie er weiter die Strickleiter hinunter ließ. „Sobald du unten bist, hole ich die Leiter wieder hinauf, ich kann hier oben keine Besucher gebrauchen.“ zufrieden nickte Carver und begann schließlich den Abstieg.
Angespannt lag Lynn in Position und verfolgte konzentriert jeden von Carvers Schritten. Entgegen den Camps in der Wüste, waren nirgendwo Außenposten oder Wachen zu sehen. Ein deutliches Indiz dafür, dass es sich bei den Männern tatsächlich nicht um Soldaten handeln konnte. Auch wenn ihre Ausrüstung den Anschein erweckte, als dass sie aus Valvar stammen könnte, waren es vermutlich nur Überbleibsel der VCO, die zurück gelassen wurden, nachdem sie die Stadt ausgelöscht hatten.
„Lynn?“ sie schrak hoch und sah sich verwirrt um. Jemand hatte ihren Namen gesagt, da war sie sich ganz sicher. Aber sie lag noch immer alleine in dem nassen Moos. Niemand war zu sehen. >>Spinne ich jetzt total?<< fragte sie sich in Gedanken und widmete sich erneut dem Visier ihres Gewehres und verfolgte Carvers lautlose Schritte in der Tiefe.
„Vertrau ihm.“ und wieder drehte sich Lynn blitzartig um. Niemand war in der Dunkelheit zu sehen. Aber sie hatte erneut diese Stimme gehört. >>Ich verliere allmählich meinen Verstand...<<
Konzentriert schlich Carver zwischen den Zelten und Containern hindurch. Es waren keine Stimmen zu hören, aber irgendwo in der Ferne konnte er ein Radio hören, aus dem ein alter Countrysong drang. Vorsichtig nährte er sich einem vergitterten Container und horchte einen Augenblickklang an dessen Tür. Die Fenster waren voller Staub, so dass er nicht in das Innere blicken konnte. Scheinbar brannte jedoch kein Licht. Nach einigen Sekunden konnte er jedoch leise Stimmen vernehmen. Er hatte Near und Yennifer gefunden. Vorsichtig drehte er sich um, und blickte zu dem Abhang, auf dem er Lynn zurück gelassen hatte, um ihr mit einem Zeichen signalisieren zu können, dass er die beiden gefunden hatte. Lynn meldete sich mit einem Zeichen zurück, dass alles in Ordnung war.
Behutsam drückte er die Klinke der Tür hinunter und betrat den Dunklen Innenraum. Zu seiner Rechten, direkt neben der Türe, saß ein bärtiger Mann, mit einer Schrotflinten in seinen Armen und schlief. Ein raues Schnarchen drang aus seinem halb geöffneten Mund. „Carver“ ein aufgeregtes Hauchen drang an seine Ohren und er Blickte geradewegs auf Yennifer und Near, die dicht aneinander gefesselt, auf zwei Stühlen, Rücken an Rücken mitten im Raum saßen, in dem sich ansonsten nichts weiter befand als einige Aktenschränke.
Sofort vermittelte er Yennifer und Near zu schweigen und machte sich mit einem Messer daran, die Fesseln der beiden zu lösen.
Noch immer voller Anspannung, starrte Lynn zu dem Eingang des Containers, bereit, jede Sekunde das Feuer zu eröffnen, würde sie nur einen Schuss hören. Innerhalb von Sekunden wäre das gesamte Camp wach. Die anderen dann noch unverletzt hinaus bringen zu können, grenzte an Hochmut. Aber endlich sah sie, wie Carver dicht gefolgt von Yennifer und Near den Container verließ und geradewegs auf sie zusteuerte. Alle schienen unverletzt. Plötzlich jedoch durchfuhr Lynn ein stechender Schmerz in der Leistengegend. Ihr Finger rutsche über den Abzug, und ein hallender Schuss durch traf die Stille der Nacht. Sofort gingen die drei unterhalb von Lynn in Deckung, als bereits die ersten Rufe und Schreie zu hören waren. Benommen vor Schmerz, und ohne einen Angreifer erspähen zu können, rollte sich Lynn auf die Seite und begann die Leiter hinunter zu lassen. Carver reagierte sofort und lotste die anderen zur Felswand. Schwarz vor Augen, blieb Lynn einige Sekunden regungslos liegen. Wer auch immer sie getroffen hatte, sie hatte ihn nicht kommen sehen.
„Du bist nicht verletzt, steh auf! Steh auf Linnai!“ und wieder hörte sie diese Stimme direkt neben sich. Doch, natürlich war sie verletzt, sie konnte das Blut an ihrem Bauch spüren und fuhr mit ihren Händen ohnmächtig vor Schmerz darüber. Nichts. Dort war nichts. Kein Blut, keine klaffende Wunde. Nichts.
„Lynn, was ist passiert?“ es war Yennifers aufgebrachte Stimme, sie sie zurück in die Realität holte. Schüsse hallten durch den engen Gebirgspass. Und Carver war noch immer da unten.
„Geht es euch gut?“ schnaufte Lynn und versuchte aufzustehen. Near nickte und half ihr hoch, während Yennifer bereits ihr Gewehr übernommen hatte und begann zu schießen. „Es sind zu viele!“ Rief sie aufgebracht und versuchte Carver in der Dunkelheit zu entdecken.
„Ich mach das!“ rief Lynn aufgelöst und stürzte sich die Leiter hinunter in die Tiefe.
>>Was war das gerade eben? Wo ist Carver? Ich muss ihn finden!<< Zwei bewaffnete Männer stützten sich aus einem Hinterhalt auf Lynn. Einer von ihnen ging durch Yennifers Kugel zu Boden, dem anderen entledigte sich Lynn mit einigen gezielten Schlägen. Aus dem Augenwinkel sah sie gerade noch, wie Carver in einem der Container Schutz suchte, ihm zugleich jedoch drei weitere Männer folgten.
„Das ist aussichtslos!“ rief Near aufgebracht und schoss weitere Kugeln aus seiner Waffe in das Getümmel des Camps. „Die Leiter! Kümmer dich um die Typen da unten!“ wies ihn Yennifer an.
Carver entging nur knapp dem Schuss eines Mannes auf seinen Kopf und zog ihn daraufhin über einen Tisch mit Unterlagen. Ein weiterer wurde durch seinen heftigen Tritt in einen Arzneischrank mit Medikamenten befördert, der laut zu Bruch ging. Der Dritte jedoch stach Carver mit einem Messer in den Unterarm, und gerade als Carver ihn packen wollte, sah er wie Lynn sich aus der Dunkelheit auf den Mann stürzte, seinen Kopf packte und ihn einige Male mit so viel Wucht in die Wand des Containers schlug, bis nur noch eine blutige Mulde darin zu sehen war und der Mann leblos neben Lynn zu Boden fiel. Carvers Blick kreuzte ihren, er sah sofort, dass das ganze nicht so geplant war. Zusammen rannten sie aus dem Container. Unterwegs entledigten sie sich noch weiterer Männer, ehe sie endlich die Leiter erreicht hatten und unter Yennifers und Neras Feuerschutz die Felswand emporkletterten.
„Und jetzt weg hier!“ keuchte Carver.
Sie waren weit geflohen, ehe sie am Rande der Stadt, in einem Hinterhof, eine alte Bar entdeckt hatten, die für die Nacht vorerst ein geeignetes Versteck abgeben würde.
Keuchend ließ Near sich zwischen einigen Regalen zu Boden fallen. Er konnte mit der Ausdauer der anderen einfach nicht mithalten.
„Hilf mir mal!“ zitierte Lynn Yennifer zu sich, und schob zusammen mit ihr eine schwere Vitrine vor die Eingangstüre. „Gibt es noch weitere Ausgänge?“ fragte sie schließlich und Carver antwortete aus dem hinteren Teil des Ladens, der an der Theke vorbei führte. Er hatte mit viel Mühe einen staubigen Flipperautomaten vor die Tür geschoben.
„Was war das bitte?“ fragte er schließlich und warf seinen Rucksack auf die Theke. Schweigend entledigte sich Lynn auch ihrer Sachen.
„Kann irgendwer von euch mal das Licht einschalten?“ rief Near aus dem Nachbarraum, aber Yennifer antwortete ihm bereits in Form einer Verneinung.
„Hey, sprichst du mal mit mir?“ wiederholte sich Carver, aber Lynn ging nur stumm an ihm vorbei, in die Richtung der Toiletten. Er sah an ihren Augen, dass das nicht ihre Absicht gewesen war. Und er sah Zorn darin.
Es war eine Weile vergangen ehe Lynn zurück kam, und Carver gerade dabei war, die Schnittwunde an seinem Unterarm mit einem Stofffetzen seiner Jacke zu verbinden.
„Es tut mir leid.“ sagte sie leise und ging einige Schritte auf ihn zu. Er sah kurz auf, in ihre blauen Augen, in denen der Zorn verschwunden schien. „Ist schon gut. Wir leben alle.“ erwiderte er ihr, und versuchte mühevoll die Enden des improvisierten Verbandes zu verknoten. „Darf ich?“ behutsam nahm sie ihm die Enden des Verbandes ab und knotete sie sanft zusammen. Geduldig sah er ihr dabei zu. Ihre nassen Haare hingen wellig über ihre Schultern und ihr Gesicht glänzte vor Schweiß und Regen. „Warum hast du geschossen?“ fragte er schließlich, wesentlich ruhiger als beim ersten mal. Der Verband hielt nun endlich und Lynn ging einige Schritte zurück um nach einer alten Flasche Whiskey aus der Bar, Hinter der Theke zu greifen. Suchend blickte sie sich nach Gläsern um, als Carver bereits zwei auf die Theke stellte, die er in einem Schrank gefunden hatte. Langsam goss Lynn etwas Whiskey ein, ehe sie wieder aufsah und Carver nachdenklich musterte: „Es war mir, als wäre ich nicht alleine dort oben gewesen. Dieses Gefühl hatte ich zuvor schon mal, in unserer letzten Nacht in Valvar.“ Sie beobachtete wie Carver einen Schluck Whiskey nahm. Sein Bart war länger geworden und er strich sich durch seine nassen braunen Haare.
„Glaubst du es hat etwas mit Yennifer zu tun?“ fragte er schließlich leise. Kopfschüttelnd wandte sich Lynn ab und zog ihre schwarze Lederjacke aus. Die hellblaue Jenas die sie trug, schien bereits wieder an ihren Oberschenkeln zu trocknen.
„Nein, sie hat definitiv nichts damit zu tun.“ erwiderte Lynn und beugte sich über den Tresen um nach ihrem Rucksack zu greifen.
„Deine Hüfte...“ bemerkte Carver plötzlich und stellte sein Glas verunsichert ab. Überrascht blickte Lynn an sich hinunter, und bemerkte einen bläulichen Schein, der von der Haut, unterhalb ihres Shirts auszugehen schien. „Was geschieht hier...?“ fassungslos zog sie den Stoff ein Stück hinauf.
„Das nenn ich mal Verwirrend...“ stammelte Yennifer, die gerade hinzugekommen und erstaunt im Rahmen stehen geblieben war.
„Es sieht aus wie ein Einschussloch... tut es nicht weh?“ Lynn schüttelte auf Yennifers Frage hin nur stumm den Kopf.
„Deshalb hast du geschossen....“ folgerte Carver ungläubig durch das, was er gerade an Lynns Körper sah. Vorsichtig fuhr Lynn mit ihrer Linken Hand über das blau leuchtende Gebilde an ihrer Leiste, ehe auch ihre Hand begann zu leuchten.
„Ob das durch das Gemoas ausgelöst wird?“ fragte sich Yennifer leise und ging einige Schritte auf Lynn zu. „Mach nur.“ sagte Lynn leise und wartete darauf, dass Yennifer ebenfalls die Stelle berührte. Auch ihre Hände begannen zu leuchten. „So etwas habe ich noch nie gesehen...“ stellte sie überrascht fest.
„Es war, als hätte mich ein Schuss aus dem Nichts getroffen... das Gefühl war so real. Aber jetzt spüre ich nichts mehr.“ erklärte Lynn.
„Hey Leute, hat noch jemand Wasser dabei?“ ertönte Nears Stimme aus dem anderen Raum. „Ich kümmer mich um ihn.“ sagte Yennifer und verschwand wieder.
„Es ist ein glatter Durchschuss.“ bemerkte Carver, der sich gerade eine Zigarette anzündete.
„Ja, so fühlte es sich auch an.“ erwiderte Lynn und zog ihr Oberteil wieder über ihren Bauch.
„Ich habe euch alle in Gefahr gebracht...“ Lynn griff nach dem Glas Whiskey.
„Warum auch immer das gerade mit dir geschieht, du kannst nichts dafür. Uns geht es allen gut. Leg dich etwas hin, ich bleibe wach. Bei Morgengrauen machen wir uns auf den Rückweg.“ seine ruhige und Sachliche Art und Weise nahm Lynn einige ihrer Schuldgefühle.
Unter seinem besorgten Blick legte sie sich auf eine der Bänke und schloss die Augen. Carver betrachtete sie noch einige Zeit, und sie spürte seinen Blick, bis sie endlich einschlief.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, da hatten sich die vier bereits auf den Rückweg zum Einkaufszentrum gemacht. Noch lag die Stadt in Dunkelheit. Auf dem Rückweg hatte keiner von ihnen gesprochen. Alle waren angespannt, und hofften darauf, dass es dem Rest der Truppe gut ging.
Schon vom weiten, konnte Lynn Serah auf dem Dach entdecken. Fröstelnd und aufgelöst stand sie neben der großen Reklametafel. Irgendetwas schien nicht zu stimmen. Normalerweise schlief Serah um diese zeit noch. Und es war unwahrscheinlich, dass man sie zum Wachdienst ohne eine Waffe, so weit oben verdonnert hatte. Augenblicklich rannte Lynn los.
„Lynn!“ rief Yennifer nur verwundert, aber Carver hielt sie zurück : „Lass sie gehen, irgendetwas stimmt nicht.“ auch er hatte die Situation sofort erkannt.
Lynn stürmte in das Untergeschoss, als sie bereits auf Dakon stieß, der mit einem Glas Jin, zusammen mit Renè auf der Treppe saß. Ihre Gesichter waren voller Dreck und über die Treppen zogen sich reichlich Blutflecken.
„Was ist passiert?“ Lynns Herz raste. Dakon stand langsam auf und sah sie einige Sekunden nur stumm an, ehe er endlich begann zu reden: „Sakuya, er wurde“ Ohne ihn ausreden zu lassen stürmte Lynn bereits die Treppen hinauf.
„Lynn! Warte!“ sie ignorierte seine Rufe und verschwand in einem der Stockwerke.
„Er wird doch wieder...“ beendete Dakon schwermütig seinen Satz und blickte Renè an, der jedoch nur zu Boden sah.
>>Sakuya!<< voller Angst blieb sie vor der Türe stehen. Die Klinke war voller Blut. Unsicher öffnete sie die Türe. Sakuya lag ruhig atmend auf dem Bett. Davor standen einige medizinische Utensilien. Einige Blutdurchtränkte Tücher lagen auf einer Kommode. Vorsichtig nährte sie sich ihm. Das schwarze T-Shirt das er trug war sauber, aber am Bund seiner Hose war weiteres Blut zu erkennen. Sie wollte seinen Namen sagen, ihn ansprechen, aber es hatte ihr die Sprache verschlagen. Was war mir ihm? Vorsichtig griff sie nach dem Saum seines Shirts. Hatte man ihn angeschossen? Um seiner Leiste befand sich ein blutiger Verband. Wie konnte das passieren? Unsicher sah sie in sein Gesicht. Er schlief. Vielleicht war er aber auch nur Ohnmächtig oder weggetreten aufgrund des Blutverlustes. >>Verlass mich nicht, Sakuya...<< Tränen schossen ihr in die Augen. Wie lange war es her, dass sie ihn so gesehen hatte? So viele Jahre waren seither vergangen und doch fühlte sie sich plötzlich wieder wie ein kleines Kind. Vorsichtig legte sie sich neben ihn. Er war warm, das war ein gutes Zeichen und er atmete regelmäßig. Ihr Hand fuhr über seine Brust, über sein Herz. Würde es aufhören zu schlagen, würde sie es doch bemerken. >>Verlass mich nicht.<< Dicht an ihn gedrängt, schloss sie ihre Augen. Würde er jetzt sterben, würde sie das mitbekommen, ganz, ganz sicher.
„Was ist passiert?“ fragte Yennifer verwundert, nachdem sie das Blut auf der Treppe gesehen hatte. „Wir sind in einen Hinterhalt geraten. Keiner von uns hatte damit gerechnet. Wir wollten gerade die Stadt südlich von hier erkunden, um heraus zu finden, ob es noch Überlebende gibt, als uns eine Truppe Hybriden angriffen hat.“ erklärte Renè ruhig und zündete sich eine Zigarette an.
„Wo wart ihr die ganze Zeit?“ fragte Dakon schließlich und sah fragend Carver an, der nachdenklich die Treppen hinauf, zu Serah sah.
„Es gibt Überlebende, aber auf die können wir gut verzichten.“ antwortete Near.
„Scheinbar nutzen einige die Zerstörung dieser Welt, für ihre Zwecke. Wir sind auf eine Gruppe Plünderer gestoßen. Sie haben uns ebenfalls in einen Hinterhalt gelockt. Near und Yennifer wurden gefangenen genommen. Wir sind ihnen bis zu ihrem Unterschlupf, außerhalb, in den Bergen gefolgt.“ erklärte Carver.
„Wurde jemand verletzt?“ erkundigte sich Serah, die gerade die Treppe hinunter kam.
„Nein.“ erwiderte Carver und bemerkte Serahs skeptischen Blick auf seinen Verband.
„Eine kleine Unachtsamkeit, nicht der Rede wert.“
„Was ist mit den anderen, sind alle wohlauf?“ erkundigte sich schließlich Yennifer, die noch immer das Blut auf der Treppe betrachtete.
„Sakuya Kira wurde angeschossen. Es war ein glatter Durchschuss, es sollte ihm bald wieder besser gehen.“ Dakons Worte klangen recht unbarmherzig fand Yennifer, aber sie gab sich mit der Antwort zufrieden, als sie Carvers fragenden Blick spürte. Ja, auch sie hatte gehört, dass es ein Durchschuss war. Vielleicht war es das, was sich auf Lynns Körper abgezeichnet hatte, wie auch immer das möglich gewesen sein mochte. Aber keiner der beiden sagte auch nur einen Ton zu den Geschehnissen der letzten Nacht.
Eine Stimme und der eiserne Geruch von Sakuyas Blut ließ Lynn wieder aufwachen. Sakuya stand direkt vor ihr und sah sie fragend an. Wie lange hatte sie neben ihm gelegen und geschlafen?
„Du bist eiskalt, du solltest heiß duschen gehen.“ sagt er und griff nach seinen Zigaretten.
„Wie fühlst du dich?“ fragte Lynn und stand langsam auf.
„Gut.“ erwiderte er ihr knapp.
„Sakuya... ich...“ sie sprach nicht weiter, denn er sah sie mit seinem blauen Augen viel zu ernst an. Vielleicht ahnte er, dass sie ihn nach der Verletzung fragen wollte und danach, wie sie es ebenfalls spüren konnte. Vielleicht sollte sie einfach schweigen und es dabei belassen. Und schon wieder war da etwas, etwas was zwischen ihnen stand, eines dieser tausenden Geheimnis, eine weitere ungeklärte Frage.
„Ich weiß, dass du es auch gespürt hast.“ seine dunkle Stimme durchbrach die Stille. Ungläubig blickte Lynn ihn an. Woher konnte er das wissen?
„Mit deinen Erinnerungen scheint auch die Verbindung zwischen uns zurück zu kommen.“
„Weißt du was ich fühle?“ fragte Lynn völlig verwirrt und blickte ihn an.
„Nein, nicht immer. Manchmal spüre ich starke Emotionen von dir. Wut, Trauer, Angst.“ er hielt inne. Wie angewurzelt stand Lynn vor ihm. War so etwas wirklich möglich?
„Ich habe dich gesehen... in Valvar, vor dem Hotel, auf der Straße... ich habe mir das also nicht eingebildet, und deine Stimme auch nicht?“ Sakuya schüttelte den Kopf.
„Es begann damals auf der Basis. Nachdem sie mit der Gentherapie an deinem Körper begonnen hatten.“
„Aber wie ist so etwas möglich?“ noch immer bildete sich in Lynns Augen pures Entsetzten ab.
„Ich weiß es nicht.“ beendete Sakuya das Gespräch und ging zur Tür. Noch einige Minuten blieb Lynn, unfähig sich zu rühren, auf der Stelle stehen.
Es war bereits Abend geworden als Lynn aus der Dusche kam, die aus einigen provisorischen Wassertanks bestand, die mithilfe eines Generators und einem Durchlauferhitzer betrieben wurde, und ihre Leistengegend betrachtete. Das Leuchten war verschwunden. >>Ich werde für immer eine Verbindung zu ihm haben... das beruhigt mich... aber es macht mir Angst. Wenn er weiß was ich fühle... Aber ist es jemals anders gewesen?<< Sie zog sich wieder an und ging in den Aufenthaltsraum im Keller.
Serah blickte von einem Glas Whiskey auf.
„Wo sind die anderen?“ fragte Lynn verwundert.
„Dakon, Renè und Kenny sind mit Sakuya unterwegs. Sie suchen weiter nach Überlebenden. Yennifer und Carver haben Wachdienst, sie sind auf dem Dach. Und Near hat sich schon nach eurer Ankunft direkt hingelegt. Er war ziemlich fertig.“ erklärte Serah etwas abwesend.
„Warum bist du so niedergeschlagen?“ fragte Lynn und setzte sich zu ihr an den Tisch. Serah schüttelte den Kopf und wandte ihren Blick ab:
„Weißt du, wenn sogar Sakuya verletzt wird... es zeigt mir einfach wie fragil dieser ganze Plan plötzlich ist. Nur ein Fehler und einer von uns kommt vielleicht nicht mehr zurück. Ich bin froh, dass es nicht Dakon getroffen hat. Sakuya geht es wieder gut, aber die Verletzung hätte jeden anderen für Tage außer Gefecht gesetzt. Und was wäre gewesen, wenn dir oder Yennifer etwas zugestoßen wäre?“ Lynn schmunzelte.
„Wir sind Soldaten, Serah. Alle samt. Wir passen aufeinander auf. Jeder von uns wird zurückkehren. Da bin ich mir ganz sicher.“ ein unsicheres Lächeln zog über Lynn Lippen und sie griff nach Serahs Händen.
„Ich weiß, dass du mich gerade belügst, aber das ist okay, weil du es gut meinst.“ Einige Tränen liefen über ihre Wangen. Und ja, natürlich waren ihre Worte eine Lüge gewesen. Es gab immer Opfer. Und bei dem Ziel, das sie sich gesetzt hatten, würden es nicht wenige werden.
-1- Repeat
Das Einkaufszentrum in Yevon, Efrafar lag wie ein dicker Stein, inmitten den untergehenden Sonne zwischen den leeren Straßen und Lynn hielt sich blinzelnd die Hand vor Augen, um jemanden auf dem Dach erspähen zu können.
„Hältst du nach Serah Ausschau?“ harkte Carver nach und schulterte seine Schrotflinte, die er zuvor gesenkt hatte. So nah an ihrem Versteck hatten sie keine feindlichen Truppen mehr zu befürchten.
„Ja, niemand scheint den Wachposten zu besetzten.“ bemerkte Lynn skeptisch und die beiden gingen weiter. Wiedereinmal hatte Serah sie und weitere Leute gebeten, nach Benzin und Vorräten Ausschau zu halten. Eine unvorhersehbare Rattenplage hatte sich an den letzten Vorräten zu schaffen gemacht. Sie waren bereits seit einem Monat in Efrafar, aber die Situation in Mi`hen schien sich zu zuspitzen. Dakon hatte vor einigen Tagen erklärt, dass ein Angriffsmanöver momentan zu riskant sei, da die Hybriden der VCO sich dort vermehrt sammeln würden. Warum sie das taten, hatte er nicht zur Sprache gebracht, aber Lynn vermutete nicht Gutes und es war ihr auch ein Rätsel, warum sie nicht endlich angriffen.
„Hast du mit Kenny sprechen können?“schwerfällig schob Lynn die dicke Eisentür zum Untergeschoss des Einkaufszentrums auf. Das Efeu war bereits so stark gewachsen, dass es die Türe beinahe vollständig versteckte. Nachdem Carver jedoch keine Antwort gab, drehte sie sich wartend um und blickte zu ihm auf, während er mit einer Zigarette im Mund unsicher die Umgebung die hinter ihnen lag, beobachtete.
„Was ist?“ Wenn er sich so aufmerksam umsah, musste er etwas bemerkt haben.
„Ach nichts, ich dachte ich hätte etwas gehört.“ erwiderte er und folgte ihr schließlich in ihr Versteck.
Im Aufenthaltsraum, unterhalb des Erdgeschosses brannte schwaches Licht. Kenny und Dakon blickten auf, nachdem Carver und Lynn den Raum betreten hatten.
„Habt ihr was?“ Kenny war bereits aufgestanden und nährte sich den beiden erwartungsvoll. Carver holte aus seinem Rucksack einige Konserven hervor und übergab sie ihm.
„Das reicht nicht mal für zwei Tage.“ stellte Dakon ernüchtert fest.
„Dakon, was sollen wir denn machen? Wir warten alle nur auf euer Kommando, endlich zuschlagen zu können. In den letzten zwei Wochen wurden fünf unserer Leute von feindlichen Söldnern verletzt, wir sind hier nicht mehr sicher! Gib endlich den Befehl, bevor wir noch mehr Leute verlieren.“ Wut und Frustration klangen Lynns Stimme bei, aber Dakons Miene blieb unverändert, während er sein Glas Whiskey betrachtete.
„Kenny.“ sagte Carver ruhig, im Begriff ihn ebenfalls um ein Glas zu bitten, aber er hielt ihm bereits eines hin und Carver legte seinen Rucksack und die Schrotflinte ab.
„Sie hat doch recht. Lange können wir hier nicht mehr im Verborgenen bleiben.“ mischte sich Yennifer ein, die gerade, zusammen mit Sakuya die Treppe hinunter kam.
„Und was gedenkst du zu tun? Einfach in dieses Nest voller Hybriden zu stürmen? Selbst wenn wir noch einen Monat hier bleiben würden, wären die Gefallenen deutlich geringer, als bei einem solch undurchdachten Angriff.“ erwiderte Kenny und sah ausdruckslos zu Yennifer hinunter. Wut zeichnete sich auf ihren angespannten Lippen ab.
„Während wir hier herumsitzen, sterben da draußen tausende weitere Menschen! Wir helfen niemandem indem wir uns hier verstecken und die Zeit totschlagen“ zischte sie und schlug auf den Tisch. Der Whiskey in Dakons Glas schlug kleine Wellen.
„Was weißt du schon.“ murmelte Kenny und drehte sich weg. Prompt machte Yennifer einen Schritt auf ihn zu und packte ihn am Hals. Voller Wucht drückte sie ihn mit ihrer ganzen Kraft gegen eine anliegende Wand. Lynn wollte einschreiten, aber Carver signalisierte ihr mit einem Zeichen, inne zu halten. Der Blick zwischen Dakon und Sakuya blieb ihr allerdings nicht verborgen. Es war, als hätte Dakon ihm flüchtig und unauffällig zugenickt.
„Yennifer, lass ihn los.“ sagte Sakuya nur kühl. Er stand abseits, in seiner Hand qualmte eine Zigarette und er hatte sie fest mit seinem Blick fixiert. Es verstrichen einige Sekunden in denen nur die Anspannung der Situation zu spüren war und ein leises Krächzen von Kenny. Die Knöchel an Yennifers Händen traten deutlich unter ihrer Kraft hervor.
„Yennifer.“ Wiederholte Sakuya seine Worte, aber dieses mal klang es wesentlich eindringlicher. Mit einem Male ließ sie von Kenny ab und er blieb ächzend zurück.
„Was zu Hölle soll das werden?“ hustete er, aber da hatte sich Yennifer bereits von ihm abgewandt.
„Komm mit.“ wies sie Sakuya an und ohne ein weiteres Wort, folgte sie ihm nur stumm die Treppe hinauf, in die obersten Etagen.
„Was war das denn?“ fragte Lynn nur leise, aber Carver signalisierte ihr erneut, sich zurück zu halten.
„Wo waren wir stehen geblieben?“ fuhr Dakon fort, als wäre all das soeben nie geschehen. Wartend nahm er einen Schluck Whiskey und blickte zu Renè, der zu ihnen stieß.
„Was gibt es?“ Dakon hatte seine Sitzposition bei dieser Frage geändert, Lynn schloss darauf, dass Renè Informationen zu der Lage in Mi`hen haben musste.
„Alles ist unverändert.“ ein wenig außer Atem entledigte sich Renè seiner Waffen und setzte sich zu Dakon an den großen Tisch. Carver und Lynn blickten sich kurz an, ehe sie sich stumm einig waren, nach oben zu gehen und die anderen allein zu lassen.
Auf dem Dach angekommen, drehte sich Lynn hastig zu Carver um, und half ihm die Türe zum Dach zu schließen.
„Da stimmt etwas nicht.“ platze es aus ihr heraus und er blickte zustimmend auf sie herab.
„Was auch immer es ist, was sie uns Verschweigen, wir sollten es uns selbst ansehen gehen.“ entschied Carver und erntete ein Nicken von Lynns entschlossenem Gesicht.
„Ich kenne Kenny nun schon lange genug.“
„Und ich Dakon.“ erwiderte Lynn, während sie zusammen zum Ende des Daches liefen.
„Wenn die Lage tatsächlich solch ein Ausmaß hat, wie sie es uns verkaufen wollen, frage ich mich, was wir hier noch wollen?“ Carver zündete sich eine Zigarette an und blickte nachdenklich in die Untergehende Sonne.
„Wäre es dann nicht klüger zurück nach Elaìs zu reisen? Mehr Männer zu mobilisieren, oder an einer anderen Stelle einen Schwachpunkt zu suchen?“ bestätigte Lynn leise und setzte sich neben Carvers Füßen, an den Rand des Daches. Ein zustimmendes Nicken ging von seinem markantem Gesicht aus, zu dem Lynn aufblickte, während seine Lippen den kalten Zigarettenqualm in den Sonnenuntergang bliesen.
„Aber warum sollten sie uns hier behalten wollen?“ Lynns Stimme klang unsicher und ihr Blick wanderte über die Gebäudereste der Stadt, die langsam im glühenden Rot der Sonne zu verschwinden schienen.
Carver musterte Lynn einen Augenblick lang.
„Ich weiß es nicht. Aber wir sollten uns das ganze ansehen. So schnell wie möglich. Und wir sollten Yennifer und Kenny einweihen.“ Ein letztes Mal sah sie zu Carver hinauf, seine grünen Augen schimmerten im letzten Sonnenlicht und sein Bart glänzte durch das Abendrot in einem ungewöhnlichem Kupferton.
Endgültig war die Sonne untergegangen und die Temperaturen sanken wie jede Nacht gegen Null, als Lynn leise ihre Waffen schulterte und das kleine Zimmer verließ, indem sie eigentlich hätte schlafen sollen. Sie war bereits auf dem Weg in den Aufenthaltsraum wo Carver, Yennifer und Kenny auf sie warten würden, wie zuvor auf dem Dach besprochen, aber Carver kam ihr bereits auf der Treppe entgegen:
„Ich finde sie nirgends.“ erklärte er ungeduldig.
„Lass uns ohne sie gehen. Ich habe die Lagepläne von Kenny, er wartet bereits unten.“ fügte er leise hinzu. Lynn jedoch schüttelte nur den Kopf:
„Vielleicht ist sie noch in den Duschräumen, hast du dort nachgesehen?“ harkte sie unbefriedigt nach.
„Das überlasse ich gerne dir.“ erwiderte er und bei einem Blick auf seine Hand, fiel ihr das leichte Zittern in seinen Fingern auf. Es war wieder so weit, die Jodtabletten gingen allmählich zur neige.
„Gut, gib mir fünf Minuten.“ erwiderte Lynn hastig und begab sich die Treppe hinunter zu den Duschräumen.
Zu ihrem Erstaunen brannte schwaches Licht, als sie leise die große Eisentür öffnete. Ursprünglich waren es wohl einmal das Warenlager der angrenzenden Geschäfte gewesen, die seit dem Krieg umfunktioniert wurden. Der Generator für die Warmwasserzufuhr lief nicht, aber ein leises Schluchzen war zu hören. Lynn hielt inne, sie war sich sicher, Schritte gehört zu haben.
„Zieh dich aus.“ es war Sakuyas Stimme, die sie gehört hatte. Mit einer Ruhe und Ignoranz, wie nur er sie ausstrahlen konnte. Herzrasen überkam Lynn, die dicht an eine Wand gepresst stand und sich nicht sicher war, ob sie das, was da gerade hinter der Wand geschah, wirklich sehen wollte. Das Geräusch von Kleidung, die zu Boden viel, war infolge eines leisen Streichens zu hören.
„Deine Unterwäsche auch.“ es war erneut Sakuyas Stimme gewesen.
>>Wenn ich jetzt zu viel darüber nachdenke, dann wird er es spüren. Die Angst in mir, wird er schon jetzt bemerkt haben müssen...Carver...Carver...Carver....<< Würde sie in ihrem Geiste ein Bild von Carver formen können, könnte sie damit vielleicht der Tatsache entgehen, dass Sakuya ihre Gefühle wahrnehmen würde. Wie ein Mantra wiederholte Lynn seinen Namen in ihrem Kopf, während sie langsam ihren Oberkörper vorschob und um die Ecke blickte:
Yennifer stand komplett nackt vor Sakuya. Ihre Kleidung lag vor ihr auf dem Boden. Ihren Blick zu Sakuyas Füßen geneigt, der nur wenige Zentimeter von ihr entfernt stand und auf sie herabsah. Vereinzelte hybride Teile ihres Körpers, schienen unter ihrer Haut hindurch zu schimmern. Es war, als wären gewisse Partien an ihr, wie Bauch, Brust und Unterschenkel transparent. Hindurch konnte man technische Teile erkennen, die sie am Leben erhielten und so perfekt mit ihrem Körper harmonierten, als wären es ihre eigenen Organe. Nur ihre Beinprothese, die Hershel angefertigt hatte, stach deutlich in einem satten Grau hervor.
„Hey, wo ist Lynn?“ fragte Kenny angespannt und drehte sich zu Carver um, der lautlos die Treppe hinunter kam.
„Sie sucht Yennifer. Sie will nicht ohne sie gehen.“ erklärte Carver, aber bereits in diesem Moment sah er die Verwirrung in Kennys Augen.
„Was ist los“ harkte er nach, aber Kenny hatte sich bereits von ihm abgewandt und ging geradewegs in die Richtung des Untergeschosses.
„Kenny.“ Nochmals rief ihn Carver und er blieb kurz stehen und hielt einen Augenblick lang inne. Carver wusste nicht, wie er das ganze deuten sollte, fest stand jedoch, dass Kenny mehr wusste.
„Kenny, ich hab dir mein Leben anvertraut, sag mir was los ist.“ forderte Carver ihn erneut auf. In seinem faltigen Gesicht konnte Carver jedoch bereits seine Resignation ablesen.
„Dakon will Yennifer an die Hybriden ausliefern, damit wir einen Vorteil haben. Die Verhandlungen laufen jetzt schon seit einer Woche.“ Das erklärte also, warum Dakon und Renè den bevorstehenden Angriff soweit hinauszögerten.
Derweil stand Lynn zitternd hinter einer Wand der Duschräume und sah dabei zu, wie Sakuya auf die nackte Yennifer einredete, nicht sicher, ob sie die Situation erregte, oder der weitere Ausgang der Situation sie mit tiefer Angst erfüllte.
„Ich will, dass du es sagst.“ Wiederholte er immer wieder seinen Satz. Und bei jedem Male erwiderte sie ihm: „Ich werde dir gehorchen.“
Nie traf dabei ihr Blick seinen. Die ganze Zeit lang, sah sie zu Boden und wirkte dabei wie in Trance. Sakuya hatte noch keine Anstalten gemacht, sich ihr zu nähern. Mindestens zwei Meter trennten sie voneinander. Der absurde Gedanke, dass Sakuya in Yennifers Gedanken herumspukte überkam sie plötzlich. War es möglich, dass er nicht nur ihre eigenen Gefühle wahrnehmen, sondern auch die Gedanken anderer Menschen manipulieren konnte?
Noch immer wiederholte Lynn stets in ihren Gedanken Carvers Namen. Vielleicht würde Sakuya einfach denken, dass sie gerade mit ihm unterwegs wäre, oder mit ihm im Aufenthaltsraum reden würde. Alles wäre jedenfalls besser, als wenn er sie in diesem Augenblick entdecken würde. Aber Lynns Neugierde war zu stark, als dass sie sich nun ihrer Angst, vor dem, was sie noch sehen würde, hätte beugen können. Was auch immer da gerade zwischen den beiden vor sich ging, es sah recht einseitig aus, und falls er Yennifer irgendetwas abverlangen würde, was sie nicht mit klaren Verstand wollen würde, dann würde Lynn eingreifen.
„Du wirst mit ihnen gehen. Und du wirst ihnen all das sagen, was Dakon dir gesagt hat, hast du mich verstanden?“ Sakuyas Erscheinung in dem schwachen Neonlicht wirkte auf Lynn wie die, eines Herrschers. Ruhe und Geduld lagen in seiner Stimme und seine kalten blauen Augen musterten Yennifers blasses Gesicht.
Sie nickte prompt und während Sakuyas Schritte sich ihr nährten, begann sie am ganzen Leib zu zittern. Ohne Worte fuhr seine Hand über ihren Kopf, strich über ihre langen dunklen Haare, wanderte über die Konturen ihres Gesichtes, bis seine Hände schließlich ihren Hals abwärts, über ihr Schlüsselbein glitten. Ihr Blick blieb gesenkt, ihre lange, dichten Wimpern konnten die Tränen jedoch nicht verbergen, die nun allmählich ihre blassen Wangen hinabrannen. Lynns Blick hatte sich an Sakuyas Fingern verloren, in denen sie ein leichtes Zittern bemerkte. War das möglich? War es möglich, dass auch Sakuya an dieser hormontherapeutisch bedingten, durch das Geomas verstärkten, sexuellen Dysfunktion litt, wie all die anderen Rekruten der VCO? Verlangen brach abrupt über Lynn hinein, die mit aller Kraft versuchte, diese Gefühlsregungen zu verdrängen. Einen unpassenderen Zeitpunkt hätte es wohl nicht dafür geben können. Wie Sakuya Yennifer berührte, wie er durch ihre Haare, über ihre Lippen, über ihre Schultern strich. Wo war das alles in ihrer Erinnerung geblieben?
Ihr war nicht entgangen wie sich Sakuya derweil mit einer Hand über den Schritt seiner Hose fuhr.
„Setz dich auf das Waschbecken.“ wies er Yennifer an. Ein tiefer Schmerz durchfuhr Lynn, als sie bemerkte, dass sie sich völlig geistesabwesend in die Handoberfläche gebissen hatte. Das warme Blut rann ihr über die Handinnenfläche.
„Sieh mich an.“ Sakuyas Stimme war so kalt und rau, dass sie Lynn eine Gänsehaut bescherte. Wie er da stand, Yennifer betrachtete und sich eine Zigarette anzündete. Sie hatte auf dem Waschbecken platz genommen, ihre an den Oberkörper gepressten Arme, betonten ihre üppigen Brüste, während ihre aneinander gedrängten Oberschenkel keinen Blick zwischen ihre Beine zuließen. Langsam hob sie ihr Kinn und suchte apathisch seinen Blick und Sakuya erwiderte ihn und zog an seiner Zigarette.
„Mach keine Witze, Kenny.“ Carver stand seinem Freund fassungslos gegenüber. Aber an Kennys Gesicht ließ sich nur pure Ernsthaftigkeit ablesen, während er sein Basecap zurecht rückte.
„Sieh mich nicht so an, Carver. Ich mische mich da nicht ein. Sie ist eine von denen, wir wollen nur, dass der Krieg endlich ein Ende hat.“ voller Ignoranz schlug Carver, dicht neben kennys Kopf, eine tiefe Delle in die Eisentür, die sie von der Straße trennte.
„Sie ist eine von uns! Sie vertraut uns, sie hat sich dazu entschieden bei uns zu bleiben, und du willst sie an die VCO ausliefern? Hast du uns in Yad VaShem nicht gelehrt, dass Leben das Wichtigste sei? Wart du und Sade es nicht, die uns gezeigt hatten, was es bedeutet in einer Gemeinschaft zu leben? Sich um die anderen zu sorgen und Vertrauen in jeden einzelnen zu haben? Und jetzt willst du mir erzählen, dass du eine von uns ausliefern willst!“ Resigniert ging Kenny einige Schritte an Carver vorbei, in die Richtung der Türe, die den Ausgang in die Stadt weisen würde.
„Es war nicht meine Entscheidung, Carver, das musst du mir glauben.“ und Kenny verließ das Gebäude und verschwand in der Dunkelheit.
Dicht an die Wand gedrängt, beobachtete Lynn, wie Sakuya in völliger Gelassenheit den Qualm seiner Zigarette einsog und Yennifer dabei betrachtete, wie sie vor ihm saß, noch immer seinen Blick suchend.
Seine Augen wanderten über ihr vor Tränen glänzendes Gesicht, ihren Hals hinab zu ihren vollen Brüsten, entlang ihrem durchtrainierten Bauch, an all den hybriden Einzelteilen vorbei, die erklärten, dass sie doch kein Mensch aus Fleisch und Blut war, bis hin zu ihren Schenkeln, die bald bezeugen würden, dass sie immerhin eine Frau war. Sakuya kam dem Druck nicht umhin, der ihn in jeder Sekunde mehr dazu drängte, sich zu erleichtern. Er würde sie auffordern ihre Beine zu spreizen. Das war es, was er gerade wirklich wollte. Sie war kein Mensch und er konnte ihr abverlangen, was auch immer er wollte. Sie war nicht wie er, und sie würde niemals so sein. Es bedürfte nur einen Satz von ihm. Nur wenige Handlungen.
„Öffne deine Beine.“ forderte er sie auf, während er seine Zigarette zu Boden warf und im Begriff war, sich ihr zu nähern.
Der wiederholte feste Griff über dem Schritt seiner Hose, war Lynn nicht entgangen. Wann hatte sie diese Geste schon einmal gesehen? Und plötzlich kam die Erinnerung wie ein Schwall über sie.
>> Du wirst mir jetzt gehorchen, hast du verstanden?“ der fremde Akzent mit dem der Mann vor ihr sprach, war ihr völlig fremd. Hatte man ihr in Valvar nicht jegliche Sprachen beigebracht? Was war das für ein Akzent? Ihr Blick viel auf die Hose des Söldners, der vor ihr stand. Die Fesseln drückte ihre Handgelenke so unbarmherzig zusammen, dass sie bereits seit Wochen kein Gefühl mehr in ihren Fingern spüren konnte.
„Knie dich hin.“ zu schwach um seinem Befehl noch etwas entgegen setzten zu können, leistete sie dem Gesagten folge, und fiel auf ihre Knie, in den sandigen Boden der Wüste.<<
Ein dumpfer Knall ließ Sakuya hellhörig werden. Seine Hand wich von seiner Hose und er schnellte um die Ecke, wo Lynn bewusstlos vor seinen Füßen lag. Ihre rechte Hand blutete stark. „Warum tust du das, Linnai...“ augenblicklich packte er sie bei den Hüften.
„Was soll das werden?“ schrie Carver seinem Freund hinterher, aber Kenny antwortete nicht mehr. Er lief weiter durch die leeren Gassen der zerstörten Gebäude, innerhalb der Stadt Yevons.
„Was haben wir dir getan, dass du solch einem Plan zustimmst?“ schrie Carver und erneut blieb Kenny einen Augenblick lang stehen, aber diesmal hatte er sein Gewehr im Anschlag und zielte damit direkt auf Carver. Seine Hände zitterten:
„Carver, wir haben so vieles verloren, ob nun eine Hybride draufgeht, oder einer von uns; es ist mir egal. Dieser Krieg muss ein Ende haben. Und was immer uns zugute kommt, ich werde es dankend annehmen.“ seine Stimme war leiser geworden, aber umso ernster.
„Du kannst niemanden für eine bessere Welt opfern, genau da liegt das Problem.“ erwiderte Carver.
Kenny schüttelte jedoch den Kopf und blickte zu den Wolken am nächtlichen Himmel:
„Doch, das kann ich. Der Zweck heiligt die Mittel.“
Mit starken Kopfschmerzen erwachte Lynn aus der Erinnerung der Wüste. Wann auch immer sie stattgefunden hatten, sie konnte sich nicht erinnern. Was sie jedoch spürte, war Sand an ihrem Kopf und eine ungesunde Körperhaltung. Feste Griffe um ihre Beine ließen sie wieder zu Besinnung kommen; zog sie da gerade jemand durch den Sand? Die dunkle Erscheinung vor ihr, erkannte sie augenblicklich; es war Sakuya, der sie gerade hinter sich her zog.
„Sakuya!“ ächzte sie kraftlos. War sie bewusstlos gewesen? Wie lange? Und wo war sie?
„Sakuya!“ ein erneutes Ätzen verließ ihre Stimmbänder, aber anstatt einer Antwort erwartete sie sein fester Griff in ihrem Nacken. Sakuya hatte sie gepackt und war nun im Begriff sie so fest zu halten, dass sie kaum noch zu atmen vermochte.
„Du willst es scheinbar unbedingt wissen, oder, Linnai?“ seine Stimme war noch immer ruhig und rau zugleich, aber die Wut, die ihr inne lag, ging nicht an Lynn vorüber. Betäubt vor Schmerz öffnete sie ihre Augen. Da war nichts, nur der Vollmond und die Wolken, die ihn teilweise verdeckten. Weitere Augenschläge später; Sakuyas Gesicht, direkt über ihrem. Er war ihr so nah, dass sie alles dafür getan hätte, um augenblicklich zu sterben. Sie spürte noch immer seinen starken griff in ihrem Nacken, sein Knie auf ihrer Wirbelsäule und hörte das rauschende Wasser unter ihrem Kinn. Rauschendes Wasser? Für einen Moment schloss Lynn krampfhaft ihre Augen und versuchte das Wahrgenommene zu deuten. Aber sie spürte nur Sakuyas rauen Hände in ihrem Nacken, sein pochendes Herz an ihrer Wirbelsäule, wie es regelmäßig schlug und seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht.
„Warum vertraust du mir nicht, warum willst du nicht an dem festhalten, was ich dir sage?“ seine Stimme donnerte in ihrem Kopf. Er war so unendlich wütend. So wütend war er das letzte mal, als man an Lynn auf der Basis, den letzten Eingriff vornehmen wollte. Sie erinnerte sich daran, wie die Ader an seinem Hals pulsierend hervortrat, und das kalte Blau seiner Augen nur noch Hass zu sein schien.
„Lass die Wüste, Wüste sein, Linnai.“ das Wasser unter ihrer Kehle bescherte ihr in Verbindung mit Sakuyas Stimme eine tiefe Gänsehaut, und Sakuya spürte wie sie unter ihm zitterte, während er sie über das Wasser des Stroms, inmitten der Trümmer der Stadt, unterhalb einer Brücke hielt. Würde er sie nun Unterwasser drücken, wären sie wieder da, all ihre Erinnerungen, all das, was nie hätte geschehen dürfen. Hershel hatte einmal gesagt, es bedurfte nur einem Impuls, einem Trigger, der traumatischen Ereignissen der Vergangenheit glich.
Tief gruben sich seine Finger in die zarte Haut ihres Halses. Könnte er all das nur ungeschehen machen. Könnte er sie nur weiterhin zwingen, das vor so vielen Jahren Geschehene vergessen sein zu lassen, ihre Erinnerungen blockieren. Aber scheinbar wollte sie all das so sehr. Scheinbar wollte sie all das wissen, erfahren, wieder durchleben, bis sie dann letztendlich wieder vor ihm liegen würde, mit nichts als dieser Todessehnsucht in den Augen, mit nichts weiter, als dem Wunsch endlich sterben zu können. Serah hatte zwar gesagt, dass Lynn nicht mehr die selbe wie damals sei, aber wie könnte er sich sicher sein? Woher sollte er wissen, ob sie dieses Trauma dieses mal überstehen würde, oder die Erinnerung daran sie nicht wieder zerstören würde? Es gab da doch noch so viel. So viele Erinnerungen, die er mit ihr geteilt haben wollte, so vieles mehr. Er hatte immer gehofft, dass er die Verbindung zu ihr niemals verlieren würde. Hatte immer gehofft, dass er sie emotional erreichen würde, nur um mal zu sehen, wie es ihr ginge. Er hatte so sehr gehofft, dass, nachdem er ihr Gedächtnis gelöscht hatte, er sie ab und an hätte sehen können, wie sie erwachsen wird, ihren Weg gehen würde und glücklich hätte werden können. Aber stattdessen funkte sie in jener Nacht in einem ihrer Einsätze dazwischen. Und Dakon war so angetan, ohne dass er gewusst hatte, dass sie das Mädchen gewesen war, dass er einst gerettet hatte, mit Sakuya zusammen, dass er sie nicht mehr hatte gehen lassen wollen. Und nachdem Dakon dann schließlich die ganze Wahrheit erfahren hatte, hatte er sie für seine eignen Zwecke gewollt. Nein, das war nicht Sakuyas Intention gewesen, als er ihr vor vielen Jahren das Gedächtnis genommen hatte. Lynnai sollte frei sein, er wollte sie leben lassen, wollte sie das spüren lassen, was man ihnen beiden genommen hatte. Glück, Freude, Familie, Erfolg, Lust aber auch den Schmerz der dazu gehörte. Nun hatte er den Nacken eines Mädchens in den Händen, für die es eigentlich hätte ein Happy End geben sollen.
„Verzeihe mir, Linnai.“ und mit einem Male drückte er sie so tief ins Wasser, wie es seine Arme nur zuließen. Minuten vergingen. Schmerzvoll kniff er die Augen zusammen und versuchte ihre Gegenwehr zu ignorieren. Sie hatte Wasser doch immer so verabscheut. Hatte sie es doch immer so gehasst, von den Soldaten auf der Basis mit dem eisigen Wasser auf dem Kasernengelände bestraft zu werden, die Folter des ertränkt werdens wieder und wieder über sich ergehen lassen zu müssen, als sie in Gefangenschaft gewesen war. Sakuya wusste das alles, aber er kam nicht umhin, ihr endlich den Wunsch ihrer Gewissheit zu erfüllen, auch wenn er alles andere damit in Schutt und Asche zerlegte. Er erinnerte sich natürlich daran, wie sie in den viel zu fest geschnürten Stiefeln vor ihm gestanden hatte in seiner Baracke, wie sie ihn so ungläubig und skeptisch betrachtet hatte, während sie die Narben seines Körpers berührt hatte. Wie sehr sie die Strafen von Negan verabscheut hatte, wie oft sie gepeinigt in ihrer Baracke gelegen hatte, klitschnass und frierend. So oft hatte er sie beim Wachdienst gesehen, noch immer zitternd und trotz allem hatte sie alles daran gesetzt seinen Anforderungen gerecht zu werden. Hatte sich so nach seiner Bestätigung gesehnt, aber er konnte nicht darauf eingehen, weil Negan ihm im Nacken saß. Es hatte ihm doch weh getan, zu zusehen wie Lynn groß wurde, immer mehr wurde wie er, immer mehr wie eine Maschine. Wie jenes unbekümmerte Lächeln aus ihren Kindertagen von ihren Lippen allmählich verschwunden war. Und wenn er dann mal Nachts, während der Wache, bei ihr war, oder sie, unerlaubt bei ihm in der Baracke, konnte er nichts weiter tun, als sie zum gehen aufzufordern, oder selbst zu gehen, weil alles andere seine Verbindung zu ihr gefährdet hätte. Und dann kam die Wüste und riss jegliches Vertrauen ein. Es war seine Schuld gewesen und er hatte sie nicht vor all den traumatischen Ereignissen dort bewahren können. Er hatte sie daraus geholt, gesehen was all das mit ihr gemacht hatte und dass sie zum Schluss nicht mehr sie selbst war und an dem Geschehenen zerbrochen war. Nein, so hatte er sich das nie vorgestellt. Er wollte ihr in Elaìs einen Neuanfang geben, aber sie kam dennoch zurück zu ihm, obwohl er ihr jegliche Erinnerung an alles und jeden genommen hatte. Das erste Bild, wie dieses Mädchen ihn angesehen hatte, schweigend, mit diesen unschuldigen blauen Augen, Jahre später, kämpfend mit diesem Enthusiasmus, den er immer bewundert hatte, in ihrem Blick... es würde für sie noch ein Happy End geben, egal was noch käme, aber zuerst müsse er sein Versprechen einhalten, welches all das erst möglich machen könnte. Das Versprechen an seinen Freund Dakon, um sie wieder zu wecken, um sie erneut zu der tödlichen Waffe machen zu können, die sie einst einmal war, ohne Rücksicht auf Verluste und dann würde sie das Happy End bekommen, welches Sakuya ihr sonst nie hätte versprechen können.
Ihre braunen Haare umspielten sanft sein Handgelenk. Zu gerne wäre er mit ihr hinab in das reißende Wasser geglitten, hätten seine Hände nach ihren weichen Wangen gegriffen, aber das spielte nun alles keine Rolle mehr. Er hatte Dakon ein Versprechen gegeben, dafür, dass er sie beide von der VCO nach Elaìs gebracht hatte, vor so vielen Jahren.
Ihre Haut wurde allmählich unter seinen Handflächen kalt und er ließ von ihr ab. Ohnmächtig vor Schmerz zog er ihren leblosen Körper aus dem Wasser heraus. Völlig benommen lag Lynns Körper in Sakuyas Armen. Fassungslos über sich selbst, ließ er sich mit ihr zurückfallen. Sie war so furchtbar kalt. Sein Gedächtnis versuchte ihre Gefühle zu erinnern, aber da war zu viel in ihm selbst. Lynns linker Oberschenkel lag über seinem Knie, ihr anderes Bein dicht an die Innenseite seines Beines gedrängt. Ihre Wirbelsäule drückte sanft auf seinen Brustkorb und seinen Bauch. Ihre Nassen Haare hatten sich auf seiner Brust ausgebreitet und durchnässten allmählich sein Hemd und ihre markanten Gesichtskonturen ruhten auf seinem Schlüsselbein. Wann hatte er sie je so nah gespürt. Der Griff seiner rechten Hand leitete seine Finger entlang der Kontur ihres Gesichts, hinweg über ihre Lippen. Seine linke Hand glitt behutsam über ihre Rippen und an ihren Hüften entlang. Das Plätschern des Stroms inmitten der Ruinen war noch immer hörbar. Die Wolkendecke des Himmels lichtete sich nur an wenigen Stellen. Gleich würde Lynn wieder zu sich kommen, bis dahin würde jedoch Sakuya verschwunden sein. Tief einatmend versicherte er sich ein letztes mal, dass Lynns Herz noch schlug. Bis an diesen Punkt hatte er sie nun gebracht, wie Dakon es gewollt hatte, als Gegenleistung dafür, dass er ihn und Lynn von der VCO befreit hatte und ihnen ein Leben geschenkt hatte. Die Dankbarkeit überwog, aber was Lynn betraf, war Sakuya absolut nicht einverstanden gewesen, mit Dakons Plänen. Aber er hatte ihm damals sein Wort gegeben, dass er alles tun würde, damit der Krieg zwischen Efrafar und Valvar sein Ende fand. Und danach wäre Lynn endgültig frei. Sich seiner eigenen Unzulänglichkeiten bewusst, hatte Sakuya aber schon lange vorher beschlossen in Dakons Dienst zu bleiben, wie es sich unter Soldaten gehörte.
Es bedurfte nur einen letzten Impuls von Sakuya, seine Stimme, ihren Namen zu nennen, um all die Traumata in Lynn wieder hervorholen zu können, sie wieder präsent werden zu lassen. Aber damit würde er bis zum letzten Augenblick warten, bis zu dem Punkt an dem es unumgänglich wäre.
Kenny aus den Augen verloren, sah Carvers sich verblüfft um; wann war sein Freund so schnell geworden? Aber etwas anderes beunruhigte ihn in diesem Augenblick, denn er hätte schwören können, Lynns Rufe gehört zu haben. Resigniert schlug er den Weg zurück zu ihrem Versteck ein, als er einen dunklen Schatten bemerkte, der sich ihm nährte. Innehaltend erkannte er nach wenigen Sekunden mit vorgehaltener Waffe, dass es Sakuya war, der geradewegs auf ihn zu kam, Lynn tragend.
„Was ist passiert?“ fragte Carver ruhig, denn außer Lynns Blässe, die das Mondlicht ihm präsentierte, hatte sie keinerlei offensichtlicher Verletzungen.
„Carver, nimm sie.“ Der Klang von Sakuyas Stimme verriet ihm, dass etwas vorgefallen war, zwischen ihnen. Die Blicke der beiden Männer trafen sich:
„Ich weiß, dass sie dir vertraut.“ erwiderte Carver nur mit rauer Stimme und betrachtete Lynn, wie sie leblos auf seinen Armen lag.
„Aber sie vertraut dir ebenso. Uns mag eine längere Geschichte verbinden, aber es wird der Zeitpunkt kommen, an dem sie alles in Frage stellen wird und nicht mehr wissen wird, wer Freund oder Feind ist. Wenn dieser Zeitpunkt gekommen ist, sei dir sicher, dass ihr Hass sich nicht gegen dich richten wird, und dann steh ihr bei, sie wird dich brauchen.“ Noch nie hatte Carver Sakuya so reden gehört. Das passte absolut nicht zu diesem Mann und er begann sich zu fragen, welche Katastrophe sich ereignen würde, damit Sakuya nun so etwas zu ihm sagte. Noch einen Augenblick innehaltend, nahm er schließlich Sakuya Lynns Körper ab und die beiden machten sich auf den Weg zurück.
Wie aus einem Fiebertraum erwacht, schreckte Lynn atemlos hoch und sah sich verwirrt um; war das gerade eben alles nur ein Traum gewesen? Ihre Haut erinnerte das eisige Wasser. Sie lag in ihrem Zimmer, angezogen auf dem Bett, niemand sonst war da. Wollte sie sich nicht mit Carver und Kenny getroffen haben, um die Lage in Mi`hen näher analysieren zu können? Wie spät war es, war die Sonne bereits aufgegangen?Yennifer! Mit einem Satz sprang Lynn von dem Bett und stürmte aus dem kleinen Raum, die Treppe hinunter. Nein, sie hatte das nicht geträumt, das war einfach zu real gewesen, die Gefühle die sie in der letzten Nacht verspürt hatte, waren einfach zu klar gewesen. Beinahe wäre sie mit Carver zusammen gestoßen, der mit einem Sturmgewehr im Anschlag die Treppen zur Eingangshalle hinunter sprintete, in seinen grünen Augen konnte sie das Adrenalin aufflammen sehen : „Wir werden angegriffen, hol deine Sache und begib dich zu den anderen auf das Dach! Dakon, Sakuya und ich werden nachkommen!“ Kopfschüttelnd ergriff Lynn die Schrotflinte, die er geschultert hatte und folgte ihm wortlos.
Dumpfe Schüsse waren bereits in der ersten Etage von weiter unterhalb zu hören, während Lynn und Carver sich mit Kenny über lautlose Zeichensprache verständigten. Ihm stand die Anspannung ins Gesicht geschrieben und sie folgten ihm die Treppe hinunter in den Keller, wo sich die Eingangstüre befand.
Das Aufgebot einer Gruppe hybrider Soldaten stand Dakon und Sakuya gegenüber, die Feuerschutz hinter einigen, umgekippten Tischen des Aufenthaltsraumes gesucht hatten und in Deckung blieben, ehe die Magazine der Hybriden leer geschossen schienen und sie zum Gegenschlag ausholen konnten. Zügig verteilten sich Carver, Lynn und Kenny und eröffneten ein erneutes Feuer. Der Schusswechsel dauerte einige Minuten an, ehe Lynn ein alarmierendes, metallisches Geräusch wahrnahm; irgendjemand musste eine Granate geworfen haben, dieses Klacken war unverkennbar in ihrem Gedächtnis verankert. Ehe sie ihren Kameraden etwas zurufen konnte, riss sie Kenny und Carver mit sich, weiter in die hinterste Ecke eines Raumes, und sah zu Sakuya, der es ihr mit Dakon gleichtat. Einen riesigen Schrank, in letzter Sekunde umstürzend, verschanzten sich die Fünf, vor der nahenden Explosion, die prompt folgte.
Auf Hitze und Rauch folgte ein stechender Schmerz innerhalb Lynns oberer Beinhälfte. Der Rauch der Granate war so dicht, dass sie Mühe hatte, Kenny ausfindig machen zu können. Erschöpft und hustend lehnte er nahe bei Dakon, währen Sakuya und Carver einige Schüsse in eine Wolke des Nichts abfeuerten und die drei die Treppe hinaufschoben.
„Auf dem Dach wird Renè auf uns warten, von dort aus gelangen wir über die alte Tabakfabrik nebenan, wieder zurück auf die Straßen, abseits der Hybriden!“ rief Dakon, während sie die Treppen zum Dach hinaufrannten. Der Schmerz in Lynns Bein verstärkte sich zunehmend, durch das Reiben der Seitenaht ihrer Jeans, an der Innenseite ihrer Oberschenkel. Ein Splitter der Granate hatte sie so nah an ihrem Unterleib getroffen, dass sie froh war, an dieser Stelle getroffen worden zu sein. Hastig stießen sie mit drei Mann die Türe zum Dach auf, um schließlich feststellen zu müssen, dass von den anderen keine Spur mehr zu sehen war. Einzig einige Holzbretter lagen über dem Abgrund, der sich zwischen dem Einkaufszentrum und der Tabakfabrik auftat.
„Los, beeilt euch, sie kommen!“ schrie Kenny und verbarrikadierte notdürftig mit seiner Schrotflinte die Türe zum Dach. Nacheinander bahnten sich die fünf den schmalen Weg über den Abgrund. Auf der anderen Seite angekommen, sahen sie bereits Yennifer, die sie von der anderen Seite des Daches zu sich heranwinkte und ihnen eine Feuerleiter präsentierte, die sie hinunter in die Straßen bringen würde. Ein flüchtiger Blick von Lynn blieb an ihrem konzentrierten und stummen Gesichtszügen hängen, aber sie konnte nichts ungewöhnliches an ihr Entdecken. Was auch immer Sakuya in der vorherigen Nacht mit ihr gemacht hatte, es schien keine bleibenden Schäden hinterlassen zu haben. Während Sakuya die Feuerleiter hinabstieg, versuchte Lynn etwas in seinem Gesicht ablesen zu können, aber er war ebenso konzentriert, wie sie alle. Ehe sie selbst die Treppe hinabsteigen wollte, hielt sie Carver am Arm fest und zog sie zurück; sein Gesicht wirkte älter als sonst und deutliche Sorgenfalten zeichneten sich auf seiner Stirn ab:
„Sie wollen Yennifer an die Hybriden ausliefern. Wir müssen das verhindern.“ sagte er leise, aber Dakon rief bereits von unten zu ihnen hinauf, dass sie sich beeilen sollten. Stumm nickte Lynn, warum, und wer auch immer sich das hatte einfallen lassen, würde damit nicht durchkommen. Sie selbst hatte ihr das Leben gerettet, und Yennifer erwies sich in all der Zeit ein ein gutes Mitglied des Teams. Nie hatte sie einen von ihnen verraten oder im Stich gelassen. Nein, sie dürfte nicht ausgeliefert werden, um keinen Preis. Egal ob Mensch oder Hybrid, ob Tier oder Technik, wer für den Frieden war, für den war auch Lynn.
Sie hatten einen kompletten Tagesmarsch bis an das Ende der Stadt hinter sich, als Dakon und Renè ihr Team zum Rast in einem kleinen, heruntergekommenen Wohnhaus an der Stadtgrenze anhielten. Die Männer von Kenny waren erschöpft und sehnten sich nach einer Pause. Natürlich, dachte Lynn, sie waren ja auch keine Soldaten der VCO. Während die Sonne bereits untergegangen waren, und sich Carver und Sakuya versichert hatten, dass ihnen keiner der Hybriden gefolgt war, halfen sie bei der Absicherung des mehrstöckigen Hauses. Sämtliche Ausgänge, Fenster und Kellergänge wurden hermetisch abgeriegelt. Für diese Nacht würden sie sicher sein, und am Morgen würden sie sich auf den Weg nach Mi`hen machen. Unsicher lief Lynn durch den ehemaligen Wohnbereich des Hauses. Überall waren die Spuren der Verwüstung allgegenwärtig. Zerstörtes Mobiliar, mit Schusslöchern durchsiebt, alte Bilder, Fotos, Zeitungen, all das lag verstreut und in seinen Einzelteilen unberührt herum. Im ersten Geschoss blätterte der Putz von den Wänden und einzelne Holzdielen des Bodens lösten sich allmählich. An einer Tür am Ende des Flures hörte Lynn schließlich endlich Dakons vertraute Stimme, der in einem Streitgespräch mit Sakuya und Carver zu sein schien. Einen Augenblickklang horchte Lynn an der Türe; sie sprachen über Yennifers Auslieferung. Ein langes Nachdenken konnte Lynn sich nun nicht leisten und somit stieß sie die Türe auf und trat in den verwüsteten Raum. Die Stimmen verstummten und Sakuya warf Lynn einen warnenden Blick zu, ehe Dakon das Wort ergriff:
„Wir werden Yennifer morgen Abend den Hybriden übergeben. Es ist unsere einzige Chance, nahe genug an die Stadt heranzukommen. Die Übergabe wird dort stattfinden, so viel wissen wir bereits. Zehn Leute werden wir in der näheren Umgebung postieren. Wir werden sie somit direkt im Zentrum treffen können.“ Tief einatmend wandte sich Lynn zu Sakuya, der jedoch nur stumm Dakon anblickte und an einer Zigarette zog.
„Das ist nicht nur völlig undurchdacht, sondern auch taktisch dermaßen unklug, dass ich mich schämen muss!“ Es war Kenny, der geradewegs durch die Tür, zu Lynn kam und sie zustimmend ansah. Verwundert blickte Carver zu seinem Freund, und erkannte, dass seine Worte der letzten Nacht ein Umdenken in ihm hervorgerufen haben mussten.
„Es gibt keine Diskussion mehr.“ wollte Sakuya gerade das Gespräch beenden, als Lynn ihm ins Wort fiel und ihn scharf anging:
„Wenn ihr sie ausliefern wollt, sorge ich noch heute Nacht dafür, dass sie fliehen kann.“ Ihre Worte noch nicht ganz ausgesprochen, spürte sie bereits Sakuyas mahnenden Blick. Einige große Schritte ging er auf sie zu, aber ehe er etwas sagen konnte, machte Lynn einige Schritte zurück und sah wütend zu ihm auf: „Fasst du mich an, töte ich dich noch heute Nacht!“ Das Entsetzten von Dakon spürend, ließ sie sich jedoch nicht beirren, Sakuyas Blick stand zu halten. Er wusste, dass sie mit Yennifers Auslieferung zu weit gingen, aber Dakon ließ sich von dem Plan, den Renè ihm ins Ohr gesetzt hatte, nicht abringen. Sakuya wusste, dass er Lynn weitaus überlegen war, aber er wollte es nicht darauf ankommen lassen, dass das ganze in einen Kampf mit eventuellen Verletzungen ausarten würde. Das konnte sich in dieser Situation niemand von ihnen leisten. Während Lynn und Sakuya sich noch immer gegenüber standen, hatten die anderen drei bereits wieder begonnen zu diskutieren. Eine eigenartige geistige Berührung von Carvers Seite, ließ Lynn schließlich jedoch ihren Blick von Sakuya abwenden und an sich hinunterblicken; das Blut der Verletzung durch den Metallsplitter, lief ihr bereits über die Schuhe und benetzte die dreckigen Holzdielen. Auch Sakuya hatte Notiz davon genommen und entfernte sich einige Schritte von ihr, mit einem leichten Zittern in seinen Händen, mit denen er sich eine Zigarette anmachte.
Mit wütenden Stichen versuchte Lynn die Klaffende Wunde an der Innenseite ihrer Oberschenkel zu nähen. Mehrmals war sie abgerutscht, weil ihre Hände vor Wut zitterten. Wie konnten sie so etwas beschließen? Warum waren Renè und Dakon so engstirnig? Yennifer war eine weitaus größere Hilfe, als dass sie einen Vorteil hätte bringen können. Sie war teilhybrid, sie ertrug mehr an Schmerz und Anstrengung als drei von Kennys Männern. Und sie wollten sie einfach so ausliefern, für eine bessere Stellung innerhalb der Gefahrenzone. Das war Irrsinn, wieder rutschte Lynn mit der Nadel ab und gab ein heiseres Stöhnen von sich. Das Blut rann über ihre Hand und sie legte zitternd vor Schmerz die Nadel neben sich, auf die verstaubte Matratze des Bettes, auf dem sie, in einem der Zimmer saß. Ein leises Klopfen ließ sie kurzzeitig den Schmerz vergessen und sie antwortete mir einem „Es ist offen.“ . Carver stand verwundert im Rahmen und betrachtete einen Moment lang Lynn, wie sie nur in einem schwarzen Pullover und ihrem Slip auf dem Bett saß, und das Blut an ihrem linken Bein hinunter rann.
„Brauchst du Hilfe?“ fragte Carver ein wenig überrascht von der Situation die sich ihm bot.
„Gibst du mir das Handtuch dort drüben?“ Lynn deutete auf einen alten Fetzen, der vermutlich wirklich einmal als Handtuch gedient haben könnte. Einen Augenblick lang sahen sich die beiden stumm an, ehe Carver wortlos das Zimmer verließ, nachdem er es ihr gereicht hatte und anschließend feststellen musste, dass sie gut alleine zurecht kam.
>>Die Tage auf der Basis vergingen in letzter Zeit nur langsam, hatte Lynn das Gefühl und stand ermüdet, zum beginnenden Training im anliegenden Wald auf. Unausgeschlafen folgte die den anderen Rekruten durch die immer gleichen Gänge, hinaus auf das Gelände der Basis, in den Wald hinein. An ihrem üblichen Sammelpunkt, am Bach, hielten sie und Sakuya richtete seine Befehle an sie. Sein Blick musterte dabei flüchtig Lynn, die ihm das erste mal einen ermüdeten Eindruck machte. Ihre Einteilung erhalten, machte sich Lynn mit einem vollautomatischen Maschinengewehr auf den Weg durch das dichte Blattwerk, wiedereinmal auf der Suche nach feindlichen Personen um sie zu eliminieren, wie man es ihr aufgetragen hatte. Diese Art der Aufträge forderte sie schon lange nicht mehr; die feindlichen Männer waren beinahe taub, hörten und sahen schlecht und waren im Terrain viel zu auffällig. Dieser Umstand kam jedoch nur ihr so vor, denn während sich ihre Fähigkeiten durch die Geomoas-Therapie maßgeblich verbessert hatten, hatten die anderen Rekruten noch immer schwer mit ihren Gegnern zu kämpfen.
Während Sakuya die übriggeblieben Waffen verstaute, kam er nicht umhin mit seinem Geist nach Lynns Gedanken zu suchen. Zu sehr hatte ihn ihre Erscheinung am Morgen verwundert. Selten hatte er sie so ausgelaugt gesehen und das machte ihn stutzig. Während er also einige Karten des Waldes sortierte spürte er mit einem Male ihre Todesangst; etwas musste passiert sein. Der Schmerz durchfuhr augenblicklich seine Lendengegend und ohne nachzudenken machte er sich auf den Weg um Lynn zu finden.
Ihr Angreifer war wesentlich stärker und schneller als die Vorherigen gewesen, musste Lynn schmerzlich feststellen, während sie sich mit blutigen Beinen zu ihm, über den Waldboden bewegte. Mit einem stumpfen Messer, hatte er ihr dreimal in die untere Lendengegend, zwischen ihre Beine gestochen, weil sie ihn unter dem hohen Laub des Herbstes nicht auf dem Waldboden bemerkt hatte. Eine unermessliche Wut stieg in ihr auf, während sie sich seinem, durch ihren Schuss verletzten Körper nährte. Zitternd und mit weit aufgerissenen Augen starrte er sie an. Der Schmerz durchzog sie mit jedem Herzschlag und verschwommene Bilder der Wüste rasten an ihrem inneren Auge vorbei. Diesen Schmerz kannte sie, und er war kein gutes Zeichen. Aber was auch immer dieser Mann, der nun vor ihr lag noch vorgehabt hatte, dieses mal würde sie das nicht wieder zulassen. Lynn hob ihre Arme, neben ihm kniend und rammte ihm ihr Messer mehrmals in den Brustkorb. Das Blut spritze ihr noch warm ins Gesicht. Und dann verschwamm ihre Sicht, als würde die Realität von einer anderen überlagert werden. Die Wut mischte sich mit Trauer und Ohnmacht und das Messer in ihren Händen folgte nur noch einem reinen Automatismus.
Als Sakuya Lynn fand, hatte sie sich einige Meter von dem Soldaten entfernt und hinter einem morschen Baumstumpf, der von Moos und kleineren Pflanzen bewachsen war, Schutz gesucht. Ihr Messer hatte sie in den Gedärmen des ausgeweideten Soldaten zurück gelassen, aber dem war sie sich schon lange nicht mehr bewusst. Ein Schwall von Todesangst und Hilflosigkeit war über sie hereingebrochen und verdunkelte jegliche reellen Wahrnehmungen. Selten hatte Sakuya einen der Söldner so von einem Rekruten zugerichtet gefunden. Teile seiner Bauchdecke lagen noch wenige Schritte von Lynn entfernt.
Durch den Blutverlust ohnmächtig geworden, taxierte Sakuya Lynn geradewegs auf eine der Bahren in Hershels Labor. Aber von dem Doktor war keine Spur. Jedoch hatte Sakuya ihm so oft bei Eingriffen assistiert und auch im Außeneinsatz schon oft Notoperationen übernehmen müssen, dass er wusste was zu tun war. Hektisch suchte er in einem von Hershels Medikamentenschränken nach einem Anästhetikum und steriler Lösung.
Vorsichtig schnitt er die Hose von Lynns Uniform entzwei, um sich die Wunde genauer ansehen zu können, als die vielen Narben zwischen ihren Beinen ihn innehalten ließen. So etwas sah er beim besten Willen das erste mal. Entgegen dem ersten Impuls, dass Lynn sich die Verletzungen selbst zugefügt haben musste, erkannte er anhand des Vernarbungsgrades, dass die Schnitte bereits aus ihrem Kindesalter und somit aus der Wüste hatten stammen müssen. Mit einem weichen Tuch fuhr er über die klaffenden Schnitte, als sein Geist wieder Lynns Regungen wahrnahm, die langsam zu sich kam. Ein heftiger Tritt gegen seine Schulter, konnte ihn jedoch nicht zu Boden bringen und so ergriff er ihre Hände und sah ihr ins Gesicht:
„Linnai, hör auf damit, die Verletzungen sind schwer.“ Ihre blauen Augen spiegelten puren Hass wieder, Hass der sich gegen ihn richtete, weil sie in solch einer Situation so wehrlos war. Sie blieb stumm, und er wusste, dass sie immer wieder in den Zustand ihres Erscheinens auf der Basis zurück fiel, wenn sie Angst oder Wut verspürte. Kein Wort verließ dann mehr ihre Lippen und keine Schreie oder Rufe. Er zog ihre Handgelenke enger zusammen und spürte den Schmerz in ihr, aber umfasste sie schließlich mit nur einer Hand und betäubte sie anschließend mit dem Anästhetikum in der anderen. Es schmerzte ihn, die Narben zu sehen und sich ausmalen zu müssen, was man mit ihr gemacht hatte.
„Sakuya, was tust du hier?“ Hershel kam geradewegs auf ihn zu, vermutlich hatte er im Lager gesteckt und veraltete Gewebeproben der Rekruten aussortiert. Innehaltend blieb er stehen, als sein Blick auf Lynns Beine fiel.
„Oh Gott... was haben sie mit ihr nur gemacht.“<<
Kalte Krämpfe suchten Lynns Körper in der Nacht heim. Ihr Geist war wie von einem beängstigenden Nebel verhüllt und obwohl sie immer wieder gedanklich nahe an diesem schwarzen Vorhang herankam, hielt eine tiefsitzende Todesangst sie davon ab, noch weiter in ihren Gedanken nach Antworten zu suchen. Zwei Hände ließen sie hochschrecken, die nach ihrem Oberarm gegriffen hatte und sie riss voller Panik ihre Augen auf, um einem unbekannten Mann ins Gesicht zu blicken, der sie besorgt ansah. Mit einem blitzschnellen Tritt jedoch, hatte sie sich seiner Gegenwart entledigt und griff hektisch nach ihrem Messer, an der Seite der Matratze. Im Begriff sich aufzuschwingen und den Unbekannten zu attackieren, stürmte jedoch bereits Carver in den Raum und zielte mit seinem Gewehr auf sie. Lynn hielt inne, nicht fähig ihn zu erkennen oder gar zuordnen zu können. Sie war sich sicher, diesen bärtigen, dunkelhaarigen, großen Soldaten noch nie gesehen zu haben.
„Lynn, lass das Messer fallen, sonst werde ich auf dich schießen.“ mit rauer aber ruhiger Stimme sprach er auf sie ein. Für einen kurzen Moment schienen Lynn erneut die Kräfte zu verlassen, und das Messer rutsche ihr aus der Hand. Carver deutete dem Mann aus Kennys Team, der von Lynn unterdrückten Schreien wachgeworden war, stumm den Ausgang. Sein Gewehr auf die Kante der Matratze platzierend, hatte er sich einen Stuhl herangezogen und setzte sich neben Lynn, wartend darauf, dass sie sich wieder beruhigen und einschlafen würde. Es dauert nicht lange.
-23- Desperate
Sie hatten sich in der Lobby des Hotels versammelt. Die Männer aus Kennys Team schienen neue Kräfte gesammelt zu haben und während einige von ihnen, noch ihre Waffen reinigten, Carver eingeschlossen, verkündete Dakon ihre weitere Vorgehensweise. Fragend suchte Lynns Blick nach Yennifer, die erst einige Zeit später mit Sakuya aus dem Obergeschoss kam. Ihr Blick wirkte erneut seltsam leer.
„Ich werde gehen.“ sagte Yennifer entschlossen und erntete dafür überraschte Blicke der anderen.
„Gut dann, haben wir jetzt alles geklärt. Ein Funkkontakt mit einem Mittelsmann der Hybriden wird in etwa zwei Stunden zustande kommen. Wir haben einen Tagesmarsch von etwa zwölf Stunden vor uns, in der Dämmerung sollten wir Mi`hen erreicht haben und die Übergabe wird stattfinden. Sakuya, Lynn, Kenny und Carver werden mich zusammen mit Yennifer zur Übergabe begleiten. Renè wird zusammen mit den anderen Männern und Serah in einem Hinterhalt warten. Wir werden Yennifer an die Hybriden übergeben und uns zurückziehen, ehe wir anschließend überraschend angreifen werden. Ich will Renè, Lynn und Sakuya im Nahkampf, ich werdet den Weg durch die Stadt vorgeben. Serah, Carver und Ben; ihr werdet aus sicherer Distanz als Schafschützen eingesetzt. Ihr werdet euren Posten nicht verlassen. Der Rest der Teams bleibt in unmittelbarer Entfernung und bahnt sich seinen Weg. Vor der Stadtgrenze wird Shiori mit weiteren Leuten zu uns stoßen.“ angespannt Schulterte Dakon sein Gepäck und blickte in die Runde. Lynn war aufgefallen, wie wütend Serahs Gesichtszüge wirkten. Sie stand etwas abseits, an einer Wand gelehnt und blickte ihren Mann an, der jedoch keine Notiz davon zu nehmen schien, oder dem es einfach mal wieder egal war, ob er gegen den Willen seiner Frau agierte. Carver hatte nicht einmal von seiner Waffe aufgesehen und war dabei seinen Rucksack und sein Gewehr zu Schultern. Noch immer stand Yennifer dicht neben Sakuya und ihr Blick hatte nichts an Leere verloren. Irgendetwas stimmte da nicht, da war sich Lynn sicher.
Die Sonne stand in ihrem Zenit, das konnte Lynn trotz der dichten Wolkendecke sehen, während sie schweigend und nachdenklich den anderen durch den dichten Nadelwald, parallel zur Hauptstraße folgte.
„Das ist furchtbar undurchdacht.“ hörte sie Serah leise zu Kenny sagen und schloss zu den beiden auf.
„Er ist nicht von diesem Plan abzubringen; wir können nichts tun.“ erwiderte Kenny niedergeschlagen.
„Hat irgendjemand in den letzten drei Tagen mal mit Yennifer gesprochen?“ fragte Lynn schließlich leise und erntete nur Kopfschütteln.
„Sakuya ist die ganze Zeit bei ihr; es ist kein herankommen möglich.“ erklärte Serah und blickte zu den beiden, nach vorne.
„Sie verhält sich eigenartig.“ erkannte Serah schließlich und sah zum Himmel hinauf. Es würde noch Regen geben, da war sie sich auch sicher.
„Bei der nächsten Pause, werde ich mit ihr sprechen. Ich kann nicht glauben, dass sie freiwillig zurück gehen will.“ antwortete Lynn und die beiden nickten zustimmend.
Die Landschaft war bergiger geworden. Zwischen steilen Felshängen und vereinzelten Hütten, machten sie an einem kleinen Bauernhof einen Rast. Die dichten Nadelwälder schienen ohne jegliches Leben zu sein. Man hörte weder Vögel, noch hatte Lynn den Weg über kleinere Waldbewohner gesichtet. Während die anderen etwas aßen und sich stärkten, hatte Lynn den Weg hinter das Haus gesucht, wo Sakuya zusammen mit Yennifer stand und ihr wieder einmal etwas sagte. Was es war, konnte Lynn nicht hören, aber wie bereits schon einmal beobachtet, haftete ihr Blick am Boden, obwohl Sakuya unmittelbar vor ihr stand. Er hatte sofort Notiz von Lynns Anwesenheit genommen und blickte gefährlich zu ihr.
„Ich will mit ihr reden.“ Die Worte aus Lynns Mund hatten ordentlichen Nachdruck und sie lief geradewegs auf die beiden zu. Yennifer starrte weiterhin zu Boden, als sei sie in Trance.
„Misch dich nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen, Lynn.“ Sakuyas Worte schmerzten sie. Er war voller Ablehnung und sah zu ihr hinunter, als sie endlich vor ihm zum stehen gekommen war. Einen Moment lang hielt sie seinem Blick stand, ehe sie sich Yennifer zuwandte und ihr Wort an sie richtete: „Yennifer, du wirst dich nicht opfern.“ Keine Regung. Sie stand noch immer wie versteinert vor Sakuya.
„Was hast du mit ihr gemacht? Was hast du mit mir gemacht? Was war das alles in jener Nacht?“ Deutliche Verzweiflung erreichte Sakuya. In Lynn herrschte ein Chaos aus Verzweiflung, Wut und Unverständnis. Ein kühler Wind wirbelte durch das hohe Gras, hinter dem Haus und die ersten Regentropfen erreichten den Boden.
„Lass es gut sein. Sie wird gehen und wir haben einen Vorteil, um das alles endlich beenden zu können.“ erwiderte Sakuya mit dunkler Stimme. Kopfschüttelnd sah Lynn zu ihm auf:
„Was ist aus uns geworden? Seit wann verraten wir einander?“ Schnaubend wandte sich Sakuya wieder Yennifer zu: „Geh zu den anderen zurück.“ Wies er sie an und ohne einen Kommentar oder einen Blick, ging Yennifer. Verwirrt sah Lynn ihr nach, wie sie langsam hinter dem Schuppen verschwand und gerade wollte sie wieder ihr Wort an Sakuya richten, als dieser sie bereits grob gepackt hatte und gegen die hölzerne Hauswand drückte:
„Pass auf, in welche Angelegenheiten du dich einmischt, hast du mich verstanden?“ Völlig überrascht von dieser Handgreiflichkeit, folgten Lynns Instinkte ihrer ersten Eingabe zur Gegenwehr. Mit einem heftigen Tritt stieß sie Sakuya von sich weg und sah ihn wütend und fassungslos an. Hatte er sie gerade ernsthaft gegen die Wand gedrückt? Und er hatte sie in jener Nacht vor einigen Tagen versucht im Fluss zu ertränken! Sie hatte sich das nicht eingebildet! Auf gar keinen Fall, da war sie sich nun sicher.
„Was hast du mit ihr gemacht?“ begann Lynn Sakuya anzuschreien und ging einige Schritte auf ihn zu. Er blickte sie nur von oben herab an und war gerade im Begriff sich von ihr abzuwenden, als Lynn ausholte und mit voller Kraft nach ihm schlug. Sie verfehlte ihn und blitzschnell packte er ihr Handgelenk. Mit zwei weiteren Griffen, hatte er sie so schnell zu Boden geworfen, dass sie keuchend im Gras liegen blieb. Sein Knie ruhte auf ihrem Brust Korb. Und doch war sie sich sicher, in seinen Augen Besorgnis erkennen zu können. Zügig trat Lynn nach seinem Standbein und beförderte Sakuya damit zu Boden. Sich auf ihn stürzend, vergaß Lynn alles um sich herum. Sie hatte ein Messer an ihrem rechten Knöchel, aber wollte sie ihn wirklich verletzten? Sakuya packte erneut ihre Handgelenke und beförderte sie von sich hinunter. Der Kampf endete damit, dass sie hustend unter seinem Knie lag, mit dem Gesicht im Gras.
„Hab endlich vertrauen in mich, Linnai.“ Mit einem Schlag, fühlte sich Lynn aus der Realität gerissen und ihr Bewusstsein landete geradewegs auf dem Gelände der VCO.
>>Am Boden zerstört, über den Tod des kleinen Rehs und ihrem langen Gewahrsam in der Kälte zu Strafe für ihren Ungehorsam, lief Lynn den anderen Rekruten, am späten Abend, die Flure zu ihrer Baracke entlang. Es war ein viel zu anstrengender Tag gewesen. Ihre Füße schmerzten vom vielen Rennen und ihr Kampftraining schien nicht sonderlich gut gewesen zu sein, denn ihr Teamleiter hatte sie oft angeschrien. Eigentlich wollte sie nur noch weinen. Den einzigen Trost fand sie in der weichen Jacke, die in ihrer Baracke auf dem Bett lag, und in die sie sich wohlwollend rollte, nachdem sie aus der Dusche gekommen war. Das war alles furchtbar ungerecht. Und Sakuya hatte sie auch schon lange nicht mehr gesehen. Unruhig in den Schlaf gleitend, obwohl das Licht noch nicht abgeschaltet war, schreckte sie durch das Geräusch der Türe hoch. Sakuya stand in ihrer Baracke und deutete ihr, sich die Schuhe anzuziehen. Was auch immer er wollte, sie war froh ihn endlich wieder zu sehen und gerade im Begriff ihm in die Arme zufallen, als er einen Schritt zurück machte und erneut auf ihre Schuhe deutete. Unsicher zog sich Lynn die schweren Stiefel an und Sakuya band ihr hastig die Schnürsenkel. Sie folgte ihm lautlos über den Flur, hinaus auf das Gelände der Basis, in den Wald hinein. Es war dunkel und eisig, aber zum Glück hatte sie die weiche Jacke von Sakuya mitgenommen. Vereinzelte Schneeflocken flogen ihr in die Augen. So weit, war sie noch nie im Wald gewesen. An einer Lichtung kam Sakuya zum stehen und hockte sich in den Schnee, Lynn stumm signalisierend dass sie es ihm gleich tun solle. Einige Zeit verharrte sie stumm an seiner Seite, ehe ihr Blick auf ein großes Reh fiel, welches sich langsam nährte. Mit großen Augen und voller Begeisterung folgten Lynns Augen seinen Bewegungen. Und erst einige Sekunden später, bemerkte Lynn das kleine Rehkitz, dass seiner Mutter schnell folgte und aus der Dunkelheit in die Lichtung trat. Der Mond schien gerade so hell, dass Lynn das seidige braune Fell erkennen konnte. Als Sakuya neben ihr leise mit etwas raschelte, hielten Mutter und Kind einen Augenblickklang inne und blickte die beiden Soldaten neugierig an. Sakuya gab Lynn eine Hand voller Getreide und zeigte ihr, dass sie ihre Hand mit dem Futter nach vorne hin ausstrecken solle. Unsicher gehorchte sie und verweilte einige Zeit in dieser Position. Die Mutter und ihr Kitz nährten sich allmählich zögerlich. Wartend und voller Freude darüber, die Rehe zu sehen, hatte Lynn ihren Atem angehalten, als das große Reh unmittelbar vor ihr stand, und auf sie hinab blickte. Der Atem des Tieres gefror in der eisigen Nachtluft. Es war so still um sie herum. Die einzigen Geräusche gingen von der Mutter und dem Kind aus, unter deren Hufen vereinzelt Äste unter der dicken Schneedecke brachen. Als die weiche Schnauze Lynn Hand berührte, wäre sie am liebsten vor Freude aufgesprungen, aber sie wusste, dass sie die Beiden damit verschreckt hätte. Neugierig schmiegte sich das Rehkitz an seine Mutter, die behutsam aus Lynns kleiner Hand fraß und sie immer wieder dabei ansah. Vorsichtig streckte Lynn ihre andere Hand aus und strich über das weiche Fell der Mutter, die damit kein Problem zu haben schien und nur kurz inne hielt. Es war nicht ganz so weich, wie das Fell von Lynns, mittlerweile totem Reh, aber ähnlich. Es war wild und kannte bestimmt keine Menschen und es ließ sich ausgerechnet von ihr anfassen. Erstaunt und voller Freude blickte Lynn zu Sakuya, der sie lächelnd betrachtete.
Nachdem nichts mehr von dem Getreide übrig war, entfernten sich Mutter und Kind allmählich wieder. Aber immerhin waren sie satt und hatten einander, dachte Lynn friedlich, während sie vom Boden aufstand und Sakuya zurück zu Basis folgte. Ja, heute war ein guter Tag gewesen. Auch wenn das Training anstrengend war, so konnte sie wieder etwas neues entdecken. Ein fremdes Tier, dass ihr vertraut hatte. Und all das hatte sie Sakuya zu verdanken. Nachdem er sie an ihrer Baracke abgesetzt hatte, sah sie ihn noch einen Augenblickklang lächelnd an. Sein markantes Gesicht sah friedlich aus, wie er so zu ihr hinunter sah und sie konnte es sich nicht nehmen lassen, ihn zum Abschied zu umarmen. Er ließ ihre Umarmung einen Augenblickklang zu, strich ihr durch die Haare und ging schließlich stumm.<<
Unsicher darüber wie lange sie weggetreten war, spürte Lynn noch immer das Gewicht, von Sakuyas Knie auf ihrer Wirbelsäule. In ihrer Erinnerung versunken, hatten ihre Hände scheinbar nach Sakuyas Fußgelenk gegriffen, welches ihre Finger fest umschlossen hatten, als wäre es ein Halt in all der Unsicherheit gewesen. Langsam löste sie ihren Griff. Er hatte recht gehabt, sie hatte ihm immer vertrauen können. Aber warum sprach er nicht mit ihr? Warum erzählte er ihr nicht von seinen Plänen mit Yennifer? Sie hörte wie er tief über ihr einatmete und anschließend mit einer Hand behutsam in ihren Nacken griff. Diese Berührung war so vertraut für sie, dass Sakuya spüren konnte, wie sie sich unter seinem Gewicht entspannte. Wie ein Blitz durchzogen sie einzelne Bilder. Es war ein schieres Wirrwarr aus Erinnerungsfetzen, aber nicht ihrer eigenen, sondern denen von Yennifer. War das Sakuya, der das soeben hervorrief? Es war nicht unangenehm und es tat auch nicht weh und plötzlich sah Lynn erneut den Augenblick in der Dusche, wo Yennifer nackt vor Sakuya gestanden hatte. Etwas in ihr wollte es genau so, das konnte sie spüren. Andere Bilder mischen sich in die Szenerie, Bilder aus Gefechten, von Verletzten, Bilder in denen Yennifer kämpfte, in denen sie mit den anderen Soldaten zusammen saß, Bilder von den Trümmern in Valvar, aus denen Lynn sie befreit hatte und plötzlich war da eine Stimme; so klar und tief, als würde sie nicht in diese Erinnerungsfetzen hineingehören: „Yennifer, ich werde dir helfen, du musst nicht zurück, aber du musst mir unbedingt gehorchen.“ Atemlos überkamen Yennifers Empfindungen Lynn. Sie vertraute ihm und ihr war alles recht, Hauptsache sie musste nicht mehr zurück; nie mehr zurück an diesen Ort, zu diesen Menschen, in dieses Leid. Und allmählich verstand Lynn, was Sakuya mit Yennifer gemacht hatte. Oder sie glaubte zumindest es verstehen zu können, denn in diesem Moment, in dem sich Sakuyas Griff in ihrem Nacken festigte, hörte sie die gleiche Stimme in sich. Sein Geist war in ihr, er hatte sich mit ihr verbunden und teilte mit ihr einen Körper. Und noch bevor Lynn mehr erfahren konnte, ließ Sakuya von ihr ab und die Verbindung zu ihm verschwand.
Ungläubig und bei vollem Bewusstsein, rollte sich Lynn auf den Rücken, und sah zu Sakuya hoch, der direkt vor ihr stand und ruhig auf sie hinab blickte. Es bedurfte keiner Worte mehr. Lynn hatte verstanden. Sakuya war in Yennifers Geist eingedrungen, wie auch immer er das angestellt haben mochte, würde sein Geheimnis bleiben, aber sie war sich sicher, dass er nicht zulassen würde, dass Yennifer etwas geschah. Schließlich hatte auch er sie gerettet. Was auch immer Dakons Plan mit ihr gewesen war, Sakuya würde es nicht zulassen. Sie konnte ihm nur noch vertrauen; er würde das richtige tun. Aber eine brennende Frage blieb bestehen: war er je in Lynns Geist eingedrungen? Hatte er sie jemals so beeinflusst? Sie zu seiner Marionette gemacht? Nachdenklich sahen Lynns blaue Augen zu ihm hoch, blinzelnd aufgrund des Regens, der derweil stärker geworden war und Sakuya hatte für einen Augenblick das Gefühl, sich darin zu verlieren, wie sie so vor ihm im Gras lag, ausgeliefert und trotzdem gefährlich. Er spürte ihre Unsicherheit, konnte ihre Frage vermuten und schüttelte langsam den Kopf. Es war zu viel passiert in den Tagen in Efrafar, als dass er ihr seinen Plan hätte mitteilen können. Und dass Renè und Dakon sich einen Vorteil von Yennifers Auslieferung erhofft hatten, konnte er zwar nachvollziehen, hatte sich jedoch dagegen entschieden. Es war zu riskant gewesen, noch jemandem davon zu erzählen. Selbst Yennifer musste im Unklaren bleiben, gebunden an seinen Geist. Jeglicher Auseinandersetzungen und Diskussionen galt es vorzubeugen; sie hatten keine Zeit und keine Kraft für so etwas. Mi`hen und die Hybriden mussten ausgelöscht werden, das hatte oberste Priorität.
Dakons lauter Ruf ließ Lynn wieder hellhörig werden. Sakuya reichte ihr seine Hand und Lynn stand auf, um mit ihm und ihren Antworten zurück kehren zu können.
Unter Carvers stummen Blick kamen sie zurück zu den anderen. Ein beinahe unsichtbares Nicken von Lynn, signalisierte ihm jedoch augenblicklich, dass alles gut werden würde. Yennifer stand stumm neben Dakon. Niemand kam an sie heran und Lynn fragte sie für einen Moment, was sie gerade empfinden würde. Sprach Sakuya gedanklich mit ihr? Gab er ihr Anweisungen? Durchlebte sie Erinnerungen, oder war da einfach nichts? Sah und hörte sie, was Sakuya sah, oder befand sie sich in einem langen Traum? Fest stand jedoch, dass Yennifer, als sie nackt vor ihm gestanden hatte, dies aus freien Stücken getan hatte. Eine innere Leidenschaft, die tief in ihr brannte, wollte ihn. Vermutlich hatte Sakuya daran angeknüpft und so die Kontrolle über ihren Geist gewonnen. Vermutlich würde sie dies, in ihrem vollen Bewusstsein begrüßen. Dass Sakuya sie ebenfalls wollte, schloss Lynn nicht völlig aus. Aber was waren das gerade eben wieder für Gedanken in ihr? Sie verwarf alles und schloss zu Carver und den anderen Männern auf, die ihren Weg durch den Wald, nach Mi`hen fortsetzten. Serah tat es ihr gleich und blickte Lynn fragend an, während sie auf einen kleinen Waldweg abbogen.
„Und?“ harkte sie ungeduldig nach und Lynn blickte einige Sekunden nachdenklich in den Himmel.
„Es wird alles gut gehen, habt nur Vertrauen.“ murmelte sie schließlich leise.
„Sakuya wird das ganze richten, Yennifer wird nichts geschehen.“ unsicher ergänzte sie, ihre zuvor gesagten Worte. Ob die anderen es ihr einfach so abnehmen würden?
Stumm nickte Serah und musterte Carver, der nur stets geradeaus sah. Auf seiner Stirn zeichneten sich deutliche Sorgenfalten ab, und der Regen hatte bereits seine Olivgrüne Jacke durchnässt. Der Weg durch den Wald wurde unebener, und Lynn hatte mühe mit ihren schwarzen Stiefeln durch den Zentimeter dicken Matsch zu kommen.
Kennys Männer stöhnten unter dem beschwerlichen Weg und Lynn fragte sich langsam, ob es nicht klüger wäre, die Nacht zu rasten und ihren Weg im Morgengrauen fort zu setzten. Es Dämmerte bereits, wie Dakon es prophezeit hatte, müssten sie also bald die Stadtgrenze erreicht haben. In Gedanken versunken, hatte Lynn beinahe Dakons Zeichen zum Stopp überhört. Der Regen rann über ihre Wangen und allmählich kamen Zweifel in ihr auf. So lange hatten sie nun in Efrafar ausgeharrt, standen geradewegs einem Kampf gegenüber, und dann? Würden sie anschließend wieder zurück nach Nagoya kehren? Würden Hershel und Rin auf sie warten, würden Kenny und Carver wieder zurück nach Yad Va Shem gehen? Und wie lange würde es dann wieder dauern, bis zum nächsten Kampf?
„Lynn, Sakuya, Carver und Renè, ihr werdet mit mir und Yennifer gehen. Wenn Yennifer übergeben wurde, ziehen wir uns zurück. Ich habe hier einen veralteten Stadtplan. Ich nehme an, die Gebäude am äußeren Stadtrand werden nicht der völligen Zerstörung zum Opfer gefallen sein. Laut Shiori liegt nur der unmittelbare Stadtkern brach. Die Schafschützen werden sich anschließend somit dort positionieren. Lynn, Sakuya, Renè und ich werden zentral angreifen, der Rest von euch wird folgen. Vermeidet den Nahkampf, schießt aus sicherer Distanz. Nehmt alles was ihr bekommen könnt als Feuerschutz und seid auf der Hut; wir haben es hier mit Hybriden zu tun, ein einziger Schuss wird sie nicht außer Gefecht setzten. Wenn wir auf Gefangene stoßen, gilt es sie zuerst in Sicherheit zu bringen. Verletzte werden zurück gelassen, für so etwas haben wir keine Zeit. Jeder Hybride wird sofort eliminiert, wir nehmen keine Geiseln. Hat mich hier jeder verstanden?“ Die letzten Worte hatte Dakon voller Adrenalin geschrien. Es hallte ihm ein Schwall von bestätigenden Stimmen entgegen. Lynn konnte deutlich die Anspannung der Gruppe spüren. Wie in jedem von ihnen das Feuer des bevorstehenden Kampfes brannte.
„Dakon, auch wir haben verstanden.“ meldete sich eine Stimme aus der Dämmerung des Waldes und Shiori trat mit weiteren Soldaten der UEF hervor.
Sie waren viele, vielleicht zu viele. Die Gesichter, in die Lynn blickte, verrieten ihr, dass es sich bei den wenigsten um echte Soldaten handelte. Wie sie ihre Gewehre hielten und wirr herumstanden; sie waren völlig anders als sie, Carver oder Sakuya. Es würde sicherlich reichlich Tote geben und Lynn versuchte den Gedanken daran zu verbannen, dass es einen aus ihrem engsten Kreis treffen könnte. Ein prüfender Blick in Carvers Gesicht, der sein Gewehr entsicherte, verriet ihr seine Routine und Ruhe bei der ganzen Sache. Im Gegensatz zu den anderen, war bei ihm keinerlei Spur der Aufregung zu finden. Auch Sakuya stand konzentriert aber voller Ruhe neben Yennifer und rauchte eine Zigarette. Vermutlich sprach er ihr im Geiste gut zu. Kenny schien seinen Leuten letzte Instruktionen zu geben, denn sie hatten sich um ihn herum versammelt. Sie waren erfahrener, als es die Leute der UEF zu sein schienen, mit denen Shiori gekommen war, aber auch ihnen war die Anspannung deutlich an zu merken.
„Wir werden in einem Kilometer auf die Hauptstraße nach Mi`hen stoßen, dort werden sich unsere Wege trennen. Shiori wird ab da an übernehmen und euch eure Richtung vorgeben. Ein Leuchtsignal wird das Zeichen zum Angriff sein; seht ihr es, geht es endgültig los.“ Dakons Worte über Shioris Befehlsmacht bescherte Lynn eine Gänsehaut. Er hätte das ganze besser Tetsuya übertragen können, er war ebenso vertraut mit allem. Lynn würde im Leben keinen Befehl von Shiori annehmen, gestand sie sich, bei einem Blick in ihre Richtung ein. Wie sie schon wieder da stand, völlige Unsicherheit lag in ihrer Körperhaltung. Ihre Sachen waren in keiner Art und Weise praktisch. Sie trug eine weißte Bluse und darüber eine braune Kapuzenjacke. Was sollte das? Eine weiße Bluse, mitten im Wald? Kopfschüttelnd wandte sich Lynn ab und blickte zu Serah, die neben ihrem Mann stand und besorgt in die Gesichter des Teams blickte. Ja, auch sie war angespannt, aber ihre Augen verrieten die schiere Angst vor dem, was ihnen noch bevorstand. In diesem Augenblick hätte Lynn viel dafür getan, noch einmal Hershels Stimme zu hören. Er hätte ihr sicherlich noch eine Weisheit mit auf den Weg gegeben, oder ein nettes Wort für sie gehabt. Würde sie ihn nochmals wieder sehen?
Ein wenig Abseits der großen Gruppe, hatte sich Lynn auf einen abgeknickten Baumstamm gesetzt und holte aus ihrem Rucksack eine Ampulle Geomas. Sorgfältig zog sie eine Spritze mit der leuchtend blauen Flüssigkeit auf und setzte sie an ihrem schmalen Unterarm an. Ihre pulsierenden Adern pumpten das Geomas langsam durch ihre Venen. Es war beinahe dunkel, und leise Schritte verrieten Lynn, dass Serah sich ihr nährte. Stumm setzte sie sich neben Lynn und betrachtete einige Minuten ihren Unterarm.
„Du fürchtest dich vor dem, was uns bevorsteht, hab ich recht?“ durchbrach Lynn schließlich leise die Stille. Serah nickte und sah zu der Gruppe Männer herüber.
„Es ist immer das gleiche Szenario in meinem Kopf; Was ist, wenn keiner von uns überlebt?“ schnaubend verstaute Lynn die Spritze und das Geomas wieder in ihrem Rucksack und holte zwei Gewehre hervor, um sie ein letztes mal auf ihre einwandfreie Funktionalität zu überprüfen.
„Wir werden überleben, Serah.“ Mehr konnte sie nicht sagen. Verluste mussten immer einkalkuliert werden. Das war normal. Aber so etwas konnte sie nun nicht aussprechen.
„Hast du keine Angst?“ fragte Serah leise und blickte in Lynns strahlend blaue Augen, die von dem Geomas schwach aufblitzten.
„Wenn ich die Angst zulasse, kommt die Unsicherheit, und Unsicherheit bringt Fehler. Ich wurde zum Töten ausgebildet, nicht zum Zweifeln. Auf der Basis hatten wir für so etwas keine Zeit.“ überrascht über ihre eigenen Worte wandte sich Lynn Serah zu und musterte ihr nachdenkliches Gesicht einen Augenblickklang. Entgegen ihrer Erwartungen, dass ihre Worte Serah nur noch mehr zum Zweifeln bringen würde, stand sie jedoch entschlossen auf und sagte:
„Du hast recht. Wir sind in diesem Krieg so weit gekommen. Es geht nicht um den Einzelnen, sondern um drei ganze Welten.“ Zustimmend stand auch Lynn auf und folgte Serah erleichtert zu der Gruppe zurück.
„Hey, pass auf dich auf.“ Liebevoll hatte Tetsuya eine Hand auf Lynns Schulter gelegt und sah sie mühevoll lächelnd an. Sie nickte stumm, dankbar für diese Geste. Die Gruppe war wieder in Bewegung gekommen und Lynn folgte ihnen, mit zwei geschulterten Gewehren. Noch ein Kilometer, dann hätten sie die Stadtgrenze erreicht.
„Wir gehen, unser Informant wartet im Zentrum. Wenn ihr das Leuchtsignal am Himmel seht, kann es losgehen.“ Wiederholte Dakon nochmals seine Anweisungen, jedoch in einem leiseren Ton als zuvor. Niemand sagte mehr etwas, alle schwiegen konzentriert und machte sich auf den Weg, in die zuvor von Shiori erteilte Richtung.
Lagerhallen und zerbombte Fahrzeuge, säumten die weitläufigen Straßen. Mi`hen lag eingebettet zwischen einem Steinbruch und dem Schutz des Waldes. Die übrig gebliebenen Häuser waren zum teil eingestürzt, durchbrochen wurde das Bild immer wieder von Strommasten, die auf den zertrümmerten Straßen, wie Mikadostäbe lagen. Die Dunkelheit hatte sie gesamte Stadt eingenommen. Mi`hen schien kleiner als Yevon, aber das Ausmaß der Zerstörung schien hier wesentlich drastischer. Immer wieder stieß die Gruppe um Dakon auf technische Einzelteile von Hybriden, zwischen menschlichen Überresten. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, die Leichen zu bestatten, aber schließlich war die Stadt auch noch immer besetzt.
Lynn konnte erkennen, wie Dakon die Signalpistole fest umklammerte. Bereits seit einer halben Stunde, folgten sie den Überresten einer Straße, immer weiter in den Stadtkern hinein. Die Gebäude wiesen immer mehr Spüren der Zerstörung auf und Lynn hatte Probleme sich auszumalen, dass hier tatsächlich mal das Leben in den Straßen pulsiert haben könnte. Vorbei an zerbombten Restaurants, demolierten Tankstellen und bis in ihre Grundfeste zerstörte Häuser, führte sie ihr Weg geradewegs auf die einzige Lichtquelle der Stadt zu. Helle Scheinwerfer ließen einige Soldaten erkennen, die sich langsam auf sie zu bewegten.
„Es geht los... .“ sagte Dakon angespannt und nahm sein Gewehr in Anschlag. Die Gruppe, die aus fünf Soldaten bestand und sich ihnen nährte, war ebenfalls mit Waffen ausgerüstet und schien jeden Moment einen Angriff parat zu haben. Bei einem Blick zu den umliegenden Gebäuden, bemerkte Lynn reichlich Scharfschützen.
„Wer von euch ist Dakon?“ Rief ein braunhaariger Mann, der mit seinem Gefolge einige Meter entfernt zum stehen gekommen war.
„Ich. Wir haben eure Kameradin dabei. Nehmt sie und wir verschwinden direkt wieder.“ Antwortete er und Lynn bemerkte die Standhaftigkeit in seiner Stimme. Ein Blick zu Sakuya, verriet ihr, dass er sich stark konzentrierte. Vermutlich verfestigte er das Band zu Yennifers Geiste nochmals und ihr kam die Frage in den Sinn, über welche Distanz seine Verbindung zu ihr wohl halten würde.
„Ihr seid eingekreist, macht keine Dummheiten und verlasst die Stadt sofort.“ Rief der braunhaarige Soldat und deutete auf die Scharfschützen in den umliegenden Gebäuden.
„Geh.“ Sakuyas dunkle Stimme zerriss die seit wenigen Sekunden andauernde Stille, und sofort setzte sich Yennifer mit gesenktem Kopf in Bewegung.
„Kommt näher an mich heran.“ befahl Sakuya schließlich leise und sah konzentriert zu Dakon hinüber, der seinen Blick wartend erwiderte.
„Tu es, Dakon!“
Gerade noch konnte Lynn sehen, wie Dakon eine technische Apparatur in der Größe eines Mobiltelefons aus seiner Jackentasche hervorholte und etwas darauf eingab. Eine Druckwelle ließ Lynn das Gleichgewicht verlieren und sie kniff benommen die Augen zusammen. Alles um sie herum wurde in ein gleißend helles Licht getaucht. Das Glas der Scheinwerfer, die an den Überresten der Häuser angebracht waren, zersprang mit einem Mal. Intakte Autoscheiben der Fahrzeugwracks gingen zu Bruch, die Schockwelle riss beinahe alles mit sich. Und dann hörte Lynn das bekannte Geräusch einer Signalpistole.
Als sie ihre Augen wieder öffnete, war es dunkel und Stille lag über der gesamten Stadt. Keuchend nahm sie ihre ursprüngliche Position neben den anderen ein, die ebenfalls in die Knie gezwungen worden waren, nur Sakuya stand aufrecht vor ihnen, wartend, mit seiner Waffe und Dakons Signalpistole im Anschlag. Nicht sicher, was gerade geschehen war, starrte Lynn in seine Augen, deren Grün sich langsam zurück zu dem vertrauten Blau färbten. Was auch immer gerade geschehen war, niemand hatte geschossen, und dennoch lagen die Männer samt Yennifer in einigen Metern Entfernung, leblos auf der Straße.
„Komm zu mir.“ Schloss Sakuya das soeben Geschehende ab und Lynn beobachtete fassungslos, wie sich Yennifer wackelig und unsicher, auf der anderen Seite erhob. Sie hatte einige Schrammen im Gesicht, aber ihr vertrauter Blick war nicht mehr der, einer willenlosen Marionette.
„Dakon...“ entwich es Renè, als er seinen Freund, etwas abseits liegen sah. Er bewegte sich nicht mehr.
Carver blickte zu Lynn, die ihn ebenso fassungslos ansah.
„Was hast du getan! Das war nicht der Plan! Warum lebt sie noch und warum, lag der Schutzschild nicht um Dakon!“ Renè verfiel in Geschrei und stürmte auf Sakuya zu, Yennifer hatte ihn jedoch bereits erreicht und kam ihm zuvor, um ihn festzuhalten.
„Bring ihn weg von hier, er wird es überleben!“ ihrer Stimme klang Zorn bei und Renè ging erschrocken einige Schritte zurück um Dakon aufzuhelfen. Stöhnend entfernten sich die beiden Männer in ein naheliegendes Gebäude.
„Was war das gerade?“ fragte Lynn verunsichert und sah zu Sakuya auf, der sich konzentriert umsah.
„Etwas, dass unter uns bleiben wird.“ antwortete er ihr kühl. Lynns Blick glitt zu Yennifer, die sie nur erleichtert ansah.
„Puh, das war ein langer und seltsamer Traum...“ brach es aus ihr heraus, aber noch bevor Lynn ihr antworten konnte, unterbrach sie Carver: „Die anderen kommen, es geht los!“
Erste Schüsse waren zu hören, aus allen Richtungen der Stadt. Ein letztes mal versicherte sich Lynn, über den geladenen Zustand ihres Gewehres, ehe sie Carver und Yennifer folgte.
„Pass gut auf dich auf!“ Carver hatte Lynn zurückgehalten, als sie gerade hinter einem umgekippten Autowrack Schutz suchen wollte. Ihre Blicke trafen sich und voller Entschlossenheit nickte Lynn: „Du auch.“ erwiderte sie leise, während die Schüsse um sie herum immer näher zu kommen schienen. Sie hatte das Gefühl sich nur schwer von Carvers vertrauten Augen lösen zu können. Er war wie sie ein Soldat der VCO, ihm würde sicher nichts geschehen, aber mit einem male spürte sie eine unglaubliche Angst in sich hochkommen. Was wäre, wenn sie ihn nie mehr wieder sehen würde? Und als hätte er ihre Gedanken erraten, fasste er ihr sanft an den Hals, beugte sich zu ihr hinab und gab ihr einen liebevollen Kuss auf die Stirn. Verwundert und unter Sakuyas wachsamen Blick, der in wenigen Metern Entfernung, in einem Hauseingang in Deckung gegangen war, blickte Lynn Carver stumm an, eher er sich auf den Weg in die Dunkelheit machte und Lynn noch einige Sekunden unbewegt vor dem Wrack verharrte, ehe auch sie in Deckung ging. Lynn war sich sicher; Sakuya war für die Druckwelle und die gefallenen Hybriden verantwortlich gewesen. Aber anhand von Renès Reaktion, war der Plan wohl kaum so abgesprochen gewesen. Aufgrund der Tatsache, dass sie und die anderen unverletzt geblieben waren, machte die Annahme, Sakuya hatte ein Schutzschild um ihr Team errichtet, definitiv Sinn. Scheinbar hatte er Dakon darin nicht integriert, was seine Verletzungen zu folge hatte. Sehr wohl, hatte Sakuya aber Yennifer geschützt, wie er es ihr versprochen hatte. Dakon hatte also allem Anschein nach, mit Yennifers Tod durch die Druckwelle gerechnet.
Die ersten Hybriden waren aufgetaucht und suchten mit Taschenlampen, wachsam und still die Umgebung ab. Sie schienen der Stille nicht zu trauen und als der erste Schuss aus Sakuyas Waffe fiel, schien alles außer Kontrolle zu geraten. Ein Hagel aus unterschiedlichsten Geschossen durchsiebte nach und nach die Umgebung. Aus dem Augenwinkel sah Lynn, dass Renè und Dakon angerannt kamen und Schutz in einem Geschäft suchten; Dakon schien wieder auf den Beinen zu sein, dass war für den Kampf nur positiv. Noch einige Augenblicke hielt Lynn inne, ehe sie ihre Deckung verließ und inmitten der Hybriden stürmte, ausgerüstet mit ihrem Messer, gewillt jeden von ihnen ohne Rücksicht auf Verluste zu töten. Wie Butter glitt ihr Messer durch die Körper der feindlichen Soldaten und einer nach dem anderen, ging durch ihr Geschickt und ihre Schnelligkeit zu Boden. Erleichtert stellte Lynn fest, dass ein Schnitt in ihrem Nacken, wo der SND der Hybriden saß, sie beinahe sofort außer Gefecht setzte. Es bedurfte nur einem weiteren Schuss in ihren Brustkorb und prompt blieben ihre Körper regungslos und blutend auf dem Boden liegen.
„Lynn!“ Es war Serahs Stimme, die sie hörte. Blitzschnell wirbelte sie herum und folgte Serahs deutende Geste zu dem Laden, in dem Renè und Dakon verschwunden waren. Eine ganze Gruppe von Hybriden war damit beschäftigt, die vermutlich von innen verbarrikadierte Türe zu stürmen. Ohne zu zögern, änderte Lynn ihre Richtung und stürzte sich in das Geschehen. Nach nur wenigen Sekunden, stand kein Mann mehr aufrecht. Erleichtert kam Serah angerannt, die sich zeitgleich mit einem einzelnen Hybriden herumgeschlagen hatte und sichtlich außer Atem war.
„Geht es dir gut?“ fragte Lynn, während die beiden Frauen die Türe aufbrachen und Dakon und Renè zu sich heraus wanken. Serah nickte atemlos und schnürte zugleich ihre Kugelsichere Weste enger.
„Was ist mit Yennifer?“ fragte sie aufgeregt und Lynn nickte hektisch, während sie das Magazin ihres Gewehres lud.
„Es geht ihr gut.“ erwiderte sie knapp und verschwand in einer kleinen Gasse. Der Regen war stärker geworden und zu der Dunkelheit kamen immer wieder aufflammende Blitze von Blendgranaten, die eine der Parteien zu verwenden schien. Lynn kletterte, nachdem sie sich zweier Hybriden entledigt hatte, geradewegs über einige Container und kam in einer weiteren Straßengasse aus. Ihre zielsicheren und schnellen Schritte führte sie an einigen Hinterhöfen vorbei, geradewegs auf ein ausgebranntes Hotel zu. Sie war sich sicher, Schreie gehört zu haben. Nach einer eingehenden Inspektion der Umgebung, fühlte sich Lynn sicher und begab sich zum Hintereingang des Hotels. Da war es wieder; sie war sich diesmal ganz sicher Schreie und Rufe zu hören. Mit einem kräftigen Hieb trat sie die schwere Eisentür zum Keller auf. Zu ihrer Überraschung warteten bereits zwei bewaffnete Hybriden dahinter auf sie, und ein unerwarteter Schuss, traf sie direkt in die Schulter. Unbehelligt davon, betätigte Lynn mehrmals den Abzug ihres Gewehres. Nach wenigen Sekunden herrschte schließlich Stille, und die beiden Männer lagen reglos vor ihr, auf dem Boden. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und folgte einer Treppe, die weiter in den Keller führte. Ein metallisches, regelmäßiges Klopfen ließ sie wieder hellhörig werden und führte sie vorbei an etlichen Heizungsanlagen. Am Ende des dunklen Kellerganges, konnte sie dann, unmittelbar hinter einer weiteren Tür, die verzweifelten Rufe hören. Zwei Schüsse auf das Schloss in der Tür, ebneten ihr den Weg. In einem weiteren Heizungsraum schließlich, blickte sie auf zwei Frauen, die sie mit weit aufgerissenen Augen anblickten und deren Schreie prompt verstummt waren.
„Keine Angst, ich helfe euch.“ ungläubig blickten die Frauen einander an, während Lynn einer von ihnen eine Pistole gab und der anderen ihr Gewehr. Ihr selbst blieb das Messer, welches sie stets bei sich trug. Vermutlich waren die beiden Frauen Gefangene, Bewohner Efrafars. Stumm und zügig folgten sie Lynn den Weg zurück durch die vielen Gänge. Die Luft war schwül und stickig und Lynn wischte sich angestrengt den Schweiß von der Stirn, als sie endlich dem Ausgang nahe waren. Hinter einer Ecke hielt sie kurz inne und überzeugte sich davon, dass der Ausgang sicher und frei von Hybriden sein würde. Schnellen Schrittes verließ sie mit den beiden Frauen das Hotel, bedacht, nur geschützte Wege zu nehmen und nicht ungeschütztes Terrain zu betreten. Im Schutze der steinernen Wände der langen Gassen, trafen sie schließlich auf Yennifer, die Lynn entschlossen und mit blutverschmiertem Gesicht ansah:
„Bring die beiden in das Restaurant, an der nächsten Ecke. Carver und Sakuya haben bereits weitere Zivilisten dort hingebracht.“ Stumm nickte Lynn und folgte Yennifers Anweisung. Blitzschnell huschte sie mit den Frauen durch die Türe, die Sakuya ihnen bereits geöffnet hatte. Im inneren angekommen herrschte ein Schwall von Stimmen und weinenden Lauten. Es waren dutzende Menschen die dort saßen, ihre Wunden versorgten und sich mit Waffen ausrüsteten.
„Diana?“ Es war Carvers ungläubige Stimme, die Lynn wieder in die Realität zurück finden ließ.
„Carver...“ Eine der Frauen, die Lynn mit sich gebracht hatte, senkte ihre Waffe und lief ungläubig auf Carver zu, der sie fassungslos anblickte.
„Du bist es....“ stotterte sie heiser und fiel ihm in die Arme. Sofort konnte Lynn seinem Gesicht die Fassungslosigkeit ablesen, mit der er die Schwester seiner toten Freundin in die Arme schloss. Was auch immer ihm gerade alles durch den Kopf ging, er hatte sie endlich gefunden, aber das schlimmste, den Tod von Elaìne erklären zu müssen, würde ihm nach dieser Nacht noch bevorstehen.
„Diana...“ sagte er rau und löste sich von ihr.
„Ich muss weiter machen.“ entschlossen ließ er sie zurück und verließ das kleine Restaurant prompt. Lynn erhielt ihr Gewehr von der anderen Frau wieder, beachtete sie kaum und folgte Carver zurück auf die Straßen der Stadt.
Sie sah gerade eben noch, wie er sich dreier Hybriden durch einige gezielte Schüsse entledigte, ehe er in der Dunkelheit verschwunden war.
Eine schwere Erschütterung brachte den Boden zum Beben und Lynn hielt in einer Gasse kurz inne, um zum Himmel zu sehen. Entweder war Verstärkung der Hybriden eingetroffen, oder einer von ihnen hatte ein gewaltiges Geschoss gezündet, was beinahe die gesamte Oststadt zum erliegen brachte. Zwischen Rauchsäulen und vereinzelten Feuern, kämpfte sich Lynn weiter durch, in Richtung Süden. Sie begegnete Tetsuyas wachsamen Augen, der zusammen mit Kenny, seinen Platz in den oberen Stockwerken einer Eisdiele eingenommen hatte und konzentriert auf alles Schoss, was sich als feindlich erwies. In ihrem Feuerschutz arbeitete Lynn sich vorbei an einigen unbesetzten Wachposten, die die Hybriden innerhalb der Stadt errichtet hatten. Die Spuren der Verwüstung nahmen zu und Lynn fand sich in einem blutigen Massengrab voller Hybriden wieder, die zu einem Haufen aufgeschichtet worden waren. >>Das kann nur Sakuya gewesen sein...<< redete sie sich stumm ein und folgte den Spuren. Unterwegs traf sie einige erschöpfte Männer aus Shioris und Kennys Team, die apathisch Schutz suchten und sich kaum noch auf den Beinen halten konnten. Unmittelbare Schreie aus einer anliegenden Straße, ließen sie das Gesehene wieder verdrängen und sie folgte den bedrohlichen Geräuschen schnellen Schrittes.
Gerade noch sah sie, wie ein Hybrider auf Shiori schoss, Lynn entdeckte und daraufhin das weite suchte. Hilflos klammerte sich Shiori mit letzter Kraft an ein leeres Benzinfass und sackte zusammen. Ihr Schulterhalfter war blutdurchtränkt. Ungläubig blickte sie Lynn entgegen, die ihr wieder auf die Beine half.
„Lynn... lass mich hier. Verletzte werden zurück gelassen...“ stotterte sie kraftlos und hielt sich die blutende Schusswunde an ihrem Bauch.
„Sei still.“ Befahl ihr Lynn und zog sie mit sich, zurück über die Straße, durch die sie gekommen war, zum letzten Punkt, an dem sie Kenny und Tetsuya gesehen hatte. Bereits aus der Ferne, sah sie wie Kenny über die Straße gerannt kam.
„Ich nehme sie, mach du weiter!“ Schrie er ihr entgegen und Lynn entledigte sich der bewusstlosen Shiori um zu ihrer Fundstelle zurück zu gelangen.
In ihrer reinen Funktionalität spürte Lynn plötzlich die eigenartige Berührung von Sakuyas Geist. Rief er etwa nach ihr? Wollte er vielleicht sicher gehen, dass sie noch lebte? Versuchte er durch sie zu sehen und die Lage besser einschätzen zu können? Verwundert blieb Lynn wie angewurzelt im Schutze einer Gasse stehen und hielt inne. Kalt und deutlich konnte sie seine Stimme hören:
>> Komm zurück Lynn, du bist zu weit entfernt.<< Er klang mahnend in ihren Ohren und blitzschnell schlug sie eine andere Richtung ein. Eine erneute Erschütterung ließ den Boden unter ihren Füßen erzittern. Wieder konnte sie die Quelle dieser Erschütterung nicht ausmachen. Ein schmerzhaftes Ziehen durchfuhr sie, während sie in den nächtlichen Himmel blickte, und anschließend von dem brennenden Schmerz zu Boden gerissen wurde. Keuchend drehte sie sich auf den Rücken, um ihren Angreifer erspähen zu können, natürlich mit ihrem Gewehrt im Anschlag, und blickte in seltsam vertraute braune Augen. Sie kannte diesen stabilen Soldaten, der da gerade auf sie zugestürzt kam, und rollte sich weg, als er mit einem Messer auf sie losging. Der harte und nasse Asphalt machte ihr Körpergefühl nicht besser und voller Adrenalin sprang sie wieder auf und stürzte sich auf den Mann. Sie brauchte fünf Schläge, um ihn endlich an einer angrenzenden Haustüre zusammen sacken zu sehen. Keuchend suchte sein Blick ihren und plötzlich fiel ihr der Name des Mannes wieder ein: es war Cade! Sie kannte ihn von der Basis der VCO, als sie noch dort war. Cade, der sie nach einer anderen Rekrutin, Saya gefragt hatte.
„Linnai, was soll das? Warum stellst du dich gegen uns?“ keuchend hatte er seinen Satz formuliert und immer wieder stockte er. Wie paralysiert hob Lynn ihr Gewehr und schoss ihm, ohne lange zu überlegen ins Bein. Was auch immer er zu sagen hatte, er stand auf der falschen Seite, nicht sie! Sein dumpfer Schrei hallte einige Sekunden durch die leere Gasse.
„Warum tust du das? Warum verrätst du die VCO?“ stöhnte er und presste seine Hände auf die blutige Wunde an seinem Bein, während er sie mit Schmerz verzehrtem Gesicht ansah.
„Es sind beinahe fünf Jahre vergangen, seit du weg bist... erinnerst du dich etwa nicht mehr?“ Lynn verfiel in ihren alten Zustand, den sie bereits auf der Basis an den Tag legte, wenn die reine Funktionalität über sie die Macht ergriff. Kein Wort verließ mehr ihre Lippen. Bedrohlich und mit ihrem Blick voller Kälte, nährte sie sich Cade und sah ausdruckslos zu ihm hinab, in sein von Schweiß und vor Regen glänzendes Gesicht. Wie ein Raubtier hatte sich sich vor ihm aufgebaut. Gefühlskalt und Unbarmherzig setzte sie ihr Gewehr an, als Cade zu erstarren schien, und seinen Blick auf etwas, hinter sie richtete.
„...das ist nicht wahr... Sakuya Kira...“ seine Laute waren kaum noch hörbar, beinahe flüsternd und Lynn spürte eine Präsenz hinter ihrem Rücken.
„Cade... entscheide dich für eine Seite, oder stirb.“ Sakuyas Stimme klang rau und fühlte sich für den Soldaten ebenso unbarmherzig wie Lynns kalter Blick an.
„Wir sind alle gleich... wir wollen doch alle nur Leben.“ begann Cade leise zu betteln, aber ehe er sein letztes Wort zu ende Formuliert hatte, durchtrat eine von Sakuyas Kugeln bereits seinen Brustkorb und ließ ihn schweigen zusammensacken. Ohne einen weiteren Gedanken an ihren ehemaligen Kameraden, folgte Lynn Sakuya.
Allmählich fühlte sie sich unbesiegbar. Sie rannte an Sakuyas Seite stumm durch die Nacht. Nein, zwischen ihnen bedurfte es keiner Worte. Sie kannten einander so gut, dass sie sich blind vertrauen konnten. Ein Blick von Sakuya, zu einer anliegenden Feuerleiter, versicherte Lynn, dass sie aus den oberen Stockwerken operieren sollte. Zielstrebig erklimmte sie über eine Mülltonne die Leiter und begab sich auf das in Trümmern liegende Dach. Blitzschnell begab sie sich in eine Position, aus der sie ungehinderte Sicht auf Sakuyas Weg hatte und Schütze ihn, Schuss für Schuss, vor den Hybriden. Er bewegte sich zwischen ihnen, als hätte er nie etwas anderes getan.
Konzentriert und mit beinahe krankhafter Akribie hielt Lynn ihr Gewehr im Anschlag, als sie ein heftiger Ruck zurück riss. Sofort reagierend trat Lynn ihrem Angreifer gegen das Schienbein und beförderte ihn damit zu Boden. Heisere Schreie gab der Soldat von sich, als sich Lynn rittlings auf ihn warf und ihr Messer an seinem Nacken ansetzte. Voller Todesangst bekam er ihren Nacken zu fassen und warf sie von sich, auf ihr zum sitzen kommend:
„Du hast dich für die falsche Seite entscheiden.“ keuchte er über ihr und sah in ihre tiefgrünen Augen. „Ich weiß wer du bist und ich weiß, dass Sakuya Kira dich unter seine Fittiche hat, aber das werde ich jetzt endgültig zerstören! Bedanke dich bei Negan!“ Er schrie aus vollem Halse, schlug Lynn mehrmals ins Gesicht und ergriff anschließend ihr Messer. Mit drei Stichen rammte er es in ihre Lendengegend. Lynns Schreie durchfuhren die Nacht, aber niemand konnte sie hören.
Während Sakuya sich mit einem dutzend Hybrider herumschlug, durchfuhr in augenblicklich ein stechender Schmerz, der ihn in die Knie zwang. Sofort realisierte er, dass dieser Schmerz von Lynn kommen musste. Ihm wurde schwarz vor Augen und für einen Augenblick war er in dem Glauben, seinen Körper zu verlieren, ehe sein Bewusstsein zurück kehrte und er mühevoll aufstand. Etwas musste geschehen sein, die Hybriden, denen er soeben noch gegenüber gestanden hatte, lagen bewusstlos auf der Straße. Keine Schusslöcher oder Verletzungen zierten ihre Körper. Sein Geist hatte sich mal wieder verselbstständigt. Etwas was er stets kontrollieren musste, aber nie wirklich im Griff hatte. Was auch immer Negan sich bei seinem SND gedacht hatte, er war der einzige seiner Art und doch konnte er, nach all den Jahren, seine Fähigkeiten noch immer nicht kontrollieren. Innehaltend konzentrierte Sakuya seine Gedanken.
„Sakuya, Komm da weg!“ Yennifers Stimme riss seine Gedanken entzwei, und ehe er reagieren konnte, folgte ein Schuss. Stumm und mit leerem Blick fiel Yennifer in einigen Metern Entfernung zu Boden. Jemand hatte sie getroffen, die klaffende Wunde in ihrer Brust war nicht mehr zu übersehen. Sie atmete nicht mehr. Von ihrem Angreifer war keinerlei Spur zu finden. Die Verbindung zu Lynn war verschwunden. Keine Anzeichen von ihrem Geiste, konnte Sakuya mehr erreichen. Es war, als wäre da ein schwarzes Loch.
Wieder bei Bewusstsein öffnete Lynn schwerfällig ihre Augen. Da war nichts, nur tiefe Schwärze. Ja, die Schwärze des Himmels. Der nächtliche Himmel; sie lebte. Unter Schmerzen rollte sie sich auf die Seite und fand die blutigen Eingeweide eines Hybriden direkt neben sich. Sie musste weg von diesem Ort, sofort. Aber unten, auf den Straßen der Stadt, war es zu gefährlich. Sie war so schwer verletzt, dass sie ein zu leichtes Ziel bildete. Mit letzter Kraft richtete sie sich auf. Ihre Jeans war blutverschmiert, sie spürte die tiefen Wunden der Schüsse und des Messers am ganzen Körper. Kurz vor dem Abstieg der Feuerleiter, brach sie zusammen. Ihr glasiger Blick folgte den zertrümmerten Gebäuden, die um sie herum lagen. Blinzelnd rollte sie sich auf den Rücken und starrte in den verregneten, nächtlichen Himmel. Die Schüsse und Rufe dauerten noch immer an.
Vereinzelte Sonnenstrahlen kitzelten auf Lynns Wangen. Nachdem sie erschrocken ihre Augen geöffnet hatte, konnte sie feststellen, dass die Sonnenstrahlen direkt durch eines der Fenster in Hershels Labor, in ihr Gesicht fielen. Stumm und wie aus einem Alptraum erwacht richtete sie sich langsam auf und sah an sich hinab. Sie trug eine blutverschmierte Jeans, dunkle, schwere Stiefel und eine schwarze Jacke, deren reichliche Kampfspuren deutlich den Stoff hatten leiden lassen. Unsicher verließ sie die Bahre, auf der sie gelegen hatte. Bei näherem Umsehen war sie sich schließlich sicher: es war Hershels Labor auf der Basis der VCO in Valvar.
Wie war sie an diesen Ort gelangt? Eine vertraute Stimme, im Hauptraum, ließ sie beinahe erstarren; es war Negan. Bei dem Versuch ihre Waffe zu ziehen, musste Lynn jedoch feststellen, dass man sie ihr weggenommen hatte. Unsicher verharrte sie einige Minuten hinter einem Wassertank, ehe sie sich sicher war, dass Negan gegangen war. Vorsichtig aus ihrem Versteck tretend, sah sie Hershel und Sakuya, am anderen Ende des Labors, vor einer Bahre stehen. Darauf lag ein Körper, wessen war nicht zu sehen; man hatte ein weißes Tuch darüber geworfen. >>Was geht hier vor sich...?<< Im glauben, ihre Gedanken würden ihr einen Streich spielen, nährte sich Lynn den dreien. Sakuya und Hershel waren in ein besorgtes Gespräch vertieft und nahmen keinerlei Kenntnis von Lynn`s Besuch. Zu ihrer Überraschung trug Hershel den selben Kittel, wie bereits vor Jahren. Und Sakuya die alte, liebgewonnene Uniform der VCO.
„Es ist nicht deine Schuld, hörst du denn nicht was ich sage?“ brüllte Hershel, aber Sakuya hatte sich von ihm abgewandt und starrte stumm auf die Bahre.
„Sie wird nicht wieder die selbe sein, wenn sie aufwacht. Die Söldner haben ihr den SND herausgeschnitten. Eine fürchterliche Tortur muss das gewesen sein. Aber mit einigen Modifikationen kann ich ihr einen neuen einsetzten, verstehst du, was ich dir sage Sakuya?“ Hershels Stimme klang eindringlicher als je zuvor. Kopfschüttelnd sah ihn Sakuya wieder an: „Wenn ich nicht so achtlos agiert hätte; wenn wir uns nicht gestritten hätten, wäre das alles nicht geschehen.“
„Hör endlich auf, dir die Schuld daran zu geben. Du hast getan was du konntest. Auch wenn das, was von ihr noch übrig ist, für Negan nicht mehr von Gebrauch sein wird.“ Ein lautes Poltern ließ Lynn zusammen zucken. Eine tiefe Delle zierte einen von Hershels Schränken. Mit voller Wucht hatte Sakuya dagegen geschlagen.
„Sprich nicht von ihr, wie von einem Gegenstand, hast du mich verstanden?“ Resignation zeichnete sich in Hershels altem Gesicht ab.
„Lass mich sehen was ich tun kann...“ beendete der alte Mann schließlich das Gespräch und Lynn`s Neugierde bewegte sie dazu, noch näher an die beiden heran zu gehen.
„Sakuya...?“ unsicher fragend und seinen Blick suchend ging sie näher an ihn heran. Unmittelbar vor ihm hielt sie inne. Aber Sakuya schien durch sie hindurch zu sehen. Adrenalin strömte durch Lynns Körper, sie fürchtete sich vor dem Anblick des Körpers, der unter dem großen Tuch auf der Bahre lag. Hershel hatte danach gegriffen und zog es nun behutsam weg. Es war Lynn selbst, die sich in diesem Moment dort liegen sah. Ihr Gesicht von etlichen Verletzungen kaum erkenntlich. Blutergüsse an ihrem ganzen Körper, Schnittwunden, Male von Fesseln an allen Gliedmaßen.
Bedauernd sah Hershel von dem Körper auf, Sakuya an: „Du solltest das nicht mit ansehen müssen, Junge. Wenn ich meine Untersuchungen abgeschlossen habe, Informiere ich dich selbstverständlich.“ Unsicher nickend wandte sich Sakuya ab und verließ stumm das Labor. Taub vor Entsetzten beobachtete Lynn noch immer die Situation, ehe Hershel weinend über ihrem Körper zusammensackte und immer wieder unverständlich „Verzeih mir...“ flüsterte.
Eiskaltes Wasser ergoss sich über Lynns Kopf und in der Panik ertrinken zu müssen, war sie im Begriff schützend ihre Hände vor ihr Gesicht zu halten, aber sie hatte keinerlei Kontrolle mehr darüber. Sich in einem Todeskampf windend endete der Alptraum abrupt, nachdem ihr jemand einen nassen Lappen aus dem Gesicht genommen hatte und einen Metall Eimer, gefüllt mit Wasser zurück auf den Boden stellte. Es war der Moment in dem sie erkannte, dass sie sich selbst erneut sah. Innehaltend blickte sie auf das junge, braunhaarige Mädchen, dass in einer dunklen Zelle, an einen Stuhl gefesselt war. Erneut konnte scheinbar niemand anderes von ihr Notiz nehmen und so lief sie ungläubig an zwei Soldaten vorbei, die gerade dabei waren, ein Brenneisen über einen Bunsenbrenner zu erhitzen. Der Boden war sandig. War sie etwa in der Wüste?
Der glasige und leere Blick des Mädchens gipfelte apathisch an der Backsteinwand über der Zellentüre.
„Wir machen weiter. Sie wird schon noch sprechen.“ entschlossen riss ein weiterer Soldat das Shirt des Mädchens kaputt. Darunter sah ihre Haut, im Gegensatz zu der an Armen und Hals, noch makellos aus.
„Sir, wir versuchen es bereits seit einer Woche. Seit sie hier ist, hat sie nicht ein Wort gesprochen.“ ermahnte ihn einer der Männer mit dem Brenneisen. Die Gesichter der Männer waren in der Dunkelheit, die nur durch eine schwache Lampe, verstaubt und verdreckt oberhalb der Türe, kaum zu erkennen.
„Wir werden sie schon noch zum reden bringen...“ murrte der Mann, der das Brenneisen an sich nahm und sich dem Mädchen zuwandte.
„Ich frage dich jetzt noch mal: Wie lauten die Koordinaten der Basis?“ Das Mädchen schwieg. In der Leere ihres Blickes hatte sich nichts verändert. Das rot-glühende Eisen an ihren Bauch heranführend, beobachtete der Soldat sie noch einen Augenblick lang abwartend, ehe er zudrückte. Ein entsetzliches Zischen war zu hören. Der Geruch von verbranntem Fleisch brachte einen der umstehenden Männer dazu, sich in den Eimer zu übergeben. Das Mädchen jedoch blieb unter lautlosem Keuchen stumm.
Wie durch Zeit und Raum katapultiert, fand Lynn sich schließlich an der Universität in Nagoya wieder. Der Campus lag in absoluter Stille und Dunkelheit, die nur vereinzelt von den Laternen der Wege erleuchtet wurde. Die Sonne war bereits untergegangen und der Himmel schier wolkenlos. Verwirrt lief Lynn die schmalen Wege entlang, zum Eingang der Bibliothek und anschließend die Treppe zum Keller hinunter nehmend. Die Tür zu Hershels Labor in der Universität stand einen Spalt offen und unsicher betrat sie den riesigen Raum. Von der kleinen Treppe hinabblickend, auf Hershels technische Armaturen und Rins Computern und Funkgeräten, konnte sie den Geruch von etwas Gebackenem wahrnehmen.
Der Timer der Funkstation verriet ihr, dass der letzte Funkkontakt, zu wem auch immer, vor etwa vier Stunden zustande gekommen sein musste.
Es war still und Lynn sah sich weiter um. Es war beinahe alles so, wie sie das Labor verlassen hatten, vor ihrem Einsatz in Efrafar. Jemand hatte aufgeräumt, aber ansonsten sah alles unverändert aus.
>>Träume ich? Was soll das alles...<< Gerade als Lynn sich einigen Karten neben Rins Platz widmen wollte, ließ ein ohrenbetäubendes Poltern sie aufschrecken und herumfahren.
„Linnai...“ Hershel starrte sie voller Entsetzten an, ein großes Tablett mit Operationsutensilien lag, fallen gelassen, neben seinen Füßen.
„Du...du müsstest in Mi`hen sein... was tust du hier?“ Unsicher darüber, ob seine alten Augen ihm nicht einen Streich spielten, ging er einige unsichere Schritte auf Lynn zu, die ihn wie gebannt anstarrte:
„Hershel, was geschieht mit mir?“ stotterte sie unsicher, als Hershels seine Hand nach ihr ausstreckte und ihr gesamter Körper zu Flimmern begann.
„Also, ich nehme an, und das ist nur eine Theorie, dass dein Geist dich, aus einer gefahren Situation heraus, hierher gebracht hat.“ Hershel pausierte einen Augenblick und biss in ein Stück Kuchen, welches er zuvor gebacken haben musste. Noch immer stand Lynn unschlüssig im Raum und blickte ihm entgegen.
„Vermutlich, haben starke Emotionen, wie etwa das Gefühl von Angst oder Hass dich hierher gebracht....“ immer wieder stockte Hershel, aber er schien nicht sonderlich verwundert, über Lynns Erscheinung und so sprach er mit ihr, als sei sie tatsächlich an diesem Ort. Während Lynns Blick seinen hektischen Schritten durch das Labor folgte, hielt er plötzlich inne und wandte sich irritiert zu ihr:
„Hat Sakuya etwas zu dir gesagt? War da irgendeine Interaktion zwischen euch?“ die Frage ließ Lynn verwundert aufsehen.
„Was meinen Sie, Hershel?“ Ein lautes Poltern ließ die beiden im Labor verstummen. Verwundert blickte Hershel zu der Tür, hinter der sich sein neu zusammen getragenes Aktenverzeichnis befand. In ihrer Abwesenheit, hatte Hershel damit begonnen, alle vorhandenen Daten und Aufzeichnungen seiner Objekte von der ehemaligen Basis der VCO zusammen zu tragen und zu sortieren. Würde er aus irgendeinem Grunde keinen Zugriff auf den Server mehr erhalten können, so hätte er jedoch jederzeit all seine Forschungsergebnisse vorliegen.
Das Poltern war erneut zu hören und Lynn war es für einige Sekunden, als hätte ein greller Lichtstrahl das Labor geflutet. Blinzelnd sah sie zur Türe, die sich langsam öffnete und aus der Carver gestolpert kam. Seine angespannten Gesichtszüge, lenkten Hershels Blick auf seinen Oberamt, für einige Sekunden war noch Blut daran zu erkennen, ehe es in dem seichten Flimmern seines Körpers unterzugehen schien.
Wie in Trance war Lynn rückwärts gegen einen Tisch gestolpert und blickte in Carvers blutiges und von Ruß und Dreck übersätes Gesicht. Er erwiderte ihren Blick, mit der selben Anspannung und Unfassbarkeit.
„Wo bin ich?“ fragte er atemlos und blickte auf seine Handflächen nieder, deren Konturen immer wieder grob verschwammen.
„Ich habe eine Idee, was hier gerade geschehen ist...“ murmelte Hershel leise, und noch bevor Lynn oder Carver ihm etwas entgegnen konnten, betrat Rin das Labor und blickte die drei ungläubig an:
„Was ist hier los, Hershel?“
Das allen Beteiligten das Verständnis für das fehlte, was sich in seinem Labor ereignet hatte, schien Hershel völlig auszublenden. Stadtessen war er damit beschäftigt Rin Anweisungen zu geben, wie genau er reichlich Elektroden an Lynns und Carvers Kopf anzuschließen hatte. Immer wieder murmelte Hershel etwas vor sich hin. Die Blicke der übrigen drei kreuzten sich jedoch nur verständnislos.
„Ich...ich nehme an, dass Linnais Bewusstsein eine Hintertür für Stressbedingte Situationen entworfen hat. Vermutlich stammt diese Technik noch aus der Zeit, in der sie sich an der Basis befand. Meine Theorie ist also, dass Lynn einen Teil von Carvers Bewusstsein mit hierher assoziiert hat.... vermutlich bedingt durch das Geomas in ihrem Blut.“
Rin war gerade dabei einige Elektroden an Lynns Kopf zu positionieren als sie schwer aufatmete und Hershel wütend entgegen blickte. Er jedoch schien völlig in Gedanken verloren zu sein.
„Hershel, ich verstehe nicht, was Sie von mir wollen!“ sprudelte es aus ihr heraus. Es dauerte einen Moment ehe Hershel scheinbar wieder seiner Worte mächtig war, und mit einem Transfusionsschlauch auf sie zu kam. Er hatte Carver und sie auf zwei medizinischen Liegen platziert, die gerade noch so aufgerichtet waren, dass sie ihn ansehen konnten.
„Etwas ist in Mi`hen geschehen. Es muss erhebliche Gefühlsregungen in deinem Organismus ausgelöst haben, wodurch... du Carver, kraft deiner Gedanken, mit hierher projiziert haben musst.“ beendete Hershel seine Ausführungen und schob vorsichtig eine Infusionsnadel in Lynns Unterarm. Ein leises Aufstöhnen brachte Lynn wieder dazu, Hershel fragend anzusehen.
„Oh ja, dein Geist hängt an ihm, vermutlich dadurch, dass ihr zuvor schon einmal miteinander euer Blut geilt habt.“ ergänzte Hershel freudig und widmete sich Carver, während Rin an einem technischen Apparat, der mit den Elektroden verbunden war, etwas einstellte.
„Moment, wollen Sie mir erzählen, dass die Transfusion in Valvar dafür verantwortlich ist?“ harkte Carver angestrengt nach und Blickte zu Lynn, die nur Kopfschüttelnd zu Hershel sah.
„Ja, ja genau das meine ich. Durch den Geomasspiegel in Linnais Blut, hast du gerade so viel davon abbekommen, dass Lynns mentale Fähigkeiten einen Teil von dir hierher projizieren konnten.“ schlussfolgerte Hershel begeistert und legte ebenfalls bei Carver eine Transfusion.
„Euer Bewusstsein ist zurzeit quantenverschränkt mit euren Körpern, die sich vermutlich noch in Mi`hen befinden.“
„Hershel, wir sind mitten im Krieg... die gesamte Stadt ist ein einziges Schlachtfeld; es gibt unzählige Verletzte...“ begann Lynn zu stottern, als ihr die letzten Geschehnisse wieder bewusst wurden.
„Wie geht es meinem Sohn...lebt er noch?“ Hershel war wie erstarrt und blickte Lynn voller Hoffnung an.
„Ich weiß es nicht.“ erwiderte sie leise. Die Hoffnung in Hershels Blick löste sich in Trauer auf und er holte tief Luft, ehe er in die Hände klatsche und weiter seiner Arbeit nachging, um die Maschinen, an denen er Lynn und Carver angeschlossen hatte, einzustellen.
„Ihr werdet es schaffen, und dann, kommt ihr wieder zurück, alle, wohlbehalten.“ Während Hershels betende Worte seine Lippen verließen, spürte Lynn Carvers intensiven Blick:
„Du bist schwer verletzt, Lynn...“ und erst als er es sagte, fiel ihr Blick auf ihre Lendengegend, deren Blut bereits über den Bund ihrer Jeans rann. Es stimmte, der Soldat auf dem Dach, hatte sie beinahe getötet. Panik stieg in Lynn auf. War das etwa der letzte Ausweg ihres Geistes gewesen, sie von diesem Ort weg zu bringen? Sie noch einmal die Menschen sehen zu lassen, die ihr wichtig waren?
Die langsamen Schritte von Hershel ließen ihre Gedanken abbrechen, denn er sah sie mit so viel Angst in den Augen an, dass es ihr die Kehle zuschnürte. Behutsam griff er nach ihrer flimmernden Hand und drückte sie: „Ich...ich vermute... du...“ er war nicht im begriff weiter sprechen zu können, aber Lynn wusste bereits worauf er hinaus wollte.
„Geomas, Hershel. Geben Sie mir welches!“ Mit einer kleinen Ampulle, kehrte er schwermütig zu ihr zurück und verabreichte es ihr.
Langsam aber allmählich schien sich das Labor um sie herum aufzulösen. Rin, Carver und Hershel waren nur noch Schatten, ihre Stimmen verschwammen zu einem undeutlichen Echo und dann spürte Lynn einen stechenden Schmerz in ihrer Brust, der sie sofort aufschreien ließ.
Der Regen prasselte in Massen auf ihren eiskalten Körper, als Lynns Geist ihn wiederfand. Schlagartig riss sie ihre Augen auf: die Nacht, der Regen, die Schüsse, die hellen Blitze. Sie war zurück, wieder in Mi`hen.
Nach einigen Sekunden der Verwirrung, war es ihr endlich gelungen, wieder aufzustehen und ihre Waffen einzusammeln.
Nachdem sie das Dach mühevoll verlassen hatte, erkannte Lynn die schrecklichen Ausmaße, die ihr Kampf gegen die Hybriden in der Stadt verursacht hatte. Langsam schien das Geomas ihren gesamten Organismus zu überfluten, und die Schmerzen ließen allmählich nach. Vorsichtig bewegte sie sich inzwischen der Gebäudetrümmern und Leichen hindurch. In der gesamten Stadt stiegen Rauchsäulen auf und färbten den nächtlichen Himmel mehr und mehr in ein tiefes Blutrot. Ein leises Wimmern hinter einigen ausgebrannten Autowracks ließ Lynn stehen bleiben. Einige Sekunden blickte sie wachsam auf einen halb verbrannten Mann, der sie flehend mit seinem rußbedeckten Gesicht ansah. Sein rechter Arm war komplett zerfetzt worden und einige seiner teils mechanischen Finger, lagen in einer Pfütze zu ihren Füßen. Unbeirrt von seinen Rufen schritt sie weiter durch die verwüsteten Straßen. Es war still geworden, nur das Geräusch des kalten Regens war zu hören.
Ein leiser Ruf ließ sie nach etlichen Straßen wieder aufblicken und ihre wachsamen Augen fanden Serahs blasses Gesicht in einer Gasse.
„Lynn!“ aufgelöst kam sie auf sie zu gerannt und fasste ihr erschrocken an den Arm:
„Ich dachte, wir finden dich nie!“ stotterte sie und Lynn brauchte nicht lange um festzustellen, dass Serah unter Schock stand.
„Wo sind die anderen?“ Lynns Stimme war leise, kaum hörbar, aber Serah sah sie noch immer mit weit aufgerissenen Augen an:
„Ich weiß es nicht! Kenny und Carver haben die Stadt nach Süden hin verlassen.“ Tränen rannen über Serahs Gesicht. War Dakon etwa tot?
„Wo ist Dakon?“ Schluchzend und zittern vergrub Serah ihr Gesicht in Lynns nasser Jacke. Unverständlich murmelte sie, dass sie es nicht wüsste.
„Hör zu, wir müssen hier weg, sofort.“ entglitt es Lynn kühl und prompt sah Serah kopfschüttelnd und voller Unverständnis zu Lynn auf.
„Wir können ihn hier nicht zurück lassen!“ protestierte sie weinend, aber Lynn griff nach ihrem Kopf und drückte ihn erneut an ihre Jacke.
„Serah, du kennst deinen Mann gut genug; er weiß sich zu helfen. Er hat gewiss zusammen mit Renè und einigen anderen ebenfalls die Stadt verlassen. Hörst du was ich sage?“ Einige stumme Sekunden vergingen, in denen Lynn nur Serahs Zittern spüren konnte. Doch schließlich schien die Vernunft ihre Trauer zu überwiegen und Serah nickte resignierend.
„Gut, lass uns verschwinden.“
Einen Tagesmarsch hatte es die beiden Frauen gekostet, durch die dichten Wälder Efrafars genug Abstand zu Mi`hen zu gewinnen. Am Morgen hatte der Regen endlich aufgehört. Unterwegs hatten sie einige Male Rast halten müssen, da Serah der Anstrengung des Weges kaum gewachsen war. Sie hatte wenig gesprochen. Es war, als wären ihre schlimmsten Befürchtungen wahr geworden. Das einzige, was sie erheitert hatte, war ein Brombeerstrauch gewesen, an dem sie unterwegs vorbeigekommen waren. Die süßen Früchte hatte ihre Stimmung ein wenig gehoben. Immer wieder hatte Serah fragend zu Lynn gesehen, deren Blick ihr jedoch versichert hatte, dass alle wohl auf seien würden, wären sie nur endlich wieder zurück in Nagoya.
Während Lynn angestrengt darüber nachdachte, wie sie wieder zurück kommen würden und wie sie die anderen ausfindig machen sollten, in einer Welt, die ihr selbst fremd war, ging bereits die Sonne wie ein glühendes Messer zwischen den Wolken, empor der dichten Tannen unter. Sie dürfte Serah nun keinesfalls mit ihren Zweifeln belasten, das würde sie nicht mehr durchstehen. In der letzten Stunde war sie zweimal zu Boden gestürzt. Sie hatte kaum noch Kraft und beim zweiten mal, war Serah einfach stumm auf dem Boden liegen geblieben, als wäre jegliches Leben aus ihren Gliedern und all die Hoffnung aus ihrem Herzen verschwunden.
Während das Terrain zunehmend bergiger wurde, stürzte Serah erneut und blieb unbewegt und wie ein Stein, im dichten Moos des Waldbodens liegen.
„Serah...“ flehte Lynn nur leise und war gerade im begriff, ihr wieder aufzuhelfen, als sie ihre Hilfe verweigerte und erschöpft zu ihr hoch sah: „Seit einem Tag haben wir nicht eine Hütte, nicht ein Haus gesehen. Ich kann nicht mehr Lynn. Und ich will auch nicht mehr. Wenn Dakon etwas zugestoßen ist, dann-“ prompt drückte Lynn ihr ihre Handfläche auf die Lippen und Serah verstummte verwirrt, nachdem sie sah, wie klein sich Lynn über ihr gemacht hatte und sich fragend umsah. Sie musste etwas gehört haben, natürlich, ihr Gehör war um einiges besser, als das ihre. Und während sie auf dem Boden lag und jammerte, kämpfte Lynn, trotz ihrer unzähligen Verletzungen weiter und schaffte es zudem auch noch, ihr selbst Hoffnung zu machen. Sie war eine Idiotin gewesen, gestand sich Serah ein und bemerkte plötzlich ein leises Rascheln, in ihrer unmittelbaren Nähe.
Gerade eben konnte sie noch im goldenen Sonnenlicht die Spitze einer Armbrust über den anliegenden Büschen entdecken.
„Carver?“ rief Lynn lauthals und voller Adrenalin in den Wald hinein. Einige Sekunden geschah nichts und dann trat Kenny hinter einigen Büschen hervor und blickte erleichtert Serah und Lynn entgegen: „Gott sei dank, ihr lebt!“
„Serah hatte gesagt, dass ihr nach Süden die Stadt verlassen hättet.“ erklärte Lynn und blickte in Kennys verdrecktes Gesicht. Sein Bart war voller getrocknetem Blut und sein Basecap schien er ebenfalls im Kampf verloren zu haben. Resigniert stellte er Carvers Armbrust sowie eine Schrotflinte an das abgenutzte Holzgeländer der Veranda, vor dem alten Haus, auf der sie standen. Die Witterung hatte der ehemals weißen Lackierung schwer zugesetzt und das hellbraune Holz wurde bereits an der Fasse wieder sichtbar.
„Carver und Diana sind mit mir gekommen, nachdem eine Truppe das kleine Restaurant gestürmt hatte, in dem wir Schutz gesucht hatten.“ erklärte Kenny angestrengt und blickte auf eine gedrehte Zigarette in seinen Händen nieder. Sie Sonne färbte den Himmel der kleinen Lichtung in ein sattes Gold. Nur das leise Rauschen des Windes in den anliegenden Tannen war zu hören.
„Hast du Dakon oder einen der anderen gesehen?“ die Sorge in Lynns Stimme war nicht zu überhören. Kopfschüttelnd steckte Kenny die Zigarette zwischen seine trockenen Lippen und zündete sie stumm an.
„Wir könnten ein paar Tage hier bleiben, aber wir werden weiter ziehen müssen. Es ist nicht sicher hier.“ Gab Kenny Lynns Befürchtungen recht. Nickend wandte sie sich von ihm ab.
„Es tut mir leid, um deine Männer.“ Sagte sie noch leise und Kenny drehte sich zu ihr, um sie schließend mit einem stummen Kopfnicken zu entlassen.
Völlig ausgelaugt lag Serah auf einem der Sofas im Wohnzimmer des Untergeschosses. Die Nähte waren an allen Seiten aufgeplatzt und das Innere kam hervor. Die alten Holzdielen wölbten sie bereits und erlagen der Feuchtigkeit, die sich mit den Jahren in das Fundament gefressen hatte. Zerstörte Bilderrahmen, Fotos und andere Persönlichkeiten lagen überall verstreut herum. Eine alte Holzkommode war umgestürzt worden und so vor dem zerstörten Fenster des Gartens platziert worden, als hätte sie einmal als Feuerschutz gegen Angreifer gedient. Einige Munitionshülsen lagen verstreut herum und Lynns Blick glitt über die Wände, die von Geschossen teilweise durchsiebt waren. Wer auch immer mal an diesem Ort gewohnt hatte, hatte sich wohl einen bitteren Kampf mit der VCO geleistet.
Serahs Blick folgte dem goldenen Abendlicht im Garten, das sie geradewegs durch das kaputte Fenster sehen konnte. Stumm ließ sich Lynn neben ihr nieder und tat es ihr gleich.
Wie friedlich es doch da draußen aussah. Die Spitzen der Tannen wogen sich langsam im warmen Wind der Abendsonne und die Grashalme der unebenen Wiese des Gartens taten es ihnen gleich. Vielleicht wäre es einfach besser, all das zu vergessen. Vielleicht sollte Lynn, wenn sie zurück in Nagoya war, einfach mit all dem abschließen. Sie hatte noch lange nicht all die Antworten nach denen sie gesucht hatte, aber vielleicht sollte sie einfach aufhören weiter zu suchen. Der Schmerz des Verlustes, den sie empfand, wenn sie an die ungewisse Situation der anderen dachte, zermürbte sie. Vielleicht wäre es besser einen Job zu finden, eine kleine Wohnung, irgendwo außerhalb der Stadt, wo sie niemand kennen würde. Müde der vielen Kämpfe, fielen Lynn die Augen zu. Das vertraute Gesicht von Hershel huschte in ihrem Geiste vorbei und sie war sich für einen Augenblick sicher, ihn und Sakuya diskutieren hören zu können, wie in alten Zeiten. Und dann war da Yennifer und Rin, die sie lachend zu einem Bier an die Theke einer kleinen Bar riefen und ihr unglaublich viel zu erzählen hatten. Serah und Dakon, wie sie alle zu Kaffee und Kuchen in ihrem Garten einluden, wo sie alle bis spät in die Nacht sangen und lachten, unter bunten Lampions der Sommernacht. Und dann war da noch Carver, der sie anblickte, nachdem sie sich neben ihn ins Bett gelegt hatte und er sie mit seinem warmen Blick ansah.
Angestrengt blickte Carver der Schwester seiner verstorbenen Freundin entgegen. Seit einiger Zeit schwieg Diana bereits und blickte nur abwesend zu den naheliegenden dunklen Tannen. Sie saßen beide vor einem alten Schuppen, der sich unmittelbar in der Nähe des Hauses befand, in dem sie zuvor Zuflucht gefunden hatten. Der Mond stand wie eine goldene Sichel am sternenklaren Nachthimmel und noch immer wartete Carver darauf, dass Diana etwas sagte oder zumindest eine Reaktion zeigte. Aber sie blieb noch einige Minuten stumm. Es herrschte Totenstille. Die Schreie und Schüsse der vergangenen Nacht waren verstummt und erschienen nur noch wie ein Alptraum in Dianas Kopf. Das Klicken von Carvers Feuerzeug und der Geruch von Tabak ließen sie wieder zurück kehren. Einige Augenblicke betrachtete sie ihn, wie er langsam an seiner Zigarette zog und den Qualm langsam in die kühle Nachtluft blies. Er hatte sich verändert.
„Weißt du... damals, als ich dich und Elaìne das erste mal zusammen sah, wünschte ich mir, ich wäre an ihrer Stelle gewesen.“ Unsicher strich sie sich einige Strähnen ihrer langen braunen Haare aus dem Gesicht und Carver sah die Tränen in ihren Augen.
„Ich habe meine Schwester über alles geliebt, verstehe mich nicht falsch, aber du warst für mich...“ sie verstummte und wandte ihren Blick wieder von ihm ab. Geduldig hörte Carver ihr zu.
„Es ist falsch so etwas zu denken, das weiß ich ja. Ich habe dich so sehr gewollt. Kannst du dich noch daran erinnern, als wir auf dem Geburtstag von Dad waren? Meine Mutter hatte mich wochenlang mit den Vorbereitungen in den Wahnsinn getrieben. Ich wollte davon nichts wissen, weil die Krankheit meines Vaters doch schon so weit fortgeschritten war. Ich hatte solche Angst, dass diese ganze Party zu viel für ihn sein würde. Aber Elaìne hat meiner Mutter jeden Wunsch erfüllt. Nächtelang saß sie in ihrem Zimmer und hat noch bis spät in die Nacht mit dem Konditor und dem Blumenservice telefoniert. Stundenlang hat sie Freunde und Verwandte unseres Vaters angerufen und alles dafür getan, dass an diesem wichtigen Tag bloß alle erscheinen würden, die ihm so viel bedeuteten. Wir organisierten keine Geburtsparty mehr; wir organisierten eine Abschiedsfeier.“ Carver merkte, dass Diana all ihre Kraft brauchte um nicht lauthals in Tränen auszubrechen.
„Und ich? Das einzige woran ich denken konnte, war mein Kleid... wie ich wohl aussehen würde, ob ich dir wohl gefallen würde. Ich war so egoistisch.“ Die Tränen rannen über ihr Gesicht. Natürlich erinnerte er sich noch an den Geburtstag ihres Vaters. Negans Anweisungen für den Abend hatte er noch deutlich im Ohr. Es war der Abend an dem er sich an seinem Laptop zu schaffen machen sollte. Der Datentransfer zu Basis der VCO war rasch eingestielt gewesen. Voller Adrenalin hatte er im ersten Stock auf den Monitor gestarrt, wissend darum, dass sein Auftrag und somit die Zeit mit der Frau, in die er sich verliebt hatte, ein sofortiges Ende finden würde. Er hatte sich ausgemalt, wie er einfach verschwinden würde. Elaìne vielleicht noch einen Abschiedsbrief hinterlassen würde. In dem riesigen Garten im Erdgeschoss feierten sie ausgelassen. Eine kleine Band hatte an dem Abend gespielt. Elaìnes Vater war mehr als überrascht gewesen, es war ein riesen Ding geworden. Knapp hundert Bekannte und Verwandte waren gekommen. Geschäftspartner, enge Freunde und natürlich seine beiden Töchter und seine Frau. Gelächter und das Klirren von Gläsern war zu hören, durch das offene Fenster in jener Sommernacht. Und Carver stand da und starrte auf den Bildschirm des Laptops in der Hoffnung, dass das nur ein böser Traum war. Dass er im Morgengrauen wieder neben Elaìne wachwerden würde, ihre lockigen braunen Haare aus ihrem Gesicht streichen könnte und ihr einen satten Kuss auf ihre makellose porzellanfarbende Haut geben könnte. Wann würde die VCO ihn von diesem Fall abziehen? Etwa noch in dieser Nacht? Elaìnes Stimme riss ihn aus seinen Gedanken, verwundert stand sie im Rahmen des Arbeitszimmers ihres Vaters und blickte ihn fragend an: „Was tust du hier, Carver? Das Feuerwerk geht gleich los, lass uns nach unten gehen.“ Da war es wieder, das liebliche Lächeln auf ihren rosigen Lippen, das Funkeln in ihren unschuldigen Augen, die nie das gesehen zu haben vermochten, was er sehen musste. Das Feuerwerk brachte sie zum strahlen, aber während er in die bunten Lichter blickte, konnte er nicht umhin daran zu denken, dass es morgen früh vermutlich keine Zukunft mehr gab. Er würde zur Basis zurück kehren müssen. Müsste ihr das Herz brechen, indem er für immer verschwand. Indem sich herausstellen würde, dass alles nur eine Lüge war und er nicht der Mann, für den er sich ausgegeben hatte.
„Erinnerst du dich an das Feuerwerk?“ fragte Diana leise und Carver sah zu ihr auf. Noch immer waren Dianas Augen mit Tränen gefüllt.
„Ihr standet direkt neben mir und Elaìne hat sich so gefreut. Sie strahlte vor Glück an deiner Seite... und ich ging, bereits nach den ersten Sekunden. Ich konnte das alles nicht ertragen. Unser Vater hat sie immer mehr geliebt als mich. Es klingt idiotisch, aber ich weiß, das es so war. Wie er mit ihr gesprochen hat, sie behandelt hat; sie war immer seine kleine Prinzessin. Und egal was ich tat, seine Augen strahlten nie so, wenn er mich angesehen hat. Sicher hat er mich auch geliebt, aber nicht so sehr wie sie. Ich wollte auch dieses Glück empfinden, was sie empfand, wenn ich euch Beide zusammen sah. Wie sie an deinen Lippen hing, wenn du gesprochen hast. Aber beim Feuerwerk, habe ich es gesehen; du warst nicht dort. Deine Gedanken waren irgendwo anders. Ihr Strahlen ist völlig an dir abgeprallt, ihre ganze Liebe an dir vorbei gegangen. Und ich fühlte mich in diesem Augenblick so verbunden mit dir. Einsam und traurig in mitten der vielen lachenden Menschen.“ Mit großen braunen Augen starrte Diana Carver an. Er ahnte was kommen würde. Er würde es ihr sagen müssen, jetzt gleich.
„Wo warst du in jener Nacht?“ Ihre Gesichtszüge hatten sich verändert. Die Trauer war in Unverständnis umgeschlagen. „Aber vor allem, wo warst du am Morgen, nachdem meine Mutter und mein Vater und Elaìne in dieses gottverdammte Auto gestiegen waren, um zum Frühstück zu fahren? Wo warst du, als die Explosion die Scheiben unserer Hauses zerfetzt hat und nur noch Geschrei herrschte? Als eines der Dienstmädchen mir entgegenschrie, dass etwas passiert sei, in dem Moment wo ich mich dazu entschlossen hatte, nochmals ins Haus zu laufen um mein Handy zu holen, damit ich dich anrufen konnte, WEIL ICH WISSEN WOLLTE WO ZUR HÖLLE DU WARST!“ Dianas letzte Worte endeten in einem verzweifelten Geschrei. Sie war aufgestanden und blickte nun zu Carver herab, der ihr weder erschrocken, noch ängstlich entgegen blickte. Sein Gesicht wies nur Ernsthaftigkeit auf. Langsam stand er auf und warf seine Zigarette auf die Wiese. Dianas ganzer Körper bebte. Sie machte nicht den Eindruck als würde sie die Wahrheit überraschen können. Sie hatte ein Recht darauf, aber etwas in Carver sagte ihm, dass sie die Antwort bereits kannte. Er gab ihr einige Sekunden, in denen sie sich wieder beruhigen konnte. Vielleicht kam sie selbst darauf, warum Carver an jenem Morgen nicht dort gewesen war.
„Ich weiß, dass mein Vater Jahre davor an den Verträgen mit Efrafar beteiligt gewesen war. Und auch, dass es einen riesigen Aufschrei unter seinen Geschäftspartnern gab, als er darauf beharrte, sie nicht zu kündigen, ganz entgegen der Interessen von Negan Valcours. Er hatte den Traum einer gemeinsamen Zukunft der Welten, aber scheinbar wollte niemand diesen Traum teilen. Ich war noch klein, aber ich weiß, dass wir eines Nachts von fremden Männern Besuch bekamen. Mein Vater hatte uns nach oben geschickt, aber natürlich haben wir gelauscht. Sie hatten meinem Vater mit einer Waffe bedroht und ihn dazu gezwungen, endlich seine Stimme zur Kündigung der Verträge zu geben. Ich weiß bis heute nicht welches Amt er innerhalb der Politik von Valvar einnahm, aber ich weiß, dass er nicht wollte, wie es jetzt gekommen ist. Er wollte seine Familie und all die Unschuldigen davor bewahren, denn er muss geahnt haben, wie das ganze enden wird. Er hat seine Stimme abgegeben. Er stimmte schließlich zur Auflösung der Verträge. Aber natürlich arbeitete er weiterhin daran, im geheimen, mit einigen Gleichgesinnten, Negan Valcours dran zu kriegen, für das was er getan hatte, für das, was er unserer Welt noch antun würde, im Kampf um die seltenen Erden Efrafars. Und jetzt stehen wir hier, Carver. Und ich sehe einen Mann, der mehr einem Soldaten, als einem angeblichen Anwalt und Freund meiner Schwester gleicht und ich frage dich: bist du ein Soldat der VCO?“ Es war so weit. Diana hatte jahrelang Zeit gehabt, um über all das Geschehene nachzudenken. Sie war nicht dumm. Ihre Schwester war gutmütig und ein wenig naiv gewesen, aber Diana war definitiv anders. Angespannt blickte Carver ihr in die Augen; sie sah Elaìne äußerst ähnlich. Sie hatten die selben Gesichtszüge.
„Ja, ich war ein Soldat der VCO. Und ich hatte den Auftrag die Informationen deines Vater an die VCO weiterzuleiten.“ Dianas wütendem Schlag entging Carver sofort, er hatte damit gerechnet und war ausgewichen, auch wenn sie ihn kaum hätte damit verletzten können.
„Warum hast du das getan?“ sie schrie ihn lauthals an und war wieder im Begriff auf ihn loszugehen. Diesmal wich er ihr nicht aus. Mehrmals schlug sie ihm in den Bauch und schließlich ins Gesicht. Wenige Sekunden später, stand sie vor ihm und starrte ihn nur wortlos an, aber sichtlich geschockt von ihrem Gefühlsausbruch.
„Ich bekam bereits in der Nacht des Geburtstags die Order, zurück zur Basis zu kehren. Ich hatte Elaìne in der Nacht noch einen Brief geschrieben. Ich erklärte ihr, dass es mir leid tut, und dass ich nicht der sei, der ich vorgegeben hatte zu sein.“
„Und das soll jetzt irgendetwas rechtfertigen?“ wieder schrie Diana ihm mit voller Kraft entgegen.
„Nein, das soll es nicht.“ erwiderte Carver nur ruhig.
„Sie hat dich geliebt! Und was hast du getan? Du hast uns alles genommen! Du hast mir meinen Vater, meine Schwester und auch noch meine Mutter genommen! Was für ein Mensch bist du nur!“
Carver schwieg und blickte in Dianas aufgelöstes Gesicht. Hastig wischte sie sich die Tränen von den Wangen und wandte ihren Blick ab, ihre Hände eng um ihre Schultern geschlungen.
„Ich habe sie auch geliebt. Und ich habe mich jahrelang dafür gehasst, was geschehen ist.“ Carvers dunkle Stimme zerschnitt die Stille zwischen den beiden und Diana sah ihn kopfschüttelnd an.
„Warum hast du sie dann getötet?“
„Ich wusste nicht, dass das geschehen würde.“ erwiderte Carver und sah die kurzzeitige Verwirrung in Dianas Gesicht.
„Warum habe ich deinen Abschiedsbrief niemals gefunden?“ fragte sie schließlich, wieder gefasster.
„Ich habe ihn in ihre Manteltasche gesteckt; erinnerst du dich an ihren rosafarbigen Mantel?“ Nickend lächelte Diana kurz, ehe ihre Augen sich wieder mit Tränen füllten:
„Unser Vater hatte ihn ihr zu ihrem 20. Geburtstag geschenkt, sie hatte ihn in einem Schaufenster gesehen, als wir vom Essen kamen, und er hatte ihn ihr natürlich sofort gekauft. Sie liebten diesen scheußlichen Mantel. Und natürlich trug sie ihn an dem Tag des Unfalls.“
„Ich wusste nicht, dass das geschehen würde. Ich habe geglaubt die VCO ziehe mich wieder ab. Natürlich hätte Elaìne herausgefunden, dass es mich nie gab; dass ich nicht der war, für den ich mich ausgegeben hatte. Aber das spielte auch keine Rolle mehr. Ich verlor die erste und einzige Familie, die ich hatte.“ Die letzten Worte waren ihm nicht leichtgefallen, aber es stimmte. Das erste mal, fühlte er sich jemandem zugehörig. Wie oft hatte er mit der Familie gefrühstückt, wie oft saßen sie noch Abends im Wohnzimmer und lauschten den Geschichten von Elaìnes Vater, der zugegebenermaßen noch besser erzählen konnte, als politisch verhandeln. Sie hatten immer viel Gelacht, in der kurzen Zeit in der Carver bei ihnen gewesen war, hatte er einen Mann kennengelernt, der bereit war, für seine Familie alles zu tun. Der weiter dachte, als nur an den nächsten Tag, an die nächste Verhandlung. Obwohl er ein hoch angesehener und wichtiger Politiker gewesen war, stand doch hinter der Fassade eines ernsten und beinahe unberechenbaren Mannes eine Familie, die er über alles liebte. Und all das nahm sein tragisches Ende bei einer Explosion, die Carver hätte verhindern können, wäre er nur damals schon bereit gewesen, die VCO zu verlassen. Vielleicht hätte er mit in dem Wagen gesessen, vielleicht wäre dann auch Diana nicht zurück ins Haus gelaufen um ihr Telefon zu holen und wäre mit ihnen gestorben; aber sie wären zusammen gestorben. Er und die Menschen, die ihm das erste mal in seinem Leben das Gefühl gaben, jemand zu sein, der genau richtig so war, wie er war.
Diana hatte sich von Carver abgewandt und war einige Schritte durch das hohe Gras gelaufen, näher an den Waldrand. Dort wo sie gerade stand, konnte Carver sie vor keinem Angriff bewahren, falls sie jemand überraschen würde. Aber es war so still, dass er sich sicher sein konnte, dass sie niemanden zu erwarten hatte. Dennoch drehte er sich kurz um und blickte zum Haus. Schliefen die anderen etwa? Das kurze Aufblitzen des Laufes eines Gewehres ließ ihn innehalten, aber durch das helle Mondlicht erkannte Carver schnell, dass es Lynn im ersten Stock war, die die Umgebung beobachtete und Diana genau im Blick hatte. Ja, wie war es nun? Carver hatte sich immer als Alleingänger gesehen. Bis er Lynn getroffen hatte. Sie war sein Spiegelbild, obwohl sie noch so jung war. Alles was er erlebt hatte, kannte auch sie. Und Kenny und Sade... das gesamte Camp in Yad VaShem war eine Gemeinschaft geworden, in die er sich integrieren konnte. Kenny hatte ihn die letzten Monate stets geschätzt, sich auf seinen Rat verlassen. Wäre das alles endlich vorbei würde er wieder an diesen Ort zurück kehren. Und Lynn? Vielleicht würde sie mit ihm kommen, oder sie würde bei Dakon und den anderen bleiben. Sie würde ihm fehlen; sehr sogar. Selten war er einem Menschen so nahe gekommen... nur Elaìne.
„Ich werde mich etwas hinlegen.“ Dianas Stimme beendete Carvers Gedanken und er blickte zu ihr hinab, nachdem sie auf ihn zugekommen war. Wortlos ließ er sie an sich vorüber gehen und setzte sich erneut auf die Treppe des kleinen Schuppens um sich eine Zigarette anzuzünden, in der stillen Gewissheit, dass Lynn ihn und den Waldrand gut im Blick hatte.
Das warme und grell blendende Licht der aufgehenden Sonne hatte Serah wach werden lassen und sie setzte sich benommen auf. Die Wiese hinter dem Haus lag friedlich im Morgentau und nur vereinzelte Wolken zogen über die dichten Tannen hinweg. Dakon, wo war er? Ginge es ihm gut? War er tot? Mit einem Mal waren all die alten Gedanken wieder in ihrem Kopf und Serah hastete durchs Wohnzimmer, die Treppe hinunter. Sie musste mit jemandem sprechen, vielleicht gab es Neuigkeiten. Jetzt, sofort, irgendjemand. Völlig abwesend prallte sie gegen Kenny, der auf der Veranda stand und eine Zigarette rauchte.
„Wo...wo...Dakon“ nicht fähig in ganzen Sätzen zu sprechen, hielt Serah schließlich inne und starrte Kenny nur voller Verzweiflung an.
„Beruhige dich.“ Hörte sie Carvers Stimme und fuhr zu ihm herum, als auch er auf die Veranda trat.
„Wir haben auch keine Neuigkeiten.“ versuchte er Serah zu beruhigen, aber sie wurde nur noch panischer.
„Es geht im sicherlich gut, er weiß sich zu helfen.“ Entgegnete Kenny ihr und blickte wieder zum Waldrand.
„Ja...ja...“ kapitulierte Serah und versuchte sich krampfhaft zu beruhigen. Sie hatte bereits ihre Tochter verloren, würde ihrem Mann nun noch etwas geschehen sein... sie vermochte sich das ganze Szenario nicht auszumalen und setzte sich verzweifelt auf eine der Stufen.
„Ist Diana schon wach?“ fragte Kenny leise, aber Carver schüttelte den Kopf. In der Zeit in Kennys Gemeinschaft hatte er ihm in einer Nacht mit viel Whiskey davon erzählt. In der letzten Nacht hatte Kenny das Geschrei mitbekommen und konnte sich denken, dass Carver Diana die Wahrheit gesagt haben musste.
„Aber Lynn ist bereits im Morgengrauen los in den Wald. Sie sagte, sie wolle sich etwas umsehen und schauen, ob sie ein sicheres Versteck finden könne. Hier auf der Lichtung sind wir wirklich wie auf dem Präsentierteller.“ erklärte Kenny ernst und zog an seiner Zigarette.
„Gut, ich werde mich ebenfalls umschauen gehen. Vielleicht hat Lynn etwas gefunden. Lange können wir jedenfalls nicht hier bleiben.“ entgegnete ihm Carver nachdenklich und lief die Stufen hinunter.
„Kann ich dich alleine lassen?“ fragte er schließlich und blickte in Kennys ernstes Gesicht. Er sah kurz zu Serah hinunter, die sich ängstlich am Geländer festhielt und nickte schließlich. „Ich mach das schon, mein Freund.“
Das Geomas, welches Hershel Lynn bei ihrer Astral-reise verabreicht hatte, hatte Lynn dazu befähigt, den gesamten Tag durch die dichten Nadelwälder Efrafars zu streifen. Sie hatte keine Ahnung wo sie war, aber sie würde gewiss den Weg zurückfinden, denn sie hatte sich die Konstellation der Sterne in der Nacht zuvor gemerkt. Vielleicht wäre es besser gewesen, bei den anderen zu bleiben, für den Fall der Fälle. Vielleicht für einen feindlichen Angriff, oder auch nur für die Tatsache, dass sie Diana davon hätte überzeugen müssen, dass Carver nicht gewusst hatte, dass Negan ihren Vater und ihre Familie töten lassen wollte. Aber Carver war einer der stärksten Charaktere die sie kannte; warum wollte sie sich also einmischen?
Lynn lief immer weiter und beinahe wäre ihr entgangen, dass sie Sonne bereits schon wieder unterging. Sie müsste den Rückweg einschlagen, sofort, sonst würde sie es bis Mitternacht nicht mehr schaffen, das Haus der anderen zu erreichen. Moment, hörte sie da gerade etwa das plätschern von Wasser? Gerade im Begriff umzukehren, hielt Lynn plötzlich inne und horchte noch einmal dem Klang der Abenddämmerung. Ja, sie war sich sicher, Wasser hören zu können und behielt ihre ursprüngliche Richtung weiter bei.
-24- Senile Lines, Burning like Fire
Die kleine zerfallene Fischerhütte, die an einem schmalen Fluss mündete, kam Lynn gerade recht, nachdem sie getrieben von dem Geräusch des Wassers, erst jetzt bemerkt, dass es bereits dunkel geworden war. Die Kälte des Wassers machte sich bereits bemerkbar, als sie sich langsam durch das hohe Gras dem kleinen Steg der Hütte nährte. Ein Blick zum Himmel machte Lynn jedoch klar, dass von dem Rückweg in der Nacht besser ab zu sehen wäre; riesige Wolken bedeckten die Sterne. Sicherlich hätte sie den groben Weg zurück zu den anderen dennoch gefunden, aber sie beschloss in dieser Nacht, in der Hütte Schutz zu suchen.
Notdürftig hatte jemand die verwitterten Holztüren mit Brettern und Hölzern verriegelt, deren Entfernung Lynn jedoch keinerlei Anstrengung bereitete. Angespannt betrat sie den kleinen Raum, der zu ihrer Überraschung trocken war und nur wenige Zerstörungsspuren aufwies. In einer Ecke standen reichlich Angeln, auf einer Arbeitsplatte am Fenster, von dem aus man auf den Fluss blicken konnte, lagen Köder und allerhand Anglerwerkzeug. Neben einem schwarzen Regenmantel und grauen Gummistiefeln, die groß ausfielen, gab es nichts weiter Spannendes.
Lynns Hände glitten über einige Blinker und sie betrachtete einen Moment die Gummistiefel, die in einer Ecke standen. Schließlich ließ sie ihr Gewehr von den Schultern gleiten und stellte es neben die Stiefel. Den gesamten Weg durch den Wald, hatte sie nichts wahrgenommen, was auf Hybride hinweisen würde. Die Nacht über, würde sie wohl an diesem Ort sicher sein.
Nur mit ihrem Messer bewaffnet, ging Lynn wieder vor die Hütte und ließ sich auf dem Steg zu Boden sinken. Das leise Plätschern des Flusses war beruhigend und nur ab und an war der Wind in den Tannen am Ufer zu hören. Tief einatmend ließ sich Lynn zurückfallen und schloss ihre Augen. Angestrengt versuchte sie ihre Gedanken auszublenden und sich Sakuyas Gesicht vorzustellen. Vielleicht erreichte sie ihn, oder er sie in seinen Gedanken. Würde es ihm gut gehen? Wäre Yennifer bei ihm, oder Dakon?
Nichts. Lynn spürte rein gar nichts. Und mit einem Mal überkam sie eine tiefe Leere. Da war gerade Niemand mehr. Nicht ihr Team, nicht Sakuya, Niemand. Ihre Gedanken wanderten zu jenen Tagen in der Hütte in den Bergen, als sie Carver das erste Mal getroffen hatte. Dort hatte sie sich ähnlich gefühlt; heimatlos. Aber jetzt war Diana plötzlich da. Die, nach der Carver so lange gesucht hatte. Sie hatte von ihrem Posten am Fenster aus gesehen, wie Diana ihn angesehen hatte und sie war sich sicher gewesen, spüren zu können, welch eine enge Bindung die Beiden gehabt hatten. Und Sakuya und Yennifer... was auch immer zwischen ihnen war, es entzog sich Lynns Verständnis definitiv. Sakuya war Dakon in den Rücken gefallen und auch sie hatte Dakon und Renè in Gefahr gebracht. So besorgt hatte Lynn Serah selten gesehen, wie sie völlig apathisch dagesessen hatte, in Todesangst nun auch noch ihren Mann verloren zu haben. Welch Bürde sie schon ertragen haben musste, ihre Tochter zu verlieren. Hershel und Rin arbeiteten gewiss derweil im Labor der Universität. Vielleicht würde am Morgen alles besser sein; Lynn würde zurück kommen und alle wären wieder beisammen. Und dann? Wie würde es dann weitergehen? Könnten sie die Rückreise nach Elaìs antreten? Würde erst einmal wieder Ruhe einkehren, bis sie den nächsten Schlag gegen die VCO geplant hätten? Ermüdet von all den Fragen, bemerkte Lynn nicht, dass Jemand sich ihr nährte. Im Gegenteil, völlig versunken in ihren Gedanken dämmerte sie langsam auf dem Steg weg.
Durchnässt von dem nächtlichen Regen trat Carver in das Licht von Kennys Taschenlampe, der auf der Veranda des Hauses, auf der Lichtung, auf ihn gewartet hatte.
„Hast du Lynn gefunden?“ fragte er sichtlich überrascht darüber, dass Carver alleine zurückgekehrt war. Er schüttelte den Kopf und nahm eine Zigarette von Kenny entgegen.
„Lass mich raten: Sie hat keinerlei Spur hinterlassen?“ erkundigte sich Kenny besorgt.
„Ich habe auch nichts anderes erwartet.“ erwiderte Carver mit rauer Stimme und blickte in die Nacht.
„Hat Serah sich etwas beruhigt?“
„Nein, ganz im Gegenteil. In der Dämmerung wollte sie sich rausschleichen, um Dakon zu suchen. Natürlich konnte ich sie nicht davon überzeugen, welch irrsinnige Idee das war. Aber sie schien so erschöpft, dass ihr nicht zumute nach einem Handgemenge war und ging wieder ins Haus. Allerdings war Diana sehr beunruhigt, aufgrund deiner Abwesenheit.“ nachdenklich versuchte Kenny Carvers Mimik zu lesen, aber er reagierte nicht.
„Ich werde das Gefühl nicht los, dass sie etwas für dich empfindet.“ Fügte Kenny schließlich hinzu und erhielt seine gewünschte Reaktion von Carver, der ihm mit einem angespannten Blick begegnete:
„Das ist das Letzte was ich jetzt noch gebrauchen kann.“
„Ich weiß, aber es wäre eine willkommene Abwechslung.“ pflichtete Kenny ihm leise bei und reichte ihm eine Flasche Whiskey, die er im Keller, neben einigen Weinflaschen gefunden hatte.
Bereitwillig ergriff Carver die goldenen Flasche und nahm einen großen Schluck. „Der ist wirklich gut.“
„Ja, das ist er.“
Im Morgengrauen wachte Lynn unverhofft, durch das Rascheln einiger Eichhörnchen neben ihr auf und erschrak bei der Tatsache, dass sie die komplette Nacht im Freien geschlafen haben musste. Ein wenig unbeweglich durch die Kälte, richtete sie sich auf und musterte ihre Umgebung. Der Fluss spiegelte den trüben Himmel, der jedoch wieder im Begriff war, wolkenloser zu werden. Auf der anderen Seite des Ufers ringten sich etliche Tannen dicht aneinander und gaben keinerlei Sicht frei.
„Du hast die ganze Nacht im Schlaf geredet.“ ließ sie plötzlich eine Stimme hochschrecken und Lynn fuhr herum. Vor der Hütte saß ein Junge, er schien einige Jahre jünger als sie zu sein, sein Gesicht war beinahe komplett durch die schwarze Kapuze seiner Sweatjacke bedeckt. Sofort erkannte Lynn ihr Gewehr neben ihm, auf dem Boden und suchte daraufhin seinen Augenkontakt. Hätte er auf sie schießen wollen, hätte er es vermutlich bereits getan, schließlich schien er schon länger dort zu sitzen. Anhand seiner Körperhaltung konnte sie jedoch sehen, dass er nicht dort saß, um nach ihrem Erwachen mit ihr zu kämpfen.
„Was tust du hier?“ fragte sie angespannt. Der junge hob sein Gesicht und blickte zu ihr auf. Er hatte markante Gesichtszüge, seine Wangenknochen traten deutlich hervor und er hatte tiefe Augenringe. Seine Haut war blass und fahl und seine Augenfarbe lag irgendwo in einem dunklen Bereich von grün und braun.
„Ich dachte, ich gebe auf dich acht. Aber wenn ich dich jetzt so sehe, schätze ich, dass du gut auf dich selbst aufpassen kannst.“ Hhne dass Lynn es bemerkt hatte, hatte sie beim ersten Erklingen seiner Stimme ihr Messer gezogen und stand nun kampfbereit vor ihm. Nachdenklich verstaute sie es am Bund ihrer Jeans.
„Was tust du hier draußen?“ fragte Lynn schließlich und ging einige Schritte auf den Jungen zu, um ihr Gewehr zu nehmen. Zu ihrer Überraschung blieb er unbeeindruckt sitzen, weiterhin mit seinen Armen auf die Knie gestützt und zum Fluss blickend. Ein Blick auf seine Schuhe verriet ihr, dass die Stiefel in der Hütte ihm gehören mussten, denn seine Füße hatten ihre Größe.
Stumm musterte Lynn ihn, verwundert darüber, dass er keinerlei Fragen stellte. Gerade im Begriff sich von ihm ab zu wenden, sprach er schließlich: „Du scheinst nicht alleine hier draußen zu sein; du hast kein Gepäck bei dir.“ bemerkte er und musterte Lynn. Er war ein guter Beobachter, stellte Lynn fest. Und vor allem war er leise, sonst hätte er sich ihr niemals nähern können, während sie schlief. Er stand auf und zog schließlich die Kapuze von seinem Kopf. Die Frisur die er hatte, erkannte Lynn sofort; so hatten die jüngeren Rekruten der VCO ebenfalls ausgesehen; die Seiten waren kurz rasiert und die oberen Haare etwas länger, in seinem Fall irgendetwas zwischen dunklem Braun und Schwarz. War er ein Hybrider? Lag sie mit ihrer ersten Einschätzung, dass er keine Gefahr darstellte, etwa falsch?
Mit einem Satz packte sie ihn und dränge ihn an die Holzwand der Hütte. Er wehrte sich nicht, aber sie sah in seinen Augen, dass er aufgrund ihrer Schnelligkeit nun ahnen konnte, wer oder was sie selbst war. Mit wachen Augen sah er ihr direkt ins Gesicht.
„Ich bin keine Bedrohung für dich, glaub mir.“ sagte er nur mit einer Ruhe, die Lynn stutzig machte, woraufhin sie wieder von ihm abließ. Vielleicht war er ja ein Aussteiger, so wie Carver. Aber er war ihm in keiner Art und Weise gleich. Allein sein Körperbau, ließ nicht einmal ansatzweise die Vermutung zu, dass er ein Soldat war. Er war drahtig, nicht dünn, aber auch nicht sonderlich trainiert. Einen Moment mit sich ringend schulterte Lynn ihr Gewehr. Vielleicht war es besser einfach zu gehen. Scheinbar hatte sie sich für die Nacht sein Versteck ausgesucht. Sie würde verschwinden und alles würde wieder seinen Gang gehen. Schließlich musste sie die Anderen finden und sie brauchten einen sicheren Unterschlumpf. Von ihren Prioritäten überzeugt, hatte sich Lynn abgewandt und begab sich wieder zu dem Pfad, der in den dichten Wald hineinführte.
„Hey, wo willst du hin?“ rief ihr der Junge hinterher, aber Lynn beachtete ihn nicht mehr weiter. Das Klappen der Türe der Hütte und schnelle Schritte ließen sie jedoch zurückblicken. Der Junge kam ihr mit einem Rucksack und einer dickeren Jacke hinterher. Er suchte stumm ihren Blick und schließlich verschwanden sie gemeinsam im Wald.
„Guten Morgen.“ Diana trat auf die Veranda des Hauses und beobachtete Carver einige Momente, in denen er damit zubrachte, den Lauf seines Gewehres, mit einem Stück seines Hemdes, zu reinigen. „Warst du etwa die ganze Nacht hier draußen?“ fragte sie verwundert und begegnete seinem konzentrierten Blick.
„Jemand muss Wache halten.“ erwiderte er ihr nur rau und sah zu ihr auf. Ungeduldig ging sie einige Stufen hinunter und umfasste ihre Schultern, aufgrund der morgendlichen Kälte.
„Vielleicht sollte Jemand jagen gehen... wir haben nicht zu essen...“ sagte sie schließlich leise und erntete ein Seufzen von Kenny, der mit zwei Kaninchen aus dem Haus kam.
„Kenny war bereits im Wald.“ entgegnete ihr Carver und nahm seinem Freund die beiden Kaninchen ab.
„Kannst du sie häuten?“ fragte Kenny Diana und wischte sich etwas Blut an seiner Jacke ab. Angewidert blickte Diana auf die blutigen, toten Tiere in Carvers Händen.
„Ich kann das machen.“ erwiderte Serah und lehnte im Rahmen der Türe. Es ging ihr wesentlich besser heute, stellte Kenny fest. Vielleicht hatte sie eingesehen, dass das Warten wenig Sinn machte und dass sie zuerst sicher und versorgt sein müssten, ehe sie die Anderen suchen konnten. Bereitwillig überreichte Carver Serah die Tiere und sie verschwand damit hinters Haus.
„Ich hoffe nur, dass Lynn bald zurück kommt.“ bemerkte Kenny schließlich nachdenklich und sah zum Wald.
Nicht weit von vom Fluss entfernt, hatte Lynn mehrmals anhalten müssen, denn der junge Mann, der sich ihr angeschlossen hatte, hatte einige Nagetiere aus Fallen eingesammelt. Erneut hatte Lynn ihren ersten Eindruck revidieren müssen; er wusste wie man Fallen baute, war geschickt und beinahe lautlos im Unterholz unterwegs und fiel auch sonst nicht unangenehm auf. Aber wer war er? Nachdem sie den halben Tag gelaufen waren und Lynn sich wunderte, dass er mit ihr Schritt halten konnte, ohne sich auch nur einmal zu beschweren, horchte sie auf, nachdem sie einige ungewöhnliche Geräusche, in unmittelbarer Nähe vernommen hatte. Der Junge blieb augenblicklich stehen und suchte Lynns Blick. Lautlos versicherte er ihr, dass auch er es gehört hatte und wies direkt in die richtige Richtung. Anhand seiner defensiven Körperhaltung erkannte Lynn sofort, dass er nicht kämpfen würde und sie reichte ihm ihr Gewehr. Mit einem stummen Nicken zog er sich hinter einigen Sträuchern zurück, während Lynn sich geduckt in die Richtung der Geräusche begab. Nach wenigen Metern konnte sie im Schatten der Tannen einen Soldaten entdecken. Er trug die Kleidung der VCO und schien verletzt zu sein, denn er taumelte. Sein Gewehr nachlässig in der linken Hand tragend, hielt er sich kurz an einem Baum fest und hielt inne.
Lynn ergriff ihre Chance und rannte blitzschnell auf ihn zu, um ihn direkt beim Hals zu packen und zu Boden zu werfen. Er blieb keuchend vor ihr im dichten Laub liegen, packte jedoch hektisch nach ihrem Fußgelenk und riss sie zu Boden. Überrascht von seiner Agilität sprang Lynn hastig auf, geriet jedoch erneut in seine Fänge und wurde von ihm zweimal direkt ins Gesicht geschlagen, so dass ihre Unterlippe aufplatze. Wütend ergriff sie seinen Hinterkopf, nachdem sie zwei weitere Schläge abgewehrt hatte und schlug seinen Kopf mit aller Kraft einige Male gegen einen Baumstamm, bis nur noch ein blutiger Fleck daran zurückblieb und der Soldat bewusstlos zu Boden fiel. Einen Moment lang stand sie fassungslos vor ihm und atmete in nur kurzen Stößen, während das Adrenalin durch ihre Adern floss. Sie hatte diesen Soldaten definitiv unterschätzt. Aber wo war er hergekommen? Hastig ergriff Lynn sein Gewehr und eilte schließlich in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war. Der junge Mann wartete bereits auf sie und musterte Lynns blutige Lippen.
„Du musst dich in acht nehmen; die Hybriden sind den anderen Soldaten um einiges voraus.“ sagte er nur ruhig und erntete Lynns wütenden Blick: „Was du nicht sagst.“
„Ein normaler Mensch wäre mit ihm jedoch nicht fertig geworden.“ fügte er schließlich hinzu. Wenn er sprach, schien es, als würde er seine Worte ganz bewusst wählen. Vielleicht hatte er nie viel gesprochen, zumindest kam es Lynn langsam so vor. Er klang immer etwas monoton und ruhig.
Und definitiv wusste er nun, dass Lynn ein Soldat der VCO war.
„Mein Name ist Elliot.“ sagte er schließlich und war im Begriff, Lynn ihr Gewehr wieder zu geben und seinen Rucksack zu schultern. „Elliot, behalte es.“ sagte sie und musterte ihn noch einen Augenblick lang, ehe sie wieder ihren ursprünglichen Weg einschlugen.
Am späten Abend, weit nachdem die Dämmerung über die Lichtung eingefallen waren, erreichten Elliot und Lynn endlich das verwitterte Haus am Waldrand.
„Das hier ist wirklich wie auf dem Präsentierteller.“ bemerkte Elliot beiläufig und blieb einen Augenblick lang stehen, nachdem er gesehen hatte, wie Jemand auf der Veranda sein Gewehr auf ihn gerichtet hatte. „Er wird nicht auf dich schießen.“ erklärte Lynn und deutete Elliot, ihr weiter zu folgen.
Unter Kennys skeptischem Blick, nährten sie sich dem Haus.
„Gut, dass du wieder da bist.“ sagte Kenny und musterte Lynns aufgeplatzte Unterlippe und anschließend den jungen Mann mit dem Kapuzenpulli.
„Mein Name ist Elliot.“ sagte er ein wenig mechanisch und so emotionslos, wie zuvor.
„Gut Elliot, ich bin Kenny, wo kommst du her?“ eröffnete er das Gespräch und blickte Lynn fragend an, die jedoch ebenfalls schwieg.
„Ihr seid hier nicht sicher.“ stellte Elliot lediglich fest und musterte die Umgebung.
„Für eine weitere Nacht sollte es noch reichen.“ entgegnete ihm Lynn nachdenklich und sah, wie Elliot sich mit seinem wachen Blick zu ihr wandte: „Ja. Du musst dich ja auch nicht fürchten.“
Verwundert blickte Kenny Elliot hinterher, wie er langsam und etwas unsicher das Haus betrat.
„Warum hast du ihn mitgebracht?“ wandte er sich schließlich an Lynn.
„Er ist keine Gefahr, glaub mir. Aber er scheint mir auch von der VCO zu sein. Wer weiß, welche Fähigkeiten er hat, vielleicht ist er uns eine Hilfe.“ erwiderte Lynn nachdenklich.
„Dein Wort in Gottes Ohr.“ lenkte Kenny schließlich skeptisch ein und setzte sich wieder auf die Stufen der Treppe.
„Konntest du etwas entdecken?“ harkte er schließlich nach. Kopfschüttelnd ließ sich Lynn neben ihn nieder.
„Nichts, außer einen Fluss, etwa einen Tagesmarsch östlich entfernt und eine kleine Fischerhütte, wo ich Elliot traf.“
„Mist. Wir können nicht noch länger hier bleiben. Wir haben keinerlei Vorräte und der Wald gibt auch nicht sonderlich viel an Wild her.“ Kenny zündete sich nachdenklich eine Zigarette an.
„Wie geht es Serah?“
„Heute morgen schien sie wieder gefasster. Immerhin konnte Carver sie dazu bewegen, zwei Kaninchen zu häuten. Sie versucht sich nützlich zu machen, wo es nur geht. Aber vorhin habe ich sie schon wieder weinen gehört.“ angespannt nickte Lynn.
„Ist Carver drinnen?“ Auch wenn Lynn sich sicher war, dass er ihre Idee, Elliot mitzubringen, nicht gutheißen würde, ebenso wenig wie die Anderen, hatte sie das Bedürfnis mit ihm zu sprechen.
„Ja, er wollte noch etwas mit Diana klären.“ entgegnete ihr Kenny und warf seine Zigarette in das nasse Gras vor dem Haus. Aus irgendeinem Grund fand Lynn diese Antwort nur wenig befriedigend. Aber was hatte sie auch erwartet? Die Beiden hatten wohl noch einiges zu klären.
„Ist es in Ordnung, wenn ich mich für ein paar Stunden hinlege?“ fragte Kenny schließlich und Lynn blickte in seine müden alten Augen.
„Natürlich, ich werde hier bleiben.“ versicherte sie ihm und sah ihm noch einen Augenblick lang hinterher. Kenny fand Elliot auf einem Sessel im Erdgeschoss wieder, wie er hinaus auf die Wiese blickte. Er selbst ging eine Etage höher. Serah schlief auf einer alten Matratze mit Carvers Jacke. Carver und Diana würden vermutlich in einem der anderen Räume sein. Müde legte Kenny sich auf das Sofa mit den aufgeplatzten Nähten und fand schnell in den Schlaf.
Nachdenklich betrachtete Lynn den Mond, der immer wieder zwischen einzelnen Wolken hervorblitze.
Vereinzelte Regentropfen trafen auf Lynns blasses Gesicht und sie sah in den dunklen Nachthimmel; es würde nicht mehr lange dauern, ehe die Sonne aufgehen würde. Aber der Regen kam ungelegen, wenn sie heute weiterziehen wollen würden. Ernüchtert stand Lynn auf und wandte sich zum Haus, um unter dem verrotteten Vordach Schutz suchen zu können. Zu ihrem Entsetzten hatte Elliot einige Stufen über ihr gesessen und sah ihr nun mit wachen Augen entgegen: „Es hat begonnen zu regnen.“ bemerkte er emotionslos. Wie lange hatte er dieses Mal schon wieder hinter ihr gesessen? „Elliot, was soll das werden? Warum schläfst du nicht, wie die anderen?“ fuhr Lynn ihn an, wütend über den scheinbaren Schwund ihrer Fähigkeiten, auch das kleinste Geräusch wahrnehmen zu können. Elliots starrer Blick wanderte zur Lichtung und anschließend erneut zu ihr: „Ich schlafe nicht gerne. Die Alpträume halten mich wach.“ erwiderte er nur und Lynn war sich plötzlich sicher, dass er auch einmal zur VCO gehört haben musste. Einen Moment mit sich ringend verwarf sie jedoch alle weiteren Fragen; sie ahnte, dass er ihr sowieso nicht darauf antworten würde, und setzte sich neben ihn, unter das Dach.
„Er hat dich auch die ganze Zeit beobachtet.“ fügte Elliot schließlich hinzu und Lynn blickte ihn verwirrt an: „Wer?“
„Der Mann mit den blauen Augen.“ Elliots Stimme war leiser geworden und plötzlich bemerkte Lynn, wie er vor ihnen, Etwas anstarrte. Aber auf der Treppe war nichts. Im Wald und auf der Lichtung schien auch nichts zu sein. Ein Ungutes Gefühl überkam Lynn und sie stand panisch auf: „Wovon zur Hölle sprichst du?“ Langsam glitt Elliots Blick wieder zu ihr: „Er sagt, er kann dich nicht mehr hören.“
Mit einem Aufschrei schreckte Lynn im Morgengrauen auf der Treppe hoch. Sich hektisch um blickend musste sie jedoch feststellen, dass Niemand außer ihr dort war. Hatte sie etwa geträumt? War sie tatsächlich eingeschlafen? Aber sie hatte doch mit Elliot gesprochen; da war sie sich ganz sicher. Panisch begab sie sich ins Haus und suchte nach ihm. Kenny kam ihr entgegen und wunderte sich über ihre Hektik: „Ist etwas nicht in Ordnung?“ fragte er verwirrt, aber Lynn hetzte nur an ihm vorbei, die Treppe hinauf.
„Wenn du Elliot und Carver suchst, sie sind unten im Keller.“ Rief er ihr hinterher und hörte prompt, wie sie kehrt machte und die Treppe wieder hinunterrannte, an ihm vorbei, in Richtung des Kellers. Ihr Atem kam stoßweise, als sie die Türe aufstieß und in Carvers verwundertes Gesicht blickte, der neben Elliot stand und ihm gerade ein Funkgerät übergab.
„Geht es dir gut?“ fragte er rau, aber Lynn brauchte einige Sekunden um zu antworten. Elliot blickte sie so emotionslos wie am vorherigen Tag an. Nichts in seinem Blick ließ darauf schließen, dass sie in der Nacht miteinander gesprochen hatten.
„Schon gut.“ sagte sie leise und noch immer verwirrt.
„Carver hat mir heute morgen zwei eurer Funkgeräte gegeben. Ich brauche nur einen UKW Oszillator. Mit dem Trimmer versuche ich dann einen freien Platz im UKW-Band zu finden.
Mit etwas Glück können wir dann den Funkverkehr der nächsten zehn Meilen empfangen.“
„Sie sind tot.“ antwortete Lynn nachdenklich.
„Das macht nichts. Ich kann sie wieder zum laufen bringen.“ erwiderte Elliot und nahm von Carver einen Schraubenzieher entgegen. „Kann ich dich kurz sprechen, Lynn?“
Carver und Lynn standen in einem ehemaligen Arbeitszimmer, in der ersten Etage. Dem maroden Holzschreibtisch in der Mitte des Raumes fehlte ein Fuß, der unter dem Fenster verrottete. Einige Glassplitter lagen noch verstreut auf dem rissigen Teppich. Darunter waren die verblichenen Holzdielen zu erkennen. Akten und Fotos türmten sich vor einem hohen Schrank zu einem durchweichten Haufen zusammen, die Decke hatte bereits Löcher und Regenwasser durchdrang den Teppich.
„Wir sollten über Serah sprechen.“ sagte Carver ruhig und zündete sich eine Zigarette an. Lynn hatte sich an den Schreibtisch gelehnt und beobachtete ihn, wie der langsam an der Zigarette zog und den Rauch durch seine Lungen sog.
„Ich habe sie heute Nacht dabei gesehen, wie sie einige Zeit im Wohnzimmer mit einer Glasscherbe zugange war. Ich bin mir nicht sicher, aber mit jedem Tag scheint sie labiler zu werden. Wenn wir Dakon nicht bald finden... ich denke sie wird nicht mehr lange durchhalten.“ beendete er seine Vorahnung. Nickend betrachtete Lynn den Waldrand, durch das kaputte Fenster.
„Du denkst sie würde sich etwas antun?“
„Ja, das denke ich.“ stimmte er ihr zu.
„Gut, Kenny und ich waren uns gestern Abend auch einig, dass wir diesen Ort so schnell wie möglich verlassen sollten. Die Anderen können nicht weit sein. Und Kenny ist auch besorgt um seine Leute. Vielleicht kann Elliot mit den Funkgeräten helfen.“ Carver nickte zustimmend.
„Du hast ihn im Wald gefunden?“ harkte er nach und Lynn blickte ihn an: „Ja.“ Unsicher versuchte sie zu deuten, was Carver davon hielt. Seine Mimik veränderte sich nicht, er schien das gleiche Gefühl bei dem jungen Mann zu haben, wie sie. Er war keine Gefahr.
„Er kennt sich gut mit Technik aus. So jemanden können wir gut gebrauchen.“ stimmte er ihr indirekt zu. Ein leises Wispern fuhr durch die Tannen des Waldes und Lynn blickte wieder aus dem Fenster. Der Regen war stärker geworden, aber Niemand war auf der Lichtung zu sehen.
„Er kann dich nicht mehr hören.“
„Was?“ Lynn wirbelte zu Carver herum und sah ihn sein verwundertes Gesicht.
„Geht es dir wirklich gut?“ fragte er erneut. Lynn musste sich verhört haben. Hatte sie denn überhaupt etwas gehört? Vielleicht verlor sie allmählich den Verstand.
„Wir sollten zusammenpacken.“ verbannte sie schließlich alle Zweifel aus ihrem Kopf.
Die Anderen warteten bereits draußen, als Lynn das marode Haus auf der Lichtung verließ und auf Carver und Kenny zusteuerte. Serah war ungewöhnlich ruhig und blickte nur stumm in den regnerischen Wald.
„Ich habe mit Elliot gesprochen, er sagte, es gäbe südlich vom Fluss eine alte Mühle und weiter südlich im Gebirge, einen verlassenen Onsen.“ Informierte Kenny angespannt das Team.
„Was ist, wenn wir unterwegs auf Hybride treffen?“ fragte Diana verunsichert, aber Carver war ihr bereits ins Wort gefallen: „Ihr habt eure Waffen; haltet euch im Hintergrund. Kenny, Lynn und ich werden uns um sie Kümmern.“ Kopfschüttelnd sah Diana ihn an, sagte jedoch nichts mehr.
„Das modifizierte Funkgerät, welches ich umgebaut habe, kann in einem geringen Radius alle Funkkontakte aufspüren. Sollten also Hybriden in der Nähe sein, werden wir sie zuerst bemerken.“ während Elliot sprach, hatte er Niemanden der Gruppe angesehen, sondern starrte nur in den verregneten Himmel, das halbe Gesicht von seiner schwarzen Kapuze bedeckt. Unsicher blickte sich Lynn nach Serah um, aber sie starrte noch immer wortlos in den Wald hinein.
„Lasst uns gehen.“ befahl Carver rau und die Gruppe schlug allmählich ihren Weg durch den Wald ein.
Den gesamten Tag hatte es nicht aufgehört zu regnen und seit Stunden hatte niemand mehr ein Wort gesagt. Serah und Diana stand die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben und die Beiden hatten den Anschluss an den Rest der Gruppe beinahe verloren.
„Elliot, ist es noch weit?“ fragte Kenny schließlich und sah zu dem jungen Mann, der etwas abseits von ihnen lief.
„Es sollte nicht mehr weit sein.“ gab er konzentriert zurück und blickte kurz zu Lynn, die hinter ihm durch den hohen Matsch stapfte.
„Woher weißt du von der Mühle?“ ihre Stimme klang ruhig, aber ihre Augen verrieten Carver, dass sie ein ungutes Gefühl zu haben schien.
„Es gibt eine Siedlung, wesentlich weiter im Süden, in den Bergen. Kurze Zeit war ich bei ihnen, auf dem Weg zur Fischerhütte, bin ich auf die Mühle gestoßen.“ Elliots Stimme schwang eine gewisse Skepsis mit. Vermutlich hatte er bemerkt, dass Lynn dem Ganzen nicht traute.
„Ich bin nicht der Feind.“ fügte Elliot schließlich nur hinzu.
„War die Mühle unbewohnt?“ erkundigte sich Kenny und Elliot nickte.
„Ihr Zustand war noch gut.“ bestätigte er.
„Warum bist du nicht dort geblieben?“ harkte Lynn erneut nach, aber sie spürte, als Elliot sie nochmals ansah, seine Abneigung, die Frage beantworten zu müssen.
„Das tut nichts zur Sache.“ Ein lautes Platschen ließ die Vier schließlich innehalten und stehen bleiben. Sie sahen gerade noch, wie Serah an Dianas Arm zog und wieder versuchte, sie aus dem Matsch des Bodens zu befreien. „Ich mach das schon.“ raunte Carver ernüchtert und half den beiden Frauen. Während Kenny sich eine Zigarette anzündete und Elliot zugleich ebenfalls eine anbot, welcher sie auch dankend annahm, hievte Carver Diana auf seinen Rücken und gab seinen Rucksack an Lynn weiter.
In der Nacht hatten sie schließlich einen kleinen Bach erreicht, der sie Stromabwärts zu der von Elliot beschriebenen Mühle führte. Tatsächlich war sie noch gut in Schuss, fand Lynn, als sich das hohe Gebäude langsam hinter den Tannen vor ihnen aufbaute. Im oberen Stockwerk gab eine Aussichtsplattform. Von dort aus hatte man wahrscheinlich freie Sicht auf die unmittelbare Umgebung, musste Lynn feststellen.
Mit aller Kraft stemmten sich Kenny und Carver gegen die Tür, ehe die Zage nachgab und brach. Erschöpft betrat die Gruppe das nächste Quartier für die Nacht.
„Elliot, hilf mir mit dem Regal.“ Wies Lynn ihn an, während sich die Anderen ihrer Sachen entledigten und schob zusammen mit ihm, ein massives Holzregal vor die kaputte Tür.
Im Inneren der Mühle war es staubig, aber trocken. Der Boden war mit Holzplanken verkleidet, eine Holztreppe ließ den Weg in den Keller erkennen, in dem sich einmal die Getreidelager befunden haben mussten. Zu Lynns Überraschung hatte Jemand den gesamten Keller, bis aufs letzte, leergeräumt. Kein Nagel, kein Korn, nichts ließ sich dort unten finden. Ernüchtert kletterte sie die Treppe wieder hoch und sah sich weiter um. Der Innenraum war hoch gebaut, mindestens vier Meter waren es bis zur ersten Etage, zu der abermals eine hölzerne Leiter führte. Ein verstaubtes Fenster erlaubte den Blick auf den Bach. Das Plätschern des Regens war durch das Wasserrad, welches sich unnützer weise noch immer drehte, nicht mehr zu hören. Hohe Regale standen an den Wänden, darin fanden sich einige Marmeladengläser, Gewürze und Spirituosen. Jedoch schien es lange her gewesen zu sein, dass Jemand an diesem Ort gewesen war; überall türmte sich der Staub. Elliot hatte mit Kennys Feuerzeug einige Kerzen angezündet, die Serah gefunden und auf dem Tisch verteilt hatte, der im hinteren Raumende stand. Einige Papiere lagen darauf. Bei genauerem Hinsehen, erwiesen sie sich als Grundrisspläne der Mühle. Völlig erschöpft blickte Diana Lynn von einer kleinen hölzernen Eckbank aus an, auf die sie sich hinabfallen lassen hatte. Serah tat es ihr stumm gleich und lehnte ihren Kopf zurück in den Nacken, um durchzuatmen.
„Oben ist nichts zu finden, außer einige Stühle.“ rief Kenny von oben und hievte sie die Treppe hinunter, zu Carver.
„Wo ist Elliot?“ fragte Lynn verwirrt, nachdem sich alle an den Tisch gesetzt hatten und einen Moment inne hielten.
„Er ist oben.“ antwortete Carver und deutete Lynn, nach oben zu gehen. Zügig entledigte sie sich ihrer nassen Jacke und begab sich schließlich in die oberen Stockwerke.
Auf der Aussichtsplattform fand sie anschließend Elliot, wie er mit einer Zigarette in der Hand, nachdenklich auf dem Boden saß und in die Ferne blickte. Am Horizont war ein heller Schimmer zu sehen und nach einigen Minuten des Schweigens, setzte sich Lynn zu ihm.
„Frag mich schon.“ sagte Elliot leise und Lynn blickte verwundert in sein dunkles Gesicht.
„Erzähl du es doch einfach.“ erwiderte sie beinahe lautlos. Ihr war nicht mehr nach vielen Fragen zumute. Der Weg war anstrengend, der Regen hatte es keinesfalls leichter gemacht und wie es am morgen weitergehen würde, wusste auch noch niemand so recht. Und Dakon und die anderen blieben immer noch verschwunden.
„Ich war Hacker... aber das ist gefühlt ewig her. Kurze Zeit habe ich in einer Gemeinschaft, nicht weit von hier, gelebt. Aber Menschen interessierten mich noch nie sonderlich. Nachdem es immer mehr Regelungen und Sicherheitsmaßnahmen wegen der Hybriden gab, bin ich abgehauen.“ der Gesichtsausdruck, den er hatte, als er erzählte, erinnerte Lynn an etwas zwischen Todessehnsucht und Depressionen.
„Du bist von der VCO.“ sprach Lynn schließlich aus, was sie schon seit ihrem ersten Aufeinandertreffen vermutete. Elliot schwieg einen Moment, sah ihr schließlich ins Gesicht und lächelte bedeutungslos.
„Wie bist du in diese Welt gekommen?“
„Erzähl mir etwas von euch. Wie kommt ihr hierher, scheinbar Aussätzige, die nicht länger dazu gehören wollten...“ Lynn hatte Elliots ganze Aufmerksamkeit; er sah sie wieder mit diesem wachen, konzentrierten Blick an.
„Es ist eine lange Geschichte.“ sagte sie schwermütig und atmete laut in die kalte Nacht aus.
„Whiskey?“ fragte Kenny leise, nachdem er bemerkt hatte, dass Serah und Diana, Schulter an Schulter eingeschlafen waren. Elliot und Lynn kamen gerade leise die Treppe hinunter und setzten sich zu ihnen. Bereitwillig entleerte Carver einige Einmachgläser von Schrauben und Heftzwecken, die in einem der Regale gestanden hatten und stellte sie auf den Tisch, zu der Whiskeyflasche, die Kenny mitgenommen hatte. Großzügig goss er sich und den anderen ein.
„Wir brauchen einen Plan. Wir können nicht länger hier bleiben.“ eröffnete Kenny leise das Gespräch und blickte dabei zu Serah und Diana, die fest schliefen.
„Wir können nicht länger in dieser Welt bleiben.“ berichtigte Carver ihn und nahm einen Schluck Whiskey.
„Nicht unter diesen Umständen.“ stimmte Lynn zu und deutete damit indirekt auf Dianas und Serahs schlechte Verfassung.
„Die Siedlung, in der ich war; sie sind gut auf Angriffe vorbereitet. Vielleicht würden sie euch eine Zeit lang aufnehmen.“ schlug Elliot schließlich vor und blickte in die nachdenklichen Gesichter.
„Das wäre auch nur eine Lösung auf Zeit. Wir müssen zurück nach Elaìs.“ wandte Lynn ein und erntete ein raues „Eben“ von Carver.
„Angenommen, wir kommen bis zu der Siedlung und können dort bleiben; was dann?“ Während Kenny die Frage in den Raum stellte, zündete er sich eine Zigarette an.
„Elliot, hältst du es für möglich, dass du dort alles finden könntest um einen Transmitter für den Übergang zwischen den Welten zu bauen?“ absichtlich hatte Lynn diese Mutmaßung in eine unsicher klingende Frage verpackt; denn sie war sich beinahe hundertprozentig sicher, dass er dazu in der Lage wäre.
„Es wäre nicht auszuschließen.“ bestätigte er ihre Vermutung.
Im frühen Morgengrauen schon, stand Lynn bereits der aufgehenden Sonne entgegen, auf der Aussichtsplattform der alten Mühle. Die letzten Regenwolken schienen vorüber zu ziehen und für diesen Tag würde ihnen reichlich Licht für den Weg, in die Siedlung der Berge, zur Verfügung stehen. Erst nach einigen Sekunden, bemerkte sie Carver, der scheinbar ebenfalls kein Auge zugemacht hatte, und sie vom Boden aus, kurz beobachtete. Mit einem Nicken gab er ihr schließlich zu verstehen, dass sie die Anderen wecken müssten, um wieder aufzubrechen.
Sie waren bereits seit Stunden gelaufen, ehe sie endlich den ersten Pfad, der über die engen Bergpässe führte, erreichten. Die Tannen verdichteten sich auch in den Bergen, so dass sie geschützt ihren Weg bestreiten konnten. Den Marsch über, hatten sie nur wenig gesprochen. Serah war völlig verstummt. Die Hoffnung ihren Mann endlich wieder zu sehen, schien ihr jedoch neue Kräfte gegeben zu haben. Es war Dìana, die immer mehr zurück fiel, ehe Kenny alle zum Rast anhielt.
„Carver, Dìana schafft den Weg kaum noch. Ich befürchte wir werden die Siedlung heute nicht mehr erreichen.“ Äußerte Kenny, etwas abseits, seine Bedenken.
„Ich weiß.“ Bestätigte Carver ihm nur leise und verschaffte sich einen Überblick über den Zustand der anderen. Ebenfalls abseits, stand Lynn und ließ ihren Blick durch den Wald des Tals gleiten.
„Was beschäftigt dich?“ harkte Kenny nach, nachdem er die Sorgenfalten auf Carvers Stirn bemerkt hatte.
„Lynn.“
„Sie kommt scheinbar am besten mit der Situation klar... .“ erwiderte Kenny ein wenig verwundert, über diese scheinbar grundlose Sorge.
„Nein, irgendetwas ist mit ihr... ich weiß nicht wie es dir beschreiben soll.“ erklärte Carver nachdenklich und nahm eine Zigarette von seinem Freund entgegen, der ihm anschließend bereitwillig ein Feuerzeug reichte.
„Der Kampf war für uns alle zermürbend. Jeder geht anders damit um. Versuch nicht so viel darüber nachzudenken.“ versuchte Kenny ihm gut zuzureden. Stumm nickend, wandte sich Carver schließlich wieder den Anderen zu.
„Dìana, meinst du, du schaffst den Rest des Weges noch?“ Sorgenvoll hatte Carver ihr seine Trinkflasche gereicht und sie nahm hastig einige gierige Schlücke, ehe sie kurzatmig nickte.
„Mach dir keine Sorgen um mich.“ erwiderte sie leise und sah zu Serah, die ihr wohlwollend zunickte.
Elliot hatte sich zu Lynn gesellt und blickte einige Minuten stumm mit ihr in das Tal.
„Du hast gesagt, du bist nicht der größte Menschenfreund. Warum hast du dich uns angeschlossen?“ fragte sie schließlich leise und begegnete Elliots wachem Blick.
„Ihr seid anders.“ antwortete er ihr und holte tief Luft.
„Die Menschen... in der Stadt... in den Siedlungen... sie reden so viel. Ihr nicht.“ Es wirkte wie eine Rechtfertigung, die Lynn überhaupt nicht von ihm hatte hören wollen.
„Wirst du in der Siedlung bleiben?“ harkte Lynn schließlich nach, denn sie überkam der Gedanken, dass er aufgrund seiner Abneigung, doch noch einen Rückzieher machen könnte.
„Ich weiß es nicht.“ erwiderte Elliot. Immerhin war er aufrichtig und gab ihr somit das Gefühl, dass doch noch alles wieder in seine Bahnen kommen würde.
„Lasst uns weiter.“ Rief Kenny laut und sie begaben sich wieder zurück, auf den Weg in die Berge.
Den Kopf voller Gedanken, trottete Lynn in der späten Nacht, Carver und den Anderen hinterher. Carver hatte Dìana das Gepäck abgenommen und nun war es Lynn, die etwas zurück lag.
Immer wieder war sie kurz stehen geblieben, weil sie sich sicher war, Sakuyas Stimme gehört zu haben, die aus dem Tal, zu ihr hinauf drang. Immer wieder, hatte er ihren Namen gesagt. Unmöglich. Wäre er dort unten gewesen, hätte er schreien müssen, damit sie ihn hörte. Aber die Stimme die sie vernahm, klang ruhig und rau.
„Elliot, welchen Weg müssen wir nehmen?“ Rief Kenny von weiter vorne, nachdem sie an einer Gabelung des schmalen Passes angekommen waren. Serah fror, die engen Wege waren bereits mit Schnee bedeckt und die Luft wurde zunehmend dünner. Unsicher lief Elliot auf Kenny zu und sah sich grübelnd die beiden Wege an.
„Ich bin mir nicht mehr sicher.“ sagte er leise und Lynn vernahm die Unsicherheit in seiner Stimme.
„Carver, kannst du etwas entdecken?“ fragte Kenny, aber Carver schüttelte nur den Kopf.
„Weder Rauch, noch Lichter. Es scheint als gäbe es hier im Umkreis rein gar nichts.“ erwiderte er angestrengt.
„Lynn?“ erkundigte sich Kenny auch bei ihr, aber sie pflichtete Carver bei; auch sie konnte nichts außer Dunkelheit erkennen.
„Vielleicht sollten wir die Nacht hier rasten. Wenn es wieder hell wird, sehen wir vielleicht mehr.“ schlug Serah unruhig vor. Natürlich wollte sie so schnell wie möglich zu der Siedlung, in der Hoffnung, Dakon und die Anderen dort zu finden, aber auch sie wusste, wie dumm es war, einfach auf gut Glück einen Weg einzuschlagen.
„Lasst uns abseits vom Weg einen Unterschlupf suchen. Eine Felswand die uns vor dem Schnee schützt, sollte erst einmal reichen.“ erklärte Kenny schließlich und die Gruppe verließ niedergeschlagen den Weg der Berge.
Unterhalb einer Felsnische hatten sie sich ihr Lager notdürftig eingerichtet. Auf Carvers Anraten gab es kein Feuer, der Rauch hätte Hybride oder andere Feinde auf sie aufmerksam werden lassen können.
Nachdem Serah etwas unruhig, zwischen einigen Bäumen hervor kam, folgte ihr Kenny, mit seiner Schrotflinte.
„Die Umgebung scheint für heute Nacht sicher zu sein.“ erklärte er erschöpft und setzte sich zu Carver. „Das Funkgerät ist an, wenn Hybride in der Nähe wären, hätten wir sie bereits bemerkt.“ ergänzte Elliot etwas geistesabwesend. „Wenn die Sonne aufgeht, brechen wir wieder auf. Ruht euch etwas aus. Ich werde die erste Wache halten.“ während Carver sprach fiel sein Blick zu Lynn, die an die Felswand gelehnt, ihre Arme auf den Knien abgelegt hatte und stumm in die Dunkelheit blickte.
Langsam aber allmählich kehrte Ruhe ein. Serah und Dìana schliefen ähnlich schnell wie die anderen, nur Carver blieb wachsam, das Funkgerät neben sich liegend und sein Gewehr in den Händen haltend.
>> „Lynn.“ Es war Sakuyas Stimme gewesen, die sich hochschrecken ließ. Die Anderen schliefen noch immer. Unsicher stand sie auf und sah sich im schwachen Licht der bewölkten Sonne um. Der Schnee fiel dicht auf ihre braunen Haare. „Lynn.“ Wieder vernahm sie seine dunkle Stimme und folgte ihr, in die Richtung, aus der sie gekommen zu sein schien. Ihr Weg führte sie wieder auf den Weg des Passes und wie erstarrt, blieb Lynn schließlich stehen. Sakuya stand auf dem oberen Weg der Gabelung, ein Gewehr in seinen Armen, und mit einer blutenden Schusswunde an der Hüfte. Der Wind, der durch seine schwarze Jacke fuhr, offenbarte ihr die Verletzung. Seine blauen Augen leuchteten schwach, als er sich von ihr abwandte und langsam den Weg weiter lief.
„Sakuya!“ rief Lynn und rannte los. Allmählich verschwammen seine Konturen, um so näher sie meinte ihm zu kommen, um so undeutlicher wurde seine Silhouette. Was blieb, war die Spur seines Blutes im Schnee und ihr Name, den sie wieder und wieder hörte, als würde Sakuya ihn sagen.<<
Carver war von Lynns Murmeln aus seinen Gedanken gerissen worden. Ihre letzten Worte hatte sie laut ausgesprochen, „Sakuya“. Erschrocken über ihre eigene Stimme schreckte sie hoch und sah geradewegs in Carvers verwundertes Gesicht. Das Schweigen war ihr unangenehm, aber sie brauchte einen Moment um zu realisieren, wo sie überhaupt war. Carver schien das zu bemerken und fragte sie verwundert: „Ist alles in Ordnung?“ Peinlich berührt, stand Lynn nickend auf und entfernte sich. „Ich bin sofort zurück.“ gab sie ihm noch leise zu verstehen und war dann hinter den angrenzenden Tannen, zwischen Schnee und Dunkelheit, verschwunden.
Unsicher betrat sie den schmalen Weg, den sie zuvor gekommen waren und folgte ihm bis zur Gabelung, an der sie im Traum Sakuya gesehen hatte. Wie besessen begann sie nach Spuren zu suchen. Blut, Patronenhülsen, irgendetwas. Sie fand nichts. Zitternd sank sie zu Boden und blieb im Schnee hocken. Was geschah mit ihr? Verlor sie etwa langsam den Verstand? Allmählich gaben ihre schwachen Arme, unter dem Gewicht ihres Körpers nach. Das Letzte was sie spürte, war der eisige Schnee in ihrem Gesicht.
>>Panisch wachte Lynn auf der Pritsche in ihrer Baracke auf. Der gesamte Stützpunkt der VCO lag in einem tiefen Schlaf. Nur das Murmeln eines Soldaten auf dem Flur, konnte Lynn vernehmen. Schweißgebadet setzte sie sich auf. Es war Nacht, das konnte sie anhand der Stille deuten und das Licht ihrer Zelle war abgeschaltet. Seitdem sie, aufgrund ihrer Unachtsamkeit, von einem Gegner im Wald verletzt worden war, hatte man ihr nicht mehr erlaubt, ihre Baracke zu verlassen. Bereits seit sechs Tagen ging das nun so. Die Verletzung an der Innenseite ihres linken Oberschenkels lag unter einem dicken Verband; Hershel hatte die Wunde genäht, aber Lynn spürte zunehmend, wie das Jucken der Wunde stärker wurde. Als sie in seinem Labor wieder zu sich gekommen war, hatte sie natürlich die erschrockenen Blicke von Hershel und Sakuya bemerkt. Und von ihrem innerlichen Gefühlschaos einmal abgesehen, wusste sie nicht so recht, warum man sie nun nicht mehr am Training teilnehmen ließ. Was sie jedoch wusste war, dass Negan einmal am Tag kam, um sie zu begutachten und ihr einige Tabletten zu verabreichen. Was genau das nun wiederum alles sollte, konnte sie sich nicht erklären. Unruhig stand Lynn auf und tastete vorsichtig über ihre Brüste; sie waren größer geworden, schmerzten jedoch unaufhörlich. Sie war an dieser Stelle nicht verletzt, und die Frau des psychologischen Teams der Basis hatte ihr erzählt, dass dies dazu gehöre, wenn man erwachsen werden würde. Zu viele Fragen und zu wenig Antworten, taten sich in Lynn auf. Einen Augenblick lang überlegte sie, hinaus zu gehen, der Wachmann schien gerade in die andere Richtung des Flures zu laufen. Seine Schritte entfernten sich zunehmend. Und dann? Wollte sie etwa eine Runde über die Basis drehen? Zwecklos. Würde man sie erwischen, würde das ganze nur wieder Bestrafungen mit sich ziehen. Somit entschloss sich Lynn, sich wieder hinzulegen und auf den nächsten Tag zu warten, in der stillen Hoffnung, dass sie wieder in Sakuyas Team zurück dürfte und wie gewohnt am Training teilnehmen können würde.
Noch bevor Negan die Türe ihrer Baracke ganz geöffnet hatte, war Lynn bereits aufgestanden und salutierte. Der Ausdruck jedoch, den er im Gesicht hatte, gefiel ihr keineswegs. Mit einem undeutlichen Lächeln und einer unsicheren Anspannung, stand er ihr gegenüber und forderte sie dazu auf, ihre Uniform anzuziehen. Während sie dies tat, drehte er sich um.
„Dr. Porter will dich sehen. Er wird heute eine Messung durchführen. Die Tabletten, die du in der letzten Woche verabreicht bekommen hast, sind ein Feldversuch zu unserem aktuellen Reproduktionsprogramm.“ Negan hatte sich wieder zu ihr gedreht. Hatte er da gerade „Reproduktionsprogramm“ gesagt? Wollten sie etwa Soldaten züchten? Und sie sollte dabei mitmachen? Wütend ballte Lynn ihre Fäuste; was hielt sie eigentlich davon ab, Negan auf der Stelle zu töten? Warum wandte sich eigentlich nie Jemand gegen ihn? Aber wenn sie das nun tun würde, hätte sie garantiert mehr zu befürchten, als eine reine Isolation. Und Sakuya? Sie hatte ihm doch versprochen stets zu gehorchen.
„Lass uns gehen.“
Nachdem sie Negan über den Hof gefolgt war, sah sie endlich Sakuya, der einigen Männern seines Teams erneut die grundsätzlichen Nahkampftechniken erklärte. Auch er hatte sie bemerkt und einen Augenblick lang inne gehalten, ehe er weiter mit seinem Training fortfuhr. Verwirrt betrat Lynn zusammen mit Negan, Hershels Labor.
„Dr. Porter, beginnen Sie mit den Messungen.“ Wies Negan den Doktor an, und sofort platzierte Hershel Lynn, behutsam auf einem seiner Tische.
„Ich werde dir jetzt Blut abnehmen, um es zu untersuchen.“ erklärte er ruhig und in alter Manier, Lynn seine Vorgehensweise. Jedoch ganz zu Negans Ärgernis. Wütend hämmerte er auf einige Unterlagen. „Geht das etwas schneller? Wir sind bereits im Verzug.“ drängte Negan verständnislos. Hershel nickte stumm und griff zu seinen Utensilien.
Nervös beobachtete Negan, wie Hershel Lynns Ärmel hochkrempelte und ihr etwas Blut abnahm.
„Sir, die Untersuchung wird einen Moment dauern.“ sagte er schließlich und blickte von einer Zentrifuge aus, Negan nervös an. Er nickte genervt und betrachtete Lynn.
„Wenn dieses Projekt Früchte trägt; wird das nicht Ihr Schaden sein, Dr. Porter.“ erklärte Negan laut und ging einige Schritte auf Lynn zu.
„Du bist eine gute Kandidatin für dieses Pilotprojekt. Jung, gesund, widerstandsfähig und leistungsstark. Wenn die Fertilisation erst einmal stattgefunden hat, werden wir die Zygote in etwa zwei Wochen wieder entfernen. Diese wird anschließend im Labor vervielfacht. Du brauchst dir also keine Sorgen darum zu machen, schwanger zu werden und nicht mehr am Training teilnehmen zu können.“ Während Lynn den ersten Teil des Satzes nicht verstanden hatte, hatte sie letzteren jedoch so gut verstanden, dass nun die blanke Angst in ihr Aufstieg. Sie wollten sie schwängern? Wie konnte Hershel das nur zulassen? Betrübt kam er mit dem Ergebnissen der Blutuntersuchung zu Negan. „Aber Hershel, warum schauen sie denn so niedergeschlagen? Das sind doch hervorragende Werte!“ triumphierte Negan leise. Aber als Lynn Hershels Blick sah, wusste sie, dass er ihr dieses mal nicht mehr helfen konnte.
„Sir, ich möchte Sie nochmals darauf hinweisen, dass Lynn vermutlich bereits im frühen Kindesalter schwere traumatische Erfahrungen gesammelt hat, was jegliche sexuelle Interaktion erschweren könnte.“ trotzdem Hershel extrem leise gesprochen hatte, hatte Lynn mehr als die Hälfte davon verstanden. Was das allerdings bedeuten sollte, erschloss sich ihr nicht.
„Zudem bedenken Sie bitte, wie die vorherigen Ergebnisse aussahen; nicht lebensfähige Embryonen. Es ist zu gefährlich; sie ist viel zu jung.“
„Ich will jetzt nichts mehr von Ihnen hören, Hershel, haben Sie mich verstanden? Durch das Geomas kann sich alles anders entwickeln; Sie haben es selbst gesagt!“ brüllte Negan durch den Raum.
„Und jetzt will ich endlich, dass alles vorbereitet wird.“
Unruhig und aufgewühlt saß Lynn auf der Pritsche einer fremden Baracke. Der Raum war leer. Nur ein vergittertes Fenster lag gegenüber der Tür. Zwei fremde Soldaten hatten sie dorthin gebracht. Einen Augenblick lang dachte Lynn an Sakuya. Warum hatte er sie nicht gebracht? War er vielleicht derjenige, mit dem man sie „paaren“ wollte? Der Gedanke machte sie reichlich nervös. Aber er war wesentlich älter als sie, und ihr Teamleiter. Auf solch eine Idee würde Negan wohl eher nicht kommen. Einige Momente sehnte sich Lynn nach den früheren Jahren zurück. Sie vermisste es, wie Sakuya ihr alles ganz genau erklärt hatte, immer zu geduldig mit ihr gesprochen und ihr alles ganz ruhig gezeigt hatte. Wann hatte all das aufgehört? Seit wann, wandte er sich stets so schnell von ihr ab, wenn sie sich einmal etwas näher kamen? Und vor allem, warum sah er sie nur noch mit einem solch ernsten Blick an? Fröstelnd ließ Lynn ihren Hinterkopf gegen die Steinmauer prallen, als sie Schritte auf dem Flur vernahm und sich aufrecht hinstellte. Die Tür öffnete sich mit einem Ruck und ein fremder Soldat, in einem grauen Shirt, betrat die Zelle. Jemand schloss die Türe hinter ihm. Momente der Stille vergingen, in denen Lynn den Fremden betrachtete. Was erwartete man nun von ihr? „Zieh dich aus.“ Befahl er ihr rau. Seine größere Statur und seine blauen Augen, erinnerten sie ein wenig an Sakuya. Wie würde er sie morgen ansehen? Hatte er das gewollt?
„Verstehst du nicht? Du sollst dich ausziehen.“ Wiederholte der Mann seinen Befehl und tat den Anfang, indem er sein Shirt auszog und einige Schritte auf Lynn zumachte. Sie konnte sehen, wie nervös er war, als er vorsichtig nach ihrem Arm griff und den Saum ihres Oberteils ergriff, um es ihr auszuziehen.
„Du brauchst keine Angst vor mir haben; ich werde dir nicht weh tun.“ sagte er schließlich leise und sah zu ihr hinab. Er klang zwar bestimmend, hatte aber etwas freundliches an sich. Was auch immer er verlange, er war definitiv älter als sie, und somit hatten sie seinen Befehlen folge zu leisten. Aber hier war Niemand, der darüber urteilen konnte. Sollte sie sich also vielleicht doch wehren?
„Setz dich.“ Bat er sie schließlich und blieb vor ihr stehen, um ihr ins Gesicht blicken zu können.
„Dass du jung wärst, hatte man mir gesagt, aber so jung...“ er stockte einen Moment und beugte sich schließlich zu ihr hinunter, um nach ihrem Kinn zu fassen.
„Du hast Todesangst, oder?“ In dem Moment, als der Fremde es bemerkte, spürte Lynn bereits die ersten Tränen über ihre Wangen hinabrinnen. Dieses Zeichen der Schwäche hatte sie nicht beabsichtigt; es war einfach geschehen. Überrascht ließ der Fremde von ihr ab und setzte sich neben sie. Gerade im Begriff seine Hand auf ihr Bein zu legen, schlug sie seinen Arm weg und sprang auf. Würde er sie versuchen anzufassen, würde sie ihn töten, ohne zu zögern. Sie würde ihn mit ihrem Gürtel strangulieren, oder seinen Kopf so oft gegen die Mauer schlagen, bis seine Schädeldecke aufplatzt. Ein Schwall voller Verzweiflung und Wut stieg in Lynn auf. Aber auch dem Fremden schien die Situation nicht sonderlich zu gefallen. Bedrohlich stand er auf und ging erneut einige Schritte auf sie zu. Abwartend stand Lynn in die Ecke des Raums gedrängt und versuchte seine Bewegungen einzuschätzen. Als er sein Knie hob, war sie im begriff, den vermuteten Tritt abwehren zu wollen, aber plötzlich packte er sie mit beiden Händen und drückte sie mit voller Kraft an die Wand.
„Hör auf damit!“ Befahl er ihr lautstark, aber sie stemmte sich gegen sein Gewicht und brachte ihn schließlich dazu, das Gleichgewicht zu verlieren. Stolpernd kam er einige Schritte von ihr entfernt wieder zum stehen und holte aus. Unerwartet traf seine Faust genau ihr Gesicht und Lynn sackte nach Luft ringend zu Boden. Sie hatte das Gefühl, als hätte er ihr die Nase gebrochen und sah bereits das erste Blut, zwischen ihren Knien, auf dem Boden.
„Wir sind hier fertig!“ brüllte der Mann anschließend und prompt öffnete einer der Soldaten die Tür der Baracke und führte ihn ab. Ein anderer eilte zu Lynn und versorgte sie notdürftig.
Man hatte sie zurück gebracht. Ihrer Nase ging es gut, nur ihre Lippe war aufgeplatzt und hatte sich leicht bläulich verfärbt. Unruhig lag Lynn auf ihrer Pritsche. Negan hatte sich nicht mehr blicken lassen. Vermutlich hatte er bereits von dem Vorfall erfahren. Was würde Sakuya nur dazu sagen? Zitternd griff sie nach seiner Jacke. Sie fühlte sich zutiefst gedemütigt. Auf dem Platz hätte sie leichtes Spiel mit dem Fremden gehabt. Aber die vergangene Situation hatte sie mehr als überfordert.
Müde von all den Tränen, schlief sie allmählich ein. Aber Alpträume quälten sie. Immer wieder sah sie fremde Männer, mit schweren Schuhen, spürte den reibenden Sand an ihrer nackten Haut. Messerstiche, Schmerz und Blut.
Ihr Atem kam nur noch stoßweise, als sie endlich wieder erwachte und sich den Schweiß mit zitternden Händen aus dem Gesicht wischte. Hatte sie etwa von ihren Kindertagen in der Wüste geträumt? Bevor Sakuya sie zur VCO gebracht hatte?
Regungslos lag Sakuya in seinem Zimmer auf dem Sofa, gegenüber dem Schreibtisch. Die Akten stapelten sich dort; aber er wollte nichts mehr tun. Die Geschehnisse der letzten Wochen machten ihm mehr als Sorgen. Der Befehl für die anstehende Mission in in Tschad Na Ham rückte immer näher. Bereits zweimal war er in der Wüste gewesen. Was dort geschah, hatte immer tiefe Spuren bei allen Beteiligten hinterlassen und reichlich Opfer gefordert. Krampfhaft versuchte Sakuya sich zum einschlafen zu zwingen. Er dachte kurz an Lynn und daran, wie sehr sich die Situation im letzten Jahr, zwischen ihnen beiden verändert hatte. Täglich wurde ihm immer wieder bewusst, dass sie nicht mehr das kleine, stumme Mädchen war, das er einmal aus der Wüste gerettet hatte. Sie war größer geworden, erwachsener. Und mit dem anstehenden Einsatz würde alles vermutlich noch schwerer werden. Immer mal wieder ertappte er sich selbst dabei, wie er sie mit dem Blick eines Mannes betrachtete. Wie seine Augen über ihre Lippen glitten, und er daran dachte, wie es wäre, sie unter sich liegen zu spüren. Sakuya schob die Gedanken beiseite. Das war alles absurd. Alles. Vielleicht würde die Wüste etwas verändern. Vielleicht würde er nicht mehr zur Basis zurück kehren . Allmählich dämmerte er weg und erwachte erst wieder, als er hörte, wie jemand die Türe öffnete. Leise kam Lynn herein; ihre Augen hätte er unter tausenden, auch in der Dunkelheit, erkannt. Er richtete sich auf; war etwas passiert? Zitternd kniete sie sich vor das Sofa. Er sah trotz der Dunkelheit, dass ihre Lippe aufgeplatzt war; es war also etwas passiert.
„Wer war das, Linnai?“ fragte er leise, aber sie gab ihm keine Antwort. Er schlug die Wolldecke um und Lynn legte sich, ohne zu zögern neben ihn. Ihre Wirbelsäule dicht an seine Brust geschmiegt, kam ihr Atem nur stoßweise. Nein, all zu viel hatte sich nicht zwischen ihnen verändert. Noch immer galt ihr ganzes Vertrauen ihm. Nachdem sie eine Weile so gelegen hatten, spürte er, wie sie sich langsam entspannte und ruhiger wurde. Was auch immer sie quälte, es ließ langsam nach. Bis sie endlich einschlief.
Der Morgen kam und das laute Poltern an der Türe, ließ Sakuya hochschrecken. Mit einem Mal stand Negan, gefolgt von zwei Wachen, in seinem Zimmer.
„Lynn, raus hier, sofort!“ brüllte er ungehalten. Sofort folgte sie seinem Befehl und einer der Wachleute brachte sie zurück zu ihrer Baracke.
„Sakuya Kira, ich gebe dir einen Tipp: Sollte sie sich den Männern wegen dir verweigern, schicke ich sie dorthin zurück, wo sie hergekommen ist. Dann hat diese eigenwillige Beziehung zwischen euch ein jähes Ende.“ Die Tür flog zurück in ihre Ausgangsposition. Nein. So nicht. Sakuya war aufgestanden und sprintete auf den Flur, geradewegs auf Negan zu, der mit dieser Reaktion nicht gerechnet hatte. Mit einem lauten Poltern hatte Sakuya ihn gegen eine andere Türe gedrückt und machte dem anderen Soldaten mit einem Handzeichen klar, besser weg zu bleiben:
„Damit wir uns verstehen: Sie vertraut mir und das ist auch gut so. Denn während du nichts besseres zu tun hast, als immer mehr zu wollen, reißen sich deine Leute hier den Arsch für dich auf! Ich werde also mein Team nehmen und mit ihnen in der Wüste deine Befehle ausführen. Und nichts in der Welt wird mich davon abhalten, das geistige Band, zu jedem Einzelnen von ihnen, zu bewahren! Denn das macht ein Team aus, haben sie verstanden, Sir?“ Entgegen seiner Intention zuzuschlagen, ließ Sakuya widerwillig von Negan ab, der sich hustend und ächzend krümmte.
„Das hast du nicht umsonst getan.“ drohte Negan nur noch halblaut, aber Sakuya war bereits auf den Weg zurück.
Bei dem Training im Wald, war es Lynn nicht entgangen, dass einige Männer aus den anderen Teams tuschelten. Sie war sich aber sicher, mehrmals ihren Namen gehört zu haben und die Blicke der Männer bestätigten ihren Verdacht zusätzlich. Sakuya hingegen stand neben einem der anderen Einsatzleiter und schwieg, während dieser seine Befehle an die Soldaten richtete. Lynn hatte Mühe sich zu konzentrieren.
Nachdem sie ihre Befehle erhalten hatten, nahm jeder seine Waffe und machte sich auf den Weg, in den Wald. Lynn hatte so lange gewartet, bis beinahe alle Männer aus ihrem Sichtfeld verschwunden waren, ehe sie in die Kiste mit den Waffen griff.
„Hey, Lynn, bück dich doch noch einmal.“ raunte ihr ein Fremder in den Nacken und prompt drehte sie sich zu ihm um. Er war wesentlich größer als sie und sah grinsend zu ihr hinab.
„Vergiss es, sie ist wie ein Tier! Vielleicht was fürs Auge, aber sie wird dich verprügeln wie einen Hund.“ Lachte ein weiterer.
„Warte ab bis wir in der Wüste sind, dort wird auch sie sich einsam fühlen.“ rief er seinem Freund entgegen und spürte prompt Lynns festen Händedruck, um seinen Hals. Mir nur einem Arm schaffte sie es, ihn hochzuheben. Zappelnd und keuchend wandte sich der Mann. Während die anderen Teamleiter etwas besprachen, hatte sich Sakuya jedoch zu ihr umgedreht und sah sie nur warnend an. Auch ohne Worte verstand sie, dass das, was sie da gerade tat, entgegen ihrer Abmachung war. Freunde verletzte man nicht. Aber jemand der so über sie sprach, schien ihr auch kein Freund mehr zu sein.
„Lynn.“ Mahnte Sakuya sie und begab sich in ihre Richtung. Noch immer stand sie mit ausgestrecktem Arm da und hielt den Soldaten knapp über den Boden, am Hals.
„Lass ihn runter.“ befahl er ihr, aber sie dachte nicht daran. Dem Blick dem sie begegnete, machte ihr jedoch mehr als Angst.
„Lass ihn runter.“ Diese Worte hatten so viel Nachdruck, dass ihr die Knie weich wurden und sie den Soldaten losließ. Er fiel auf die Knie und rieb sich keuchend und mit rotem Kopf den Hals.
„Du bist vom Training ausgeschlossen.“ entschied Sakuya kühl, aber Lynn stand nur kopfschüttelnd vor ihm. Während sich die restlichen Männer auf den Weg in den Wald begaben, packte Sakuya Lynn am Arm und zog sie mit sich, in die andere Richtung.
„Lass mich los!“ rief Lynn lautstark, aber Sakuya hatte solch immense Kraft, dass sie gegen ihn nicht ankam.
„Du hast mir etwas versprochen.“ sagte er nur ruhig und ließ sie schließlich los. Wütend und keuchend, von all ihrer Gegenwehr, stand sie ihm, an einem kleinen Flusslauf gegenüber und sah wütend zu ihm auf. Worüber war sie eigentlich so wütend? Darüber, dass man sie gestern so gedemütigt hatte? Darüber, dass sie sich in letzter Zeit so viele Dinge anhören musste, nur weil sie kein Mann war? Oder darüber, dass Sakuya sich immer mehr von ihr distanziert hatte; warum auch immer? Die Fragen in ihrem Kopf ließen sie verstummen. Sie hatte nichts mehr zu sagen. Noch immer stand Sakuya vor ihr und sah zu ihr hinab. Vielleicht wäre es nun gut und er würde sie wieder zum Training lassen.
„Und jetzt geh. Ich will dich hier die nächsten Tage nicht mehr sehen.“ Obwohl es ihn schmerzte, musste er standhaft bleiben. Sie würde ihre Fehler nur verstehen, wenn sie eine Strafe bekäme. Ihren Kopf gesenkt, ging Lynn langsam an Sakuya vorüber. Er hatte damit ein ganzes Stück an Vertrauen eingebüßt, das wusste er und wollte sich gerade wieder auf den Weg machen, als Lynn ihm, von hinten einen Schlag verpasste. Sofort erwiderte ihn Sakuya und traf Lynn mit voller Wucht, in die Rippen. Aber entgegen der Befürchtung sie würde, nach Luft ringend zu Boden gehen, holte sie erneut aus. Das ganze eskalierte.
Sakuyas Überlegenheit taxierte Lynns Körper schließlich in das Flussbett. Aber ehe er sich einige Schritte von ihr entfernen konnte, trat sie ihm gegen das Knie und riss ihn anschließend zu sich hinab.
Ihre Hände mit seinen im Kies fixiert, ruhte sein halbes Körpergewicht, gestützt durch sein Knie, auf ihrer Hüfte und drückte sie in das seichte Wasser.
„Bist du jetzt fertig?“ fragte er sie rau und sah in ihr verschwitztes Gesicht. Ihre blauen Augen hatten sich mit Tränen gefüllt und er spürte, wie sie aufhörte gegen ihn anzukämpfen.
„Es tut mir leid....“ murmelte sie atemlos unter seinem Gewicht. In der stillen Hoffnung, er würde darauf eingehen, hielt Lynn inne, spürte jedoch nur, wie Sakuya wieder von ihr abließ. Ihr Blick verfolgte ihn, wie er langsam im Wald verschwand. Er hatte ihr nichts mehr zu sagen. Für den heutigen Tag war es genug.
Nachdem Lynn im Speisesaal gewesen war, wohlgemerkt war sie dort die einzige, da die anderen Rekruten noch beim Training waren, hatte sie ein Wachmann zu ihrer Baracke gebracht. Stundenlang hatte sie die trostlose Wand angestarrt. Warum hatte sie im Wald auch so reagiert und sich gegen Sakuya gewandt? Natürlich war es ungerecht, dass er sie wieder von dem Training ausschloss, das Einzige, was sie hatte. Aber warum waren die Worte der anderen Rekruten nicht einfach an ihr abgeprallt, wie schon so oft? Warum hatte es sie dieses Mal so sehr verletzt? Die anderen Mädchen, wie Saya, scheinen solche Probleme nicht zu haben. Immer wieder verfolgte Lynn stumm die Gespräche in den Duschräumen. Sicherlich waren sie älter, aber sie sprachen auch wesentlich anders über die männlichen Soldaten. Es grenzte beinahe an eine Art der Verehrung, mal abgesehen von dem ständigen, ohrenbetäubenden Kirchen, welches sie dauerhaft von sich gaben. Ob eine von ihnen mit in die Wüste kommen würde? Unwahrscheinlich. Beim Training waren sie ungeschickt und unkonzentriert. Ihre Leistungen waren in keiner Art und Weise mit denen der Männer zu vergleichen.
Kopfschüttelnd richtete sich Lynn von ihrer Pritsche auf. Sie würde duschen gehen. Die nächsten Tage würden auch vorüber gehen und dann könnte sie auch wieder am Training teilnehmen.
Nachdem sie sich ihrer Uniform entledigt hatte und sich nun das warme Wasser der Dusche über sie ergoss, dachte Lynn wieder über den anstehenden Einsatz in der Wüste nach. Wie wäre es dort? An einem anderen Ort... in der Stadt? Andere Menschen, normale Menschen, Straßen, Häuser und all das zu sehen? Bisher kannte sie doch nur all das aus dem Unterricht auf der Basis. Wie würde es sein, das erste mal in „Freiheit“?
Schreie und Schüsse hallten in ihrem Kopf. Wie ein unaufhörliches Echo hörte Lynn die fremden Stimmen. Staub und Feuer erstreckten sich über die ganze Stadt, inmitten der Wüste. Die Stände der Verkäufer waren nur noch Einzelteile. Überall waren Feuer und Staub. Sie hatte ihn aus den Augen verloren. Sie hatte den Überblick verloren. Völlig verloren stand Lynn mit weit aufgerissenen Augen inmitten dem Chaos der Stadt. Wo war Sakuya? Wo war ihr Team? Einem lauten Zischen, folgte eine schwere Erschütterung und riss sie endgültig zu Boden.<<
Beunruhigt war Carver aufgestanden und hatte sein Gewehr geschultert. Lynn war bereits zu lange weg. Er kannte sie nun schon eine Weile, vielleicht brauchte sie einfach einen klaren Kopf, aber es war nicht ihre Art, einfach zu verschwinden. Aufmerksam machte er sich auf den Weg durch den kurzen Tannenabschnitt, hin zum Bergpass, von dem sie gekommen waren. Ihre Fußspuren waren trotz des fallenden Schnees noch immer zu erkennen.
Als er sich langsam der Gabelung, die weiter in die Berge führte, nährte, erkannte er sie schließlich im Schnee liegend. Etwas jedoch machte ihn stutzig; da waren, direkt neben ihr, noch ein Paar Spuren im Schnee. Sie waren wesentlich größer. Wachsam hielt Carver einen Augenblick lang inne und zielte mit seinem Gewehr in die Dunkelheit. Einige Sekunden lang geschah nichts, bis er plötzlich den bläulichen Schimmer um Lynns Körper herum wahrnahm. Es war, als würde sie glühen, oder hätte eine Aura um sich herum schweben. Wachsam ging Carver einige Schritte näher an sie heran, als er plötzlich eine Stimme vernahm. Er war sich sicher, wie ein Echo immer wieder den Namen „Linnai“ zu hören... hatte Sakuya sie nicht immer so genannt? Und mit einem male regte sich Lynn und blickte zu Carver auf; das grüne Flackern in ihren Augen hatte wieder begonnen, aber sie sah ihn, bei vollem Bewusstsein an. Und dann ließ ihr Blick von ihm ab und verfolgte die Spuren im Schnee. Carver tat es ihr stumm und voller Anspannung gleich, als auch er, die dunkle Silhouette eines Mannes, auf dem oberen Bergpass sehen konnte. War das Sakuya dort?
„Du siehst ihn auch, nicht wahr?“ fragte Lynn leise, sich sicher, den Verstand zu verlieren.
„Ja...“ erwiderte ihr Carver laut und deutlich.
„Er ist nicht hier.“ erkannte Carver schließlich und Beide beobachteten, wie sich die Konturen im dichteren Schneetreiben langsam wieder auflösten.
Sie waren zurück zu ihrem Lager gegangen und saßen sich noch eine Weile stumm gegenüber. Weder Lynn, noch Carver, vermochten über das Gesehene zu sprechen. Aber Beide wussten, was sie gesehen hatten.
Der nächste Morgen brachte keinen weiteren Schnee. Im Gegenteil, die dichten Wolken waren der Sonne gewichen und Lynn blinzelte mit vorgehaltener Hand, auf dem Bergpass zu der Gabelung, an der sie in der Nacht, noch Sakuyas Gestalt gesehen hatte. Langsam versammelten sich auch die anderen auf dem Weg.
„Es ist der nördliche Weg.“ sagte Lynn bestimmt und suchte Carvers Blick, der ihr stumm versicherte, dass auch er ihn für richtig hielt. Gerade im Begriff sich gegen die Bestimmung aufzulehnen, unterbrach Kenny Dìana: „Ihr habt es gehört.“ Denn nur ein Blick zu Carver hatte ihm versichert, dass auch er sich sicher war. Warum auch immer.
„Lasst uns gehen.“
„Du siehst irgendwie verändert aus.“ stellte Serah nachdenklich bei Lynns Betrachtung fest, während sie ihren Rucksack schulterte.
„Ja, deine Augen... sie haben plötzlich so einen grünen Schimmer.“ stellte sie leise fest, aber gerade laut genug, damit Carver sie hören konnte. Sein wachsamer Blick traf den von Lynn, indem er ihre Angst sehen konnte. Sie hatten keinerlei Geomas Reserven mehr bei sich. Und Lynn würde diesem Zustand nicht mehr lange standhalten können. Würde es zu einem Kampf kommen, könnte dies fatale Folgen haben.
„Wir sollten jetzt gehen.“ Unterbrach Lynn Serah und folgte den anderen nach Norden, weiter in die Berge hinein.
Sie waren bereits den halben Tag gelaufen und allmählich lichtete sich die Flora. Die Tannen wichen immer mehr größeren Felsen und steilen Hängen. Wären die Hybriden hier oben, dann hätten sie gewiss mit nur wenigen zu rechnen. Ein Militärfahrzeug hätte auf den schmalen Bergpässen keinen Platz gehabt. Jedoch erschien es Lynn immer unwahrscheinlicher, in dem Dorf auf Sakuya und die anderen zu stoßen. Der Weg war zu beschwerlich. Sicherlich hatten sie sich eine andere Route für ihre Flucht ausgesucht. Was jedoch Lynn den gesamten Weg über nicht mehr aus dem Kopf ging, war die Tatsache, dass sie Sakuya nun schon mehrmals an Orten gesehen hatte, an denen er nicht gewesen zu sein schien. Zugleich erinnerte sie sich an ihren Aufenthalt in Valvar. Als sie mit Carver und Hershel auf dem verlassenen VCO Stützpunkt gewesen war. Sie war sich sicher, auch dort seine Gestalt gesehen zu haben. Hershel hatte jedoch nie etwas von solchen Fähigkeiten ihr gegenüber erwähnt, oder zumindest konnte sie sich nicht mehr daran erinnern.
„Du und Carver... war gestern Nacht irgendetwas?“ harkte Kenny plötzlich bei Lynn nach und ließ sich mit ihr etwas zurückfallen. Einen tiefen Atemzug nehmend, blickte sie Kenny an und blieb stehen: „Was ist, wenn wir die anderen dort nicht finden werden?“ Kennys neugieriger Blick wich Besorgnis.
„Dann wird dein junger Freund da vorne, den Transmitter bauen, und wir kehren zurück nach Elaìs.“ Nachdenklich hielt Lynn einen Augenblick lang inne, ehe sie sagte: „Wir können die anderen nicht zurücklassen. Es sind auch Männer von dir dabei.“ Kenny schnaufte verächtlich.
„Du meinst, wenn die Hybriden noch einen von ihnen übrig gelassen haben.“ Er hatte ja recht. Seine Männer waren gut ausgebildet gewesen, aber bei ihrer Flucht hatte Lynn unzählige Leichen gesehen. Wer wusste schon, wer überlebt haben würde.
„Wirst du zurück nach Valvar gehen?“ fragte sie ihn schließlich nachdenklich. Kenny nickte nach einigen Augenblicken und betrachtete die steilen Berghänge.
„Sade und die anderen brauchen mich in Yad Wa Shem.“ verständnisvoll nickte Lynn und blickte einen Augenblick in Kennys faltiges Gesicht. Seufzend deutete er ihr, dass sie wieder zu den anderen aufschließen müssten, denn sie hatten bereits keinen Sichtkontakt mehr. Gerade im Begriff ihren Marsch wieder aufzunehmen, vernahmen die Beiden jedoch zahlreiche Schüsse. Ein kurzer Blickwechsel ließ sie schließlich lossprinten.
Nachdem Lynn und Kenny einige Steilhänge passiert hatten, sahen sie endlich was vor sich ging; eine Gruppe Hybrider, deutlich an der Uniform der VCO zu erkennen, hatte das Feuer eröffnet. Scheinbar hatten sie gerade ihr Lager zusammengepackt, als sie überrascht wurden.
Während Serah und Dìana an einer Felswand Schutz suchten, gab ihnen Elliot mit einem Gewehr Deckung. Carver hingegen hatte hinter einigen Felsen Schutz gesucht und bereits einen Hybriden ausschalten können.
„Verdammt.“ entglitt es Kenny leise, und Lynn sah die Panik in seinen Augen, als er das Geschehen beobachtete. Angestrengt versuchte Lynn die Hybriden zu zählen, es waren noch maximal Vier oder Fünf, da war sie sich nicht sicher, denn auch sie suchten hinter einigen schneebedeckten Felsen Schutz, während sie den Kugelhagel von Elliot und Carver erwiderten.
„Es ist aussichtslos. Wir sind ihnen nicht gewachsen, wir müssen zurück und einen anderen Weg finden.“ sagte Kenny leise. Kopfschüttelnd suchte Lynn hektisch nach ihrem Messer. Anschließend nahm sie ihr Sturmgewehr in Anschlag und sprintete los.
„Lynn!“ rief Kenny nur warnend, denn alles deutete auf ein Himmelsfahrtkommando.
Zielstrebig rannte Lynn den Bergpass hinauf, direkt auf die Gruppe Hybriden zu. Als Carver und die anderen sie bemerkten, war jede Warnung schon zu spät. Mit einem Satz überwand Lynn den Felsen und stach auf den ersten Hybriden ein. Sie war blitzschnell.
Sofort reagierte Carver und tat es ihr gleich. Er stürzte aus seiner Deckung, direkt auf den nächsten Hybriden. Und auch Kenny eröffnete sofort das Feuer.
Mit nur wenigen Handgriffen entledigte sich Lynn zweier feindlicher Einheiten, indem sie einen von ihnen als Schutzschild nutze, nachdem sie bemerkte, dass ein anderer auf sie schießen wollte. Er traf seinen eigenen Mann und Lynn machte einen Sprung auf ihn zu, und schnitt ihm augenblicklich die Kehle durch. Keuchend blieb der Hybrid unter ihr liegen, noch immer kampfbereit. Sie hob die Klinge ihres Messers und stach immer wieder in seinen Nacken, ehe sie seinen Schaltkreis erwischte und er endlich unter ihr nachgab und im Schnee liegen blieb. Das Blut war ihr bis ins Gesicht gespritzt und erst nach einigen Momenten des Rausches, bemerkte sie, dass die Schüsse verstummt waren. Sie sah Dìanas entsetzen Blick, als sie von dem Toten stieg und ihr Messer an ihrer Jeans abwischte.
„Oh nein... du bist auch eine von ihnen...“ stammelte sie ungläubig und blickte Lynn angewidert an.
„Ja, das bin ich.“ erwiderte Lynn ihr kühl und machte einige Schritte auf sie zu.
Einen Moment lang, standen sie sich stumm gegenüber, ehe Serah eine Hand auf Dìanas Schulter legte und leise sagte: „Glaub mir, Lynn ist eine von den Guten.“ verständnislos befreite sich Dìana von Serahs Hand. „Achja, die Guten, die für unzählige Morde verantwortlich sind?“ darauf hatte Lynn nichts zu erwidern und blieb stumm. Sie konnte Dìanas Hass verstehen. Die VCO hatte ihr, ihre gesamte Familie genommen.
„Vergiss nicht, wer dir da gerade den Arsch gerettet hat.“ Mischte sich schließlich Kenny ein und reichte Carver seinen Rucksack, den er im Kampf liegen gelassen hatte.
Keiner hatte während des Weges mehr gesprochen. Zu stark lasteten die Strapazen der letzten Tage auf allen Beteiligten. Es war Elliot der Lynn jedoch noch kurz erklärt hatte, dass das Funkgerät nicht gesendet hatte, da auch die Hybriden von der Außenwelt abgeschnitten schienen. Nach eingehender Untersuchung der Männer, musste Carver ihn bestätigen; keiner von ihnen hatte ein Funkgerät bei sich gehabt.
In der späten Nacht war es Elliot, der sich mit einem leisen „Dort“ zu Worte meldete und auf einige Lichter in der unmittelbaren Umgebung deutete. Trotz der Dunkelheit erkannten Lynn und Carver sofort einen hohen hölzernen Schutzwall, den die Bewohner des Dorfes um das kleine Bergdorf gezogen hatten, als auch zwei Schützen auf einem der beiden Türme, die das Eingangstor bewachten.
„Es sind zwei Schützen postiert.“ ergänzte Carver leise und blieb stehen.
„Was schlägst du vor?“ fragte Kenny besorgt. Würden sie einen falschen Eindruck vermitteln, hätten die Bewohner allen Grund der Annahme, sie seien feindlich. Und sie würden sie nicht hereinlassen.
„Lasst mich das machen.“ mischte sich Serah leise ein. Einen Moment betrachtete sie Lynn und erwiderte ihr ein zuversichtliches Nicken.
„Frag nach Dakon und der UEF. Er hat reichlich Verbündete in dieser Welt.“ schlug Lynn behutsam vor.
„Ach, und du hältst es für schlau, ihnen zu verschweigen, dass wir zwei Soldaten der VCO mit dabei haben?“ fragte Dìana abwertend und blickte Lynn von oben bis unten an.
„Lass es sein, Dìana. Du kannst ja gerne noch eine weitere Nacht hier draußen bleiben, aber ich gehe gerne mit den Menschen, denen ich vertraue.“ erwiderte Kenny wütend. Auch er hatte den Unmut von Dìana bereits zuvor wahrgenommen. Und das eine war, dass Carver maßgeblich daran beteiligt gewesen war, dass ihre Familie den Tod fand, das andere jedoch, dass Carver alles daran gesetzt hatte, die Schwester seiner verstorbenen Freundin zu finden, um ihr die Wahrheit zu sagen. Und das war eine Eigenschaft, die Kenny über alle Maßen an Carver schätzte. Er stand für seine Schuld ein.
„Es steht dir frei, hier zu bleiben.“ Elliots Stimme klang mechanisch und jedes Wort behutsam gewählt. Trotz des dunklen Himmels sah Carver, wie Dìana leichenblass wurde. Natürlich gefiel ihr das nicht. Er hatte ihr die Wahrheit gesagt. Sie hatte ihrem Zorn und ihrer Trauer freien Lauf gelassen. Aber nun war es an der Zeit eine vernünftige Entscheidung zu treffen, um nicht noch mehr Leben zu gefährden.
„Gut.“ Beendete Serah die Diskussion und begab sich zügig in das unmittelbare Sichtfeld der beiden Wachposten.
„Ihr habt vor uns nichts zu befürchten. Wir sind Mitglieder der UEF. Dakon schickt uns.“ Ihre Stimme wirkten völlig verloren, in der eisigen Nacht. Es brauchte einige Sekunden, ehe sich einer der beiden Schützen rührte und dem anderen ein Handzeichen gab.
„Was wollt ihr hier?“ Rief ihr ein junger Mann mit einem Bogen in der Hand zu.
„Wir brauchen für einige Tage ein Versteck. Unser letzter Einsatz fand in Mi`hen statt. Danach wurde unsere Gruppe getrennt.“ erklärte sie lautstark.
Wieder geschah einen Augenblick lang nichts. Würden sie, sie nicht hereinlassen, da war sich Lynn sicher, würden sie sich noch in der gleichen Nacht einen Zugang verschaffen. Einer weitere Nacht in den Bergen wäre keiner mehr von ihnen gewachsen.
„Satori, öffne das Tor.“ Rief schließlich einer der beiden und Lynn beobachtete wie jemand langsam und schwerfällig, das massive Holztor öffnete.
Ihnen offenbarte sich ein kleines Dorf, voller Leben. In den traditionellen japanischen Häusern brannte Licht, aus den Schornsteinen rauchte es und noch waren einige Bewohner wach. Dass Lynn jemals solch ein traditionelles Bergdorf erblicken würde, hatte sie nicht mehr erwartet. In der Stadt liefen die Uhren scheinbar noch anders.
Die beiden Schützen waren von ihren Wachposten hinuntergekommen und winkten die Gruppe zügig ins innere des Dorfes, ehe ein weiterer das Tor hinter ihnen wieder schloss.
„Elliot?“ fragte der etwas kleinere Schütze mit dem Bogen und nahm sein Basecap ab.
„Noch bevor er antworten konnte, viel ihm der junge Mann in die Arme.
„Gott sei Dank, du lebst... .“ flüsterte er leise und strich Elliot über die Schulter.
„Ja.“ erwiderte dieser kühl und ging einen Schritt zurück. Der Schütze blieb verdutzt stehen und betrachtete anschließend den Rest der Gruppe.
„Ich bitte euch, eure Waffen abzugeben.“ Ein Freudenschrei entglitt Serah, die sich blitzschnell umgedreht hatte und schließlich ihrem Mann gegenüber stand.
Es war Dakon. Er lebte. Lynns Herz setzte für einen Schlag aus, als sie Sakuya, direkt hinter ihm erkannte. Doch Carver legte wohlwissend seine Hand auf ihre Schulter und schnell erkannte Lynn, dass dort niemand war... außer Dakon. Serah und Dakon befanden sich in einer langen und innigen Umarmung. Das verzweifelte Schluchzen von ihr, entging auch den anderen nicht.
Nachdem sie ihre Waffen abgegeben hatten, führte sie Dakon zu einem Haus, außerhalb des Dorfkerns. Ungeduldig warteten Lynn und die anderen vor dem Haus, während sich Dakon zu ihnen wandte.
„Hershel und Rin sind ebenfalls hier.“ sagte er bedrückt und sah einen Augenblickklang zu Boden. Das konnte nichts Gutes verheißen, dachte Lynn besorgt. Hershel war alt und den Strapazen eines Übergangs eigentlich nicht mehr gewachsen. Das letzte mal hatte es ihn beinahe das Leben gekostet. Es gab somit nur einen Grund, warum ein Arzt, auf ehemalige VCO Soldaten spezialisiert, in dieser Welt sein konnte:
„Was ist mit Sakuya?“ platze es aus Lynn heraus. Ihre Hände hatten begonnen zu zittern. War ihm etwas zugestoßen? War ihre Vision von seiner Verletzung tatsächlich real gewesen?
„Wir wissen es nicht genau.“ sagte Dakon gefasst und blickte angespannt in Lynns aufgelöstes Gesicht.
„Was ist los, Dakon?“ harkte nun auch Serah voller Besorgnis nach. Dakon schien sich zu sammeln. Sein Gesichtsausdruck jedoch schien alle Ängste wahr werden zu lassen.
„Sakuya wurde angeschossen. Es war eine schwere Verletzung an der Brust. Er ist jedoch vor drei Tagen verschwunden. Niemand weiß, wo er ist... und ob er...“
„Und ob er noch lebt?“ beendete Lynn leise Dakons Satz. Er nickte nur stumm. Sofort spürte Lynn Serahs zärtliche Umarmung und hörte ihre leisen Worte: „Es wird alles gut. Er kann auf sich aufpassen....“ es klang mehr nach einem Mantra, aber es half Lynn, nicht die Fassung zu verlieren.
„Lasst uns erst einmal reingehen.“ schlug Dakon schließlich leise vor und öffnete die Schiebetür.
Angespannt saß Lynn vor dem niedrigen traditionellen Tisch, auf dem Boden. Rin war noch wach gewesen und war zu ihnen gekommen. Die Neuigkeit, dass Elliot nun mit von seiner Partie war, was seine Fähigkeiten mit Technik betraf, stimmte ihn munter. Und Rin hatte alle erdenklichen Bauteile für einen funktionierenden Transmitter ebenfalls mit in diese Welt gebracht. Auch Kenny schien gesegnet, als er erfuhr, dass mehr seiner Männer überlebt hatten, als zunächst angenommen. Serah wich ihrem Mann seit Stunden nicht von der Seite; ihre Dankbarkeit und ihre Erleichterung standen ihr ins Gesicht geschrieben.
Carver und Dìana hingegen, hatten immer wieder die Blicke gewechselt. Nach Lynns Einschätzung passte ihr das alles absolut nicht. Ihr schien es zuwider zu sein, mit ihr und Carver in einem Raum sein zu müssen. Und doch war sich Lynn sicher, etwas in Dìanas Augen zu sehen, was ihn trotz allem begehrte.
Während Elliot und Rin über mögliche technische Komplikationen des Transmitters diskutierten, da das Dorf keine geeignete Übergangstelle zwischen den Welten bot, saß Lynn nur stumm da und hatte ihr Kinn auf ihren Knien abgelegt. Wo war Sakuya? Warum hatte er das Dorf verlassen? Etwa um sie zu suchen? Aber wenn er doch verletzt gewesen war, wenn sie doch seine Erscheinung mehrmals gesehen hatte, warum war er nicht geblieben, wo er war? Und Lynn ging durchaus davon aus, dass seine Erscheinung nicht willkürlich, sondern von ihm aus gewollt war.
„Nun... Shiori hat es nicht zurück geschafft. Sie und einige andere mussten wir zurück lassen. Wir haben ihnen eine Gedenkstätte im Norden hinterlassen. Shiori war ein wichtiges Mitglied von uns. Sie war stets bemüht, und ohne sie, fehlt ein maßgeblicher Teil innerhalb der UEF.“ erklärte Dakon ruhig und rauchte dabei langsam eine Zigarette.
Shiori. Lynn hatte ihr noch geholfen, nachdem sie in Mi`hen angeschossen worden war. Was danach geschehen war, lag außerhalb von Lynns Wirkungskreis.
„Was ist mit Yennifer?“ fragte sie schließlich so leise in die Runde, dass sie beinahe niemand gehört hatte. Seufzend blickte Dakon auf, direkt zu Lynn:
„Wir haben sie schwer verletzt gefunden. Sie mitzunehmen war keine Option mehr.“ erwiderte Dakon langsam. Hershel war gerade im Begriff ein Tablett mit Plätzchen in den Raum zu tragen, als er die Worte seines Sohnes hörte, und das Poltern des Tabletts alle hochschrecken ließ.
„Hershel!“ Beinahe wäre Lynn vor Freude aufgesprungen, ihn wiederzusehen, aber entgegen der Situation blieb sie auf ihren Knien und beobachtete lediglich seine Wut.
„Ihr habt sie zurück gelassen?“ Seine alte Stimme klang dermaßen tadelnd, dass Serah eine Gänsehaut bekam und von Dakons Hand abließ, der sich schließlich vom Tisch erhob:
„Was hätten wir deiner Meinung nach tun sollen, Hershel? Noch mehr Leben gefährden, um eine Teilhybride zu retten?“ völliges Unverständnis klang seiner rauen Stimme bei. Hershel jedoch sah nur wütend seinem Sohn entgegen: „Ja! Eine Teilhybride, die Lynn überzeugt hatte, ein Teil von deinem Team zu werden, eine Hybride, die ich wieder zusammengeflickt habe-“
„Ein Hybride, die du ausliefern wolltest.“ beendete Carver Hershels Satz. Es herrschte einige Sekunden lang stille.
„Ist denn eine Hybride mit dem Sinn von Gerechtigkeit weniger wert, als ein Mensch?“ schnitt Serah lauthals ihrem Mann das Wort ab und er drehte sich entsetzt zu ihr um:
„Eine Hybride ist eine Hybride und kein Mensch!“ bäumte sich Dakon wütend auf, ehe er in Lynns verständnisloses Gesicht blickte.
„Dann sind Carver und ich... und Sakuya... auch keine Menschen.“ erwiderte sie leise. Während sie sprach, hatte Elliot, der direkt neben ihr saß, jedoch bereits das unaufhörliche Zittern ihrer Hände wahrgenommen. Einen Augenblickklang hielt er inne, ehe er sagte:
„Und ich ebenso wenig.“ erneut klangen seine Worte langsam und mechanisch gesprochen, eine Eigenwilligkeit, an die sich Lynn bereits gewöhnt hatte.
„Soll das nun eine ethische Grundsatzdiskussion werden?“ mischte sich Kenny lauthals ein, und war ebenfalls aufgestanden.
„Fest steht doch, dass wir zwischen Freund und Fein unterscheiden sollten.“ versuchte Serah die Lage zu beruhigen. Sie war ihrem Mann in den Rücken gefallen, dies bereute sie zutiefst, aber er hatte nun mal nicht mit allen seiner Ansichten Recht.
„Ja, aber es gibt einfach Grenzen. Du kannst mir nicht erzählen, dass du auch nur ein Leben von unseren, dem von zwei Hybriden beimessen würdest!“ Dakon war außer sich.
„Doch, das würde ich. Jederzeit. Der Zweck heiligt die Mittel... waren das nicht einmal deine Worte?“ schnaufend ließ sich Dìana zurückfallen. Nie hätte sie damit gerechnet, dass eine Frau, die ihrem Mann emotional so nahe stand, so etwas von sich geben würde. Die Familie und die Blutlinie gingen über fast alles, da war sich Dìana sicher.
„Wir sollten das auf einen anderen Zeitpunkt vertagen. Wir sind alle erschöpft von den Strapazen.“ sagte Carver ruhig und zog damit die Blicke auf sich. Innerlich resignierte jedoch jeder einzelne der Gruppe. Es war einfach nicht der passende Zeitpunkt. Was geschehen war, war bereits geschehen, daran ließe sich nun auch nichts mehr ändern.
„Ja, vielleicht hast du recht.“ lenkte Dakon etwas ruhiger ein. Die Wut in ihm war dennoch spürbar, aber er blickte bewusst kontrolliert in das Gesicht jedes einzelnen:
„Wir sollten darüber sprechen, wenn wir wieder bei Kräften sind.“
Für jeden der Gruppe war ein Schlafplatz vorhanden. Mehr oder weniger komfortabel, aber sie konnten immerhin in einer gesicherten Umgebung zur Ruhe kommen. Verteilt um das Haupthaus, hatte es noch einige weiter kleine Gasthäuser gegeben, in denen die Gruppe unterkommen konnte. Lynn jedoch war Hershel in die Küchegefolgt. Seine Bewegungen waren langsamer und ungeschickter geworden. Auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte, er war alt geworden und dieser Umstand ließ sich nicht mehr verkennen.
In der Küche schließlich hatte er sich ihr zugewandt und blickte sie einige Minuten einfach nur stumm an. Seine Hände tasteten sich durch die die zuvor auf den Boden gefallene Schale mit den Plätzchen, als wäre er völlig fehl am Platz, ehe er tief einatmete und sagte:
„Du weißt, dass er noch lebt.“
Wie in Trance nickte Lynn langsam.
„Er wird zurück kommen, aber er hat scheinbar noch etwas zu erledigen.“ sagte Hershel leise und nachdem sein Blick über die Plätzchen geglitten war und er Lynn direkt ansah.
„Er holt Yennifer zurück, oder?“ Lynn vermochte kaum diese Vermutung auszusprechen. Zu sehr schmerzte es sie selbst. Aber er war vor ihr erschienen, mehrmals. Das Band zwischen ihnen existierte also noch.
„Ja. Ich denke schon. Ich habe so lange mit ihm gearbeitet... ich denke ich weiß, in einem gewissen Maße, was in ihm und seinem Körper vor sich geht.“ erklärte Hershel leise und mit Bedacht.
„Ich habe ihn gesehen...“ flüsterte Lynn kraftlos und blickte ihn dabei mit Tränen in den Augen an.
„Ich weiß.“ erwiderte Hershel und ging einige Schritte auf sie zu. Völlig von ihren Gefühlen vereinnahmt schwieg Lynn schließlich.
„Linnai, egal was geschieht, niemand kann deinen Platz einnehmen. Du wirst immer ein Teil von ihm bleiben. Dafür ist zu viel geschehen. Dafür seid ihr zu sehr miteinander verbunden, durch all das, was geschehen ist. Du bist für ihn das Alpha und das Omega... und er ist es für dich auch, hab ich nicht recht?“ Wie in alten Zeiten schwieg Lynn erneut. Natürlich hatte er recht. Er und Sakuya waren das erste, woran sich Lynn erinnern konnte. Trotz des Schmerzes, trotz des Leids, sie hatten ihr immer wieder so viel Freude und Hoffnung gebracht. Sie waren das, worauf ihr Leben aufgebaut war. Das Fundament, die einzigen Säulen... nein, die einzige Beständigkeit.
Lynn stütze sich mit aller Kraft auf der Arbeitsplatte der Küche ab und als sie Hershels Blick erneut begegnete, konnte er sehen, dass ihr die Tränen in den Augen standen.
Die Verzweiflung war ihr anzusehen, auch wenn das einzige was Hershel tun konnte, es war seine Hand durch ihre Haare fahren zu lassen, wie er es schon damals auf der Basis getan hatte.
„Linnai, du bist nicht alleine... sieh dir Serah und Kenny an... und den jungen Burschen, den du mitgebracht hast. Es gibt genug Menschen, die dich für das schätzen, was du bist.“ seine Stimme klang dunkel und stockend, wie die eines alten Mannes, der versuchte, ihr all seine Weisheiten mit auf den Weg geben zu wollen, wohl wissend darum, wie schwer so manche Tage für ihn selbst gewesen waren.
„Die Vergangenheit lässt sich nicht mehr ändern, Linnai. Denke an die Zukunft, an das, was noch geschehen kann. Glaube einem alten Mann... was gewesen ist, ist gewesen, was kommt, das kannst du beeinflussen. Es wird schon noch eine Hoffnung geben, für diese Welten.“
Nur noch mit halber Kraft, hatte sich Lynn aus dem Gasthaus schleppen können. Die tiefe Trauer in ihrem Inneren, ließ sie durch den Geomas-Enzug noch geschwächter sein. Leicht taumelnd entfernte sie sich von der kleinen Häusergruppe innerhalb des Bergdorfes. Hershel war selbst nicht mehr in der Lage gewesen zu begreifen, dass Lynn erhebliche Entzugserscheinungen hatte. Aber noch viel mehr hatte es ihn berührt, und somit alles andere vergessen lassen, dass Lynn so vor ihm gestanden hatte. Er lag noch wach im Bett, als er darüber nachdachte, wie eigenartig es gewesen war, dass sie sich ihm so verletzlich gezeigt hatte. Aber zugleich begriff er mit einer bittersüßen Trauer, dass sie ihm nach allem was geschehen war, noch immer vertraute. Nachdem er ihr all die schrecklichen Dinge antun musste, auf Negans Geheißen hin, nachdem er sie so oft hatte im Stich lassen müssen, weil er sonst seine eigene Familie verloren hätte. Unerwartet kamen ihm die Tränen. Dass das Mädchen von damals, noch immer solch Emotionalität in ihm auszulösen vermochte, konnte er kaum begreifen. Und ja, er vermisste die Zeit auf der Basis, so viel Elend wie sie auch mit sich gebracht hatte, aber er wünschte sich an so manchen Tagen, das Lachen und ihr Rufen aus dem Labor, zurück. Es waren die Momente, die er hätte mit seinem Sohn verbringen sollen, den er nun kaum kannte. Dessen Ansichten, er nicht verstehen konnte. Dessen Erbarmungslosigkeit er kaum nachvollziehen konnte. Um so mehr verstand er Sakuya und Lynn. Wie schwer all das für sie sein musste und welch Fügung es gewesen war, dass sie nun zusammen arbeiteten. Was Hershel jedoch nicht aus dem Kopf ging, war die Tatsache, dass er mitbekommen hatte, dass Dakon Serah davon berichtet hatte, dass er nicht wüsste, warum er verletzt worden war, bei ihrem Angriff in Mi`hen. Serah hatte daraufhin nur geschwiegen und Hershel konnte erahnen, dass Sakuya seine eignen Pläne verfolgt haben musste. Dakons Verletzungen waren mit Sicherheit Sakuya zuzuschreiben. Und Hershel wusste auch genau, warum.
Keuchend hatte es Lynn unbemerkt an den Wachen vorbei, außerhalb des Dorfes geschafft. Nachdem sie von ihren Kräften verlassen, von dem hohen Holzwall stürzt war, blieb sie noch einige weitere Minuten stumm im hohen Gras liegen und blickte benommen in den Nachthimmel. Es hatte erneut begonnen zu schneien. Aber wie hätte sie es den anderen gleich tun können, wie hätte sie einfach schlafen sollen? Sakuya war noch irgendwo da draußen... verletzt, auf der Suche nach Yennifer. Warum war sie ihm so wichtig? Was verband die beiden so sehr miteinander? Es schmerzte sie, und als Lynn endlich wieder die Kontrolle über ihren schmerzenden Körper gewonnen hatte, fand sie die Kraft um aufzustehen und in den Wald zu rennen. Sie rannte einfach los, ohne Sinn und Verstand, ohne auch nur eine Idee zu haben, wo sie zuerst nach Sakuya hätte suchen sollen. Tränen und Zittern begleiteten sie, während sie etliche male gestolpert war, auf dem nassen Waldboden ausrutschte, oder den Schnee auf verschneiten Waldlichtungen nicht mehr gerecht zu werden schien.
Schließlich hatte ihr Weg sie zu einer kleinen Forsthütte geführt. Schon vom weiten erkannte sie das schwache Licht darin, das mehrmals aufgeflackert war. Wer auch immer dort Schutz gesucht hatte, er war vorsichtig gewesen. Wie lange genau sie ziellos und benommen durch den Wald gerannt war, konnte Lynn nicht mehr genau sagen. Es war noch immer dunkel. Vielleicht würde sie die Sonne aber nicht wieder sehen. Vielleicht war es ihr auch einfach egal. Sie war am Ende. Am ende ihrer Kräfte, am Ende ihrer Fragen. Ihr Kopf war leer.
Unsicher hatte sich Lynn der Tür genährt, nicht sicher, ob man sie nicht gehört hatte, denn ihre Schritte wurden zunehmend unsicherer. Nur mit ihrem Messer in der Hand, fassten ihre Hände ungeschickt nach dem alten Türknauf. Mit einem festen Ruck, war sie ins innere der Hütte gelangt, und blickte geradewegs in Carvers Gesicht, der ihr ausdruckslos mit seiner Armbrust im Anschlag, gegenüberstand. Einige Sekunden vergingen, in denen sich beide erst einmal bewusst werden mussten, was gerade geschehen war. Carver war der erste, der seine Waffe wieder senkte und sich resignierend durch die Haare fuhr, um sich schließlich von Lynn abzuwenden.
Sie tat es ihm schließlich gleich, legte ihr Messer auf einen verranzten Holztisch und blickte sich stumm um. Carver ergriff wieder seine Zigarette, die er niedergelegt hatte, auf einer verrotteten Bierdose, die neben einem aufgeplatzten braunen Samtsofa gestanden hatte, auf das er sich erschöpft niederließ. Ebenfalls am Ende ihrer Kräfte, tat es ihm Lynn gleich, und setzte sich auf einen verschimmelten alten Ledersessel, den man einige Meter vom Kamin weggeschoben hatte. Alles deutete auf zahlreiche Vandalen hin, die alles geplündert hatten, in dieser kleinen Hütte, was sie gefunden hatten. Wortlos schob ihr Carver ein Einmachglas mit Whiskey hinüber, den er im Keller gefunden hatte. Er ergriff schließlich sein Glas und nahm einen weiteren großen Schluck, ohne Lynn anzusehen.
Ohne auch nur einen Laut von sich zu geben, setzte Lynn das Einmachglas an und trank es leer. Ihr Blick verfolgte dabei den Schnee, der in der Dunkelheit, vor dem zerstörten Fenster der Hütte zu Boden fiel.
„Das hatten wir doch alles schon.“ durchbrach schließlich Carver rau die Stille und nahm einen weiteren Schluck, ohne Lynn dabei anzusehen. Sie ergriff die Flasche von dem ramponierten Tisch und goss sich erneut ein, um das Glas augenblicklich wieder zu leeren. Schließlich lehnte sie sich langsam zurück.
„Ja, und es scheint kein Ende zu nehmen.“ sagte sie leise. Der Klang ihrer Stimme war angenehm. Carver dachte kurz an Dìanas aggressive Stimme. Immer, wenn Lynn sprach, klang sie ungewohnt sanft, etwas rau und leise. Es war Anders. Der Klang ihrer Stimme, ihre Bewegungen, das alles war etwas völlig anderes. Der Alkohol tat seinen Rest zu dieser Wahrnehmung und Carver blickte sie für einen Augenblick lang, schweigend an. Auch sie schaute, nachdem sie sich erneut eingeschenkt hatte, ihn an. Ihr Blick wirkte nicht mehr aufmerksam und wach, wie es sonst immer der Fall gewesen war. Ihre großen Augen, blickten ihn grünlich unter ihren schweren Liedern an. Ihr Gesicht gezeichnet von Augenringen, Blut und Verletzungen wirkte mehr als erschöpft.
Anstatt ihn zu fragen, was er an diesem Ort, außerhalb des Dorfes tat, sah Lynn ihn nur mit fragenden Augen an. Carver schnaufte kurz und zog an seiner Zigarette.
„Einer weiteren Konfrontation mit Dìana aus dem Weg gehen?“ er sah von seiner Zigarette auf, Lynn an. Nein, er sagte nicht die Wahrheit, das war nicht der Grund, das konnte Lynn in seinem Blick sehen. Aber sie beließ es dabei und sagte nichts weiter.
„Was tust du hier draußen?“ fragte er schließlich rau und nahm noch einen Schluck Whiskey.
„Den Kopf freibekommen.“ erwiderte sie leise und leerte ein letztes Mal ihr Glas Whiskey. Carver lachte leise. Und auch er hatte gemerkt, dass das nur die Halbe Wahrheit gewesen war. Für eine Weile sagte keiner der beiden mehr etwas und sie sahen nur zum Fenster hinaus und beobachteten den Schnee. Etwas in Lynn sagte ihr, dass es nicht schlau sein würde, weiterhin mit Dakon zu arbeiten. Die Gruppe war durch den Vorfall mit Yennifer gespalten worden. So hätte es nicht sein müssen, wenn Dakon nicht so engstirnig gewesen wäre, und alle Mitglieder für ihn gleichwertig gewesen wären. Aber er bevorzugte seine Leute, Menschen die aus Efrafar kamen. Was er wohl in Wahrheit von ihr und Sakuya hielt? Und noch vielmehr, würde er, wenn es darauf ankäme, mit Kenny und seiner Gruppe ebenso verfahren, wie mit Yennifer? Würde er sie ausliefern, trotz allem, was sie für ihn getan hatten? Lynn wollte das ganze weiterdenken, aber sie wusste bereits nicht mehr, worüber sie gerade nachgedacht hatte. Der Whiskey hatte seine Wirkung gezeigt und sie blickte benommen zu Carver rüber, der ähnlich lethargisch da saß, wie sie. Würde man sie nun überraschen, hätten sie vermutlich keine Chance mehr.
>>Was tust du da gerade Linnai?<< Eine innere tadelnde Stimme hatte zu ihr gesprochen und sie sah sich kurz verwirrt um. Carver sah sie fragend an. Nein, er hatte nichts gesagt.
Es war Sakuyas Stimme gewesen, die sie hörte, da war sie sich nun sicher. Er sagte noch etwas zu ihr, aber sie konnte ihn nicht mehr hören. Ihre Sinne waren zu benebelt und der Geomas-Entzug tat sein übriges hinzu. Lynn sah gerade noch aus dem Augenwinkel, wie Carver plötzlich seine Armbrust in Anschlag nahm und auf die Türe zielte, die sich langsam öffnete. Schneebedeckt, betrat Elliot die Hütte und blickte die beiden verwundert an. Carvers Pfeil landete geradewegs neben seinem Kopf, in der Türe.
„Ist das euer ernst?“ fragte er nur verwundert und zog den Pfeil mit einem kräftigen Hieb wieder aus dem Holz heraus. Er sah sich einen Augenblickklang um, um schließlich festzustellen, dass beide betrunken sein mussten.
„Ihr sitzt hier draußen und betrinkt euch?“ das erste mal sah Lynn ihn schmunzeln und auch sie musste lächeln.
„Wäre ich ein Hybrid, wärt ihr jetzt tot.“ sagte er schließlich und ließ sich neben Carver auf das Sofa fallen.
„Was machst du hier?“ fragte Lynn leise, da die Kraft ihres Körpers mehr nicht mehr herzugeben schien.
„Offensichtlich das gleiche wie ihr.“ er holte eine Falsche Gin aus seinem Rucksack.
„Die Stimmung innerhalb der Gruppe ist nicht auszuhalten.“ ergänzte er schließlich mit seiner gewohnt monotonen Stimme. Er nahm seine Kapuze ab und Lynn erkannte an seinen gläsernen Augen, dass auch er schon reichlich getrunken haben musste.
„Die Leute aus dem Dorf, scheinen dich zu kennen. Warum bist du abgehauen?“ fragte Carver schließlich und reichte Elliot eine Zigarette, der sie erst nach einem Zögern annahm.
„Die Leute, die dort Leben, kommen alle aus Efrafar. Jemand... oder vielmehr etwas wie ich, hat dort nichts zu suchen.“ ein wenig ungeschickt, hatte sich Elliot die Zigarette angezündet.
„Ihr scheint das Gefühl ebenfalls gut zu kennen.“ Beinahe kaum merkbar hatte Lynn genickt. „Ich spüre Dìanas Hass, bei jedem Schritt, den sie macht. Ich sehe, wie abwertend sie uns anblickt. Und die Dorfbewohner, haben mich mit dem gleichen Blick angesehen. Nicht alle, aber ein großer Teil von ihnen. Vor etwa einem halben Jahr, bevor der Winter kam, hatte eine Gruppe Hybride, das Dorf angegriffen. Ich bin kein Könner im Gefecht, ich wurde für andere Zwecke ausgebildet, aber ich sah ihr Entsetzten, als ich zwei der Hybriden tötete. Innerhalb von einem Tag, hatte sich das Szenario herumgesprochen. Die Leute mieden mich. Einige forderten, dass ich das Dorf verlassen solle, da ich nicht wie sie sei. Ich bin der Feind. Und für einige Menschen, wird sich das wohl auch nie ändern.“ zum Abschluss zog Elliot an dem Filter der Zigarette, als wäre es die Szene eines Films gewesen, zumindest kam es Lynn so vor.
„Und Dakon scheint zu solcher Art von Menschen zu gehören.“ ergänzte Elliot schließlich leise. Lynn hatte ihm auf dem Dach der alten Mühle von den vergangenen Vorkommnissen berichtet. Sie hielt es für wichtig, dass er involviert war, den sie war sich sicher, dass er innerhalb der Gruppe bleiben würde.
„Ich frage mich, warum er euch so feindlich gesinnt ist, obwohl ihr doch für ihn arbeitete und ihm helft.“ sagte Elliot schließlich.
„Die VCO hat ihm seine Tochter genommen. So etwas kann man nicht vergessen.“ raunte Carver leise. Elliot blickte ihn kurz an und nickte schließlich mit einem Seufzen.
„Ja, du hast recht.“ erwiderte er resignierend.
„Ich werde mit Kenny zurück nach Yad Wa Shem gehen.“ Wie ein Stich, traf Carvers Entscheidung Lynn. Das, was sie befürchtet hatte, würde also wirklich eintreten. Er würde Dakons Team also wieder verlassen. Aber wo kam diese Entscheidung so plötzlich her? Warum hatte er das gerade jetzt ausgesprochen? Hing es vielleicht mit Dìana zusammen...?
„Wir brauchen dich-“ noch bevor Lynn ihren Satz beenden konnte, fiel Carver ihr jedoch schon rau ins Wort: „Nein, Dakon braucht Seinesgleichen, Leute, die den Mund halten und seine undurchdachten Pläne ausführen ohne Fragen zu stellen.“ Es lag auf der Hand, dass der Alkohol Carver dazu brachte, aufbrausender zu Antworten, als es sonst seine Art war.
„Gut.“ erwiderte Lynn nur leise und stand auf. Unsicher ging sie auf die Tür zu.
„Wo willst du hin?“ fragte Elliot nur verwundert, denn mit solch einer Reaktion hatte er nicht gerechnet.
„Zurück ins Dorf.“ erwiderte sie, ohne sich umzudrehen und verließ schließlich die Hütte.
Elliot blieb stumm und nahm einen Schluck Gin, ehe er die Flasche an Carver weitergab und sie eine Zeit lang stumm in der Hütte verblieben.
„Hast du nie darüber nachgedacht, wie es gewesen wäre, wenn wir dort geblieben wären?“ fragte Elliot lallend, während ihm die Flasche Gin aus den Händen glitt und mit einem dumpfen Poltern auf den Holzdielen der Hütte liegen blieb.
„Ich habe oft darüber nachgedacht, aber es ändert nichts. Vermutlich würden wir dann auch hier sein. Nur für die andere Seite. Und wir würden Unschuldige töten.“ erwiderte Carver und blickte Elliot benommen an. Elliot hingegen lachte nur leise.
„Ja, du hast recht. Aber vielleicht wären wir damit glücklicher gewesen. Hätten unsere Aufgaben, unsere Anweisungen. Es gäbe nichts zu überlegen.“ schnaufend lachte Carver.
„Wir hätten unsere Anweisungen zu Essen und zu Schlafen, unsere Untersuchungen, Modifikationen und das Training natürlich.“ ergänzte Elliot benommen. Carver schüttelte amüsiert den Kopf und blickte schließlich aus dem Fenster, vor dem das Schneetreiben seinen Lauf nahm. Elliot war seinem Blick gefolgt .
„Und das Zuchtprogramm. Das würde vielleicht auch noch laufen.“ sagte Elliot schließlich leise und Carver schnaufte erneut leise.
„Hast du nie darüber nachgedacht...“ Elliot beendete den Satz nicht, wissend darum, dass Carver in diesem Augenblick genau wüsste, was er hatte sagen wollen. Aber Carver schwieg und zündete sich eine Zigarette an.
„Sie ist viel zu jung.“ erwiderte er schließlich mit rauer Stimme.
„Sie ist eine Soldatin.“ entgegnet ihm Elliot, als würde Lynns Status alles aufheben. Carver jedoch schüttelte nur den Kopf.
„Ich sehe doch, wie du sie manchmal ansiehst... du kannst mir nicht erzählen, dass du nie darüber nachgedacht hast, mit ihr zu schlafen.“ während Elliot sprach, suchte er unbeholfen die Flasche Gin auf dem Boden, unter seinen Füßen, fand sie, und musste enttäuscht feststellen, dass sie leer war.
„Ja, du hast recht.“ erwiderte Carver lachend, nachdem er Elliots Bemühungen beobachtet hatte.
„Was ist mit dir?“ fragte Carver schließlich. Elliot schüttelte jedoch nur den Kopf.
„Mir sind reichlich Mädchen begegnet, aber meine Serie hat nie an den Zuchtprogrammen teilgenommen. Wir sind IT Konzentrate, so jemand braucht kein Zuchtprogramm. Dementsprechend spüre ich die Auswirkungen nicht.“ erklärte Elliot ungewohnt offen.
„Somit spüre ich keinerlei Verlangen. Ab und an reicht es mir, eine Frau zu beobachten. Das war es dann aber auch.“ Carver sah ihn verwundert an. Damit hatte er nicht gerechnet. Die VCO hatte somit leistungsfähigere Soldaten nachproduzieren wollen, legte aber scheinbar keinen Wert darauf, das gleiche mit anderen Fachspezifischen Rekruten zu erreichen. Für einen Moment hielten beide inne, als sie sich sicher waren, einen Schatten innerhalb der Hütte zu erkennen, der aber kurz darauf wieder verschwunden war. Besorgt blickte Elliot zu Carver hinüber: „Er folgt mit schon, seit ich Lynn begegnet bin.“ flüsterte er ungewollt leise.
„Ich weiß.“ antwortete Carver ungewohnt angespannt und hielt noch einen weiteren Augenblickklang inne.
Es war später Nachmittag, beinahe schon Abend, und die Sonne war schon seit einer Stunde untergegangen, als Lynn sich endlich dazu entschloss, das gefrorene Dach, auf dem sie den gesamten Tag verbracht hatte, zu verlassen. Mehrmals hatte sie die Rufe der anderen gehört. Aber es gab zu viele Ding, über die sie nachdenken musste. Noch immer trug sie ihre blutverschmierte Kleidung, jedoch hatte sie sich eine Jacke, aus dem Haupthaus, sowie eine Ration Geomas aus dem Koffer des schlafenden Hershels mitgenommen.
Schließlich ging sie die drei kleinen Stufen zur Veranda hoch und öffnete mit einem tiefen Atemzug die Schiebetür.
„Lynn, wo warst du die ganze Zeit?“ fuhr sie Dakon an, der zusammen mit einige anderen, am Tisch versammelt saß, und sie nur wütend anblickte. Stumm ging sie an ihm vorüber, und nahm neben Serah platz. Einen Moment lang musterte Dakon sie, um schließlich festzustellen, dass sie unterwegs gewesen sein musste. Vermutlich hatte sie Sakuya gesucht, jedoch nicht gefunden. Ihre Jeans wies noch immer blutige Kampfspuren auf, ebenso wie ihr Gesicht, das von Schrammen durchzogen war. Und ihre nassen Haare ließen ebenfalls einem Aufenthalt, außerhalb der Stadt vermuten.
„Ich musste den Kopf frei bekommen.“ sagte sie schließlich ruhig und beobachtete wie Dakon zu Carver hinüber sah, der ihn nur bestätigend ansah. Er hatte es ihm ähnlich prophezeit. Lynn tickte nicht anders als er selbst.
„Schön, da wir jetzt alle beisammen sind, sollten wir einmal über das reden, was in Mi`hen geschehen ist.“ Lynn spürte deutlich, wie Serah all ihre Muskeln anspannte. Sie hatte Angst. Angst, dass ihr Mann nun erfahren würde, dass Sakuya dafür verantwortlich gewesen war, dass ihr Mann einige Zeit außer Gefecht gesetzt worden war, anstatt Yennifer alleine.
„Etwas in Mi`hen muss verkehrt gelaufen sein. Der Plan war es, Yennifer an die Hybriden zu übergeben, wodurch wir dichter in die Stadt gelangen konnten.“ erklärte Dakon langsam und blickte dabei die Anwesenden nacheinander an. Carver und Elliot hatten nicht an dem niedrigen Tisch auf dem Boden platz genommen, sondern standen an der Tür zur Küche, beide mit verschränkten Armen. Und Kenny tat es ihnen an der Eingangstüre gleich. Einige Sekunden lang schwiegen alle Anwesenden, sehr zu Dakons Ärgernis. Sofort erkannte Lynn die Abwehr in ihren Körperhaltungen. Sie waren nicht Dakons Meinung, was die Auslieferung mit Yennifer betraf.
„Leute, was war da los?“ wiederholte er ungeduldig seine Frage. In Lynn brodelte es. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte Dakon einen Schlag verpasst.
„Du wolltest Yennifer ausliefern, was glaubst du was passiert ist?“ Ergriff Hershel das Wort, der im Rahmen zur Küche stand, gerade hinzugekommen, und seinen Sohn verständnislos anblickte.
„Halt dich daraus Hershel, du hast keine Ahnung wovon du sprichst.“ erwiderte sein Sohn ihm und wandte sich wieder von ihm ab.
„Und ob ich eine Ahnung habe!“ Hershel wurde laut. Lynn sah den Zorn in seinen alten Gesichtszügen sofort.
„Was glaubst du, mit wem du es hier zu tun hast? Mit einer Reihe Idioten, die nicht wissen, was sie tun sollen, wenn du nicht dein Wort an sie richtest?“ Hershel schrie beinahe.
„Du sollst dich daraus halten, habe ich gesagt! Du hast genug Schaden angerichtet!“ erwiderte ihm Dakon lauthals und stand schließlich auf.
„Dir mag die UEF unterliegen, aber die anderen Camps, scheren sich einen Dreck darum.“ ergänzte Kenny schließlich und sah Dakon angespannt an.
„Du hast Leute mobilisiert, die nichts mit der UEF zu tun haben. Es ist verständlich, dass nicht jeder dazu bereit ist, deine Befehle anzunehmen und auch nicht jeder, deine Ansichten vertritt.“ mischte sich schließlich Serah ein und sah ihrem Mann aufgebracht entgegen.
„Serah, lass es.“ wandte Dakon nur knapp sein Wort an sie.
„Ihr seid also scheinbar alle der Meinung, dass ich nicht in dem Interesse einer ganzen Welt gehandelt habe, indem ich eine Hybride hergeben wollte, um uns einen Vorteil zu verschaffen?“ rechtfertigte sich Dakon lautstark und blickte in die Runde.
„Teilhybrid.“ ergänzte Rin kleinlaut und erntete dafür sofort Dakons vernichtenden Blick.
„Ob Teilhybrid, oder Hybrid, oder Soldat der VCO! Es kommt doch aufs gleiche hinaus! Es sind die, die verschwinden müssen, damit das ganze Leid ein Ende hat.“ mischte sich Dìana ungehalten ein.
„Gerade du solltest mal Luft holen, du bist selbst eine Bewohnerin von Valvar, und bist nun in Efrafar. Du hast keine Ahnung, was es bedeutet, Menschen töten zu müssen, weil dein eigens Leben auf dem Spiel steht. Du hast keine Ahnung, wie es ist, nächtelang nicht schlafen zu können, weil du auf einen Befehl reagieren musstest.“ entgegnete ihr Elliot, ungewohnt laut und entgegen der sonstigen Monotonie seiner Stimme.
„Meine Familie, wurde von der VCO getötet, was glaubst du, warum ich hier bin?“ zischte ihm Dìana schließlich entgegen.
„Um dich wie ein Kind an einer Felsmauer zu verkriechen, hinter Soldaten der VCO.“ erwiderte Carver ruhig.
„Aber wenigstens habe ich keine Unschuldigen auf dem Gewissen!“ beinahe hätte sie geschrien. Ihre Stimmlage versetzte Lynn eine Gänsehaut.
„Was ist mit dir Lynn? Hast du auch noch etwas zu sagen?“ fragte Dakon schließlich sichtlich verärgert. Er war kurz davor die Fassung zu verlieren, das konnte Lynn deutlich erkennen. Aber sie blieb stumm. Trotzdem alle Blicke nun auf sie gerichtet waren, fühlte sie sich nicht imstande, auch nur ein Wort zu sagen. Stattdessen, bemerkte zuerst Carver, den dunklen Schatten, der sich hinter ihr auftat. Und nachdem Lynn zu Carver hinüber geblickt hatte, um zu erfahren, wie er sie in diesem Augenblick ansehen würde, sah sie nur Verwunderung in seinem Blick und drehte sich anschließend langsam nach links, zu der freien Stelle, neben sich und Serah. Was anschließend geschah, konnte sie sich selbst nicht erklären; ein Körper, formierte sich aus dem Schatten heraus, geradewegs in den Raum hinein. Die Gläser und Tassen, die auf dem Tisch gestanden hatten, waren in einem Bruchteil von Sekunden zersprungen. Alle nahezu gleichzeitig, und ihre Scherben schwebten zu dem Schatten und manifestierten sich allmählich zu einer, beinahe, menschlichen Gestalt.
„Dakon, ich habe dich gewarnt.“ sprach der Schatten langsam, und Lynn sah gerade noch, wie Hershel einige Schritte zurück ging. Die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben.
„Ich habe dir gesagt, dass wir nicht dir gehören, egal was dein Vater für uns getan hat. Wieder und wieder habe ich es dir erklärt. Du bist blind.“ Dakon war kreidebleich geworden. Er stand mitten im Raum und starrte die schwarze Gestalt neben Lynn an.
„Lass es gut sein, und gib, einmal in deinem Leben, die Kontrolle ab. Sie haben alle recht. Du hast nur aus deinen eigenen Interessen gehandelt. Und nun, sei froh, wenn sie noch immer hinter dir stehen. Was unterscheidet dich von Soldaten der VCO, wenn auch du es bist, der tötet?“
Mit einem Male verschwand der Schatten und allen Anwesenden blieb nichts anders mehr übrig, als sich vor den umher stürzenden Teilen aus Glas und Porzellan, in Sicherheit zu bringen.
Nach einigen Minuten des Erstaunens und Schreckens, war es Dakon, der seine Worte wieder gefunden hatte und der Gruppe ernst entgegensah:
„Vielleicht habt ihr Recht. Ich habe Fehler gemacht. Aber ich bleibe dabei, dass es wichtig ist, dass wir in diesen unvorhersehbaren Zeiten zusammenhalten müssen. Und dass, der Fokus nicht auf dem Einzelnen liegen kann, sondern auf einer ganzen Welt beruhen muss. Wenn ihr einverstanden seid, lassen wir etwas Zeit vergehen, erholen uns und treten gemeinsam die Reise nach Elaìs an, wo wir uns mit den restlichen Mitgliedern der UEF beratschlagen werden.“ die Verwunderung über Dakons plötzlichen Sinneswandel, war jedem der Anwesenden deutlich anzumerken. Viel offensichtlicher wahr jedoch, dass niemand begreifen konnte, was gerade eben geschehen war.
Verblüfft dachte Lynn darüber nach, ob sie da gerade alle gemeinsam Sakuya wahrgenommen hatten. Daran, dass er noch lebte, hegte sie bereits keinen Zweifel mehr. Aber wie in aller Welt, hatte er das Zustande gebracht, vor ihnen zu erscheinen? Sie hatte seine mutmaßlichen Erscheinungen immer mit dem Band, welches sie beide verband, gerechtfertigt, aber nun, war er vor allen Anwesenden erschienen. War seine Macht so groß? Was hatte Hershel aus ihm gemacht, dass er zu so etwas in der Lage gewesen war. Ihr Blick glitt langsam über Serah und Dakon hinweg zu Hershel, der kreidebleich im Gang zu Küche stand. Noch immer fixierte er den Ort, an dem sich die Gestalt fixiert hatte. Nein, das konnte nicht Hershels Werk gewesen sein, sonst hätte er dort mit einem anderen Ausdruck im Gesicht gestanden. Vermutlich hatte nicht einmal er gewusst, zu was Sakuya im Stande war. Und doch war er wieder zwischen den Welten hin und hergewechselt, vermutlich auf Anraten seines Sohnes, Dakon, der ihn davon überzeugt haben musste, dass Sakuya solch schweren Verletzungen erlegen gewesen war, dass ihm nicht mehr zu helfen schien. Und natürlich war Hershel sofort gekommen, hatte nicht mehr nachgedacht und sich einzig und allein seiner Schuld verschrieben... seiner Schuld der Rekruten gegenüber und der Schuld dessen, was er aus ihnen gemacht hatte.
Ein leises Poltern ließ Lynn ihre Gedanken wieder beiseite schieben; Serah war endlich aufgestanden und zu ihrem Mann gegangen. Sie flüsterte ihm liebevoll etwas ins Ohr. Nicht ganz überzeugt, deutete er ihr den Weg aus dem Haus heraus. Ja, das war Serah. Sie war so darum bemüht, ihren Mann und die anderen Gruppen miteinander zu verbinden, dass sie über ihre eigenen Gefühle hinweg ging. Wäre es anders gewesen, wenn ihre Tochter noch gelebt hätte? Wäre sie dann ganz Mutter gewesen? Aber so blieb ihr, die Bemühung, ihren Mann auf den richtigen Weg zu bringen. Ihm verständlich zu machen, dass es auch noch andere gab. Menschen, die anders dachten und anders handelten. Die zwar das gleiche Ziel verfolgten, denen jedoch nicht jedes Mittel recht gewesen wäre, um es zu erreichen. Lynns Blick glitt zu Dìana, die Carver mit einem eigenartigen Blick ansah; sie konnte nicht sagen ob es Hass oder Begehren war, mit dem sie ihn ansah. Kenny jedoch nahm ihren Blick wahr und wandte sich kopfschüttelnd um, um schließlich das Haus zu verlassen. Rin sah einen Moment fragend zu Lynn, die sich jedoch ebenfalls vom Tisch erhob und das Haupthaus verließ. Draußen traf sie schließlich auf Kenny, der sich eine Zigarette angezündet hatte und sie nachdenklich ansah:
„Du weißt, dass Carver sich dazu entschlossen hat, mir mir nach Yad Wa Shem zurückzukehren?“ Nickend bestätigte sie ihm, das Gesagte. Sie schwieg. Was hätte sie ihm sagen sollen, was er nicht schon vermutete? Dass sie nicht wolle, dass Carver gehe? Dass sie selbst zu zwiegespalten war? Ja, was nur? Kenny betrachtete sie einen Augenblickklang und blies den kalten Qualm der Zigarette in die eiskalte Nachtluft.
„Komm mit uns. Wenn Dakon und die UEF zum Finalen Schlag ausholen, sind wir mit von der Partie.“ er meinte es, wie er es sagte. Er führte ein ganzes Camp in Valvar und hatte gute Kontakte zu den restlichen Camps, auf deren Unterstützung sie sich letztendlich sicherlich verlassen könnten. Aber all die anderen Vorbereitungen; die nächtlichen Einsätze, alles was es vorher noch zu erledigen gab... Lynn konnte sich nicht einfach so aus der Affäre ziehen. Sie war sich bewusst darüber, dass sie ein bedeutendes Mitglied der UEF war, mittlerweile.
Könnte Dakon wirklich auf sie verzichten?
Könnte sie Hershel und vor allem Sakuya hinter sich lassen?
Innerlich resignierte sie vor diesem Schritt. So sehr sie es auch wollte, sie könnte nicht nach Valvar flüchten. Ihr einstiges Zuhause, war für sie keines mehr. Sie hatte ihren Platz in Elaìs, in Nagoya gefunden.
Es waren zwei Tage vergangen, in denen Rin und Elliot krampfhaft an dem Transmitter und einem geeigneten Ort für den Weltenwechsel gearbeitet hatten. Aber all das erschien Lynn, zwischen den belanglosen Gesprächen am Tage und dem abendlichen Essen, nur noch surrealer. Hatte denn niemand bemerkt, dass Sakuya noch immer fehlte?
Mehrmals hatte Lynn beobachtet, wie Dìana mit Carver gesprochen hatte, ihn dabei abwertend und begierig zugleich angesehen hatte. Am ersten Abend hatte sich Lynn noch gefragt, ob Dìana vielleicht schon damals, als ihre Schwester noch lebte, bereit war, alles dafür zu tun, damit er sich endlich einmal zu ihr zugehörig fühlen würde. Aber diesen Gedanken hatte sie bereits wieder aus ihrem Kopf verbannt. Das ganze ging sie nichts an.
Unruhig hatte Lynn am Eingangstor, auf einem Wachposten gesessen, während der Schneefall stets zugenommen hatte. Konzentriert hatte sie immer wieder die Umgebung beobachtet und gehofft, dass Sakuya noch auftauchen würde, vielleicht sogar mit Yennifer im Schlepptau.
Nichts war geschehen. Weder Hybride, noch jemand anderes, hatte den Weg in das verschneite Bergdorf gefunden.
Ein junger Bursche, vielleicht gerade sechzehn geworden, beobachtete Lynn jedoch bereits seit mehreren Stunden. Er saß ihr am Wachposten schräg gegenüber und sie konnte seinen Blick immer wieder spüren.
„Was ist?“ fragte sie ihn schließlich genervt, als sie aus dem Augenwinkel erneut sehen konnte, wie er sie beobachtete. Dem Jungen wäre vor Schreck beinahe sein Gewehr aus der Hand gefallen und er brauchte einen Moment, um ihr antworten zu können, während er sie mit weit aufgerissen Augen ansah:
„Du bist nicht... nicht von hier... oder?“ stammelte er leise und unsicher. Genervt sah ihn Lynn an: „Was tut das zur Sache?“ fragte sie rau. Der Junge schüttelte beschämt den Kopf und konzentrierte sich wieder auf den Bergpass, der mittlerweile in der Dunkelheit verschwand. Es schien, als habe sich das Gespräch erledigt, aber nach wenigen Minuten spürte Lynn erneut seine Blicke.
„Es...es gibt weiter oben... einige Onsen...“ stotterte er erneut, sichtlich unsicher. Was? Warum wollte er sie wissen lassen, dass es abseits des Dorfes heiße Quellen gab? Hatte er nichts besseres zu tun? Aber plötzlich hielt Lynn inne, als sie kopfschüttelnd, vor lauter Unverständnis, auf ihre Beine blickte; sie war noch immer blutbesudelt. Seit Ewigkeiten hatte sie in keinen Spiegel mehr gesehen. Sie musste schrecklich aussehen. Zu sehr war sie damit beschäftigt gewesen, darauf zu hoffen, dass Sakuya es noch rechtzeitig bis zu ihrem Übergang, schaffen würde. Der Junge hatte recht. Knapp drei Tage lang, hatte sie nicht einmal im Traum daran gedacht, sich ein Bad oder eine Dusche zu gönnen. Alles andere war viel zu wichtig gewesen und hatte sie viel zu sehr beschäftigt. Wortlos hatte sie sich aufgerichtet und den Posten verlassen. Der Junge hatte ihr noch eine Weile nachgeschaut, wie sie den Weg durch den kniehohen Schnee, zum Haupthaus ihrer Leute genommen hatte.
„Wo willst du so spät noch hin?“ fragte Kenny verwundert, der gerade mit Elliot in der Küche stand und diskutierte. Sofort hatte Elliot das Handtuch unter ihrem Arm wahrgenommen und machte ihr nickend klar, dass er ihren Plan durchschaut hatte.
„Ich gehe zu den heißen Quellen.“ antwortete Lynn knapp und nahm anschließend einen Schluck Alkohol, aus dem Glas, das auf der Anrichte gestanden hatte. „Hey, das ist meiner.“ rief ihr Kenny belustigt nach, da er gesehen hatte, wie sie ihr Gesicht bei dem Geschmack verzogen hatte. Sie hatte bereits das Haupthaus wieder verlassen, als Elliot ihn fragend ansah: „Was ist darin?“
„Selbst gebrannter Schnaps aus dem Dorf, nichts für schwache Gemüter.“ gab ihm Kenny schmunzelnd zurück.
Tatsächlich lagen die heißen Quellen außerhalb der Stadt. In ihrer Zeit auf der Basis, hatte man Lynn mit allen möglichen Optionen des normalen Lebens vertraut gemacht. Dazu gehörten, neben allerhand gesellschaftlicher Gepflogenheiten, ebenso die kulturellen Angebote einer „normalen“ Provinz. Man hatte ihr reichlich Bilder der kulturellen Sehenswürdigkeiten, als auch einige Manöver der „Freizeitgestaltung“ vorgestellt. Scheinbar mochten die Japaner es außerordentlich gerne, in den heißen Quellen der Berge zu verweilen, dort sogar ihre Urlaube zu verbringen und dabei vom stressigen Leben eine Auszeit zu nehmen. Der einzige Sinn, der sich Lynn hinter diesem Vorhaben jedoch erschlossen hatte, war der der Reinigung und Hygiene.
Innerhalb des Dorfes gab es nur kaltes Wasser und so egal, wie Lynn es oftmals schien, bevorzugte aber auch sie eher warmes Wasser. Angesichts der starken Schneefälle in den letzten Tagen, konnte sie sich gerade gut vorstellen, wie wohltuend ein wenig Wärme wohl wäre.
Bereits vom weiten, konnte Lynn die nebligen Quellen ausmachen. Sie hatte das Dorf verlassen müssen und war einige Meter durch hohe, kahle Bäume gewartet, ehe sie eine kleine hölzerne Hütte vorfand. Sie schien lange verlassen. Der Schnee türmte sich vor dem Eingangsbereich. Mit einem kräftigen Ruck stieß Lynn die Tür auf und gelangte in einen dunklen Raum, durch dessen verstaubte und beschlagene Fenster, sie jedoch den Nebel des Wassers erahnen konnte. In der Dunkelheit entledigte sich Lynn etwas unsicher, ihrer Kleidung. Ihre Jeans hatte in einer Wunde an ihrem Bein geklebt und mit einem dumpfen Stöhnen, hatte sie den Stoff aus der Wunde herausreißen müssen. Sofort spürte sie das neue, warme Blut der wieder aufgegangenen Verletzung an ihrem Oberschenkel. Schließlich verließ sie mit schmerzverzerrtem Gesicht, den kleinen Raum zu den Fenstern hin. Unter ihren nackten Füßen erstreckte sich eine moosbewachsene und nasse Veranda, die zwar noch zum Teil überdacht war, der die Spuren des Verlassenseins jedoch nicht abzusprechen waren. Lynn fror und hatte das Handtuch dicht um ihren Körper geschlungen.
Zitternd war sie zwei Stufen hinunter gegangen und stand nun am Rande der heißen Quelle, über der sich heißer Nebel und kalter Schnee stritten. Die Dunkelheit wurde nur von von der Helligkeit des Vollmondes, an dem immer wieder dichte Wolken vorbeizogen, durchbrochen. Dennoch konnte Lynn erkennen, dass diese Quelle inmitten von großen Felsen lag. Einzelne Gesteinsbrocken ragten aus dem Wasser hinaus, und waren auf ihrer Oberfläche mit wenigen Schneeflocken bedeckt, die jedoch immer wieder dem warmen Dampf des Wassers erlagen.
Zögernd stand Lynn da und blickte einige Minuten nur stumm auf das Wasser. Schließlich ließ sie das Handtuch zu Boden gleiten und tat einige Schritte, hinab in das warme und wohltuende Wasser.
-25- One of these things is not like the others
Von der Wärme des Wassers in eine völlig andere Welt abgetaucht, schien es Lynn, als sehe die von oben auf sich selbst hinab. Sie war auf dem Rücken liegend untergetaucht, sah den Nebel der Wasseroberfläche zum schwarzen Himmel emporsteigend. Nichts hörte sie mehr, außer das dumpfe Rauschen der Wellen, die sie verursacht hatte, unterhalb der Wasseroberfläche.
Wo war Sakuya? Ein tiefer Drang des Schreiens überkam sie. Lebte er denn wirklich noch? Warum hatte sie alles vergessen? Warum kamen die Erinnerungen nur in Bruchteilen wieder? Was war da noch gewesen? Wer oder vielmehr was, war er eigentlich?
Wieder sah Lynn sich kurzzeitig von oberhalb. Wie das Blut langsam ihrem Körper wich, sich mit dem Wasser, um sie herum, vermischte. Aber da war noch etwas anderes... eine Kontur, einem Schatten gleich.
Der Dunst der Quelle ballte sich um eine Gestalt herum, die sich Lynn langsam, in dem Nichts aus Wasserdampf, nährte. Nur verzögert erkannte sie die Gefahr. Zu unbestimmt war das Gefühl, welches sie unter Wasser empfand. Nichts hören zu können, außer ihren Atem, ihren Herzschlag, als gäbe es da draußen nichts anderes, was von Bedeutung wäre.
Aber allmählich formierte sich eine Stimme in all dem Nichts. Hatte sie gerade etwa ihren Namen gehört?
Langsam, wie gelähmt tauchte Lynn wieder auf. Alles schien wie in einen dichten Nebel gehüllt. Aber nicht der Nebel der über der Quelle lag, sondern vielmehr etwas, was über ihrer Seele, ihrem Bewusstsein lag. Wenn sie kein Geomas bekam, obwohl ihr Körper danach verlangte, hatte Lynn sich des öfteren schon so gefühlt. Zumindest war sie der Meinung, sich an ein ähnliches Gefühl erinnern zu können. Alles um sie herum schien wie in Watte getaucht. Alles fühlte sich leicht und schwerelos an. Ihre Gedanken schienen losgelöst von den irdischen Dingen. Es fühlte sich an, wie ein Tauchgang in eine andere Realität, wie der Versuch, eine andere Wahrheit aufnehmen zu können.
Mit einem mal sah sich Lynn wieder in dem Garten von Yad Wa Shem, in Valvar. Wie sie beinahe ohnmächtig Hershel gegenüber gestanden hatte. Der Meinung, seine Gefühlsregungen wahrnehmen zu können, als er hätte er gerade ein verlorenes Kind wiedergefunden. Die Liebe und Sorge in ihm schienen überzusprudeln, als er sie, an der Mauer lehnend, erblickt hatte. Etwas in Lynn verstand ihre damalige Reaktion darauf nicht. Sie war erwacht und hatte ihn mit ihrer Waffe bedroht. Warum nur? Immer war er ihr gegenüber loyal gewesen. Hershel hatte getan was er konnte.
Beinahe den Übergang nicht begreifend, fand sich Lynn im Wasser der heißen Quellen, in dem Bergdorf in Efrafar wieder. Ungläubig blickte sie auf ihre Hände. Sie flimmerten. Sie flimmerten in der Art und Weise, wie man es sich vorstellt, wenn man daran denkt, an einem Ort zu sein, an den man nicht gehört.
Ungläubig blickte sie von ihren Händen auf, in den Nebel, zu der Gestalt, die sich ihr langsam nährte. Ohne es zu sehen, spürte Lynn die Energie, die in einem unbegreiflichen Maße durch ihren Körper floss und in dem Zeichen ihrer Schulter zum Höhepunkt kam.
Eine Druckwelle an Emotionen, Energie und Unwissenheit schien sich von ihr, explosionsartig auszubreiten.
Immer wieder verschwamm das Bild, welches Lynn vor ihren Augen hatte. Nicht mehr fähig einzuschätzen, was Wahrheit oder Traum war, was Wirklichkeit und was nur ihre Einbildung zu sein schien. Das Geräusch von fließendem Wasser und ein eigenartiger Unterton eines unbekannten Summens kamen hinzu. Der Nebel hatte sich zunehmend verdichtet.
„Lynn.“ es war der Klang einer weiblichen Stimme. Weich und liebevoll hatte sie ihren Namen ausgesprochen. Noch immer, sich wie in einer Traumwelt befindend, hatte sich Lynn erschrocken umgesehen. War es Serah gewesen?
„Lynn, ich bin hier!“ wieder war es die gleiche weibliche Stimme und sie fuhr ängstlich herum.
„Du musst kommen, Lynn!“ bat sie die Stimme leise. Aber niemand war zu sehen. Wieder fuhr Lynn herum, konnte aber nichts entdecken.
„Du musst ihm helfen, Lynn!“ eine tiefe Verzweiflung manifestierte sich in der unbekannten Stimme. Und als Lynn sich ein letztes Mal umdrehte, konnte sie endlich die Quelle ausmachen.
Wie ein Geist, stand Yennifer direkt vor ihr. Ihre schwarzen Locken bedeckten gerade noch die Haut ihrer Brüste, die durch ihren zerrissenen Pullover zu sehen waren. Ihr Gesicht war von Striemen bedeckt, Blut und Wundkrusten zierte ihre Porzellanfarbende Haut, und ihre braunen Augen blickten flehend Lynn an:
„Komm!“ wisperte sie kraftlos und noch ehe Lynn ihre Hand hatte ausstrecken können, nach dieser transzendenten Erscheinung, war sie auch schon wieder verschwunden.
Tief einatmend blieb Lynn zurück. Was war gerade geschehen? Spielte ihr Verstand ihr einen Streich? Mal wieder? Vielleicht hatten all die ungelösten Fragen ihrer Psyche, ihrem Verstand einen Lösungsansatz geboten. Aber was sollte sie nun tun? Selbst wenn sie Sakuya suchen würde, wo sollte sie zuerst suchen? Wen sollte sie fragen?
Kopfschüttelnd und resignierend blickte sie in den Nebel der heißen Quellen zurück. Da waren keine Antworten. Was sollte sie tun? Vergessen was sie gerade gesehen hatte?
Unsicher und doch hektisch zugleich, schob Lynn das warme Wasser an ihren Hüften vorbei, während sie sich wieder der Einstiegsstelle am Haus nährte. Hastig nahm sie alle drei Stufen mit einem male und wollte geradewegs in das Haus zu ihren Sachen stürmen, als sie Elliot bemerkte, der mit offenen Mund, geradewegs an ihr vorbei, in den Nebel starrte. Irritiert blieb Lynn stehen. Elliot hatte sich nicht gerührt. Die Verblüffung und etliche offene Fragen standen ihm ins Gesicht geschrieben. Unsicher, machte Lynn einen weiteren Schritt, auf ihn zu, und das morsche Holz der Veranda quietschte unter ihren Füße. Wie aus einer Trance gerissen, zuckte Elliot ruckartig zusammen und blickte sie schließlich direkt an. Er blieb stumm. Sein Blick wanderte über das Zeichen an ihrer Schulter.
„Du bist ein Zero-Projekt.“ sagte er schließlich leise, und sein Blick bekam erneut, die Färbung eines nie geschehenden Wunders. Noch einen Augenblick lang starrte Lynn in Elliots fassungsloses Gesicht. Schließlich ging sie an ihm vorbei, nicht mehr realisierend, dass sie komplett nackt war, oder vielmehr in der Annahme, dass dies gerade nichts zur Sache tat. Er folgte ihr nicht, sondern blieb, wie versteinert, am Fuße des Onsens stehen.
Ihre Sachen wieder am Leibe, sprintete Lynn in die Nacht hinaus. Sie musste ihn finden. Sakuya war in Gefahr, sonst wäre Yennifer ihr niemals erschienen. Wie auch immer das möglich gewesen war.
Gerade im Begriff sich einen weiteren Schluck des selbst gebrannten Schnaps einzuschütten, sah Kenny noch aus dem Augenwinkel, wie Elliot an ihm vorbei hastete, in die Richtung der Küche. Zusammen mit Carver, hatte Kenny im Haupthaus gesessen und lange diskutiert. Wann war der geeignete Zeitpunkt, um zu verschwinden? Und vor allem, wie lange wollten sie schließlich noch in Elaìs bleiben, ehe sie in das Camp, nach Yad Wa Shem zurückkehren würden?
„Elliot?“ hatte Rin ihm nur fragend nachgesehen, nachdem er das Haupthaus durchquerte. Er bekam jedoch keine Antwort und blickte nur fragend zu Kenny und Carver.
In der Küche, begegnete Elliot schließlich Hershel, der gerade dabei war etwas zu kochen, das sich nur minimal in der Konsistenz und dem Geruch von Schokopudding unterschied.
„Sie wird Sakuya zurückholen.“ platze es aus Elliot heraus. Unbeeindruckt und scheinbar diese Aussage nicht wahrnehmend, blickte Hershel den jungen Mann zufrieden an:
„Ich habe ein neues Rezept der Dorfbewohner ausprobiert.“ offenbarte er ihm lächelnd und reichte Elliot einen Löffel mit der braunen Masse aus dem Topf.
„Hier, probier es. Es ist fast wie der Pudding in Valvar. Nur ein bisschen anders...“ stockend hielt Hershel inne und blickte etwas senil auf den Topf. Er schien an etwas zu denken. Jedoch kam es Elliot so vor, als habe der alte Mann nicht im geringsten verstanden, was er ihm gerade entgegen geschmettert hatte.
„Es ist... als fehle noch etwas...“ noch immer fuchtelte Hershel mit dem Löffel vor Elliots entsetztem Gesicht herum: „Probier es, Junge. Etwas fehlt noch...“ Es war Carvers raue Stimme die, die Situation unterbrach:
„Hershel.“ ermahnte er ihn. Aus den glasigen und nachdenklichen Augen des senilen Mannes wurden augenblicklich die eines Verwirrten, der Elliot nur fragend ansah.
„Lynn ist weg, sie weiß wo Sakuya ist!“ erklärte er erneut aufgebracht. Aber Hershel schien immer noch nicht zu verstehen. Abwesend wandte er den beiden den Rücken zu und begann in einem der Schränke nach etwas zu suchen.
„Hershel!“ schrie Elliot ihn schließlich an und prompt stoppte er in der Bewegung etwas suchen zu wollen, und drehte sich schlagartig zu ihm:
„Junge, ich bin doch nicht dumm! Lass sie ihn suchen, sie ist die einzige die in der Lage dazu wäre, ihn aufzuspüren. Verstehst du es denn nicht?“
Abrupt waren seine Worte so streng und mahnend geworden, dass Carver sich fragte, ob er jemals dem „richtigen“ Hershel begegnet war. Denn was aktuell seiner Stimme beiklang war lediglich Zorn und Unverständnis. Woher diese plötzliche Wandlung kam, mochte Carver nicht zu bestimmen. Aber er war sich ziemlich sicher, dass Hershel wesentlich mehr wusste, als er zugeben wollte. Sei es nun wegen seinem Sohn, Dakon, oder aufgrund der baldigen Abreise aus dieser Welt.
„Ich werde hier nicht warten und darauf hoffen, dass wir fliehen können.“ es waren Elliots letzte Worte, bei denen er bereits im Begriff war, die Küche wieder zu verlassen.
„Was willst du tun, Junge?“ rief Hershel ihm befremdlich wütend hinterher. Es dauerte einen Moment, ehe Elliot wieder kam und Hershel sauer anblickte: „Ihr folgen.“ entgegnete er ihm angespannt, aber entschlossen zugleich. Lachend stützte sich Hershel auf die Arbeitsfläche, ehe er ihm schließlich direkt in die Augen blickte:
„Du bist ein IT-Konzentrat. Äußerlich bestehend aus Zellen und Kodierungen deiner DNA. Aber dein Geist, wird von Einsen und Nullen gesteuert... ich habe euch erschaffen und glaub mir; du hast keine Ahnung, WER oder WAS sie sind.“ mit einem undurchdringlichem Blick schauten sich Hershel und Carver gegenseitig an. Es vergingen einige Sekunden der Stille, in denen Elliot scheinbar resignierte und schließlich stumm seinen Kopf senkte, mit geballten Fäusten.
„Hershel, was können wir tun?“ fragte Kenny schließlich, der mittlerweile im Rahmen der Küche lehnte und Carver nachdenklich ansah. Er wusste genau, was in seinem Freund vorging. Es folgte das unmissverständliche Nicken, seitens Hershel, welches Carver bestimmt war. Prompt erwiderte er es stumm. Und Kenny war sich sicher, dass Carver Lynn folgen würde.
In einem Nebenhaus, seine Waffen vorbereitend, blickte Carver schließlich in das Gesicht von Kenny, der ihn aus der Eingangstür heraus nachdenklich betrachtete, während er packte.
„Wie willst du sie finden?“ fragte Kenny schließlich. Ungehindert konnte Carver seinem Freund ansehen, dass er seinen Plan nicht guthieß. Sein Blick wanderte zu einer Ampulle Geomas, die er vorsichtig mit einer Spritze aufzog.
„Du weißt, dass du nie wieder ohne leben können wirst?“ ermahnte ihn Kenny rau. Aber Carver stach nur stumm die Ampulle in seinen stark geäderten Unteramt und blickte schließlich Kenny an:
„Ich bin mir sicher, dass die beiden unsere letzte Chance sind.“ erwiderte er schließlich., ehe er das Geomas in seine Adern injizierte.
„Du bist den Hybriden nicht gewachsen!“ versuchte Kenny weiterhin seinen Freund von diesem Vorhaben abzuhalten. Doch Carver war zurück, gegen eine Wand gefallen.
Die leere Spritze fiel zu Boden und Kenny konnte deutlich den Kampf von Carvers Körper gegen das Geomas verfolgen.
„Ich werde zurückkommen, nach Yad Wa Shem. Und dann werden wir auf unseren Erfolg anstoßen.“ verkündete Carver mit einem rauen Stöhnen.
„Dein Wort, in Gottes Ohr, mein Freund.“ entgegnete ihm Kenny nur resignierend und verließ das Nebenhaus. „Pass auf dich auf.“ sagte er noch so laut, dass Carver es gerade noch hatte hören können, ehe sein Geist von einem Intervall aus Schreien und Schmerzen geflutet wurde.
„Ich komme... ich komme...“ Immer wieder hatte Lynn diese Worte wie ein Mantra wiederholt. Nicht mehr sicher, in welche Richtung sie überhaupt gerannt war. Sie konnte deutlich spüren, wie ein Schatten sie immer wieder verfolgte. Das Gefühl, nicht alleine zu sein, bestärkte sie nur nur noch mehr. Immer wieder war sie in den hohen Schnee gestürzt, hatte Probleme, sich zurecht zu finden. Und doch sah sie mal um mal, Yennifers Gestalt, die sie bittend weiterführte. Die dichten Tannen hatten sich zu einem grenzenlosen Wald verdichtet. Hätte Lynn gewusst, in welche Richtung sie gerannt war, hätte sie vielleicht den Weg zurück gesucht. Aber es gab kein zurück. Tief in ihrem Inneren wusste sie, was man nun von ihr erwartete.
Erneut stürzte sie, über die Wurzel einer Tanne, die tief im Schnee verborgen gelegen hatte. Aber dieses mal blieb sie liegen. Zu erschöpft, zu verzweifelt.
Zwei Tage lang, war sie nur gelaufen, wohin ihre Seele sie getrieben hatte. Und nun offenbarte sich ihrem Blick, endlich das, was sie zuvor nur Schemenhaft, wie in einer Illusion hatte sehen können; eine Schneebedeckte Stadt, am Fuße der Gletscher.
Von neuer Kraft gepackt, hastete Lynn wieder hoch. Hektisch passierte sie die verlassene Grenze, an der einzig und allein nur noch ein eingestürztes Wartehäuschen zu sehen war. Der Natodraht war in den tiefen Schnee herabgestürzt und darin versunken. Die Spuren der Bomben waren jedoch noch zu sehen.
„Sakuya!“ rief Lynn aufgelöst und kämpfte sich durch die Straßen. Der meterhohe Schnee behinderte jeden ihrer Schritte. Aber da war noch etwas anderes... Vulkanasche mischte sich mit dem Schnee und fiel vom Himmel, als käme er aus den Wolken am helllichten Tag. Ein dicht gewebtes Tuch aus Nebel hüllte die gesamte Stadt ein.
Wieder und wieder tastete Lynn sich an Gebäuden wie Hotels, Pensionen, Restaurants und Werkstätten vorbei. Die Türen waren abgeschlossen. Das Innere schien unerreichbar. Sie hätte mühselige Wege wählen können, um in das Innere der Gebäude zu gelangen, aber sie war zu müde, zu fertig, zu kraftlos, um es zu probieren. Und der Schatten, der ihr die ganze Zeit gefolgt war, schien nicht mehr da zu sein. Hilfesuchend und kraftlos blickte sich Lynn um. Das Leben war hier vergangen. An diesem gottverlassenen Ort gab es nicht mehr, außer Ruinen, Asche und Schnee.
Hilfesuchend stand Lynn vor einer alten Tankstelle. Trotz des Nebels konnte sie dahinter, nachdem die eisigen Gletscher ihre Konturen im seichten Dunst verloren hatten, das trübe, nebelige Ufer eines großen Sees erahnen.
„Sakuya!“ sie schrie, so laut sie nur konnte. Außer ein paar Krähen, die flatternd ihre Verstecke verließen, war jedoch nichts zu hören. Kraftlos wandte sich Lynn wieder um. Vielleicht sollte sie das Dorf einfach verlassen. Scheinbar gab es hier nichts. Vielleicht hatte ihr Verstand ihr nur einen Streich gespielt. Fassungslos über ihre Uneinsichtigkeit, verfolgte Lynn schließlich langsam wieder ihre eigenen Spuren, die sie zwischen Schnee und Asche hinterlassen hatte.
Schließlich, in der Dunkelheit des Abends, stand Lynn direkt vor einem Hotel. Es war heruntergekommen. Irgendjemand hatte es, vermutlich bei einem Angriff der Hybriden, versucht mit Bauzäunen zu schützen. In der Gasse, die Lynn gewählt hatte, zwischen etlichen Autowracks, kamen jedoch schnell die Spuren der Kämpfe zu Tage. An etlichen Stellen befanden sich Löcher im Maschendraht. Teile der Bauzäune waren eingerissen, geschmolzener Stahl, gab den Weg in die innere Zone frei. Vorsichtig hievte sich Lynn an den scharfen Kanten des Drahtes vorbei, auf das Gelände des Hotels. Unter dem Druck, zweier angrenzender Wohngebäude, schien es beinahe zu ächzten und zu stöhnen. Die Holzvertäfelung des ehemaligen Namens kam bereits herunter, und Lynn umging großspurig die verschneiten und morschen Planken, die sich vor ihren Füßen auftaten. Die gedoppelte Eingangstüre war mit einer dicken Stahlkette abgeschlossen. Das Glas hatte sie jedoch nicht davon abhalten können, zu brechen, und so stieg Lynn durch die kaputte Glastür, deren Scherben leise, in der trüben Nacht, unter ihren Stiefeln brachen.
Die Rezeption war beinahe nicht mehr zu erkennen, wäre Lynn nicht über das hölzerne Schild gestolpert, welches hinunter gebrochen, im Foyer, direkt vor ihren Füßen gelegen hatte. Die Treppe hinauf, suchte sie nicht lange, ehe sie ein aufgebrochenes Zimmer fand, welches zum Hofe hinaus, direkt an eine Feuerleiter grenzte. Lynn war leise gewesen, trotz aller Gefahren. Aber sie war sich sicher, dass wenn jemand kommen würde, sie die Feuerleiter, oder die Zimmertüre als alternativen Ausgang hätte wählen können. Nur oberflächlich klemmte sie einen morschen Holzstuhl, der einmal an einem Arbeitstisch gestanden hatte, unter den Türknauf, damit sich niemand, ohne ihr wissen, Zugang verschaffen könnte. Das Fenster zog sie hinunter. Würde sich jemand zutritt verschaffen wollen, würde sie es sicherlich merken, denn es quietschte, als hätte es niemals zuvor auch nur ein Mensch bewegt.
Konzentriert ging Lynn nochmals all ihre Möglichkeiten und die ihr drohenden Gefahren durch. Aber es gab in diesem Hotel etliche Zimmer. Niemand wäre auf die Idee gekommen, sie genau in diesem zu suchen.
Kraftlos ließ sie sich auf das verstaubte und aufgewühlte Bett fallen. Ihr Messer in der rechten Hand haltend. Für einige Minuten blickte sie die, durch die Nacht, grau und schwarz gefärbte Wand an. Jemand hatte ein Gemälde daran gehangen. „Toluca Lake“ zeichnete sich eine weiße, kaum erkennbare Schrift, auf dem unteren Teil des großen Holzrahmens ab. Vielleicht handelte es sich dabei um den See, den Lynn gemeint hatte wahrzunehmen, bevor sie zurückgegangen war. Das Bild zeigte einen Pinienwald, der zum Ufer des Sees hin, ausgedünnter wirkte. Dominierend war jedoch das Blau-Grau des Wasser, auf dem sich nichts zu spiegeln schien, ehe der Betrachtende schemenhaft, das Ufer der anderen Seite erahnen konnte. Dort gab es nichts, außer wage Umrisse von Bäumen, Gräsern und vereinzelten Gebäuden.
Erschöpft wandte sich Lynn zur anderen Seite und blickte zum Fenster hinaus. Trotz der Dunkelheit, aber dank ihrer guten Augen, konnte sie noch immer die Asche sehen, die lautlos auf das Fensterbrett fiel. In der nähe musste ein Vulkan sein. Woher hätte sonst diese Asche kommen können? Schwer einatmend hatte sich Lynn auf den Rücken gedreht und betrachtete noch einen Augenblick lang, die sich wölbende Decke.
>>Ich werde dich finden, Sakuya...<<
Ein leises Summen hatte Lynn aus wirren Träumen aufwache lassen und voller Angst blickte sie mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit des Hotelzimmers. Dort war nichts. Nichts.
Unsicher schob Lynn ihre Hüfte zum Ende des Bettes, setzte sich auf und horchte erneut einen Moment in die Stille hinein. Wie lange hatte sie geschlafen? Minuten? Stunden? Tage? Sie war nicht mehr im Stande dazu, sich selbst zu trauen.
Das Summen hatte erneut begonnen, obwohl Lynn nichts zu sehen vermochte. Langsam richtete sie sich auf. In der Annahme jederzeit einen Angriff abwehren zu müssen, schlich sie lautlos, mit gebeugten Knien, über die morschen Holzdielen. Es war noch jemand in dem Zimmer, das konnte sie deutlich spüren.
„Yennifer“ wisperte sie unsicher in die Dunkelheit, erhielt jedoch keine Antwort. Alle Fasern ihres Körpers waren voller Adrenalin und jeder ihrer Muskeln hatte sich verkrampft. Nochmals flüsterte sie Yennifers Namen fragend in die Dunkelheit. Nichts.
Das Summen hatte sich mit jedem ihrer Atemzüge zu einem tiefen Dröhnen gewandelt. Beinahe hektisch hatte Lynn einen Satz zum Fenster gemacht und schob es lautlos auf. Von dem ursprünglichen Quietschen war nichts mehr zu hören. Mit einem Sprung hatte sie die Fensterbank überwunden und fand sich auf der Feuerleiter wieder. Nicht ein Geräusch, außer dem tiefen Dröhnen, hatte sie wahrgenommen. Voller Panik blickte Lynn in die Nacht. Noch immer fiel die graue Vulkanasche, Wattebäuschchen gleich, auf das Gitter der Feuerleiter. Lynn stampfte mit ihrem Fuß. Das metallene Geräusch jedoch, blieb aus. Da war nichts, außer dieses Dröhnen in ihrem Kopf. Unsicher blickte Lynn in die Nacht. Noch soeben, konnte sie die Fassade, des anliegenden Gebäudes erkennen. Vielleicht war es die Asche, oder der Nebel, die ihr so sehr die Sicht nahmen. Wieder rief Lynn Yennifers Namen. Aber sie blieb stumm. Kein Ton, verließ ihre Lippen. Resignierend, ihren Verstand endgültig verlierend, blickte Lynn zurück in das Innere des Hotelzimmers; und plötzlich sah sie es: Ein Wabern aus bunten Farben, hellen Lichtschimmern, inmitten des Raumes. Etwas war dort. Leuchtend hell, offenbarte sich ihr etwas, aber Lynn musste blinzeln, da das Licht zu hell für ihre empfindlichen Augen war. Und bei ihrem nächsten Augenaufschlag, binnen einem Bruchteil von Sekunden, erkannte sie sich plötzlich selbst. Wie sie mitten im Zimmer stand, und herausfordernd sich selbst ansah, umgeben von einem Leuchten, welches sie noch nie zuvor gesehen hatte. Strahlend hell. Ein erneuter Augenaufschlag. Das leuchten ihrer gespiegelten Gestalt war weniger geworden. Einen Schritt nach vorne machend, beobachtete Lynn die gleiche Reaktion bei ihrem Gegenüber. Es war, als wäre diese leuchtende Gestalt ihr Spiegelbild. Unsicher tastete Lynn an dem Fensterrahmen herum, unsicher ob sie zurück in das Zimmer gehen solle, oder die Flucht ergreifen müsse. Ihre Erscheinung schien diesen Zweifel zu spüren, und hielt einen Augenblick lang inne. Blaue Augen, sahen sie fragend an.
Mühevoll hatte Carver versucht, den verschneiten Spuren im Schnee zu folgen. Das Geomas hatte ihm schier unendliche Kräfte verliehen, als er endlich die verschneite Stadt, am Fuße des Vulkans erreichte. Schon vom weiten, hatte er ein ungewöhnlich helles Licht bemerkt, welches er nicht einzuordnen wusste. Dass es Scheinwerfer der Hybriden waren, schloss er aus. Es war zu hell; sie wären dumm gewesen, wenn sie solch ein Licht benutzt hätten, da es sie ihre Tarnung gekostet hätte.
Unsicher überwand Carver den Kontrollpunkt, fixiert auf das helle Leuchten, inmitten der Stadt. Vulkanasche fand ihren Weg und mischte sich mit dem Schnee der verlassenen Straßen. Trotz der Dunkelheit erkannte er das Leuchten. Es war nicht mehr weit. Was auch immer ihn erwartete, er würde schneller sein und hielt somit sein Gewehr im Anschlag, während er sich einem heruntergekommenen Hotel nährte.
Von ihren eigenen Gefühlen verlassen, hatte Lynn erneut den Fenstersims überwunden und stand nun vor ihrem gleißend hellem Gegenüber. Eine Bewegung gab die andere. Zögernd aber instinktiv hatte sie ihr Messer gezückt. Aber ihr Gegenüber stand ohne etwas da. Die Bewegungen waren dieselben gewesen. Vorsichtig machte Lynn einen weiteren Schritt auf die leuchtende Materie zu. Sie kam ihr entgegen. Zögernd hob Lynn ihre linke Hand, das Messer fest in der rechten haltend, und nährte sich ängstlich der Erscheinung. Wieder schien sie es ihr gleichzutun, und mit bebendem Herzen beobachtete Lynn, wie sich ihre beiden Hände langsam einander nährten. Angst, Neugier, Verlangen, Unsicherheit... all das spielte keine Rolle mehr. Wie von einem unbewussten Impuls geleitet, wurde Lynns Hand zu der hellen Gestalt geführt. Ein Körper, der ihr mehr nicht hätte ähneln können. Jedoch ohne Mimik, ohne Details. Nur strahlendes Licht, welches ihre eigenen Augen zum zwinkern zwang. Warum tat ihr Körper das? Warum war sie nicht mehr imstande, sich zu entfernen, zu flüchten?
Mit heftigen Atemstößen betrachtete Lynn ihre eigene, gespiegelte Bewegung. Gleich würde sie die Gestalt berühren... diese Erscheinung ihrer selbst... . Sie drohte zu hyperventilieren, ihr Herz schlug schneller, als es hätte sein sollen.
Trotz des Schnees und der Asche, hatte Carver in einer engen Gasse, zwischen zwei Gebäuden eine Feuerleiter ausmachen können. Die Sicht war derweil so schlecht geworden, dass er sich nicht mehr sicher war, ob es an seinen Augen oder an den klimatischen Bedingungen lag.
Nachdem er mehrere Stufen gleichzeitig genommen hatte, blieb er atemlos stehen und blickte in eines der Zimmer, von dem ein helles Leuchten ausging. Nein, ein Leuchten wäre die falsche Beschreibung gewesen. Er erkannte ein Flimmern aus Farben und schließlich eine Helligkeit, die er nur von Blendgranaten kannte. Aber diesem Flimmern folgte keine Schwärze oder Blindheit; es schmerzte ihn in den Augen, aber es schien mehr wie ein Sprühen aus gleißend weißen Funken, die von den beiden Gestalten ausgingen. Immer wieder kniff er die Augen zusammen und hielt sich die Hand vors Gesicht, aber er war sich sicher genug, um Lynns Gestalt identifizieren zu können: „Lynn!“
Eine erstickende und raue Stimme hallte irgendwo in ihrem Kopf wieder. Etwas in Lynn sagte ihr, es wäre nun Zeit Abstand zu nehmen und sie hielt kurz in ihrer Bewegung inne. Aber die blauen Augen, die ihr entgegen leuchteten, hielten sie in dem Bann des Lichts. Und schließlich spürte sie, wie ihre Fingerspitzen taub wurden, nachdem sie die leuchtende Gestalt endlich erreicht hatte, deren glühende Finger ebenfalls nach ihr gegriffen hatten.
Durch Zeit und Raum katapultiert, ihren Geist völlig verlierend, ihrem eigenen Wesen nicht mehr sicher und ihres Namens nicht mehr mächtig, fand Lynn sich schließlich in völliger Dunkelheit wieder. Das einzige was ihre Augen wahrnehmen konnten, war ein helles, kleines Licht irgendwo am anderen Ende des Geländes, des Tunnels, oder wo auch immer sie sich, in der völligen Dunkelheit befand. Beinahe rennend folgte sie diesem kleinen Funken Hoffnung und bewegte sich, so schnell sie nur konnte.
Um so näher sie dem Licht kam, umso mehr konnte sie sich selbst ein wenig mehr erkennen.
Rennend und hektisch nach Luft schnappend, hastete sie dem Licht entgegen. Die Distanz die sie zurücklegte, konnte sie nicht mehr einschätzen, denn an diesem Ort schienen Zeit und Raum verloren zu sein.
Schweißperlen rannen ihre Stirn hinunter. Das gleißend strahlende Licht vor Augen, hatte Lynn mehr und mehr das Gefühl, der Erscheinung nicht mehr näher kommen zu können und sie blieb schließlich in mitten der Dunkelheit stehen. Da war nichts. Kein Geräusch. Kein Schatten. Einfach nichts.
„Yennifer!“ schrie Lynn in die Dunkelheit und bemerkte, wie nicht ein Laut ihre Lippen verließ.
„Sakuya!“ nichts. Keinen Ton brachte sie hervor. Das Licht in weiter ferne wurde schwächer und wieder rannte sie los. Aber ihr Körper vermochte sich nur schwer zu bewegen. Wie unter Wasser, trat und schlug sie um sich, als würde sie gegen unsichtbare Kräfte ankämpfen. Nicht einen Meter mehr, kam sie voran. Panik durchströmte alle ihre Glieder. Zitternd und erschöpft hielt sie schließlich inne und ihre Bewegungen erstarrten.
Mit einem dumpfen Knall zersprang die leuchtend weiße Gestalt. Umgeben von tanzenden Lichtpunkten versuchte Lynn krampfhaft Luft zu holen. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Die strahlenden Punkte wurden zu Linien und farbigen Lanzen. In einem Bruchteil von Sekunden sah sie einen Strudel, schließlich einen Tunnel, formiert aus tausenden wabernden Farben. In dessen Sog hineingerissen, erblickte Lynn schließlich die Gassen in Tokio. Ihr Geist flog hinüber, die Straßen entlang, an den Stationen des Shinkansen vorbei, vorüber an den nachtschwarzen Kronen der Bäume, über die Sektorpässe. Wo sollte das enden, wo war oben und unten, seit wie vielen Sekunden flog sie bereits? Es folgten drei Bahnen aus weiß-glitzernden Funken die sich vereinten, alles erneut, zu einem Muster aus wabernden Farben, die sich schließlich vereinten zu scheinenden Kreisen. Die Frische des Morgens, die Hitze des Mittags, die Kälte des Abends, der Tod der Nacht. Auf eisige Kälte folgte erstickende Hitze und schließlich nur noch wimmernde Leere.
Ein Raum. Ein Zimmer. Ein Fenster. Ein See. Eine Reflexion der Dunkelheit. Und schließlich erkannte Lynn Yennifer. Gespiegelt in der Fensterscheibe, direkt hinter sich. Ein dröhnendes Summen in ihrem inneren spürend, versuchte Lynn sich umzudrehen. Ihr Körper war erstarrt. Sie hatte keinerlei Macht mehr über sich selbst.
„Er kommt. Warte nur. Warte nur.“ Yennifers Stimme glich einem ohrenbetäubendem Tosen. Wie ein sommerliches Gewitter und dem tiefen Grollen zwischen den Wolken, was dem erlösendem Blitzen und Donnern vorausging, nahm Lynn den Klang ihrer Stimme wahr. Mit aller kraft senkte sie ihren eigenen Kopf, blickte auf ihre flimmernden Hände und ihrem Messer. Das Rumoren legte sich allmählich.
Und dann plötzlich, war es ganz still. Das Zimmer war leer. Endlich war Lynn imstande dazu, sich umdrehen zu können.
„Nein!“ stieß Carver raunend hervor, nachdem er blitzschnell den Fenstersims überwunden hatte und schließlich vor Lynns Erscheinung kniete.
Was er zuletzt gesehen hatte, konnte er nicht mehr einordnen; es hatte einer blendenden Explosion geglichen. Voller Adrenalin hatte er sich in den Raum gestürzt und gerade noch gesehen, wie Lynn zusammengebrochen war. Als hätte man ihr jegliches Leben aus den Gliedern gesaugt.
Voller Ungewissheit, griff Carver nach Lynns dünnem Arm. Wenn sie noch einen Puls hätte, wäre wohl alles nur halb so schlimm.
Aber in dem Moment, als seine Finger, über ihre Hand glitten, begann ihr Körper bereits zu Flimmern. Ungläubig blickte Carver auf den Teppich, der durch sie hindurch schien.
„Nein... Nein!“ unter seinen fassungslosen Augen begann sich ihr Körper allmählich aufzulösen.
Nach ein paar Sekunden der Ungläubigkeit, war schließlich nichts mehr von ihr da. Lynn war endgültig verschwunden.
„Wo bin ich?“ Ihr eigenes Echo hallte in dem kleinen Raum wieder, als handle es sich um eine unterirdische Höhle. Raum und Zeit schienen an diesem Ort nicht mehr überein zu stimmen, so viel konnte Lynn begreifen, obwohl sie nicht einmal ansatzweise einschätzen konnte, was zuvor geschehen war. Mit bebendem Herzen bewegte sie sich auf die einzige Tür zu, die vorhanden war. Unsichere Schritte hatten sie vor dem Türknauf halt machen lassen. Ein Blick an die Decke des Zimmers verriet ihr lediglich Unendlichkeit und Schwärze. Es gab keine Decke. Dort oben war es nur dunkel. Nichts weiter.
„Lynn.“ eine tiefe und raue Stimme brachte sie schließlich dazu, vom Türknauf abzulassen und sich umzudrehen.
Sakuya stand direkt vor ihr und sah ihr mahnend in die Augen.
„Wo bin ich?“ fragte sie stockend und sah erneut auf ihre Hände nieder, die noch immer flimmerten.
Tief einatmend blickte Sakuya zunächst zu der nicht vorhandenen Decke und schließlich wieder zu Lynn.
„Was glaubst du, wo du bist?“ Das war keine Antwort. Warum tat er das? Warum wich er ihr immer wieder aus? Einige Schritte machte sie auf Sakuya zu.
„Sakuya, wo bin ich?“ aus Unsicherheit waren Zorn und Wut geworden. Mit kalten blauen Augen sah er ihr einige Sekunden lang stumm entgegen. Schließlich sagte er:
„Bei mir.“ Seine Stimme wiederholte sich wieder und wieder in ihrem Kopf. Was sollte das alles bedeuten? Wo zur Hölle war sie? Warum hatte sie wieder und wieder Yennifers Gestalt gesehen?
„Hör auf mich zu belügen!“ Lynns schrie so laut sie nur konnte. Aber Sakuya zeigte keinerlei Reaktion. Noch immer stand er da und sah sie lediglich an. Ihr Körper bebte vor Zorn und Angst.
Als sei der Schnitt innerhalb eines Filmes missglückt, erblickte Lynn plötzlich für einige Sekunden Yennifer, die Sakuyas Platz eingenommen hatte und sie flehend ansah.
„Lynn, hilf ihm!“ bat sie unter Tränen, noch immer von den Spuren etlicher Kämpfe gekennzeichnet. Mit einem Satz hatte Lynn die Distanz zwischen sich und ihr überbrückt und griff hektisch nach Yennifers Arm.
Wie von einer Explosion geblendet, hielt sich Lynn die Hand vor Augen, bis sie schließlich spürte, dass die Person, die sie festhielt, nicht mehr Yennifer sein konnte. Voller Angst blickte sie auf und sah in Sakuyas ausdrucksloses Gesicht.
„Komm mit mir.“ sagte er leise und langsam. Der Klang seiner Stimme erschütterte ihren gesamten Körper. Mit einem Mal war sie sich nicht mehr sicher, ob sie noch Heer über ihren eigenen Körper war, aber sie trat noch einen Schritt vor, näher an Sakuya heran. Er blickte sie ernst an und seine Lippen formten erneut, langsam und ruhig, Worte für sie:
„Willst du es?“ fragte er sie schließlich leise, inmitten des leeren Raumes, ohne Decke, voller Unendlichkeit. Instinktiv antwortete sie langsam und unter Tränen:
„Ich kann nicht...“ sie kniff ihre Augen zusammen und Tränen rannen ihre Wangen hinab.
„Sakuya...“ es war nur noch ein leises Wimmern, welches sie zustande brachte.
„Ich zeige es dir... du musst es nur wollen.“ erwiderte er erstaunlich ruhig. Noch immer hielt Lynn an seinem Handgelenk fest. Er war da, sie konnte seine Haut, seine Wärme spüren. Was auch immer gerade geschehen mochte; aber er war es wirklich, da war sie sich ganz sicher.
Voller Adrenalin pumpte Carvers Herz das Geomas durch seine Adern, welches er sich, vor seiner Abreise aus dem Bergdorf, injiziert hatte. Vielleicht war es genau das, was nun den entscheidenden Unterschied machte, dachte er beunruhigt, nachdem er die Feuertreppe des Hotels wieder hinunter gerannt war und mit schweren Schritten durch den tiefen Schnee und der Asche hastete. Immer wieder war er sich für wenige Sekunden sicher gewesen, eine leuchtende Gestalt inmitten des dichten Nebels der Nacht zu erkennen und so setzte er seinen Weg fort. Lynn konnte nicht einfach verschwunden sein. Das wäre zu einfach gewesen.
„Wo sind wir?“ erneut richtete Lynn ihre sture Frage an Sakuya. Er schwieg und sah wieder in die Unendlichkeit, die über ihnen schwebte. Schließlich spürte Lynn seine Hand auf ihrer. Behutsam löste er ihren Griff, von seinem Handgelenk und sie blickte ihm lautlos entgegen.
„Lynn...“ bat er sie rau, ihn endlich loszulassen. Aber entgegen ihrer ersten Intention, dem folge zu leisten, machte sie einen weiteren Schritt, so nah an ihn heran, dass sich ihre Körper berührten.
„Warum tust du das?“ fragte sie leise, ihre Tränen unterdrückend. Immer wieder hatte sie tief in ihrem Innern die Sehnsucht nach ihm gespürt. Vom ersten Tag an, nachdem sie ihr Gedächtnis verloren und ihm das erste Mal begegnet war. Sie hatte ihn gesehen und es war ihr, als würde sie ihn schon ewig kennen. Seine Stimme hatte ihr eine Gänsehaut beschert, sein Blick hatte sie so nervös werden lassen, dass sie beinahe alles andere vergaß. Und er hatte ihr unzählige male geholfen. Und eben das, war nicht seine Aufgabe gewesen. Er hätte sie sich selbst überlassen können, aber er hatte stets das Gegenteil getan. Und dann war da noch dieses seltsame Gefühl neuerdings. Sie sah ihn. An Orten, an denen er nicht hätte sein dürfen, sollen, können. Wieder und wieder hatte sie seine Silhouette gesehen, seinen Schatten bemerkt, seine Anwesenheit gespürt. Es konnte nicht Nichts sein. Das alles hatte einen Grund.
Ihr Verstand, der sich ihren Gefühlen gewidmet hatte, registrierte schließlich eine Berührung. Sanft fuhren Sakuyas Hände über ihre Schultern. Behutsam strich er ihr die nassen und verklebten Strähnen voller Asche aus dem Gesicht. Und mit einem male kam Lynn der Gedanke daran, dass er genau dies, bereits auf der Basis getan hatte.
Einem inneren Impuls folgend ergriff Lynn sein schwarzes, von Kampfspuren übersätes Hemd, welches in seiner Hose steckte und zog es langsam aus deren Bund.
„Sakuya...“ sagte sie leise und suchte erneut seinen Blick. Er blickte sie an, und in seinen Augen lag ein Ausdruck den sie nicht so recht deuten konnte. Vielleicht war es Verlangen, oder Abwehr, oder etwas anderes, aber sie vermochte es nicht näher zu bestimmen. So sehr sie diesen Mann zu kennen meinte, umso weniger kannte sie ihn scheinbar. Sie registrierte noch gerade eben, wie seine Hand, zu ihrer Schulter, und dem damit verbundenen Zeichen der VCO fuhr, als sich scheinbar alles um sie herum in ein schwarzes Loch verwandelte. Es gab für wenige Sekunden nichts, an das sie sich erinnert hätte, hätte festhalten können, oder näher zu bestimmen vermochte.
Ihr erneutes Erwachen fand auf einem Sofa, in einem Apartment weit oben über Nagoya statt. Die bunten Lichter der Stadt drängten sich durch die voll verglaste Scheibe des Wohnzimmers. Pechschwarz umgab sie der nächtliche Horizont. Es brannte nur das kleine Licht einer Leselampe, unmittelbar neben dem Sofa, auf dem Lynn erwacht war.
„Ist das besser?“ fragte Sakuya, der mit ernstem Blick im Rahmen zum Flur stand. Und da begriff sie, dass sie dieses Apartment schon einmal gesehen hatte. Es war Sakuyas Apartment , mitten in Nagoya.
„Nein....“ erwiderte sie unsicher und stand etwas benommen auf. Auch wenn es eine halbwegs vertraute Umgebung war, war überhaupt nichts besser. Zielgerichtet führten ihre Schritte auf Sakuya zu, der verwundert zu ihr hinabblickte.
„Sag mir, was ich hier soll. Warum habe ich Yennifer gesehen? Warum sagte sie, dass du meine Hilfe bräuchtest?“ die neue Umgebung hatte ihr neuen Antrieb verliehen. Endlich konnte sie ihn wissen lassen, was ihr keine Ruhe ließ.
„Was glaubst du?“ erwiderte er ernst und musterte sie eindringlich. Wich er ihr schon wieder mit einer Gegenfrage aus? Was sollte das?
Zwei weitere Schritte, und sie spürte seinen Herzschlag. Dicht an ihn gedrängt, war sie zum stehen gekommen und ergriff erneut sein Hemd.
„Was soll das werden, Lynn?“ fragte er rau und sah sie eindringlich an. Sich innerlich wehrend, blickte sie atemlos zu ihm auf und erwiderte heiser: „Sag du es mir...“
Ein erneuter Gedankensprung ließ Lynn auf der ehemaligen Basis der VCO erwachen. Sie stand in Sakuyas Baracke und konnte das Geräusch des Wasserhahns vernehmen. Unsicher blieb sie einige Sekunden lang verloren im Raum stehen, ehe sich die Türe zum Bad öffnete und Sakuya den Raum betrat.
„Ist das besser?“ nahm ihm Lynn seine Worte vorweg und Sakuya erwiderte mit seinem Blick etwas zwischen Provokation und Ärgernis.
„Was glaubst du?“ richtet er seine Frage an sie und machte einige Schritte auf sie zu. Wenn er auf sie zu kam, war es anders, als wenn sie es tat. Seine gesamte Erscheinung schüchterte sie ein. Er war wesentlich größer und stärker, das hatte sie oft genug einsehen müssen. Mit einem weiteren Schritt, stand er schließlich so nah vor ihr, dass sie seinen Schweiß und das Blut riechen konnte. Mit etwas Unsicherheit glitten ihre Hände an seiner Brust hinab, über den dünnen Stoff seines Hemdes, bis hin zu der Knopfleiste über seinem Gürtel. Herausfordernd blickte er sie an, während sie den untersten Knopf seines Hemdes öffnete.
„Und nun?“ fragte er leise.
„Sag du es mir.“ Gab Lynn beinahe lautlos zurück und war überrascht, als Sakuya ihr von hinten an die Oberschenkel fasste, sie packte und auf seinen Arbeitstisch beförderte.
Sie sahen sich einige Sekunden lang stumm an, ehe Lynn ihre Beine spreizte und er einen Schritt auf sie zu machte, um schließlich nur wenige Zentimeter vor ihr stehen zu bleiben.
„Du weißt was geschehen ist. Du weißt es ganz genau, sonst wärst du nicht gerade hier, an diesem Ort.“
Schluckend starrte Lynn in Sakuyas blaue Augen. Ja, natürlich wusste sie, was geschehen sein musste. Warum sie Yennifer wieder und wieder gesehen hatte. Und Sakuya; an der Gabelung im Gebirge, verletzt.
Vielleicht sprach sie gerade mit einem Geist. Mit jemandem oder etwas, was nichts mehr mit dem Irdischen zu tun hatte. Von Efrafar war sie durch Zeit und Raum nach Nagoya katapultiert worden. Und nun, saß sie auf Sakuyas Schreibtisch, in Valvar, in der ehemaligen Basis der VCO.
„Du bist tot...“ wisperte Lynn ihm entgegen und nahm nur mit völliger Fassungslosigkeit seinen resignierenden Augenaufschlag wahr. Hoffnungslosigkeit, das Gefühl völlig verloren zu sein, Angst, Verbitterung, Ohnmacht; alles überkam sie gleichzeitig, indem Augenblick, in dem sie bereits bemerkte, wie seine Konturen zu flackern begangen. Kopfschüttelnd und mit Tränen in den Augen sah sie ihn flehend an:
„Du kannst nicht sterben... ich weiß es... ich weiß es ganz tief in meinem Inneren... keiner von uns beiden...“ Ihre Hände griffen hektisch ins Leere. Das Licht der Baracke flimmerte wie in einem Traum. Niemand war mehr da.
„LASS MICH NICHT ALLEINE!“
Lynns eigener verbitterter Schrei erschütterte sie bis ins Mark. Ihre Stimme brachte all die Verzweiflung zum Ausdruck. Auf das Gefühl der Wut und Hoffnungslosigkeit folgte erbitterte Stille.
„Lass mich nicht alleine...“ sie begann zu Schluchzen und ließ sich bitterlich weinend zur Seite fallen, um auf dem Tisch zum liegen zu kommen. Ihr Gesicht unter ihrem Armen vergraben. Es ergab keinen Sinn. Nichts ergab mehr einen Sinn.
„Sakuya...“ wimmerte sie leise.
Einige Zeit blieb sie so liegen, ehe sie nicht mehr im Stande dazu war, auch nur einen Ton von sich geben zu können. Ohnmächtig von ihren eigenen Gefühlen, richtete sie sich schließlich auf und verließ den Tisch, auf dem sie gelegen hatte. Ihr Blick schwiff über die Akten. Die Kennzahlen stimmten mit den Aufträgen überein, die sie zusammen bekommen und erledigt hatten. Abwesend brachte sie den Stapel zum umstürzen. Aber ihr Blick blieb an einem der Berichte hängen, der keine Kennzahl trug. Nebensächlich schlug sie den braunen Einband um und sah auf die ersten Worte, die Sakuya geschrieben hatte: „Tshad Na Ham“. Heftig atmend spürte Lynn, wie ihr Puls in die Höhe schoss, kaum atmen könnend, las sie weiter:
„Hiermit bestätige ich den Verlust des Zero Projekts „Linnai“ im Verlauf des Einsatzes mit der Kennzahl 2210, in der Wüste von Thad Na Ham, Valvar, östlich der Gruppenpositionierung Delta X. Im Zuge der Mobilisation des zuvor genannten Teams, kam es zu Auseinandersetzungen innerhalb der Auftragsorganisation, am zweiten Abend nach der Ankunft. Ein nicht vorhersehbarer Angriff der südlichen Söldnertruppen aus dem Geshar-Gebirge, konnte aufgrund dieser Ereignisse nur notdürftig abgewehrt werden. Zwölf Rekruten erlagen dem Angriff. Ein Rekrut, das Zero Projekt, wird derzeit vermisst. Der Aufenthaltsort ist mäßig bekannt, wird jedoch auf das Geshar-Gebirge, im Südwesten, eingegrenzt. Die genauen Koordinaten finden sich im Anhang, auf Seite 5. Hiermit wird der sofortige Rückzug aller Truppen aus Tshad Na Ham veranlasst. Damit einher geht das Gesuch, mit drei weiteren Teams kooperieren zu dürfen, um den vermissten Rekruten aufzuspüren.“ Ein schwarzer Stempel mit den Worten „Abgelehnt“ und Negan Valcours Siegel war darunter zu erkennen. Unsicher schüttelte Lynn den Kopf. Hektisch blätterte sie durch den Rest der Akte, aber die darauf folgenden Seiten waren leer.
„Zeig es mir!“ schrie Lynn verzweifelt in die Stille der Baracke hinein. Einige Sekunden lang hielt sie inne, ehe die ersten senkrechten Linien des Raumes begannen zu verschwimmen und zu flackern.
„Zeig mir was geschehen ist... zeig mir, warum das alles geschehen musste... Sakuya...“ Ihre Worte wurden ruhiger und leiser und erstickten schließlich unter Tränen.
Schemenhaft sah sie ihre jüngere Gestalt, in Stiefeln und einem viel zu großen Handtuch aus dem Bad kommen. Wie die transzendente Silhouette von Sakuya durch sie hindurch aufstand, und zu dem Mädchen ging, um ihr die Schuhe auszuziehen. Das Bild verschwamm, und sie erkannte sich neben Sakuya auf dem Sofa liegend, weinend.
Sie sah, wie er am Schreibtisch saß, rauchend, voller Wut und wieder und wieder die Akte neu schreibend, zerknüllend und schließlich stumm resignierend.
Wie Sakuya auf ab ging, in der Dunkelheit der Baracke, seine Waffe ladend.
Und plötzlich fand sich Lynn mit einem Augenaufschlag in einer Bar wieder. Der Sand knirschte unter ihren Schuhen, das Licht war gedimmt, aber lautes Gelächter drang wie Hammerschläge in ihr Inneres.
Der Mann hinter der Theke trug einen dichten, schwarzen Bart, und musterte skeptisch, das junge Mädchen, das ihm gegenüber saß. Es dauerte nur wenige Sekunden, ehe Lynn sich in ihr erkannte.
>>Unsicher war Lynn der Aufforderung der restlichen Kameraden gefolgt. Es war der letzte Abend, in dem kleinen Dorf von Tshad Na Ham.
Gelbe, quaderartige Gebäude säumten das Stadtbild. Tagsüber wimmelte es von Verkäufern mit sonnengebräunter Haut und Tüchern um den Kopf, an ihren Ständen, in den sandigen kleinen Straßen. Früchte, die Lynn noch nie zuvor gesehen hatte, wurden angeboten. In dem Gemurmel aus Stimmen und fremden Gerüchen hatte sie sich eng an ihre Truppe gehalten, während sie die Jeeps abstellten und ihren Weg in einige Gasthäuser suchten. Immer wieder hatte Lynn die Blicke der Frauen und Männer gespürt, die Ehrfurcht, die sie vor ihnen gehabt hatten. Niemand hatte sie begrüßt, aber man schien ihre Präsenz doch erhofft zu haben.
Am ersten Abend nach ihrer Ankunft hatte sie ein Sandsturm überrascht und Lynn hatte zusammengekauert in einem stickigen Zimmer gelegen und sich gefragt, was die anderen wohl gerade tun würden. Sakuya hatte ihr und seinem Team gesagt gesagt, dass es in zwei Tagen mit dem Einsatz losgehen würde. Ziel war es, eine Söldnertruppe des Gebirges auszuschalten. Scheinbar waren sie eine ernstzunehmende Bedrohung für die VCO. Die Menschen in dem Dorf glichen aufgrund ihrer Äußerlichkeiten den Männern, die Lynn und die anderen Rekruten im Wald der Basis gejagt und getötet hatten.
Und obwohl sie sich ihrer Fähigkeiten absolut sicher war, saß Lynn in der zweiten Nacht unruhig auf einem Hocker am Tresen und starrte immer wieder in den Spiegel, hinter den Spirituosen.
Ihre Aufgabe, ihr Team zu beschützen und als Scharfschütze zu agieren, hatte sie bereits vor ihrer Abreise auf der Basis mitgeteilt bekommen. Dennoch fühlte sie sich eigenartig unsicher. Das hier war kein Training. Es war der bittere Ernstfall. Und würde sie nun, nur einen Augenblick unaufmerksam sein, hätte ihr Verhalten tödliche Folgen. Nun war sie es, die Verantwortlich war. Aber nicht nur für sich, sondern für das gesamte Team. Wieder und wieder stellte sie sich den Ablauf in Gedanken vor. Wie sie auf einem Felsen lag, im Gebirge und alles beobachtete. Was wäre, wenn ihr Gewehr in der Sonne aufschimmerte? Was wäre, wenn sie einen Hinterhalt nicht bemerken würde? Was wäre, wenn man sie entdecken würde? Oder wenn es regnen würde, und sie schlechte Sicht hätte?
Das Raunen eines Kameraden ließ Lynn aufblicken. Er stand direkt neben ihr und bot ihr ein Bier an. Stumm signalisierte sie ihm, es einfach hinzustellen. Er lächelte sie kurz an und der Schwall seines alkoholhaltigen Atems stieg ihr in die Nase. Scheinbar machte sich niemand so viele Gedanke um den Einsatz, wie sie. Unter dem kritischen Blick des Barmanns stand Lynn auf und sah sich in der halbdunklen Bar um. Einige ihrer Leute hatten sich am Billardtisch versammelt und riefen hitzig durcheinander. Eine kleinere Truppe tanzte und neben Sakuya mit einer Soldatin, die offensichtlich nicht zu ihnen gehörte sprach, stand noch ein weiterer Mann ihres Teams daneben und hörte angespannt dem Gespräch zu. Die junge Frau hatte blonde Haare, die mit einem Pferdeschwanz zurückgebunden waren. Lynn war sich sicher, sie noch nie zuvor gesehen zu haben. Scheinbar hatte Sakuya ihren Blick registriert und sah schließlich von seinem Bier auf, zu Lynn rüber, die noch immer an der Theke stand. Für einen Moment hielt er inne und sie war sich nicht sicher, ob er lächelte, oder sie einfach ansah, wie immer.
„Komm zu uns, das musst du sehen!“ rief einer ihrer Leute euphorisch vom Billardtisch, und ehe Lynn erneut zu Sakuya sah, hatte er sich wieder in das Gespräch mit der Fremden vertieft.
Ihr Bier mit einem Zug hinunterspülend trat Lynn an den Billardtisch und betrachtete angespannt das Spiel. Der Alkohol wirkte innerhalb von Minuten und fegte all ihre Sorgen bezüglich des Einsatzes weg.
Nach dem zweiten Bier hatte sie Sakuya nicht mehr gesehen. Und die Fremde Frau war ebenfalls verschwunden. Aber Lynn registrierte diese Gegebenheit nur am Rande und tanzte ausgelassen zusammen mit den anderen, zu einer Musik in einer fremden Sprache. Unbekannte Instrumente und hitzige melodische Töne trieben ihre Gedanken in eine andere Welt.
Der Schweiß rann ihre Stirn hinunter, das Klima war schwül und heiß an diesem Ort und den Sand der Wüste spürte sie bei jedem ihrer Schritte unter ihren Stiefeln.
Nassgeschwitzt und ein wenig abseits ließ sie sich mit den Rücken gegen die Theke fallen und lachte zusammen mit den anderen, die ihre Tanzkünste vorführten. Warum hatte sie sich solche Sorgen gemacht? Das Leben konnte doch so schön sein. So voller Freude. Abwesend wanderte ihr Blick durch die Bar und blieb bei Sakuya, der zusammen mit einem weiteren Mann in einer Ecke saß und rauchte, hängen. Seine Augen kamen ihr ungewöhnlich erschöpft vor, aber sie spürte, wie wach er sie ansah. Mit einer kleinen Handbewegung bat er sie zu sich.
Etwas unsicher kam sie auf ihn zu. Leicht wankend und sie spürte, dass das weiße Unterhemd durch ihren Schweiß eng an ihrer Haut lag, und mit jedem Schritt und der Luft, die ihre Haut berührte, erfuhr sie etwas Abkühlung.
Vor Sakuya war sie stehen geblieben und sah ihn müde aber lächelnd an.
„Dreh dich mal um.“ wies er sie leise und mit tiefer Stimme an und sie folgte seiner Aufforderung. Sie spürte, wie er nach ihrer Kette, mit der Marke der VCO griff, die ihr scheinbar beim tanzen auf den Rücken gerutscht war, und sie wieder über ihre Brust legte. Es fühlte sich eigenartig spannungsgeladen an, wie er das tat. Und obwohl alles wieder seine Richtigkeit hatte, beließ er noch für einige wenige Sekunden seine Hand in ihrem Nacken. Die Hitze seiner Haut durchströmte ihren Rücken und gipfelte in jeder ihrer Adern. Verwundert über diese Handlung blickte Lynn über ihre Schulter, zu Sakuya, der noch immer hinter ihr auf dem Stuhl saß und schließlich aufstand. Als sei die Musik verstummt und das Gelächter erloschen, drehte sie sich zu ihm und sah zu ihm auf. Es war ihr plötzlich, als wären da nur noch sie und er, mitten in einer Bar in der Wüste. Wie von ihm angezogen, verharrte Lynn einige Augenblicke lang vor ihm und sah ihn mit Herzklopfen an. Einige schwarze Haarstränen hingen über seiner verschwitzen Stirn. Das schwarze Hemd, welches er trug, hatte er oberhalb aufgeknöpft und Lynn konnte den Schweiß auf seiner Brust glitzern sehen, auf der ebenfalls die Marke der VCO glänzte.
Ein Brennen durchzog ihre Wirbelsäule und Lynn wusste in diesem Moment, dass das Zeichen auf ihrer Schulter wieder in einem blassen Blau zu leuchten beginnen würde. Stumm wanderte Sakuyas Blick von ihren müden Augen, zu ihren vollen Lippen und schließlich hinunter, zu ihren Schulter. Einige Sekunden der Spannung verstrichen, ehe er sie erneut anblickte und sie sich nicht mehr sicher war, ob sie vielleicht noch einen Schritt an ihn heran wagen sollte. Seine gesamte Erscheinung zog sie an. Aber auf eine Art und Weise die sie nicht mehr einzuordnen wusste. Oft hatte sie sich von ihm angezogen gefühlt. Von seinem Körper, der so anders war als ihrer, von seinem Geist, der so verschlossen schien. Aber seine Gedanken waren oft bei ihr gewesen, das hatte sie immer mal wieder, in wachen Augenblicken deutlich spüren können. Manchmal hatte es nur einem Blick seinerseits bedurft und sie hatte gewusst, was zu tun war.
„Jungs wir sollten Schluss machen!“ rief einer der Rekruten lachend durch die Bar, nachdem er gesehen hatte, wie einer seiner Kameraden es gerade noch nach Draußen geschafft hatte, um sich zu übergeben. Die Schritte des Barkeepers neben ihnen, löste schließlich die Situation zwischen Lynn und Sakuya auf.
„Sir, ich würde gleich gerne schließen.“ Gab er mit einem arabischen Akzent von sich und sah Sakuya fragend an. Er erwiderte sein Gesuch mit einem stummen Nickten. Fragend sah der Mann zu Lynn hinab und schließlich wieder Sakuya an: „Sind Sie sicher, dass dies ein guter Ort für sie ist?“ flüsterte er schließlich und Lynn beobachtete, wie Sakuya sich in aller Ruhe eine Zigarette anzündete.
„Lassen Sie das meine Sorge sein.“ sagte er schließlich und nach einem erneuten unsicheren Blick zu Lynn, trat der Barmann wieder seine Rückreise zur Theke an.
„Geh schon mal vor.“ wies Sakuya Lynn mit rauer Stimme an und ließ sie schließlich stehen, um sein Team vom Ende der Nacht zu unterrichten.
Mit trüben Gesichtern, waren die Männer nach draußen getaumelt, teilweise mit unsicheren Schritten, so dass sich Lynn gefragt hatte, ob sie am morgigen Tag wirklich einsatzbereit sein würden.
Schließlich, in dem kleinen stickigen Zimmer, eines der Sandsteinhäuser, ließ sich Lynn atemlos aufs Bett fallen. Sie spürte den Anflug von Kopfschmerzen. Aber viel mehr beschäftigte sie die Frage, welch eigenartige Situation das mit Sakuya gewesen war. Warum war es ihm wichtig gewesen, dass ihre Marke richtig hing? Warum hatte er sie so lange und intensiv angesehen? Aber noch mehr fragte sie sich, warum das Mal an ihrer Schulter auf seine Nähe reagiert hatte.
Noch etwas benommen von dem Alkohol hatte sie sich auf den Weg zur Dusche gemacht. Es gab in jedem der kleinen Häuser teilweise nur eine Dusche und wenn dem nicht so war, befand sie sich hinter dem Haus, in einem kleinen sandigen Hof, bestehend aus einer Konstruktion von Schläuchen und Wasserkanistern.
In dem Haus in dem Lynn mit fünf weiteren Gruppenmitgliedern postiert wurde, gab es für sie nur eine Dusche auf dem Hinterhof. Aber sie war dankbar überhaupt eine solche Dusche in Empfang nehmen zu können. Der Sand hatte bereits seinen Weg zu ihrem gesamten Körper gefunden. Vermischt mit dem Schweiß des Tages, fühlte sich ihre Haut zunehmend rau an.
Zu den Sternen am nächtlichen Wüstenhimmel blickend, wusch sie sich, so gut es eben ging. Was würde morgen auf sie zukommen?
Geistesabwesend hatte sie sich ihre Sachen geschnappt, umwickelt von einem grauen Handtuch und war bereits auf dem Weg zu ihrem Zimmer, als sie vor Sakuyas Türe stehen blieb und einen Moment lang inne hielt. Warum hatte er das gemacht? Warum hatte er so vor ihr gestanden? Die Erinnerung daran genügte, um ein heißes Brennen in ihrem Beckenbereich zu spüren. Es war nicht nur das... das Zeichen auf ihrer Schulter hatte begonnen zu brennen und... und ihr Herz.
Ihr Herz brannte, wenn sie an seine Blicke dachte. An seine Stimme, an seine Worte, an seine Erscheinung.
So lange war er bei ihr gewesen und doch war er ihr immer so fern geblieben. Und doch hatte er sie zwischen all dem Trubel in der Bar so intensiv berührt. Und doch, hatte sie stets seine Blicke bei dem Training gespürt. Und trotz allem, war sie sich sicher, dass niemals ein Mensch ihm so nahe kommen könnte, und sie drückte die Klinke der Türe zu seinem Zimmer hinunter, voller Erschrecken, was sie sehen könnte, voller Gleichgültigkeit wie sie ihn vorfinden würde. Aber mit dem immensen Wunsch, ihm einmal begegnen zu können, mit dem Bewusstsein wer-sie wirklich-war.
Die Tür sprang auf, erblicken konnte Lynn nur ein leeres Bett und staubige Laken. Das Geräusch der Dusche war zu hören. Zigarettenqualm lag in der warmen und stickigen Luft. Da stand sie nun. Völlig verloren. So wie sie Sakuya kannte, hatte er bereits vor wenigen Minuten spüren können, was vor sich ging, Aber entgegen ihrer Erwartung ließ das Geräusch des Wassers nicht nach. Vermutlich wusste er, dass sie kommen würde. Dass sie dastehen und ihn anstarren würde.
Unsicher blicke sie in dem kleinen Zimmer umher. Was wollte sie hier? Sie hielt inne und dachte einen Augenblickklang nach. Der Alkohol trübte noch immer immer Sinne. Zu gehen und und zu schlafen erschien am sinnvollsten. Aber was wäre, wenn morgen etwas dazwischen käme? Wenn sie ihm niemals hätte sagen können, was sie empfand? Was empfand sie eigentlich? Vertrautheit? Anziehung? Das Gefühl einen Ort, ein Stück Familie zu haben? Und vielleicht noch etwas anderes... . Es war Irrsinn und Lynn beschloss schließlich sein Zimmer zu verlassen. Was hätte sie auch sagen sollen?
„Lynn?“ Sakuyas raue Stimme rief sie aus ihren Gedanken zurück und sie blieb stumm stehen, noch bevor sie wieder die Türe geöffnet hatte.
„Vergiss es...“ murmelte sie leise, aber sie wusste, dass er sie gehört hatte.
„Was soll das werden?“ fragte er sie, und trat in einer schwarzen Hose und einem aufgeknöpftem Hemd aus dem Bad. Ihr Blick verriet vermutlich jegliche Gefühlsregungen. Und ihre Augen wanderten, von seinen nackten Füßen, über den schwarzen, gespannten Stoff seiner Hose, bis hin zu seinem Hals, seinen Wangen, seinen Augen.
„Sag du es mir...“ antwortete sie atemlos und sah ihm angestrengt, nicht die Fassung verlieren wollend entgegen. Ohne jegliche offensichtliche Gefühlsregung musterte er sie, beginnend von ihren nackten, sandig-nassen Füßen, hin zu dem grauen Handtuch, welches keinerlei Geheimnisse ihrer Figur mehr verbergen mochte. Und wieder sah er in ihre stummen blauen Augen. Da war sie wieder, diese Spannung in der Luft. Auch wenn ihre Gedanken ihr ausdrücklich befohlen hatten zu gehen, konnte sich Lynn nicht rühren. Zu intensiv war diese Gefühl. Das Gefühl ihm endlich gegenüber zu stehen. Die Gedanken beiseite schiebend ging sie auf ihn zu, wie er da stand. Ihre schmalen Handgelenke, ihre dünnen Finger ergriffen den Stoff seines Hemdes, Den Schweiß und die Anstrengung konnte sie noch immer riechen. Aber das war nicht genug. Es reichte nicht. Wenige Schritte trat sie auf ihn zu. Sie wollte alles. Alles was dahinter stand. Dass der Schmerz und Verleumdung dazugehörten, schreckte sie nicht mehr ab. Tief in ihrem inneren wusste sie doch wer er war. Oder etwa nicht... .
Ihre Finger griffen zaghaft nach dem Stoff seines Hemdes. Wie Seide glitt er durch ihre schmalen Hände.
„Was tust du hier, Linnai...“ das es keine aufrichtige Frage war, konnte sie an seiner rauen, beinahe flüsternden Stimme hören. Und seine blauen Augen vermittelten ihr keinerlei Abwehr.
„Sag du es mir...“ flüsterte sie leise und verlagerte vorsichtig ihr Gewicht auf ihre Zehenspitzen. Heiß und lustvoll berührten ihre Lippen seinen Hals.
Salz.
Salz, Schweiß und Wassertropfen.
„Wir haben morgen einen Einsatz.“ diese Worte klangen tief aber bestimmend in ihren Ohren und Lynn spürte, wie sich Sakuya ihr entzog und einen Schritt zurück machte, um zu ihr hinab zu sehen, wie sie noch immer in dem Handtuch, mit großen blauen Augen, vor ihm stand. Ihr fiel nichts ein, was sie hätte sagen können. Was hatte sie sich gerade nur dabei gedacht?
Das Klicken von Sakuyas Feuerzeug ertönte und sie sah ihm zu, wie er einen Aschenbecher vom Arbeitstisch nahm und ihn aufs Bett stellte, um sich schließlich daneben zu setzten und den kalten Qualm seiner Zigarette langsam in das Zimmer zu pusten. Lynns Blick fiel währenddessen zu den geladenen Waffen, die auf dem Tisch, neben dem Aschenbecher gelegen hatten. Noch immer konnte sie seinen Blick spüren, während ihre Augen über den Tisch und schließlich zum Fenster hinaus, in die tiefe Nacht blickten, als gäbe es da draußen irgendeine eine Antwort auf ihre Gefühle.
Die Anspannung und Hitze der Luft noch immer spürend, ergriff sie zögernd den Saum des Handtuchs um ihre Brust. Sie hatten noch diesen Augenblick. Nur diesen einen Augenblick, ehe alles anders werden könnte. Hershel hatte es ihr bereits gesagt, dass die Außeneinsätze sich von nun an häufen würden. Sie war so weit, im Begriff ihrer vollen Fähigkeiten. Und früher oder später, würde man sie alleine losschicken. Ihr „Team“ würden sich auflösen. In lauter Menschen die im Alleingang operierten. Nichts würde nach diesem Einsatz mehr sein wie zuvor.
Mit einer Handbewegung fiel das nasse Handtuch zu Boden und blieb mit einem dumpfen Ruck liegen. Das Brennen ihrer Schulter ignorierte Lynn, denn sie spürte Sakuyas absolute Aufmerksamkeit.
„Du weißt nicht, was du tust.“ sagte er langsam und sie hörte die dünnen Feder der Matratze unter der Erleichterung seines Gewichts aufstöhnen. Seine schweren Schritte brachten das Holz des Fußbodens zu einem dumpfen Quietschen. Auch wenn sie all das nicht registriert hätte, spürte sie die Wärme seines Körpers direkt an ihrem Rücken, ohne, dass er sie berührte.
Er hatte sie gefunden. Sakuya war es gewesen, der sie zur VCO gebracht hatte, noch bevor sie begreifen konnte, wer sie eigentlich war. Unzählige Male hatte er ihr Befehle erteilt. Befehle zu kämpfen, zu gehen, zu essen, zu schlafen, sich auszuruhen. Aber nun waren da keine Befehle mehr.
Er hatte ihr die Schuhe gebunden, hatte bei ihr gesessen, als sie geglaubt hatte, vor lauter Schmerzen den Verstand zu verlieren. Hatte mit ihr gegessen, hatte auf sie gewartet, hatte sie aus dem Bunker geholt. Wieder und wieder hatte er mit Hershel diskutiert. Hatte er sich gegen Negan aufgelehnt. Hatte er alles riskiert. Und doch hatte er sie im vergangenen Jahr anders behandelt. Hatte Abstand von ihr genommen. Hatte sie anders angesehen. Vielleicht weil sie sich verändert hatte. Vielleicht weil sie nun älter geworden war. Weil sie nun mit denen mithalten konnte, denen sie sonst nur in der Dusche gelauscht hatte.
Und dennoch, es folgte kein Befehl. Sakuya stand noch immer hinter ihr. Sie spürte seinen warmen Atem auf ihrem Scheitel. Nur er hatte diese Erscheinung gehabt. Seine Silhouette, inmitten des Schnees. In dem kalten Labor von Hershel. Im Wald, wenn sein Blick starr zu seinem Team geblickt hatte und er ihnen die Aufträge mitgeteilt hatte. Hätte Lynn nur auf ihn warten müssen, im dunklen, im Schnee, im Speisesaal, in der Dunkelheit des Waldes... sie hätte ihn bereits an seinen Schritten erkannt. Und sie hätte gewartet. Vielleicht für immer. Nur um noch einmal seinem ernsten Blick begegnen zu können. Nur um noch einmal vor ihm stehen zu können, erwartungsvoll, mit großen Augen zu ihm aufblickend, was er wohl tun würde. Was er sagen würde. Wie er reagieren würde. Niemals hatte er ihr weh getan. Und obwohl er die Missgunst der anderen wahrgenommen hatte, ja sogar Negans Ärger, war er immer da gewesen, wenn es darauf ankam. Bis vor einem Jahr.
„Warum hast du dich so sehr von mir entfernt?“ beinahe zu leise um gehört zu werden, hatte Lynn diese Worte ausgesprochen. Wie lange standen sie nun schon da? Mitten in der Wüste. In einem kleinen stickigen Zimmer. Sie völlig nackt und er direkt hinter ihr. Sie konnte seinen Blick in der Fensterscheibe sehen.
„Weil es so sein musste.“ erwiderte er ihr rau, aber ebenfalls leise. Es war eine Wahrheit, die sie immer wieder, tief in ihrem Inneren gespürt hatte. Aber wahrhaben wollte sie es nie.
„Sakuya...“ sie konnte nicht weitersprechen. Zu sehr übermannten sie die Gefühle. Die Spannung, die zwischen ihrem und seinem Körper herrschten. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, hatte sich Lynn zu ihm umgedreht und sah zu ihm auf, in Sakuyas blaue, ernste Augen.
Unsicher begann sie die Knopfleiste seines Hemdes von unten nach oben hin zu öffnen.
Geduldig sah Sakuya ihr dabei zu. Und es erinnerte ihn zunehmend an das kleine Mädchen, welches nach seiner Verletzung gesehen hatte, als sie noch klein war, auf der Basis der VCO, in seiner Baracke.
Aber diese Zeiten waren längst vergessen. Nun stand eine junge Frau vor ihm. Das Mädchen, gab es nicht mehr. Die Unbeschwertheit der ersten Tage gab es nicht mehr. Es gab kein Zusammensein mehr, indem sie von seinem Löffel aß und ihn schließlich zum essen aufforderte, mit großen blauen Augen und freudigem Abwarten. Er würde ihr nicht mehr in ihre Uniform helfen. Er würde nicht mehr neben ihr stehen und ihr zeigen, wie man mit einer Waffe schoss. Und er würde auch nicht mehr in der Bibliothek neben ihr sitzen, während sie ihre Grundkenntnisse vertiefte und ihr dabei zusehen, wie sie angespannt Notizen anfertigte, in der Hoffnung noch besser zu werden. Und auch die Besuche bei Hershel würden ihr Ende finden. Die Besuche bei denen er mit ihm diskutierte, versuchte mit ihm Lösungen zu finden, Lücken zu suchen, nur um Negans Pläne umgehen zu können. Als er ihre Hand hielt und ihr Mut zusprach.
Nein, nun sah er sie bei den Aufträgen an, als würde in ihr ein Feuer brennen. Die blauen Augen, die ihn nun ansahen, sagten etwas anderes. Beim Training, im Speisesaal, in der Bar. Er kannte diesen Blick bereits lange vorher. Es war der Blick von Frauen die ihn begehrten. Aber bei ihr war es anders. Lynns Erscheinung lenkte ihn ab, auch wenn es sich nicht richtig anfühlte. Und es war ihm niemals egal gewesen, wie sie ihn angesehen hatte.
Voller Unsicherheit legte sie Sakuyas aufgeknöpftes Hemd über seine Oberarme, ehe es leise, an seinen Armen entlang, zu Boden glitt. Und ihren Mut absolut zusammennehmen machte sie einen kleinen, aber entscheidenden Schritt auf ihn zu. Die weiche Haut ihres Oberkörpers und ihre noch nassen Brüste schmiegte sich an Sakuyas warmen Körper. Lynn hatte ihren Blick gesenkt. Zu sehr fürchtete sie seine Reaktion, seinen Befehl zu gehen. Aber in dem Moment, in dem sie wieder Luftholen konnte, auf stockende und bangende Art und Weise, spürte sie bereits Sakuyas Lippen auf dem Scheitel ihrer nassen, braunen Haare. Es fühlte sich an wie ein Abschiedskuss. Ihr kamen die Tränen.
War das etwas alles? Sollte das nun alles gewesen sein? Nach all den Jahren? Er hatte ihr das Bewusstsein ihrer selbst gegeben.
„Geh nicht...“ murmelte sie weinend und sah schließlich zitternd zu ihm auf. Was hätte sie sagen oder tun sollen? Was würde die Dinge ändern?
„Nicht ich werde gehen, sondern du. Und ich kann nichts dagegen tun.“ erwiderte er ihr in einer völligen Gelassenheit seiner selbst. Was sagte er da? Kannte Sakuya etwa die Zukunft? Oder sprach da nur gerade die logische Kraft aus ihm, die den Dingen ihren Platz zu wies, weil es ja nun schon immer so gewesen war?
„Nein...“ erwiderte Lynn seufzend und spürte augenblicklich Sakuyas feste Hände unter ihren Oberschenkeln. Behutsam hatte er sie, auf seinen Schoß, auf das Bett, gehoben.
Minutenlang hatten sie einander angesehen und langsam spürte Lynn etwas in ihrem Inneren auflodern. Sakuya würde niemals verschwinden. Er war immer bei ihr gewesen und würde es auch immer sein. Lediglich die äußeren Umstände würden sich vielleicht ändern.
Das andere was sie spürte und was sie unruhig werden ließ, war der gespannte Stoff seiner Hose, unterhalb ihres Schoßes.
„Steh auf...“ raunte er leise. Denn er wusste, dass auch sie seine körperliche Erregung wahrgenommen hatte.
„Nein...“ erwiderte sie atemlos und beugte sich weiter, zu ihm hin. Für einen kurzen Augenblick konnte sie den Ärger und die Herausforderung in seinen Augen erkennen, ehe Sakuya sie küsste.
Seine warmen Lippen berührten ihre Unterlippe und ihre Hände glitten bebend über seine nackte Brust. Ein Moment von Unsicherheit überkam sie prompt, wurde jedoch gebrochen von seinem Griff, der ihre Hände über seinen Kopf, hinabfallend auf das sandige Laken, lenkten.
Wie an einer Klippe haltend, gruben sich Lynns Finger in seine viel zu großen Handflächen. Voller Angst, der Moment, indem sich ihre Lippen berührten, könnte abrupt enden.
Und Sakuya spürte ihre Angst, ihren Herzschlag, ihre Oberschenkel, ihren Schoß, der sich so eng an seine Lenden schmiegte, als könnte nur das Geräusch eines Streichholzes ihr dieses Gefühl wegnehmen. Diese Situation, diesen Moment nichtig werden lassen. Aber es war bereits zu viel geschehen, als dass dieser Augenblick an Bedeutung hätte verlieren können.
Der Schweiß ihres Oberkörpers an seiner Brust, die Hitze ihrer Oberschenkel auf seinen. Ihre weichen, warmen Lippen. Es bedürfte nur eines Befehls. Sein Geist hatte die Macht dazu. Nur ein Wort und sie würde ihm erliegen, würde sich hingeben, würde ihrer selbst vergessen. Nein. Nicht jetzt. Es war verkehrt. Falscher hätte es nicht sein können, sie so auf sich zu dulden. Diese Situation hinzunehmen. Er sollte aufstehen. Das war so nicht richtig.
Lynn spürte wie Sakuyas Hand sich aus ihrem Griff löste, vorsichtig, abwartend, aber doch bestimmend. Ihre Lippen verließen seine und sie sah ihn fragend, mit großen Augen an. Aber entgegen auch nur einem Wort, einem Befehl von ihm, sah sie nur in seine Augen, die ihr nichts weiter als Gewahrsam zuteil werden ließen.
Unsicher rückte Lynn ein Stück zurück, weiter mit ihrem Becken zu Sakuyas Oberschenkeln und ihre Hände fuhren seine Brust hinunter zu dem Saum seiner Hose. Es gab keine Zweifel mehr. Sie wollte ihn. Alles. Was in ihrer Welt existierte. Er. Ihn.
„Linnai...“ Kein weiteres Wort. Kein Befehl. Keine Absage. Vielleicht war das der Moment gewesen in dem sie hätte aufstehen und gehen sollen. Nichts geschah.
Sehnsüchtige blaue Augen sahen ihn fragend aber voller Verlangen an. Seine Hände zu ihrem Gesicht führend, ihre Lippen und Wangen berührend, ließ er seine Finger über ihre flachen Brüste hinuntergleiten, über ihre Armbeugen, um schließlich die Fesseln ihrer Hände zu umfassen.
Niemals hätte sie auch nur einem Menschen solch eine Berührung, solch eine Nähe zu ihrem Körper gestattet. Nur ihm.
Sakuyas Hände glitten über die Außenseiten ihrer Oberschenkel. Trotz all der Kämpfe, trotz all der Torturen fühlte sie sich sanft an.
Er spürte ihren undurchdringlichen Blick während sie den letzten Knopf seiner Hose öffnete.
Für einige Sekunden dachte Sakuya an all die Frauen, denen er bereits begegnet war. An Setsuna, der er noch in der Bar begegnet war. Er kannte sie von anderen Außeneinsätzen und er kannte ihre Blicke, die sie ihm immer wieder zugeworfen hatte. Ihre blonden durchwühlten Haare auf einer Matratze, im Morgengrauen kannte er ebenso, wie ihre kühle Art ihm gegenüber. Aber mit ihrem Blick, hatte sie ihm immer gesagt, was sie wirklich von ihm gewollt hatte. Aber an diesem Abend war es anders gewesen. Und sie hatte es auch gesehen, wie sein Blick immer wieder zu Lynn glitt, die zusammen mit den anderen Rekruten getanzt und Gelacht hatte. Selten hatte er sie so ausgelassen gesehen. Aber auch Sakuya wusste, dass dem eine große Angst vor der bevorstehenden Ungewissheit vorausgegangen sein musste. Ihre vom Schweiß glänzende Haut, ihre Silhouette, das beinahe durchsichtige Oberteil. Und trotzdem wusste er, zu was er und Hershel sie gemacht hatten. Nur ein falsches Geräusch, nur eine bedrohliche Situation und Linnai hätte nicht einen Augenblick lang gezögert. Niemand hätte mehr eine Chance gegen sie gehabt. Außer er selbst. Er hatte sie zu einem tödlichen Raubtier erzogen und Hershel hatte alles unter Negans Anweisungen dafür getan, dass ihr eigener Körper ihr nicht mehr im Wege stand. Imstande dazu einen Mann mit einem Strohhalm binnen von Sekunden zu töten. Ohne Rücksicht auf Verluste. So, wie man es einst mit ihm getan hatte. Und vielleicht reichte die Berührung des Zeichens auf ihrem Rücken seinerseits, damit die graue Masse ihres Gehirn abstürzte und sie unfähig machte, die Biochemie ihres eigenen Körpers kontrollieren zu können. Was sie beide miteinander verband, war nicht in Worte zu fassen. Würde er nun diesen letzten Schritt wagen, gäbe es kein zurück mehr. Sie würde zu einem Teil von ihm werden. Seine Fähigkeiten würden sich auf ihren Körper, ihren Geist übertragen.
Blaue Augen, sahen ihn aus einem verschwitzen Gesicht heraus an. Unsicherheit, Verlangen, Angst und gleichzeitig Vertrauen lagen darin. Und Sakuya begann zu spüren, wie er die Kontrolle verlor. Wie er Linnai mehr wollte, als jemals zuvor.
Ein lautes Poltern ließ sie beide aus der Trance der Situation erwachen und sie blickten schlagartig zum Fenster.
„Ein Sandsturm.“ stellte Sakuya rau fest und blickte wieder zu Lynn, die noch immer auf ihm saß und ihn erleichtert anblickte. Seine Hose hatte bereits seine Knöchel erreicht und er sah schließlich zu, wie Lynns Glieder sich langsam wieder entspannten und ihr Becken hinab sank, enger an sein heißes Glied. Ihre Augen suchten seinen Blick.
„Warum hast du dich so sehr von mir entfernt...“ flüsterte sie leise und hielt inne. Behutsam und langsam legte er eine seiner Hände auf ihre Hüfte.
„Sieh dich an. Es ist nicht mehr wie früher. Die Zeiten haben sich geändert.“ erwiderte er ihr mit tiefer Stimme und dem vertrauten ernsten Blick, den sie so oft genossen und gleichzeitig gefürchtet hatte.
Übermannt von ihren eigenen Gefühlen, rutschte Lynn erneut ein Stück höher, so dass sie seine Männlichkeit direkt unter ihrem Becken spüren konnte. Der Wind peitschte den Sand des Sturmes gegen die Fensterscheibe und Sakuya sah abermals wie Lynn zusammenzuckte. In Strähnen fielen ihre braunen Haare über die blasse Haut ihrer Brüste. So sehr hatte sie sich in dem letzten Jahr verändert.
Die Matratze mit seinem Rücken verlassend, richtete sich Sakuya langsam auf und fasste Lynn bei den Schultern.
Seine Kraft war deutlich mit jeder Faser ihres Körpers zu spüren. Langsam gab sie sich dieser Kraft hin und fand sich schließlich unter ihm wieder. Schwarze Haarsträhnen hingen ihm in der Stirn, aber seinen herausfordernden Blick, konnte sie noch immer wahrnehmen. Seine Lippen trafen ihre und der Geschmack vom Salz des Schweißes kehrte erneut zurück. Seine Hände suchten ihre und drückten sie sanft in den sandigen Stoff der Matratze.
Brennend breitete sich ein eigenartiges, elektrisierendes Gefühl in Lynns Gliedern aus. Die Hitze in ihrem Becken nahm zu und sie spürte das übermannende Bedürfnis, Sakuya noch näher erfahren zu können.
Seidig weich rieb ihr Oberschenkel an der Seite seines Beckens entlang. Ihre Küsse schmeckten nach Absolution. Keineswegs zweifelte er daran, dass sie genau das, was gerade geschah wollte. Und er spürte, das lange unterdrückte Verlangen in der Bewegung ihres Beckens, unmittelbar unter seinem Glied. Ja, sie wollte es. Vielleicht mehr als alles andere jemals zuvor.
„Lass mich nur einen Augenblick bei dir sein...“ stöhnte sie ihm leise und heiser ins Ohr, und es würden die Worte sein, die er niemals wieder vergessen würde.
„Nur noch einen Augenblick.“ erwiderte er rau und belog sich selbst, durchdrungen von diesem unendlichen Gefühl der Nähe.
„Nur einen Augenblick noch...“ wiederholte sie seine Worte, kaum noch hörbar und spürte, wie er in sie eindrang. Langsam, aber mit der Gewissheit, dass auch er, genau das, so wollte.
Mit einem male hatte sich ihr Körper so sehr verkrampft, dass Sakuya rau aufstöhnte.
Die Erinnerungen der Wüste. Der Tage, als sie noch ein Kind war. Als die schrecklichen Narben zustande gekommen waren, fluteten mit erschreckender Klarheit ihren Geist. Sakuya blickte in ein Angsterfülltes Gesicht, mit zugekniffenen Augen und spürte die Gegenwehr unter seinem schweren Körper. Er selbst hatte die Narben gesehen. Hershel und er hatten sich nicht ausmalen wollen, was man mit ihr gemacht hatte.
Stoßweise kam ihr Atem und er ließ ihre Hände los.
„Linnai, ich bin es. Entspannt dich.“ sagte er leise zu ihr und sah, wie sie langsam ihre Augen öffnete, und sich scheinbar in einer Situation wiederfand, die einige Sekunden lang verdrängt worden war.
„Linnai, du tust mir weh.“ raunte er, bei dem Druck innerhalb ihres Schoßes. Wenige Sekunden später, sah sie ihn erschrocken von sich selbst an und er spürte, wie ihr Körper sich langsam wieder entspannte.
„Es...“ sie konnte nicht weitersprechen, denn er hatte sie bereits mit einem Blick angesehen, der ihr völlig neu war. Tief einatmend ergriff sie seine Handgelenke, die direkt neben ihrem Kopf gelegen hatten und kam ihm, mit ihrem Körper entgegen.
Das Gefühl war unbeschreiblich. Vielleicht kennen es manche nur geistig. Aber in diesem Moment war es leiblich. Wie eine völlige Flutung ihrer Sinne, gab sich Lynn dieser Erfahrung hin. Gab sich Sakuya hin, dessen Lippen ihre wieder berührten. Dessen Herzschlag sie spüren konnte. Der Sandsturm war vergessen. Sie hörte nur noch auf seinen Atem. Die Wüste, die Bar, das kleine Zimmer, die Erinnerungen. Alles flog dahin. Sie war ihm endlich so nahe. Schon so oft hatte sie es ihm in Gedanken gesagt, aber nun sagte es ihm ihr Körper. Und sie atmete mit jedem Luftzug seinen Geruch ein. In ihren Venen pulsierte ein Gemisch auch Blut und Geomas. Aber da war plötzlich noch etwas anderes. Sie hatte das Gefühl sehen zu können. Nicht mit ihren Augen, vielmehr mit ihrem Geist. Sie sah Fragmente von dem, was noch kommen würde. Von dem was geschehen, sie zerreißen und sie zur stillen Freude bringen würde. War er das? War es Sakuya, den sie gerade spürte? Durch den sie diese Klarheit der Ereignisse fassen konnte? Da waren Gesichter, fremde Menschen, Lachen, Kämpfe, Blut und Tränen. Unendlich viel Blut. Aber am Ende sah sie wieder in Sakuyas Gesicht. In seine blauen Augen. Seine Erscheinung, seine Silhouette, mit all der Kraft, die sie ihm immer beigemessen hatte.
Nach einem langen Traum erwacht, fand sich Lynn neben einem Mann wieder, den sie niemals richtig gekannt hatte. Sie starrte zum Fenster in die dunkle Nacht, wohl wissend darum, dass sie auf seiner Brust, seinem Körper, direkt über seinem Herzen lag. Was war geschehen?
Mit sicherer Erkenntnis, dass sie nun ein teil von ihm und er von ihr war, atmete sie zitternd aus. Die Wärme seiner Brust an ihrer Wange, ihrem Hals. Und morgen wäre vielleicht alles anders. Sie liebte ihn. Von ganzem Herzen. Mit jeder Faser ihres Körpers. Und es war niemals anders gewesen. Sie hatte ihn wieder und wieder begehrt. Alles an ihm. Von seinen stummen Blicken hin, bis zu seinen Worten. Alles was er getan hatte. Und nun lag sie neben diesem Menschen. Hörte seinen Herzschlag, atmete seinen Geruch ein. Ein lebendiger Mensch.
„Warum grübelst du Linnai?“ fragend sah er zu ihr hinab und fuhr mit seiner rauen Hand über ihren Arm. Ungläubig sah Lynn zu ihm auf, er war tatsächlich wach gewesen.
„Morgen ist auch noch ein Tag.“ nahm sie ihm leise, seine Worte vorweg. Ihr braunes Haar, das auf seiner Brust lag, die Wärme ihres zerbrechlichen Körpers. Ihre leisen, angenehmen Worte. Sakuya schloss für einen Moment die Augen. Wie lange hatte sein Geist sich danach gesehnt?
Aber der Ruhe folgte augenblicklich der Sturm.
Ein lautes Krachen, das Geräusch einer Rakete, durchbrach den Moment.
Binnen von Sekunden hatte Sakuya seine Arme schützend über Lynn geworfen und das Zeichen ihrer Schulter berührt. Und obwohl ein tiefes Beben das Zimmer erschütterte, hatte er spüren können, wie augenblicklich jegliches Leben aus ihren Gliedern gewichen war. Hershel hatte ihn immer davor gewarnt. Wieder und wieder hatte er ihm zu verstehen gegeben, dass Linnai auf das externe Geomas vermutlich verheerend reagieren könnte.
Wie in Trance, löste er nach dem Beben seine Arme und Hände von ihr und fand nur noch ihren bewusstlosen Körper neben sich.
Bruchteile von Sekunden hatte er Zeit, sich für eine Aktion zu entscheiden. Aus dem Funkgerät auf dem Tisch drangen bereits verzweifelte Hilferufe seines Teams, Schüsse und Schreie. Wie innerhalb einer anderen Bewusstseinsebene, durchdrungen von Schüssen und Erschütterungen von Bomben, packte er Lynn und zog sie ins Badezimmer. Behutsam legte er ihren Körper in die Dusche, um ihr schließlich einen letzten Kuss auf die Stirn zu geben, das Badezimmer zu verlassen, abzuschließen und den großen, schweren Tisch davor zu schieben.
Anweisungen funkend, seine Sachen gleichzeitig suchend, seine Waffen ladend und sich anziehend, hastete Sakuya aus dem Gasthaus und sah bereits das gesamte, erschreckende Ausmaß des Angriffes.
Benommen wurde Lynn von einer Erschütterung geweckt. Sie war allein. Der kalte, weiße Marmor unter ihrem Körper schimmerte bläulich, als hätte sie Unmengen an Geomas verloren.
„SAKUYA!“ Ihr eigener Schrei brachte sie beinahe wieder dazu, ihr Bewusstsein zu verlieren, aber sie klammerte sich, voller Angst, an den Wasserhahn der Dusche und stand schließlich zitternd auf. Etwas war geschehen. Erschütterungen... ein Angriff. Nur wenige Sekunden vergingen, ehe Lynn wieder sicher auf ihren Beinen stand und zur Tür hastete, deren Klinke sie hektisch zu bewegen versuchte. Die Tür ließ sich nicht öffnen und so holte sie instinktiv aus und trat die Tür aus den Angeln. Der massive Schreibtisch, der davor gestanden haben musste, lag wenige Zentimeter, vor dem Bett, auf seiner Längsseite. Etwas war passiert und Lynn schnappte sich gedankenlos ihre Anziehsachen und sprintete auf den Flur.
Die Verwüstung der Stadt, die umgekippten Stände der Verkäufer, das zerbombte Gasthaus, tote Männer ihres Teams, in der aufgehenden Sonne. All das konnte sie nun erblicken, trotz des Sandes, den der Wind unaufhörlich umherwirbelte. Wie weit das Ausmaß jedoch reichte, vermochte sie nicht mehr einzuschätzen. Zu schlecht war ihre Sicht. Hektisch machte sie einen Punkt, unmittelbar neben dem Hotel ausfindig. Ein Aussichtspunkt der Stadtbewohner.
Der schwerer Sandsturm und die verlorenen Schreie irgendwo in der Ungewissheit, außerhalb des Aussichtspunktes, auf dem Lynn mit ihrem Gewehr kauerte, ließen sie mit entsetzen durch das Visier ihres Gewehres blicken. Sie hatte die letzten Männer ihres Teams aus den Augen verloren. Ihr Team. Dreck und Sand klebten an der Sonnenverbrannten Haut ihres Gesichtes. Wie lange sie schon dort lag, konnte sie nicht mehr sagen. Alles fühlte sich nur noch surreal an. Ihre Augen versuchten etwas in der grau-braunen Masse zu erkennen, die innerhalb von wenigen Minuten das gesamte Camp eingehüllt haben musste. Sie hatte den Auftrag bekommen, das Team zu schützen, aber sie kam zu spät. Sie konnte nichts mehr tun. Voller Verzweiflung warf Lynn ihre Gewehr beiseite und ergriff ihr Messer. Wenn auch nur noch einer von ihnen lebte, würde sie ihn finden und beschützen. Mit einem Ruck schwang sie sich von dem Aussichtspunkt in den Sand und die verwüsteten Straßen, gesäumt von den toten Männern ihres Teams.
Voller Angst rannte sie an den Männern vorbei, in der Hoffnung, nicht Sakuya in ihren Gesichtern erkennen zu müssen. Die Hitze und der Sand hatten sich innerhalb von Sekunden in ihrer Lunge ausgebreitet. Den Schreien und Hilferufen folgend, bahnte sie sich ihren unbekannten Weg durch die Dichte des Sturmes und plötzlich sah sie zwei Männer ihres Teams, die erbittert gegen vermummte Männer kämpften. Ihre Kräfte ließen nach, warum auch immer, aber trotzdem rannte Lynn so schnell sie nur konnte, durch den heißen Sand der Wüste, mit dem peitschendem Wind im Gesicht. Und nur noch in letzter Sekunde, erkannte sie Sakuyas warnendes Gesicht, der sich zu ihr umgedreht hatte und die nahende Bedrohung einer Granate zu ignorieren schien. Sie sah sein ausdrucksloses und entsetztes Gesicht. Was auch immer er rief, würde sie niemals erreichen.
Ein Riss. Ein Schlag. Tiefes Schwarz. Schüsse in der Ferne, und nicht enden wollende unerhörte Schreie. Die Explosion konnte sie noch spüren. Alles andere verging mit dem Wind und dem Sand.
Ihren leblosen Körper auf dem Boden liegend sehend, stand Lynn neben sich. Der Sturm war vergangen. Unzählige Männer ihres Teams säumten den Weg, umgeben von umgekippten und zerbombten Jeeps. Früchte lagen zerquetscht im Sand. Planen, Stände und Dorfbewohner säumten die sandigen Wege, zwischen eins intakten Häusern. Patronenhülsen und tiefe Gräben bedeckten sie ringsherum. Atemlos stand sie da, und sah die Spuren der Verwüstung.
„Musst du noch mehr sehen?“ fragte sie eine vertraute Stimme, direkt neben ihr. Voller entsetzten wandte sich Lynn zu Sakuya, der nur nachdenklich neben ihr stand und eine Zigarette rauchte. Einige Sekunden brauchte sie, um ihm antworten zu können.
„Zeig mir alles...“ bat sie ihn leise, unter völliger Fassungslosigkeit.
„Was nun kommt, ist ein Teil von dir. Ich war nicht dabei, aber ich habe ihn dennoch miterlebt. Er wird dich vermutlich erneut zerstören. Aber du willst es so, hab ich nicht recht?“ ungläubig blickte Lynn zu Sakuya auf, wie er seine Worte beendet hatte und langsam an seiner Zigarette zog, ohne sie auch nur anzusehen.
„Du kennst mich mehr, als ich mich selbst...“ erwiderte sie flüsternd und einige Tränen rannen ihre Wangen hinab.
„Gut.“ erwiderte er ihr und sah sie endlich an.
Das Gefühl von Trockenheit in ihrer Kehle, ihrem ganzen Körper, hatte Lynn mit einem rauen Schlag überkommen. Ihre Glieder schmerzten unaufhörlich. Geschrei und Stimmen in einer fremdem Sprache durchdrangen ihre Ohren, in einer nicht auszuhaltenden Lautstärke.
Mehrere harte Schläge mit einem unbekannten Gegenstand prasselten auf ihren Kopf nieder. Sehen konnte sie nichts, denn man hatte ihr etwas übers Gesicht gelegt, und entgegen der Hoffnung, es wegzureißen, musste Lynn feststellen, dass ihre Arme und Beine festgebunden waren. Sie saß aufrecht, so viel konnte sie mittlerweile realisieren, während erneute Schreie folgten und man sie wieder schlug. Diesmal jedoch ins Gesicht und prompt fiel das Stück Stoff, dass zuvor ihre Augen bedeckt hatte, in ihren Schoß.
Unbekannte Männeraugen sahen sie wütend an. Das waren definitiv keine Soldaten der VCO, das konnte Lynn sofort erkennen. Die drei Männer, die um sie herum standen trugen zwar eine Uniform, aber keine die Lynn jemals gesehen hatte. Schwere Waffen hingen um ihre Brust und an ihren Gürtel befanden sich Kampfmesser, an denen noch getrocknetes Blut klebte. Und wieder schrie einer von ihnen sie lauthals an. Sie alle hatten dreckige Gesichter und dunkle Haare und Augen. Tiefe Wunden und Narben zeichneten ihre Erscheinungen. Was der Mann vor ihr brüllte, konnte sie nicht verstehen, und das, obwohl man ihr etliche Sprachen beigebracht hatte. Voller Angst, sah Lynn gerade noch, wie der zuletzt Brüllende seinen Arm nach oben riss, und ihr schließlich den Kolben seines Gewehres mit voller Wucht ins Gesicht schlug. Sofort spürte Lynn wie Blut in das innere ihres Mundes schoss, und spuckte es keuchend in ihren Schoß.
Wütend blickte sie zu ihrem Angreifer auf und entdeckte überraschte und zornige Augen zugleich. Vielleicht hatte er erwartet, dass sie bewusstlos werden würde. Blitzschnell holte er erneut aus und rammte ihr den Kolben in den Bauch. Wieder spuckte sie benommen Blut in die Mitte ihres Schoßes.
„Ich will... dass du uns sagst, wo der Rest deiner erbärmlichen Truppe ist.“ wandte der Mann nun seine, durch einen schweren arabischen Akzent klingenden Worte, an sie.
Wo war sie? Und ja, wo war der Rest ihres Teams? Plötzlich fielen ihr die letzten Ereignisse wieder ein. Der Sandsturm, die Schreie... die Toten auf den Straßen. Hatte überhaupt jemand von ihnen überlebt?
„WO!“ brüllte der Soldat und schlug mehrmals mit seiner Faust in Lynns Gesicht. Ein lautes Knacken und der überwältigende Schmerz zwischen Stirn und Lippen ließ sie sicher sein, dass man ihr soeben die Nase gebrochen hatte. >>Sakuya...<< Wie ein Blitz zog sich sein Name durch ihren Kopf und ließ sie wieder aus ihrer kurzen Ohnmacht erwachen.
„Wenn du nicht reden willst...“ der Soldat trat zurück, seinen Kameraden ruhig beobachtend, wie er mit seinem Kampfmesser an Lynns Seite trat. Für einige Sekunden betrachtete er ihr blutverschmiertes Gesicht abwartend. Aber sie dachte nicht daran, auch nur einen Ton zu sagen. Und ehe sie sich versah, spürte sie den stechenden und ziehenden Schmerz, der Klinge, unterhalb ihrer Brust, an ihren Eingeweiden. Den Schnitt hatte sie gar nicht bemerkt und der Schmerz war auch so dermaßen stark, dass ihr für einen Moment schwarz vor Augen wurde und sie schließlich nur keuchend zusammensackte.
Dunkelheit, Schmerz, Hitze und Sand. Wie lange man sie in diesem kleinen Raum hatte liegen lassen, wusste Lynn schon lange nicht mehr. Aber das helle und ohrenbetäubende Quietschen der schweren Eisentür, holte sie zurück in die Welt der Sterblichen. Mit weit aufgerissenen Augen, starrte sie entsetzt zu dem Soldaten, der sich ihr nährte und nach ihrem Kinn griff. Hustend fand sie sich auf dem Boden wieder, noch immer waren all ihre Glieder gefesselt, und sie wandte sich unter unermesslichen Schmerzen, um den Händen des Mannes zu entgehen.
„Seit fünf Tagen ist niemand gekommen, um dich zu suchen.“ sagte er langsam und packte sie bei den Haaren, um ihren Kopf in den Nacken zu reißen, damit sie ihn ansehen konnte.
„Und ich glaube, es wird auch niemand mehr kommen. Sie sind alle tot.“
Mit einem schmerzhaften Ruck hatte er sie vom sandigen Boden hochgerissen und taxierte sie auf den einzigen Stuhl im Raum.
„Ich sage dir, was nun geschehen wird...“ vorzeitig stoppte er seinen Satz und zündete sich in aller Ruhe eine Zigarette an. Seine Finger waren durch das Rauchen völlig vergilbt und die Knöchel seiner Hand waren aufgerissen und getrocknetes Blut klebte daran, vermischt mit Sand und anderem Dreck. Stumm folgte Lynns Blick unter Schmerzen, der Bewegung seiner Hand. Und sofort durchdrang sie ein schmerzvolles Ziehen im Becken, nachdem er sein Bein hochgerissen, und mit seinem schwarzen Stiefel direkt zwischen ihren Schoß getreten hatte, wo sein Fuß ruhen blieb, auf dem Anfang der Sitzfläche des Stuhls.
„Du bist das Zero-Projekt. Also werden wir das Geomas aus deinem Körper holen.“ die Spitze seines Schuhs bohrte sich schmerzvoll zwischen ihre Beine. Und erneut riss er an ihren Haaren und somit ihren Kopf zu seinem Gesicht. Der Qualm, den er ihr in die Augen pustete, brachte sie zum husten.
„Ich habe keine Ahnung, warum so etwas unfähiges wie dich, hierher geschickt hat. Aber wir haben Zeit. Und wir werden unsere Informationen schon noch aus dir herausholen.“ Er spuckte ihr ins Gesicht und Lynn überkam so viel Ekel, gepaart mit dem Schmerz ihres Körpers, dass sie spürte, wie der erbrochene Schaum ihr über das Kinn lief. Der Soldat lachte und ließ von ihr ab.
„Du bist erbärmlich.“ gerade im Begriff, seine Zigarette zu Boden werfen zu wollen, wandte er sich nochmals zu ihr um und musterte sie einen Augenblick lang. Schließlich spürte sie die heiße Glut in ihrer Schulter und roch ihr eigenes verbranntes Fleisch.
„Bis morgen.“ lachte der Mann und verschwand wieder. Das Licht wurde abgeschaltet und Lynn blieb mit qualvollen Schmerzen in der Dunkelheit zurück.
Kraftlos und stumm, hatte sie über Tage in die Dunkelheit des kleinen Raums gestarrt. Niemand war gekommen. Die Kälte der steinernen Wände und der sandige Boden, erinnerten sie jedoch immer wieder daran, dass sie in der Wüste sein musste. Vielleicht war sie hin und wieder eingenickt. Mit Sicherheit konnte sie das nicht sagen. Die Wunde unter ihrer Brust hatte aufgehört zu bluten. Das Geomas, welches zusammen mit ihrem Blut an ihrem Oberteil klebte, hatte seine Leuchtkraft bereits lange zuvor verloren. Nichts als Stille umgab sie zwischen diesen Mauern. Und das Geräusch ihres eigenen Atems. Immer wieder hatte sie all ihre Sinne gesammelt und sich auf das Bild von Sakuya in ihrem Geist konzentriert, in der Hoffnung, dass er sie wahrnehmen würde. Dass er irgendwo da draußen war. Aber es war nichts zu finden. Nur Leere und Stille.
Warum hatte man sie so lange allein gelassen? Was wollten die Männer wirklich von ihr? Nur die Standorte der restlichen Truppen in der Wüste? Informationen über ihren Stützpunkt in Valvar?
Vermutlich handelte es sich bei den Männern um Söldner. Paramilitärische Einheiten, die ihr Gebiet der Wüste, aus irgendwelchen Gründen nicht an Negan abtreten wollten.
Die Männer, die sie und ihre Truppe im Wald des Stützpunktes verfolgt und getötet hatten, glichen aufgrund ihres Aussehens, stark ihren Peinigern.
Schwere Schritte und das Geräusch eines großen Schlüsselbundes rissen Lynn aus ihren Überlegungen. Als die schwere Eisentür sich schließlich öffnete, kniff Lynn irritiert die Augen zusammen. Das Licht des Flures blendete sie, nachdem ihre Augen tagelang nur die Dunkelheit gesehen hatten.
„Was ist, reden wir jetzt?“ fragte sie ein Soldat aus der Tür heraus und Lynn vernahm bereits das charakteristische Klicken, mit der er eine Waffe lud und entsicherte.
Sie schwieg. Er würde sie nicht erschießen. Dafür war sie zu wertvoll. Nach einigen Sekunden der Stille, hörte Lynn jedoch den Abschuss und spürte prompt einen heftigen Schmerz in ihrem linken Oberschenkel. Erschrocken stöhnte sie auf und erfuhr einen festen Griff in ihre Haare, an denen der Unbekannte begann, sie auf den Flur zu ziehen. Noch ehe Lynn ihre Umgebung genauer einschätzen und sehen konnte, spürte sie bereits wie ihr schwindelig wurde. Er musste sie betäubt haben. Es war keine normale Kugel gewesen.
Man hatte Lynn an einem Stuhl fixiert und sie blickte in dunkle Augen, die von Schmutz und Augenrändern gezeichnet waren. Ein großer Mann stand ihr gegenüber und musterte sie ausdruckslos. Neben ihm war eine Apparatur aufgebaut, die Lynn stark an ein Dialysegerät erinnerte, mit dem Hershel ihrem Körper zu beginn, einige male Geomas hinzugeführt hatte, ehe er in seiner Therapie auf andere Methoden zurückgriff. Was wollte man ihr verabreichen?
„Weißt du, was das ist?“ fragte sie der Mann und suchte ihren Blick. Entgegen seiner Hoffnung, er würde darin blanke Panik erkennen, blickte Lynn ihn jedoch nur stumm und ausdruckslos an. Würde sie sich ihre Angst anmerken lassen, hätten diese Männer was sie wollten.
Er hielt lächelnd zwei Kanülen in ihr Sichtfeld und beobachtete weiterhin ihre Reaktion.
„Wir werden aus dir das Geomas extrahieren. Und dann wollen wir mal sehen, wie du mit den Entzugserscheinungen so umgehst. Vielleicht fallen dir ja noch die Koordinaten deiner Truppe ein, bevor du daran zugrunde gehst.“ seine letzten Worte hatte er so leise gesprochen, dass Lynn sich genausten auf seine Stimme hatte konzentrieren müssen. Sie hatte Gänsehaut bei dem Gedanken daran, wie man ihrem Körper das durch reichlich Schmerzen eingelagerte Geomas wieder entziehen würde. Konnte sie das überhaupt noch überleben?
„Dann wollen wir mal.“ erklärte der Soldat affektiert und begann, die Kanülen in Lynns Unterarm zu positionieren.
Trotz ihres Reißen und Zerrens, konnte sie sich keinen Millimeter bewegen. Weder ihre Füße, noch ihre Hände, oder ihren Oberkörper. Angst stieg in Lynn auf. Ihr Gegenüber schaltete die Maschine an und verließ schließlich den kleinen Raum.
Angespannt beobachtete Lynn wie ihr Blut langsam durch einen der Schläuche in die Maschine gepumpt wurde. Nachdem es wieder in ihren Arm gelangte, hatte es jeglichen blauen Schimmer verloren. Und bereits nach wenigen Minuten spürte sie, wie sie ihre Kräfte verließen.
Die Müdigkeit war kaum auszuhalten und immer wieder fielen Lynn die Augen zu, als sich erneut die Tür des Raumes öffnete und der gleiche Mann wieder hereintrat. Aus einem seichten Zustand der Teilnahmslosigkeit erwacht, suchte Lynn nach dem Kanister, in dem das extrahierte Geomas sich sammelte. Es befand sich etwa ein halber Liter darin und Lynn wurde auf Anhieb Übel. Sie erbrach Schaum und spuckte ihn würgend in ihren Schoß. Unbeeindruckt hatte sich der Soldat vor sie gekniet und musterte sie lächelnd.
„Und, wie geht’s?“ fragte er amüsiert und strich mit seiner Hand durch den erbrochenen Schaum in Lynns Schoß, um ihr anschließend damit durch das Gesicht zu fahren. Hustend und voller Blut blickte sie zu ihm auf.
„Eine Kleinigkeit gäbe es da noch...“ langsam hatte er ein verrostetes Kampfmesser gezogen und strich ihr mit der Spitze über ihre blutigen Lippen.
„An deinem Hirnstamm befindet sich ein kleiner Mikroship.“
Nein.
Er konnte unmöglich ihren SND meinen. Er war nutzlos. Sie musste es ihm sagen. Sie dürften ihr nicht den Chip wegnehmen. Er war Hershel und Sakuya so wichtig gewesen. Sie hatten alles dafür getan, um Negans Pläne zu umgehen. Würde sie ohne ihn wieder zurück kommen, würde Negan vermutlich Verdacht schöpfen. Sie würde damit alle in Gefahr bringen.
„...I ...c“ nichts weiter vermochten ihre Stimmbänder mehr zu leisten. Innerhalb von Sekunden musste Lynn kapitulieren. Sie hatte ihre Stimme verloren. Vielleicht war genau das, das erste Anzeichen des fehlenden Geomas.
„Was ist? Doch nicht gesprächig?“ verwundert stand der Soldat auf und blickte verächtlich zu ihr hinab. Lynn jedoch schüttelte voller Angst mit dem Kopf, aber jedes Wort, welches auch ihre Gedanken formten, war sie nicht mehr fähig auszusprechen. Die Schmerzen in ihrem Hals und Rachen trieben ihr Tränen in die Augen. Mit geneigtem Kopf beobachtete der Soldat Lynn einige Sekunden, ehe er Pfiff und die Türe sich erneut öffnete. Zwei weitere Männer betraten den Raum. Einer von ihnen trug Latexhandschuhe und sah sie herausfordernd an.
„Wollen wir mal schauen, welche Technologie sich in deinem Nacken verbirgt.“ erklärte der Soldat mit dem Messer und reichte es an seinen Kameraden, mit den Latexhandschuhen. Irgendetwas unverständliches flüsterte einer der Dreien, ehe Lynn ihren Kopf fixiert, in zwei Paar Männerhänden wiederfand. Abermals suchte ihr Blick den Kanister neben der Dialysemaschine. Noch immer pumpte sie das Blut aus ihren Venen.
Eine drückender Schmerz breitete sich augenblicklich, ausgehend von ihrem Nacken, in ihrem gesamten Körper aus.
Es war ein markerschütterndes Brennen, welches in einem dumpfen Dröhnen in ihrem Kopf gipfelte. Das Reißen des stumpfen Messers an der dünnen Haut ihres Nackens, konnte sie nicht mehr ausblenden. Ein Anflug von Ohnmacht machte sich in ihren Gliedern durch Taubheit breit. Nicht mehr fähig zu schreien, gab Lynn nur noch erstickende und glucksende Geräusche von sich, die den Mann zu ihrer linken irritierten.
„Sie schreit nicht...“ stellte er mit einem schweren arabischen Akzent fest und änderte seine Stehposition, um in ihr verweintes und blutbeschmiertes Gesicht blicken zu können, in dem sich der Schmerz der Prozedur ausdrückte. Irgendetwas daran schien den Mann so sehr zu faszinieren, dass er eine Hand von ihrem Kopf löste und begann seine Hose zu öffnen.
Der Schmerz hatte Lynn soweit eingenommen, dass sie nichts mehr wahrnahm. Ihr Körper hatte sich von ihrem Geist getrennt. Sie spürte rein gar nichts mehr, sondern sah, wie in Trance, auf sich selbst hinab. Beobachtend, wie einer der Männer neben ihr masturbierte und ihr schließlich ins Gesicht ejakulierte, während der andere ihren Kopf mit aller Kraft festhielt. Der Soldat, der sich mit dem stumpfen Messer an ihrem Nacken zu schaffen gemacht hatte, zog schließlich einen blutigen, kleinen Klumpen Metall aus ihrem Nacken und betrachtete ihn fasziniert.
„Macht was ihr wollt.“ sagte er gleichgültig und trat an Lynn vorbei, neben die Apparatur für das Geomas, um diese schließlich abzuschalten. Er blickte noch ein letztes mal in Lynns Gesicht, aber sie hatte ihr Bewusstsein scheinbar verloren und ihr Kopf hing mit einer klaffenden Wunde im Nacken, nur bewegungslos nach unten. Den Kanister Geomas an sich nehmend, verließ er schließlich den kleinen Raum.
Wie totes Vieh hatte man Lynns Körper zurück in die dunkle Zelle geworfen.
In einem Wirrwarr zwischen Realität und Traum war sie immer wieder aufgeschreckt und hatte mit müden Augen in die Finsternis geblickt, nicht mehr sicher, ob sie überhaupt noch lebte und wo sie eigentlich war. Niemand hatte mehr ihre Glieder fixiert. In ihrem derzeitigen Zustand war Lynn auch alles andere als eine Gefahr.
Die Kälte des Bodens hatte sich tief in ihre schmerzenden Glieder geschlichen und ließ sie unaufhörlich zittern. Der Geomasverlust tat sein übriges hinzu.
Zusammengekauert lag Lynn in einer Ecke, dicht an die eisigen Wände gelehnt, in der ständigen Angst, die Türe, die ihr gegenüber lag, könnte sich wieder öffnen.
>>Sakuya...<<
Wieder und wieder rief sie seinen Namen in ihren Gedanken. War es wirklich möglich, dass er den Angriff nicht überlebt haben könnte? Er hatte sich zu ihr umgewandt gehabt, rief ihr etwas zu und verkannte völlig die Granate, die neben ihm einschlug und Lynns Erinnerung beendet hatte. Was hatte er ihr zugerufen? Was waren seine letzten Worte an sie gewesen? Warum konnte sie ihn nirgends mehr in sich spüren?
Die Nacht, die sie vor dem Angriff miteinander geteilt hatten, wurde zunehmend brüchiger, in Lynns Erinnerung. Sie sah nur noch Fragmente von Sakuya. War das wirklich die Realität gewesen?
Ein leises Husten ließ Lynn schließlich hochschrecken. Inmitten der Dunkelheit der Zelle hatte sie ein Röcheln gehört, an einer anderen Wand, im gleichen Raum. Kraftlos richtete sie sich auf und versuchte etwas in der Schwärze zu erkennen, durch die nicht ein Lichtstrahl fiel. Etwas sagen wollend, erstickte sie beinahe an dem versuch Worte zu formen. Ihr Hals brannte wie Feuer.
„Du atmest wieder ruhiger.“ stammelte eine alte und stockende Stimme aus der Dunkelheit. Augenblicke der Stille vergingen und erstmals hörte Lynn den Atem eines weiteren Menschen in dem Raum. Wer war das? Wann hatte man diesen Mann zu ihr in die Zelle gebracht?
„Du brauchst nicht mit mir zu sprechen; ich kann mir vorstellen, wie es dir gerade ergeht. Sag einfach nichts...“ murmelte die männliche Stimme rau und verstummte anschließend für eine lange Zeit.
Vermutlich war Lynn aufgrund ihres Energie-Defizits wieder eingeschlafen. Aber da sie nun wusste, dass sie nicht mehr alleine war, waren ihre Sinne wieder geschärft.
Ein erneutes Röcheln ließ sie abermals aufschrecken und sie stieß mit ihrem Hinterkopf gegen die harte Steinmauer.
„Verzeih, ich wollte dich nicht erschrecken...“ lallte der Mann monoton. Zu gerne hätte Lynn ihn gefragt, wer er war und was er an diesem Ort tat. Wo genau sie sich befanden und was man noch mit ihnen vorhatte. Das Geräusch einer schweren Kette lenkte Lynns Aufmerksamkeit schließlich wieder zur anderen Seite des Raumes, wo sie den Fremden vermutete. Man musste ihn festgekettet haben.
„Kannst du sprechen?“ fragte er schließlich etwas klarer und seiner alten Stimme folgte erneut ein ungesundes Husten. Tastend erfühlte Lynn den Untergrund auf dem sie lag und fand schließlich einen kleinen Stein. Mit Mühe drehte sie sich auf den Rücken und klopfte leise mit dem Stein an die Wand. Der Fremde gab ein erkenntnisreiches Raunen von sich.
„Haben sie dir die Stimmbänder durchgeschnitten?“ fragte er langsam und ächzend in die Dunkelheit. Lynn klopfte erneut mit dem Stein an die Mauer, jedoch nur ein einziges mal.
Ein zur Kenntnis nehmendes Stöhnen ertönte.
„Einmal heißt also nein...“ schlussfolgerte der Fremde mit einer gewissen Müdigkeit in seiner Stimme. Benommen schätze Lynn sein Alter auf jenseits der siebzig. Er klang wirklich alt und sein Husten und Schnauben tat den Rest, um ihre Annahme zu bestätigen.
„Bist du eine Wüstenbewohnerin?“
Zögernd hielt Lynn inne. Ja, sie kam ursprünglich aus der Wüste. In jenen schmerzhaften Fragmenten ihres Gedächtnisses sah sie die Dünen und den Sand und das Blut... und am Ende? Sakuya, wie er mit geladener Waffe vor ihr gestanden hatte.
Ihre Hand blieb bewegungslos zwischen den kalten Steinen des Bodens ruhen.
Eine lange Zeit der Stille folgte, in der Lynn mehr und mehr zu vergessen schien, wo sie sich überhaupt befand und warum.
„Ich verstehe...“ ächzte der Alte schließlich, nach Stunden, in die Dunkelheit.
„Du kannst mir nicht vertrauen... an einem Ort... wie diesem...“ heiseres Husten folgte seiner Stimme.
„Willst du wissen, warum sie mich hier behalten?“ fragte er schließlich leise.
Der mühsame klang, zweier aufeinander folgender Schläge gegen die Mauer, taten Lynns Neugier kund.
„Ich habe mich geweigert, meine Farm an die S-Hudan abzutreten.“ neben der rauen Stimme des Alten, vernahmen Lynns Ohren das geschwächte und beinahe lautlose Lachen des Fremden.
„Weißt du, wir lebten seit Generationen in der Wüste... meine Familie und ich. Und eines Tages kamen sie dann und wollten all unser Land.“ erneut röchelte der Mann in einem Ausmaß, dass es Lynn beinahe den Verstand, angesichts der Lautstärke nahm.
„Ein paar Dattel-Palmen... die wenigen Hektar Land? Das konnte es nicht gewesen sein... da steckt mehr dahinter...“ Lynn vernahm ein zischendes Geräusch und blickte erstmals, seit Tagen, in Helligkeit, die das Gesicht eines alten, bärtigen, von der Sonne verbrannten Mannes preisgab.
„Das ist mein letztes Streichholz... die Zigaretten haben sie mir gelassen...“ flüsterte der Mann, dessen Gesicht Lynn erstmals wahrgenommen hatte.
„Du bist noch so jung.... warum haben Sie dich hierher gebracht?“ Seine Frage klang aufrichtig in Lynns Ohren.
Zum rauchen war er scheinbar noch imstande. Immer wieder sah sie die Glut seiner Zigarette aufglimmen und dabei Fragmente seines Gesichts.
Man musste ihn an einem Arm oder Bein mit schwerer Eisenkette fixiert haben, sonst wäre er wohl nicht imstande gewesen, sich ein Streichholz anzuzünden. Und trotzdem lag Lynn da und war nicht mehr im Begriff sich regen zu können. Aber warum auch? Warum war sie an diesem Ort?
All das Vergangene rückte immer mehr in Vergessenheit.
Wo auch immer sie war... die Dunkelheit und die Stimme des Alten, wurden zu ihren neuen Gefährten. Abseits von Hoffnung, abseits der abstrakten Idee von Freiheit, Familie, Geborgenheit und Liebe.
Ob Tage, oder Wochen vergangen waren, konnte Lynn nicht mehr einschätzen. Sie sah Dunkelheit. Spürte die markerschütternde Kälte, Minute für Minute. Stunde um Stunde. Tag für Tag.
Ihr Körper war schon längst taub. Ihre Wahrnehmung so dysfunktional, dass sie mehr und mehr glaubte, körperlos im leeren Raum zu schweben. Umgeben von Dunkelheit und dieser einen Stimme. Es gab sonst nichts mehr.
„Sie haben meine Töchter zuerst mitgenommen...“ der Alte hatte wieder angefangen zu sprechen und Lynn schreckte hoch, aus einem Wirrwarr ihrer selbst. Sie hatte auf sich selbst hinabgeblickt unter hunderten von Fragen, die vermischt mit Blut und männlichen Körperflüssigkeiten an ihr hinabrannen.
Sie sog den Geruch fremder Körper ein. Schweiß, der an ihr klebte, jedoch nicht von ihr stammen konnte, so abstoßend war der Geruch, so befremdlich.
Ihren Körper hatte sie schon lange nicht mehr gespürt. Es war vielmehr wie die einzige Aufmerksamkeit ihres Geistes, der sie nicht zum schlafen kommen lassen wollte und das, obwohl sie so müde war. Und das, obwohl sie sich nichts mehr ersehnte als schlafen zu können, weil sie so müde war. Weil es sonst nichts mehr gab.
„Sie haben mir ihre toten und missbrauchten Leiber vor die Füße geworfen...“
Wieder war es die Stimme des Alten, die Lynn aufhorchen ließ, in der Dunkelheit und Kälte, die sie seit Ewigkeiten umgab.
„Vor meinen Augen nahmen sie sie und massakrierten sie anschließend... ihre toten Körper warfen sie zu mir. Ich sollte sie essen...
In ihren Gesichtern sah ich es. Sie wollten, dass ich sie aß. Nach Wochen des Hungerns.“
Der Alte sprach wenig. Immer wieder erfüllten lange Phasen des Schweigens und der Stille die Dunkelheit und Kälte.
Verschwommene Fragmente einer Zeit, der sich Lynn nicht mehr entsinnen konnte, zogen wieder und wieder Bahnen durch ihren Geist. Stimmen suchten sie heim. Riefen einen Namen, den sie längst vergessen hatte. Augen die ihr relevant erschienen, blickten zu ihr hinab und doch war sie eine Fremde in all der Erinnerungen.
Mal für mal sah sie wieder auf ihren Körper hinab. Zumindest glaubte sie, dass es ihrer war. Etwas an der jungen Frau, die sie sah, löste Schmerz in ihr aus. Und doch waren es nur fremde und dreckige Gesichter von Männern, die sie nicht kannte, die mit ihr taten, wonach ihnen der Sinn stand.
„Du wartest noch auf Jemanden, nicht wahr?“ Die letzten Worte brandeten in einem ohrenbetäubendem Husten.
Von Schmerzen durchdrungen versuchte Lynn ihre Arme zu heben, um ihre Ohren vor dem Lärm zu schützen, aber sie blieb wie gelähmt auf dem kalten Boden zurück. Nicht mehr fähig sich zu rühren, weil die Kälte sich tief in ihre Knochen gefressen hatte und die Verletzungen ihrer Haut brannten, als hätte man ihr Fleisch bei lebendigem Leibe herausgeschnitten.
„Sag einfach nichts... es ist okay... was haben wir auch noch zu reden, junge Freundin.“ flüsterte der Fremde schließlich leise, da er scheinbar bemerkt hatte, wie laut sein Husten zwischen den kahlen Mauern hallte.
„Ich habe es ja gesehen... Tag für kommen sie und ziehen dich hinaus. Alles andere vermag ich mir nicht mehr auszumalen. Meine Töchter habe ich gesehen... du bist aber noch da.“
`Nein` dachte Lynn zwischen Ohnmacht und Schmerzen. Sie war schon lange nicht mehr da. Und was auch immer vorher da gewesen war, sie hatte es bereits vergessen.
„Es gab einmal eine Zeit in meinem Leben, bevor Sie kamen, da haderte ich jeden Tag damit, mein Land an die VCO abzutreten...“
Aus ihrem schläfrigen Dämmerzustand erwacht, spürte Lynn, wie ihr Herz begann schneller zu schlagen. >>VCO...<< Diesen Namen hatte sie einmal gehört. Irgendwo in ihrem Kopf regte sich etwas.
„... hätte ich es getan, hätte ich vielleicht eine hohe Ablösungssumme für mein Land bekommen... aber meine Tochter Maya... sie wäre dem Schmerz eines gebrochenen Herzens erlegen...“ wieder begann der Alte zu Husten, bemühte sich jedoch drum, in etwas hineinzuhusten, damit der Schall nicht den ganzen Raum durchdrang. Es blieb ein Moment seiner erstickten Versuche Luft zu holen, ehe er tief einatmete:
„Sie hatte sich in Yaron verguckt... den ältesten Sohn von Aaron, dem eine Farm, weiter südlich gehörte. Hätte ich unser Land verkauft, hätten wir in die Stadt gemusst... das wollte ich ihr beim besten Willen nicht antun..., sicherlich verstehst du das...“
Erneut weg gedämmert lag Lynns Körper in der Dunkelheit.
„... aber ich hielt auch nie viel von Negan und seinen Leuten...“
Wieder erwachte Lynn und ihre Sinne tasteten in der Dunkelheit nach der Stimme des Fremden.
„...ich wusste, dass sie irgendwann kommen würden... aber niemals hatte ich mit den S-Hudan gerechnet... es gab Geschichten über sie... aber niemand schenkte dem Glauben. Sie waren ein Mythos. Ein grauenvolles Märchen...
Vielleicht nur von Negan inszeniert, um den Wüstenbewohnern Angst zu machen...
...bis ich sie bei lebendigem Leib sah und ihre Taten mitansehen musste...“
Erneut war Lynn innerlich hochgeschreckt. Sie kannte die Namen. Irgendwie musste sie einen Laut von sich geben. Mit letzter Kraft forschten ihre tauben Hände in der Dunkelheit. Etwas hatte sie berührt und unbeholfen schrak sie zunächst zurück.
Es hatte sich bewegt und wie vor Angst gelähmt und sich allem ausgeliefert gewusst, hatte sie inne gehalten.
Sofort nahm der Alte ihren heftigen Atem wahr. Aber er schwieg vorerst. Auch er musste seine Kräfte sammeln. Zu lange hatte man ihn an diesem Ort gefangen gehalten.
„Die Ratten kommen und gehen...“ bemerkte er heiser.
„Wenn du tot bist, erst dann fressen sie an dir. Vorher bemerken sie das bisschen Leben in deinem Leib und verschwinden wieder in der Dunkelheit.“
Voller Angst zog Lynn all ihre Gliedmaßen an sich. Sie wäre aufgrund der Dunkelheit nicht mehr imstande gewesen, ein solches Tier zu erledigen. Ihre Sehkraft hatte nach dem Geomas-Entzug zu sehr gelitten. Sie sah nichts in der Schwärze der Dunkelheit.
27 - Error
„Lynn?“ eine vertraute Stimme ließ sie zitternd hochschrecken. Die Kälte war bereits ein Teil ihres Körpers geworden. Würde sie ihre Fußgelenke bewegen, würden sie brechen, da war sie sich sicher. So starr hatte sie all die Zeit dagelegen und sich in den Tiefen ihrer selbst verloren.
„Lynn.“ erneut vernahm sie einen bekannten Namen und blickte in die Dunkelheit.
Niemand war da. Alles war von tiefer Schwärze gefärbt.
Ein Streichholz erhellte für kurze Augenblicke die kalten Steine des Verlieses. Sie blickte in blaue, bekannte Augen. Und sie erinnerte sich an die tiefe Stimme, die einst ihren Nahmen formuliert hatte, noch bevor sie es konnte.
Dennoch blieb sie stumm und erstickte beinahe an dem Versuch, etwas sagen zu wollen. Wo war der Alte hin? Was sie im Schein des Lichtes gesehen hatte, glich einem jüngeren Mann, mit dunklen Haaren und Augen, die sie schon einmal gesehen hatte.
Und gleichzeitig machte sich augenblicklich Schmerz neben der Kälte in ihrer Brust bemerkbar.
„Lynn. Ich hab es dir gesagt. Du weißt nicht, was oder wer du bist.“ Die Stimme verstummte erneut. Aber Lynn war sich sicher, sie zu kennen. Diese tiefe war unverkennbar.
„Du hast dich für die falsche Seite entschieden. Du bist keine von ihnen. Nun sieh, wo du gelandet bist.“
Resignierend über ihren eigenen Zustand, hatte Lynn die Augen geschlossen und horchte, was ihr gesagt wurde.
„Du gehörst nicht in diese Welt. Dein Platz ist woanders. Nicht hier.“
Tränen rannen ihre Wangen hinab. Irgendetwas in dieser Stimme, in diesen Worten brachte sie zur tiefen Verzweiflung.
„Dein Platz ist nicht hier.“ wiederholte der Fremde, dessen Gesicht Lynn noch immer nicht einordnen konnte, da der Lichteinfall zu kurz gewesen war.
„Du hattest deine Chance und hast sie nicht genutzt.“
Kraftlose und unaufhörliche Tränen rannen über Lynns Wangen. Und schon bald fand sie sich in einer nassen Pfütze wieder, die so kalt war, dass sie glaubte darin zu erfrieren.
Lange und dunkle Träume hatten sie heimgesucht. Immer wieder sah sie die rostigen Gitterstäbe der Wüste, ihrer Kindheitstage. Und wie Lynn so langsam erwachte und versuchte, sich an den Atem des Fremden zu klammern, sogleich schnellte die Zellentüre auf und einige Männer, schweren Schrittes, traten auf sie zu, um sie bei den Haaren zu packen und sie hinaus, auf den dunklen Korridor zu ziehen.
Lichtfetzen streiften ihre empfindlichen Lider. Die Wärme der Strahlung verbrannte beinahe ihre Haut, so lange hatte sie in der eisigen Dunkelheit gelegen.
„Wascht die Schlampe, der Boss kommt gleich!“ schrie jemand über sie hinüber.
Nicht mehr imstande ihre Augen öffnen zu wollen, spürte Lynn den Guss von eiskaltem Wasser auf ihrer Haut. Alles in ihrem Leib zog sich zusammen, als wären ihre Organe sich einig, einfach in sich selbst verschwinden zu wollen.
Heftig keuchend öffnete sie die Augen und sah in ein fremdes Gesicht.
„Komm, stell dich nicht an!“ brüllte ihr eine unbekannte Stimme entgegen und sie riss mit letzter Kraft völlig unkoordiniert ihre Hände vor ihren Leib. Der nächste Schwall von eisigem Wasser traf sie und Lynn brach in sich zusammen, in fremde Hände.
Jemand flößte ihr daraufhin Wasser ein. Bei dem Versuch zu schlucken, ertrank sie beinahe an dem sinnlosen Versuch, etwas durch ihren entzündeten Hals zu lassen.
„Linnai.“ die Stimme schien den Schmerz ihres Körpers zu verdrängen. Es gab nichts mehr für sie an diesem Ort. Und dennoch öffnete sie benommen und voller Schmerz die Augen. Sie sah an dem Fremden, der sie heftig mit einem alten Lappen wusch, vorbei, zu dem Mann, den sie niemals hatte richtig vergessen können.
Sakuya lehnte an einer weißen Wand und sah nachdenklich zu ihr hinüber. In seiner Hand hielt er eine qualmende Zigarette.
>>Nein...<< glucksende Laute voller Unverständnis und voller Schmerz entwichen Lynn.
Und mit einem Male war es wieder da.
Das, was geschehen war. Vorher.
Noch einmal blickte Lynn weinend in die Augen desjenigen, dem sie immer vertraut hatte.
Und seine Augen blickten kalt und emotionslos zurück.
Der raue Stoff des Lappens, mit dem man sie wusch, grub sich tief in ihre Haut, während sie sich weigerte, die Augen zu schließen. Es war ein Reißen und Graben. Und ehe sie den Schmerzen erlag, sah sie, wie Sakuya ruhig an seiner Zigarette zog und sie weiterhin beobachtete.
„Rasiert ihr die Haare ab. Die Ratten haben alles vollgeschissen!“
Hände gruben sich unter ihre Wirbelsäule und beförderten Lynn auf den Bauch. Ihre Beine waren nicht mehr spürbar. Es gab keinen Grund um stehen zu können.
„Halt ihren Kopf!“ Fremde Hände rissen an Lynns Haaren und ebbten schließlich in einem Schlag ab, der sie so hart traf, dass sie fürchtete den Verstand zu verlieren. Das einzige was sie sah, war ein Betonboden voller Sand. Einige getrocknete Blutspritzer befanden sich ebenfalls darauf. Und dann spürte sie bereits das erste Zerren und schmerzhaftes Reißen an ihrem Schopf. Die Haare, die vor ihr zu Boden fielen besiegelten ihre Vermutung.
Und während Lynn so da hing und mit leeren Augen ihren fallenden Haarsträhnen folgte, sah sie plötzlich etwas ungewöhnliches. Jemand mit schwarzen Schuhen, ohne Stiefel, war vor ihr aufgetaucht. Nur konnte sie den Kopf nicht heben um nachzusehen, wer sich so, an diesen Ort verirrt hatte.
„Mhhhhhaaaaa!“ mehr konnte sich nicht hervorbringen, als sie spürte, wie etwas in sie eindrang. Man hatte ihr bereits vor Wochen sämtliche Kleidung genommen. Warum hatte sie das nicht bemerkt?
„Wir haben den SND. Alles andere überlassen wir Ihnen, Sir.“ Deutlich konnte Lynn spüren, wie die Masse, die sich in sie geschoben hatte langsam zurückzog.
Mit einem erneuten Stoß jedoch, brach sie von dem Tisch, auf den man sie gelegt hatte, zu Boden. Sie spürte, wie ihr heiße Harnflüssigkeit die eiskalten Beine hinabrann und unter ihrem Becken strandete, um zwischen Beton und Sand zu versickern.
„Sir, ich säubere sie.“ die Stimme hallte in Lynns Kopf endlos nach.
„Nein. Ich will sie so. Ich will das, was Negan mir durch sie gegeben hat.“
Ein weiterer Stoß, etwas, was sich in ihren Schoß grub, nahm Lynn jegliche Kraft, noch etwas formulieren zu wollen.
Und wie sie so dalag, am Grund des Bodens, während man sie nahm, blickte sie in das emotionslose Gesicht von Sakuya, der sie stumm beobachtete.
Eine kurze zärtliche Geste sorgte dafür, dass Lynns Geist ihren Körper für einen Moment wiederfand.
Bei dem Versuch ihre Augen öffnen zu wollen, spürte sie, wie einige Wimpern ausrissen. Das Blut und was da noch in ihrem Gesicht war, hatte ihr die Augen verklebt und sie brauchte einen Augenblick, ehe sie dumpfe Farben und verstörende Formen wahrnehmen konnte. Sakuya hockte neben ihr und betrachtete sie einige Augenblicke. Er musste sie berührt haben, anders konnte sie sich nicht mehr erklären, wie ihr Geist ihren Körper beseelen wollte.
Offene Wunden und Prellungen zierten ihren missbrauchten Leib. Körperflüssigkeiten fremder Männer vermischte sich mit ihrem Urin. Und wieder konnte sie Schritte hinter sich vernehmen.
Sakuyas Blick glitt über sie hinweg, zu jemandem, der hinter ihr stehen musste.
"Du machst das gut." sagte Sakuya leise und entfernte sich schließlich aus ihrem Blickfeld, welches durch eine kahle Steinmauer begrenzt wurde.
"Du willst meinen Männern also immer noch nichts über den Aufenthaltsort deiner Truppen verraten, mh?" eine raue Stimme mit schwerem Akzent hatte zu ihr gesprochen. Krampfhaft schloss Lynn ihre Augen und betete, dass ihr Geist sich wieder von ihrem Körper trennen möge. Sie wollte nicht mehr erleben, was als nächstes kommen würde.
"Du bist jetzt seit mehreren Wochen bei uns und dir ist noch immer nichts eingefallen? Nicht die kleinste Information?" der wühlende Griff zwischen ihre Beine ließ Lynn an den Rand der Ohnmacht kommen, so schmerzvoll war die Berührung. So sehr hatte man ihren Leib geschunden.
"Nur die Koordinaten, nur einen Landabschnitt. Mehr will ich nicht von Dir." flüsterte die Stimme leise und mit einer unterdrückten Lust darin.
Die Hand ihres Angreifers hatte sich noch tiefer in sie gegraben.
"Auch wenn du im gegenwärtigen Moment keine Augenweide mehr bist, so hast du meinen Leuten reichlich Freude beschert. Dafür muss ich dir danken." Mit einem kräftigen Ruck hatte der Fremde Lynn auf den Rücken befördert und die erblickte das erste mal ihren Peiniger.
Der Mann, der sich vor ihr aufgebaut hatte und erneut nach ihrem Schmerzenden Körper griff, um sie auf einen Tisch zu befördern, hatte einen dichten schwarzen Bart. Die dunklen Haare an seinem Arm, die durch ein beiges hochgekrempeltes Hemd zu sehen waren, waren voller Dreck und Blut. An seinem geöffneten Gürtel erkannte sie eine Pistole sowie eines der Kampfmesser, die sie schon öfter bei den Männern gesehen hatte. Ein wabernder Schleier legte sich jedoch augenblicklich über ihre Wahrnehmung, als sie sah, wie der Mann zu ihr hinabblickte.
"Weißt du, wir können ewig so mit dir weitermachen. Ich kann dich immer und wieder herholen. Meinen Männern eine kleine Freude in solch schweren Tagen machen. Mit dir. Ob Negan daran gedacht hatte, als er dich hierher schickte? Einen seiner Supersoldaten? Nun, so super scheinst du mir ohne das Geomas nicht mehr zu sein." Raue und schwielige Hände fuhren über ihren Bauch, hoch zu ihren Brüsten.
"Einige meiner Leuten fragten mich, ob du eigentlich nicht mal essen müsstest. Knapp 60 Tage ohne Nahrung. Oder hast du Gefallen an den Ratten gefunden, wie der Alte?" ein amüsiertes Lachen entwich dem Mann, ehe sich seine Hände so fest in ihre Brüste gruben, dass Lynn das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen.
"Aber hab keine Angst. Du bekommst gleich etwas. Etwas besonderes. Denn so lange du nicht reden magst, so lange musst du aber auch überleben um uns weiter zu beglücken." Seine aufgerissen Lippen, die zum Teil durch seinen schwarzen Bart bedeckt waren, hatten sich zu einem undefinierbaren Lächeln geformt. Seine Hände ließen von ihr ab und mit der rechten fuhr er über seinen Schritt.
"Oh Gott, ich kann dich schon wieder nehmen." raunte er lächelnd und blickte Lynn überrascht an.
Sie hingegen blickte nur mit leeren Augen zu der hinter ihm liegenden Tür. Augenblicke verstrichen, in denen sie das metallene Geräusch einer Gürtelschnalle vernahm.
"Es hat Nachteile, hier draußen in der Wüste. Frauen sind eine knappe Ressource. Aber vielleicht auch nur, weil sie dumm genug waren, Negans Anweisungen zu folgen und ihr Land aufzugeben."
Keuchend blickte Lynn auf den Gürtel, den man ihr Präsentierte.
"Dieses mal möchte ich, dass du hier bleibst." sagte der Mann leise und holte mit dem Gürtel aus. Die Metall Schnalle traf Lynn direkt auf die Wunde am Bauch, die man ihr mit einem Messer zugefügt hatte. Ihre Schreie mündeten in einem unverständlichen leisen Glucksen und Keuchen.
"Schmerz hilf dir vielleicht, dich nicht wegzuträumen, wohin auch immer." Erneut traf sie die schmerzhafte Schnalle und riss die Haut über ihrer Brust auf. Eine blutende und aufgeschürfte Wunde blieb daran zurück.
"Vielleicht zu deinem Team? Sag schon, hatten sie auch solch eine Freude an dir? Vielleicht sogar Negan selbst?" Ein weiterer Schlag traf Lynn zwischen den Oberschenkeln und erneut quoll Blut aus einer Wunde hervor.
"Ich mag dein verweintes und schmerzverzogenes Gesicht. Du hast Durchhaltevermögen, das muss man dir hoch anrechnen. Andere sind wesentlich schneller eingeknickt."
Der Fremde hatte seine Hose bis zu den Knien heruntergezogen und präsentierte sein blutiges, erigiertes Glied.
"Das ist dein Blut daran. Ich bin dir wahrlich verfallen. So sehr, dass ich dich wieder will." Mit einer Hand ihr Blut aufnehmend und mit der anderen an sich, schloss er kurz seine Augen und sog genussvoll den Geschmack ihres Blutes ein, ehe er begann, es an sich selbst zu verteilen.
Lynns Blick glitt von ihm ab, zur Tür, in der sie plötzlich Sakuya erkennen konnte.
An einer Zigaretten ziehend beobachtete er sie. Stumm.
Das konnte nicht wahr sein. Was tat er an diesem Ort? Warum half er ihr nicht?
Ein prompter schmerzhafter Gürtelschlag, traf Lynn direkt im Gesicht.
"Ich sagte, du bleibst hier." ertönte die raue und von stöhnenden Lauten begleitete Stimme ihres Vergewaltigers.
"Wir beide sind heute ganz alleine. Du gehörst ganz mir und ich dir."
Sein Glied grub sich zwischen ihre Beine und der anbrandende Schmerz sorgte erneut dafür, dass sie keinerlei Kontrolle mehr über ihren Körper hatte. Erneut spürte sie ihren heißen Urin, wie er zwischen ihren Schenkeln hinabrann und sie sich anschließend in einer heißen Pfütze, auf dem Tisch wiederfand. Das brennen, welches der Urin auslöste und der Fremde, der ihren Unterleib wieder und wieder mit quälenden schmerzen füllte, brachten sie an den Rand des Unaushaltbaren. Tränen völliger Verzweiflung rannen über ihre Wangen und noch immer blickten ihre Augen flehend zu Sakuya, der in der Türe stand und sie betrachtete. Der beobachtete, wie der Fremde sein Glied mit ihrem Urin umhüllte, um schließlich wieder rau in sie einzudringen, sie erneut mit dem Gürtel zu schlagen, bis ihr gesamter Körper nur noch ein Schlachtfeld aus offenen Wunden war.
"Du musst dich nicht schämen, wenn du deine Pisse vor lauter Freude nicht mehr kontrollieren kannst..." raunte der Mann über ihr, dessen Worte in einem angestrengten Stöhnen mündeten.
"Oh Gott, mir kommt es gleich..."
Lynns Augen galten nur noch Sakuya. Ihren Körper und was mit ihm geschah schon längst ausgeblendet, verlor sich ihr Blick in seinem. Kalte Augen blickten ihr entgegen. Aber er tat nichts. Nichts. Er stand einfach da und beobachtete sie.
Er tat nichts.
Und plötzlich wurde alles schwarz. Lynns Geist glitt in Welten ab, die sie bereits Tage zuvor erkundet hatte, in denen sie sicher war. Sicher vor dem, was man ihrem Körper antat. Sicher vor dem, woran ihre Seele zerbrechen würde.
Ihr Geist fand sich in Hershels Labor wieder. Wie er mit ihr gesprochen hatte. Stets besorgt und bemüht um ihr Wohl schien. Und immer wenn Sakuya durch die schwere Eisentür trat, fand ihr Geist wieder einen neuen Ort, einen Platz an dem sie das ausblenden konnte, davor flüchten konnte, was ihr Geist nicht anerkennen und wahrhaben wollte. Bis sie schließlich wieder mit Sakuya konfrontiert war. Mit seinen Bemühungen, entgegen jeglicher Anweisungen. Mit der zurückhaltenden und nebensächlichen Sorge, Lynn nicht mehr schützen können. Vor Negan, vor Soldaten anderer Teams, vor den erschreckend bizarren Abgründen des menschlichen Daseins. In seinen Worten, in seinen Gesten fand ihr Geist wieder und wieder seinen Trost.
"Sir, wir haben es so gemacht, wie Sie es wollten." Fremde Stimmen ließen Lynn aufhorchen. Wie lange sie weggetreten war, konnte sie nicht einschätzen. Aber an diesem Ort spielte Zeit schon lange keine Rolle mehr. Nichts spielte an diesem Ort mehr eine Rolle.
"Stellt es auf den Tisch." Wies der Bärtige einen seiner Soldaten an, ein volles Tablett mit undefinierbaren Fleisch abzustellen.
Lynn blickte auf rohes blutiges Fleisch, welches man ihr rüber schob. Scheinbar hatte man sie irgendwann auf einen Stuhl gesetzt. Das Atmen viel ihr schwer, ihr Hals fühlte sich zunehmend geschwollener an. Das Sitzen erhöhte den ungeheuren Schmerz, der von den Eigenweiden ihres Unterleibs ausging. Ein kraftloses Ziehen versicherte ihr abermals, dass man sie an den Stuhl fixiert hatte.
"Lass uns alleine." Mit diesen Worten verließ der Soldat, welcher Lynn mit einem Blick aus Lust und Hass angeblickt hatte, wieder den kleinen Raum.
"Ich weiß, ich weiß. Die Uhren ticken hier anders, als in deinem kleinen sorgenfreien Leben. Wir hätten zuerst essen und dann ficken sollen, richtig?" lachend ergriff der Mann eines der blutigen Stücke Fleisch und roch daran.
"Es riecht alt, aber es ist frisch, glaub mir. Ich muss mich wohl etwas um dich kümmern, damit du uns noch etwas erhalten bleibst." sein Lächelnd blieb bestehen, während er auf sie zu kam und sich vor sie hockte, mit eindringlichem Blick.
"Wenn du möchtest kaue ich etwas für dich." Seine Miene verfinsterte sich, während er das Fleisch mit seinen dreckigen Fingern knetete.
"Und da wir uns mittlerweile etwas näher gekommen sind..." er sprach vorerst nicht weiter und überprüfte mit kritischem Blick, ob in Lynns Körper noch Leben herrschte, indem er mit dem Fleisch vor ihrem Gesicht umher wedelte. Ihre Augen folgten seinen Bewegungen und er lehnte sich anschließend wieder entspannt zurück.
"Schön, dass du noch hier bist. das ist ein gutes Zeichen. Vielleicht beginnst du mich ja auch etwas zu mögen?" Das Fleisch zu seinem Mund führend, leckte er kurz daran und hielt es ihr schließlich vor die Lippen. Einen Moment abwartend, beobachtete er, wie ihr Blick über ihn hinweg glitt, zur Tür.
Ein heftiger Schlag holte sie zurück in die Realität. Wütende Augen sahen ihr entgegen.
"Du bleibst bei mir, ist das klar!" seine Schreie waren so laut, dass Lynn wieder an der Grenze zur Ohnmacht war.
"Und jetzt frage ich dich, mal wieder: Wo ist der Rest deiner erbärmlichen Einheit?"
Selbst wenn sie ihm hätte etwas sagen wollen, so wäre sie aufgrund der Schmerzen in ihrem Hals stumm geblieben. Jeder Schluck brannte in ihrer Kehle wie Feuer. Der trockene Speichel, den sie noch hatte, riss an dem inneren ihres Halses.
"So, du meinst also, unsere Beziehung sei noch nicht besonders genug, als dass man mit mir reden könnte?" das Stück Fleisch auf den Tisch knallend, widmete er sich den Knöpfen seiner Hose und griff ungeduldig nach seinem Glied um anschließend das Fleisch daran zu reiben. Das getrocknete Blut mischte sich mit dem des Fleisches.
"Magst du es jetzt lieber essen?" ernsthaftes Interesse zeichnete sich in seinem vernarbten Gesicht ab. Nochmals führte er den Klumpen an ihre Lippen und sie erbrach prompt Schaum und Magensäure. Zitternd und keuchend traute sie sich kaum, erneut aufzublicken. Die Angst vor der Reaktion des Fremden lähmte sie.
"Du bist ganz schön undankbar, weißt du." raunte ihr Gegenüber genervt.
"Unsere Schwänze nimmst du, aber das gute Fleisch des alten Wataru, willst du nicht. Ich merke schon, dich muss man zu deinem Glück zwingen. Dabei hat der Alte sicherlich gerne das zeitliche gesegnet um dich ernähren zu können." freudig lachend rieb man Lynn das Fleisch über ihre Lippen.
"Irgendwie erinnerst du mich an ihn. Er hatte die Ehre seine Töchter zu genießen und verschmähte meine Großzügigkeit ebenso, wie du. Ihr werde aus euch einfach nicht schlau. Wo kommt dieser maßlos überzogene Stolz nur her?" Nichts wünschte sich Lynn sehnlicher, als aus dieser Situation zu verschwinden. Würde er sie einfach töten. Würde ihr Körper nur endlich an dem Geomas-Entzug krepieren. Es gab nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnte. Es war eine Endlosschleife aus Grausamkeit und Absurdität. Aus Abgründen ohne Begründung. Das, was da einmal gewesen war, was sie die Schmerzen aushalten ließ, die man ihr all die Jahre über angetan hatte, war bereits vor Wochen verschwunden. Es gab keinen Grund mehr. Und wann immer sie Sakuya sah, so war er zum Inbegriff des Vorboten des Unsagbaren geworden. Ihr Geist hatte ihn zum Inbegriff von unermesslichen Schmerz degradiert. Den einzigen Menschen, dem sie vertrauen konnte. Es gab nichts mehr. Sie war verloren. Verloren in einem Sog voller Leid und Schmerz.
"Vielleicht muss ihr dir ja helfen, diesen Brocken zu schlucken. Aber wenn du mich wieder beißt, schwöre ich dir, dass meine Männer dir noch heute die Zähne ziehen werden. Hast du mich verstanden?" Sein plötzliches Aufstehen hatte Lynn aus ihren Gedanken zurückkehren lassen und voller entsetzten blickte sie auf sein blutiges Glied, welches er zusammen mit dem Klumpen Fleisch, gewaltsam zwischen ihre Lippen presste. Ihrem Impuls, den Mund verschlossen zu halten, wich stechender Schmerz an ihrem Hals, den der Mann mit einer Hand würgte.
"Mach schon den Mund auf. Es ist Zeit für die nächste Runde und etwas Belohnung für dich." Keuchend und nach Luft schnappend, nachdem er von ihrem Hals abgelassen hatte, spürte Lynn das kalte Fleisch und sein blutiges Glied in ihrem Rachen.
"Und jetzt schluck! Herrgott, du machst mich so unendlich geil..."
Der Geruch von Erbrochenem und Blut begleitete Lynn in der Dunkelheit. Lähmende Kopfschmerzen ließen sie heftig atmen und immer wieder erbrach sie sich auf den eisigen Betonboden, auf dem ihr Körper zusammengekauert zitterte.
Beim Versuch zu schlucken erstickte sie beinahe an einem harten undefinierbaren Stück, welches ihr im Hals steckte. Das Ringen nach Luft und das damit einhergehende Husten ließen ihren Kopf beinahe platzen. Mit einem leisen Klackern fand der Fremdkörper aber schließlich seinen Weg aus ihrem Körper.
Eine Weile hatte sie bewegungslos dagelegen. Die Schmerzen hatten sie gelähmt. Schließlich tasteten ihre eisigen Finger jedoch durch Erbrochene Reste, bis sie den Fremdkörper gefunden hatte. Es war scharf und spitz. Ihre Mundhöhle war so von schmerzen durchdrungen, dass sie bereits taub wurde.
„Du weißt, was du da in den Händen hältst, nicht wahr?“ fragte sie eine bekannte Stimme aus der Dunkelheit. Kein heiseres Husten folgte mehr den Lauten. Stattdessen roch es nach Zigarettenqualm.
„Linnai, du weißt es.“ wartete die raue Stimme auf. Es war Sakuya, der dort zu ihr sprach. Hatten sie ihn etwa gefunden? Hatten sie auch ihn an diesen Ort gebracht? War er vielleicht gar nicht tot?
„Was hast du dir dabei gedacht?“ das leise Klicken eines Feuerzeugs war in der Dunkelheit zu hören und Lynn beobachtete mit starrem Blick, wie Sakuya eine Kerze entzündete und sie vor sich stellte, am anderen Ende des Raumes, neben die leeren Ketten, in denen einst der Alte gefangen gewesen war.
Sein weißes Hemd von etwas Sand befreiend sah Sakuya sie schließlich mit angespanntem Blick an.
„Was hab ich dir nicht alles beigebracht. Und du beschämst mich und die gesamte VCO in solch einem Maß.“
Ohne es zu wollen und kontrollieren zu können sorgte der Schmerz in Lynns Körper erneut dafür, dass sie sich erbrach.
„Sieh dich nur an. Das ist sicherlich nicht das, was ich und Hershel aus dir gemacht haben. Du solltest dich schämen. Und jetzt kotzt du auch noch deine eigenen Zähne aus?“
Voller Verzweiflung blickte Lynn an sich hinab, zwischen unverdauten Fleischresten, Sperma und Blut sah sie schließlich die abgebrochenen Fragmente ihrer Zähne. Sie hatten sie ihr gezogen.
„Du wärst nie in eine solch aussichtslose Situation geraten, wärst du im Dorf nicht einfach halbnackt in mein Zimmer marschiert. Was hattest du erwartet was geschieht? Dass ich mit dir schlafen würde? Den Rest hast du wohl vergessen. Dass ich dich wegschicken wollte, aber du nicht gehen wolltest? Sag mir was ich hätte machen sollen, außer dich ins Bad taxieren und die Türe abschließen sollen? Dass ich dabei mit deinem externen Geomas in Berührung kam und du Ohnmächtig wurdest, kannst du mir nicht zum Vorwurf machen. Wie eine Irre hast du dich benommen. Und schließlich... wo warst du, als der Angriff losging? Du hast mich enttäuscht Linnai. Mich und dein gesamtes Team. Hättest du nicht so egoistisch gehandelt, wären sie alle noch am Leben...“
Mit bebendem Herzen wünschte sich Lynn nur noch den Tod. Das konnte nicht wahr sein. Warum hatte sie das getan?
„Das hier ist alles deine eigene Schuld. Und weißt du auch, wer kommen wird, um dich zu retten? Niemand. Weil du eine Schande bist.“ Lautlos hatte Sakuya die kleine Kerze wieder ausgeblasen und Lynn blieb wimmernd in der Dunkelheit zurück.
Wieder und wieder sah sie vor inneren Augen das sandige, stickige kleine Zimmer, in dem sie Sakuya gegenüber gestanden hatte, ehe der Angriff über das kleine Wüstendorf kam. Bilder einer unbekannten Frau, mit braunen Haaren und blauen Augen mischten sich hinzu, die sie liebend aber voller Schmerz angesehen hatten. Es folgte der Geschmack von Blut und Schreie. Gesichter von fremden Männern mit Waffen zogen vorbei. Und schließlich sah Lynn, wie Sakuya sie hastig packte und ihren Körper ins Badezimmer schob um schließlich die Türe zu schließen. Das Geräusch von einschlagenden Bomben und Schüssen vermischte sich zu einem Ohrenbetäubenden Tosen.
Das Hämmern in ihrem Schädel war allmählich einem pulsierendem unaufhörlichen Druck gewichen, der mit jeder Erschütterung zunahm.
Erschütterung um Erschütterung ließ ihren Leib an Taubheit gewinnen. Schreie drangen an ihre Ohren, gefolgt von Schüssen.
„Niemand wird kommen.“ hörte sie erneut Sakuyas Stimme in der völligen Dunkelheit. Sein Echo kehrte wieder und wieder zu ihr zurück. Wie lange würde ihr Herz wohl noch schlagen? Wann wäre es endlich vorüber, wann würde ihr Geist endlich loslassen?
Mit einem markerschütternden Knall flog eine Tür aus ihren Angeln und helles Licht schien auf Lynns zusammengekniffenen Lider und verbrannte beinahe ihre Haut.
„Linnai!“ Ohne Echo, mit erstaunlicher Klarheit vernahm sie Sakuyas Stimme. Zitternd öffnete sie ihre Augen, geblendet von dem Licht des Flures, durch den man sie wieder und wieder gezogen hatte. Ein schwarzer Schatten, Sakuyas Silhouette erinnernd, verschwand mit einem Mal und sie sah ihn atemlos auf sich zueilend.
„Linnai... Das wird wieder, alles wird wieder gut!“ Blaue Augen, die all das Leid der Wochen mit einem Male erfasst zu haben schienen, sahen mit Tränen darin zu ihr hinab.
„Verzeih mir, Linnai.“ Bei dem Versuch sie berühren zu wollen, schreckten seine Hände unter ihrem Keuchen zurück.
„Sakuya! Wir haben sie! Sie sind oben!“ rief eine weitere atemlose Stimme und ließ Lynn zusammenzucken.
„Oh scheiße...“ Unter den Augen eines weiteren Mannes hatte Lynn Schwierigkeiten bei Bewusstsein zu bleiben, so sehr ängstigte sie die Erscheinung der beiden Männer. War es nur ein Traum? Ein erneuter Streich ihres Geistes, um ihre Schuld plausibel wirken zu lassen? Um an dem erbärmlichen letzten Rest ihres Lebens festhalten zu können? Nur ein Kniff, aus dem Selbsterhaltungstrieb ihres Körpers heraus?
„Ich kann dich nicht anfassen, Linnai. Hier, nimm die Waffe und erschieß jeden, der durch diese Türe kommt! Wir sind gleich wieder da, vertrau mir. Nimm die Waffe!“ Sakuyas Finger gruben den Schaft einer Pistole in ihre eisigen Handflächen.
„Hast du gehört? Erschieß jeden! Ich komm wieder, ich lasse dich nicht mehr alleine.“ die letzten Worte hatte Sakuya nur noch unter Tränen sprechen können, ehe er sich zögernd von ihr abwandte und seinem Kameraden zügig aus dem Raum folgte.
Geistesabwesend blickte sie auf die Waffe, die er ihr geben hatte.
Weg. Das war alles was sie noch begreifen konnte. Sie wollte weg. Wollte, dass all der Schmerz endlich ein Ende hatte. Kraftlos und mit zitternden Händen umgriff sie die Waffe. Wie Blei lag sie in ihrer Hand. So kalt wie die Steine auf denen sie lag, fühlte sich auch das schwarze Metall in ihrer Handfläche an. Ihr tauber Zeigefinger, an dem nur einer der etlichen fehlenden Nägel, die man ihr ausgerissen hatte, eine blutige krustige Stelle zurückgelassen hatte, umfühlte zitternd den Abzug.
Es musste enden, sofort.
„Es ist deine Schuld.“ wieder sah sie Sakuyas dunkle Silhouette in dem schmalen Lichtkegel, der vom Flur ausging.
Ihre letzten Kräfte mobilisierend richtete sie sich unter Schmerzen auf, schob den Schlitten der Waffe zurück und erhörte das vertraute Geräusch einer geladenen Kugel. Den Lauf an ihre Schläfe gedrückt, glitt ihr Zeigefinger beinahe vollautomatisch über den Abzug, ohne auch nur einen Augenblick gezögert zu haben.<<
Gleißend helle Funken sprühten um Lynns Körper herum. Sie fand sich wie durch einen Meteoriteneinschlag an Ort und Stelle versetzt, liegend in grauer Vulkanasche, die sich empor dem Gebirge vor ihren Augen, auf den Felsen auftürmte. Einen Augenblick lang blieb sie wie benommen liegen und beobachtete das Fallen der Asche neben ihr Gesicht unter der verdeckten, aber aufgehenden Sonne. Wie lange war sie in dieser Zwischenwelt gewesen?
Durchdrungen von einem kurzen, pulsierendem Schmerz, stand sie keuchend auf. War es wirklich möglich, dass Sakuya ihr das Vergangene gezeigt hatte? Der Grund, warum sie überhaupt an diesem Ort gelandet war? Die einzige kausale Antwort, auf die Aneinanderreihung der Ereignisse? Der logische Schluss, weshalb sie ohne Gedächtnis, vor Jahren auf Tokios Straßen erwacht war? Warum sie mit Jin bei einem nächtlichen Einbruch aneinandergeraten war? Die einzige Möglichkeit, die es zugelassen hatte, dass sie sich in Dakons Unterschlupf wiederfand, Teil seines Teams wurde, Sakuya traf, die Welten durchquerte, all das Leid sah, all die Tränen vergoss, all den Schmerz fühlte? Die Erklärung für das, was sie Nachts nicht schlafen ließ? Die Antwort auf das, was Sakuya so vertraut werden ließ, entgegen jeder menschlichen Vernunft, entgegen jeder Wahrscheinlichkeit? Aber etwas fehlte. Es fehlte das letzte Stück, der Grund, der Grund für den Verlust ihres Gedächtnisses. Sie war ein Stück von Valvar. Jede Zelle ihres Körpers gehörte zu etwas, dessen Ausmaß sie nicht hatte begreifen können. Neue Fremde, neue Freunde, eine Familie, aus alten Gesichtern, die erst das Vergangene logisch erscheinen ließen. Aber es fehlte das entscheidende Puzzlestück. Sakuya hatte sie verraten. Er hatte all das Leid, welches man ihr angetan hatte, mitbeobachtet. Er hatte es doch gesehen, war nicht eingeschritten. Und doch, war sie es selbst gewesen, die sich in solch eine Situation gebracht hatte. Oder verlor sie allmählich doch den Verstand? War all das vermutlich nur der Kniff ihres Geistes, um den Schmerz zu verdrängen, um die eigene Schuld nicht anerkennen zu wollen? Sich zu verlieren, wieder und wieder, durch Widersprüche, durch Leerstellen, Unklarheiten, absurde Gefühle.
Sakuya fehlte noch immer. Mit aller Kraft versuchte Lynn das zu realisieren, was sie wirklich glaubte erlebt zu haben, von dem sie Teil geworden war. Abermals hatte sie ihn gesehen. In Valvar, als sie mit Hershel und Carver auf der Flucht vor den Hybriden war, im letzten, entscheidenden Moment. Auf der ehemaligen zerstörten Basis der VCO, wie er durch die Ruinen geschritten war. Am Bergpass in Efrafar, in dem kleinen Bergdorf. Und Yennifer, sie hatte Lynn zuletzt gehört. Sie hatte sie erst an diesen einen Punkt gebracht, an dem sie nun auf vereiste Gletscher, voller Vulkanasche blickte.
War es möglich, dass sich Lynn all das nur eingebildet hatte? Aufgrund des Schmerzes, Sakuya vielleicht im Kampf bei Yevon verloren zu haben? Als Antwort auf ihre eigenen unerwiderten Gefühle, seinerseits? Das nicht Anerkennen wollen von Wahrheit? Von bitterer und trauriger Wahrheit? Aus dem Wunsch heraus, sich selbst erklären zu wollen, warum er ihr so vertraut schien, warum seine Berührungen, seine Erscheinung, sie so sehr vereinnahmten? Wegen dem logischen Schluss, angesichts seiner körperlichen Fähigkeiten, die der ihren glichen, dass es etwas geben musste, was sie schon so lange miteinander verband?
Und Hershel? Er kannte sie. Besser als jeder Arzt zuvor. Es war unmöglich, dass Er und Sakuya sich die Geschichten der VCO, der Basis, nur ausgedacht hatten. Sie waren real. Alles an Lynns Körper, ihre Fähigkeiten, ihre Gefühle zeugten davon.
Heftig atmend und im Strom ihrer eigenen Fragen beinahe verloren, starrte Lynn auf einen von Nebel umhüllten See, während die Vulkanasche abermals den Weg zur Erde fand. Ihre Stiefel versanken in dem hohen Schnee, der verlassenen Ruinen.
War Yennifer der Schlüssel für all das gewesen? Der Grund, warum Sakuya sich ihr offenbart hatte, ihr gezeigt hatte, was geschehen war? Und warum erst an diesem Punkt? Was hatte ihn davon abgehalten, all die Monate, ihr die Wahrheit zu sagen?
Und mit einem Male erinnerte Lynn sich daran, wie er vor ihren eigenen Augen verschwunden war. Wie sie seine Akte und den Fallbericht gelesen hatte. Sakuya starb.
„SAKUYA!“ aus vollem Halse schrie Lynn seinen Namen durch die Endlichkeit der vergrauten Ruinen. Aber nur ihr eigenes Echo fand seinen Weg zurück zu ihr.
„SAKUYA!“ abermals schrie sie und blickte sich hilflos um. Wo hätte sie ihn suchen sollen, wo finden, was tat sie an diesem verlassenen Ort?
„Sakuya...“ erstickt durch die eigene Verzweiflung sah sich Lynn um.
Es machte keinen Sinn. Er hatte sie gesehen. Er hatte sie wieder und wieder gesehen, hatte geschwiegen. Sowohl nach ihrem Gedächtnisverlust, als auch nach dem Angriff in der Wüste. Er hatte sie angesehen, mit stummen blauen Augen, und nicht ein Wort gesagt. Nichts. Da gab es nichts mehr.
„Lynn...“ ein leises Wimmern bahnte sich seinen Weg durch die von Schnee bedeckten, weitläufigen Straßen.
„Yennifer?“ vor Absurdität keuchend begann Lynn zu laufen, anschließend zu rennen. So schnell sie nur konnte, versuchte sie den kniehohen Schnee zu überwinden. Das Messer an ihrer Hüfte ergreifend, hastete sie der bedeckten Sonne, über den Gipfeln des Tals entgegen. Immer näher zum Ufer des nebeligen Sees, dessen Wellen sie allmählich leise ans Ufer an branden hören konnte.
„Lynn...“ die immer schwächer klingende Stimme Yennifers wurde lauter. Stockend machte Lynn schließlich vor einer kleinen Bar halt. Die Türen waren einst mit Holzbrettern zugenagelt worden, aber es war sofort ersichtlich, dass kürzlich jemand die Türe geöffnet haben musste. Der Schnee war davor um die Hälfte niedriger, als auf dem Rest des Geländes.
„Yennifer?“ rufend und ihr Messer zum Kampf bereit haltend, umrundete Lynn das Gebäude, so weit es die Zäune und anliegenden Häuser zuließen.
Eine Antwort blieb aus und so entschloss sich Lynn schließlich, langsam und mit stockendem Atem, die massive Holztür der Bar vorsichtig zu öffnen. Staub der alten hölzernen Vertäfelung des Innenraumes stieß ihr entgegen und brachte sie zum Husten. Dunkle Stellen, des geschmolzenen Schnees, im Eingangsbereich der Dielen, bestätigte ihre Vermutung, dass hier jemand Schutz gesucht haben könnte.
„Yennifer?“ Leise aber sich vorsichtig fortbewegend rief ihre Stimme in die erstickende Dunkelheit hinein. Die Bretter vor den Fenstern ließen nur spärliche Lichtkegel ins Innere der alten Bar. Der Tresen stand voll von verstaubten Gläsern und Falschen. Wo einst Leben geherrscht hatte, war nun alles den Ratten, Mäusen und Spinnen erlegen, die sich ihre vorsichtigen Bahnen suchten, um das Verlassene langsam zu erschließen. Vereinzelte Blutstropfen verrieten Lynn jedoch den Weg ins innere.
„Yennifer?“ Unsicher hallte ihre Stimme im Gang der Kellergewölbe und warmen Kühlräume wider. Drucksende Geräusche und erstickende Laute führten Lynn immer weiter durch die gemauerten Kellergänge, ehe sie wieder hinauf, zu einem Aufenthaltsraum gelangte. Die hölzerne Türe vorsichtig öffnend, traten ihre geschnürten Stiefel bereits in eine breite Blutlache.
Sakuyas Körper lag auf dem Dielenboden, entgegen eines Regals voller Aktenordnern. Das Blut, welches aus der Wunde an seinem Bauch getreten war, füllte beinahe den gesamten Boden, bis hin zum Schreibtisch.
„Sakuya!“ mit einem heiseren Schrei hatte sich Lynn zu ihm hinabgeworfen und drehte seinen auf der Seite liegenden Körper mühevoll auf den Rücken.
„Nein.... nein...“ erschrocken von ihren eigenen Worten tastete sie nach seinem Puls, anschließend nach seinem Herzschlag. Sein Körper blieb stumm. Jegliches Leben war aus seinen kalten Gliedern gewichen.
„Sakuya...“ leise wimmernd, hatte sich Lynn für einen Moment auf seine kalte Brust absinken lassen. Sie lag da und starrte die Holzbretter des Fenster, direkt vor ihr an.
Er war tot.
„Sakuya, das kannst du nicht tun... das kannst du nicht mit mir machen... nicht nach all dem...“ weinend und keuchend ließ sie schließlich von ihm ab. Betrachtete für wenige Augenblicke seine entspannten, wie eingefroren wirkenden Gesichtszüge. Sein Hals war hart, ebenso wie seine Brust und sein Bauch. Neben ihm lag noch immer sein Gewehr, an dessen Schaft reichlich Blut klebte. Seine Handinnenflächen waren ebenfalls voll davon. Sich hilfesuchend um blickend rief Lynn wieder und wieder um Hilfe. Minutenlag geschah nichts. Wer hätte sie auch hören sollen?
Weinend griff sie nach seinem schweren und kalten Arm. Er trug noch immer die schwarze Jacke und das Hemd, welches er getragen hatte als sie Yevon verließen und in die Schlacht gezogen waren. Darunter suchte Lynn vergeblich seinen Schutz. Ihr Messer an seine Rippen gedrückt, legte sie sich zitternd unter seinen Arm, dicht an ihn.
Er konnte nicht sterben. Nicht so. Nicht nach all dem. Stets hatte er sie geschützt, hatte sie aufgenommen, hatte sich ihrer angenommen. Aber nicht dafür. Für einen von vielen Kämpfen. Er hatte nicht alles riskiert, um schließlich an diesem Ort sterben zu müssen. Hatte nicht seine letzten Kräfte mobilisiert, um ihr selbst alles zeigen zu können, um ihr die Wahrheit sagen zu können. Und doch lag Lynn unter seinem kalten Arm, an seiner starren Brust. Weinend, in der Hoffnung, dass es noch ein Wunder geben könnte, welches diese Wendung zu vermeiden gewusst hätte.
Unter Tränen verließen sie ihre Kräfte und Lynn lag dar, inmitten einer Gaststätte, aus der jegliches Leben bereits Jahre vorher, durch die VCO, gewichen war. All das rege Treiben, die Geschichten, die Freundschaften, die Familien, sie waren gegangen.
Verstaubt und von Vulkanasche und Schnee bedeckt lag die Bar inmitten der Gipfel der Schlucht. Der See brandete leise an seinen Ufern an. Mit den Hybriden war auch jegliches Leben an diesem Ort gegangen. Die angeschriebenen Bierdeckel jener Zeit verstaubten neben der Kasse. Der angebrochenen Wein wurde nie wieder geöffnet. Speisen in den Kühlräumen verdarben und ihnen entwich neues Leben und die Chance auf eine Futterquelle.
Gehälter würden nie mehr gezahlt werden. Angestellte waren nur noch Schatten, in einer Welt, die nicht mehr zu existieren schien.
Und dazwischen lagen Lynn und Sakuya, in seinem Blut, welches die Legitimation jegliches Lebens in seinem Körper verneinte. Er war gegangen, noch bevor Lynn etwas hatte sagen können. Noch bevor sie ihm hatte sagen können, was sie für ihn fühlte, was sie dachte, all die Jahre. Wie sie einst gegangen war, so war auch seine Existenz dahin geschieden.
Von ihrem eigenen Tränen erwacht, öffnete Lynn kraftlos die Augen. Sakuyas toter Körper lag noch immer neben ihr. Ob sie nur Minuten oder Stunden weggetreten war, vermochte sie nicht mehr zu sagen. Ohnmächtig des Gefühls der Einsamkeit und Hilflosigkeit hatte sie sich mühevoll aufgerichtet. Ihre Händen suchten halt zwischen Blut und altem Holz. Ein erschrockener Blick zum Boden offerierte ihr jedoch erst, dass das ausgetretene Geomas aus Sakuyas Körper langsam an Leuchtkraft inmitten des Blutes verlor. Für wenige Sekunden verirrten sich Lynns Gedanken zu Hershel. Was hätte er getan? Was hätte er in dieser Situation nicht alles versuchen können, um Sakuyas Geist zurückzuholen, ihn wieder ins Leben zurück zu holen?
Ohne es selbst zur Kenntnis genommen zu haben, war Lynn bereits aufgestanden und zurück in den Gastraum, durch den sie die Bar betreten hatte, geeilt. Hektisch suchte sie nach einem Spitzen Gegenstand. Dass eine Behandlung mit Geomas Unerklärliches vollbringen konnte, hatte sie in den Jahren bei der VCO zu genüge erlebt. Nicht umsonst hatte Negan darauf bestanden, dass das Blut seiner Soldaten mit dem Stoff angereichert werden sollte. Die katastrophalen Auswirkungen, wurden schließlich erst später ersichtlich.
In der Küche der Bar fand Lynn schließlich endlich einige Spritzen im verstaubten Verbandskasten in einem der Schränke für Geschirr. Hastig eilte sie damit in die Kühlräume. Mit einer Schere trennte sie Schläuche von den Bierfässern ab. An einem scheinbar noch nicht angebrochenem Fass fand sie schließlich einen Sauberen, den sie hektisch abschnitt. Anschließend riss sie so fest an dem Stück, welches aus der Wand kam und zur Schrankanlage führen musste, bis sie endlich ein gutes Stück in den Händen hielt.
An Sakuyas Zustand hatte sich nichts geändert, außer dass seine Haut zunehmend fahler und blasser erschien. Das Geomas in seinem Blut, in dem er noch immer lag, hatte beinahe all seine Leuchtkraft verloren.
„Hershel würde es genau so machen... verzeih mir...“ sich die Tränen aus dem Gesicht wischend, zerschnitt Lynn zielstrebig den Ärmel seiner Jacke und schob den Stoff des Hemdes zu seinem Ellbogen hoch.
Unsicher seinen Unterarm betrachtend brauchte Lynn einige Momente um sich zu sammeln. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Niemals hatte sie geglaubt, neben Sakuyas totem Körper zu knien.
Mit zitternden Händen zerlegte Lynn eine der Spritzen. Den Kolben herausgezogen, passte der zylindrische Hohlraum samt Nadel in die Öffnung des abgeschnittenen Bierschlauches. Ebenso mit der anderen Öffnung verfahrend, sah sie sich schließlich verzweifelt um. Würde sie ihm ihr mit Geomas angereichertes Blut verabreichen wollen, müsste sie höher als er selbst liegen. Den Schreibtisch unter dem Fenster zur Kenntnis nehmend, war sie hoch gehastet und schob ihn mühevoll an Sakuya heran. Es gab nur diese Chance, dachte Lynn voller Adrenalin und Verzweiflung. Die Kanüle mit zitternden Händen in seine Vene am Unterarm einführend, begab sie sich schließlich mit dem anderen Ende des Schlauches auf den Tisch. Hastig warf sie ihre Jacke zu Boden und führte die zweite Kanüle in ihren Unterarm ein.
Mit pochendem Herzen, hatte sie sich auf die Seite gedreht und blickte zu Sakuya hinunter, ehe sie das erste Blut bemerkte, welches langsam den Schlauch zu seinem Unterarm hinabrann. Der bläuliche Schimmer des Geomas war noch zu genüge bemerkbar und so legte sie hoffnungsvoll ihren Kopf auf das Holz des Tisches und verfolgte die Transfusion.
„Sakuya... komm zurück... bitte...“
Dass sie bei einem Blutverlust von etwa vierzig Prozent selbst das Bewusstsein verlieren würde, spielte für Lynn keine Rolle mehr. Und auch wenn ihre Wahrnehmung des Vergangenen gespalten war, so war sie sich sicher, dass Sakuya das gleiche für sie getan hätte, koste es, was es wolle. Vielleicht irrte sie sich aber auch. Vielleicht musste sie deshalb so lange in Gefangenschaft ausharren. Weil es Sakuya egal gewesen war. Und doch erinnerte sie sich wieder an das abgelehnte Gesuch, mit einem neuen Team in die Wüste zurückkehren zu können, welches auf dem Schreibtisch in Sakuyas ehemaliger Baracke gelegen hatte.
Die Lichtkegel der durch die maroden Bretter am Fenster, über sie hinweg in Sakuyas Gesicht fiel, hatte sich allmählich verdunkelt. Und wie Lynn noch immer ihr eigenes Blut beobachtete, welches langsam seinen Weg in Sakuyas Körper fand, spürte sie bereits, wie sie die eigenen Kräfte verließen und ihre Augen der Schwere ihrer Lider erlagen.
Seine Füße kraftvoll durch den tiefen Schnee der verschneiten Stadt am Fuße des Vulkans führend, hatte Carver sich immer wieder an den vorüberziehenden Lichtblitzen orientiert. Auch wenn es einem Himmelfahrtskommando glich, so war er sich sicher, dass Lynn nicht einfach verschwunden sein könnte. Weder unter seinen eigenen Händen, noch vor seinen Augen.
Einige Momente hielt er inne und beobachtete die untergehende Sonne, hinter dem schmalen Bergpass, der die erste Sicht auf den Vulkan freigab. Abbrandende Wellen waren abseits des Nebels zu hören.
„LYNN!“ Immer wieder rief er ihren Namen, in der Stillen Hoffnung, dass ihr Verschwinden nicht alles gewesen sein konnte.
Schwermütig, aber dennoch durch das Geomas gestärkt, setzte er schließlich seinen Marsch durch den aufkommenden Nebel fort. Weder die nahende Dunkelheit noch der Nebel scheinen auf seiner Seite stehen zu wollen und so rief er wieder und wieder ihren Namen.
„Hier...“ neinahe überhört durch das quietschen des Schnees unter seinen Stifeeln hatte Carver erneut inne gahlten und horchte in die Dunkelheit.
„LYNN!“ ein erneuter Ruf. Erneute heftige Schläge seines Herzens.
„Ich bin hier...“ rief eine schwache Stimme und Carver bewegte sich augenblicklich in die Richtung der leisen aber flehenden Worte.
Seine Taschenlampe eingeschaltet, leuchtete er hektisch an einigen Hausfassen endlang, ehe er endlich auf einen Körper stieß.
„Carver...“ flüsternd wandte sich die Stimme hoffnungsvoll an seine Erscheinung im dichten Nebel.
Doch all die Hoffnung in Carver zerfiel mit einem Augenblick, indem er endlich das gesicht der Stimme lokalisieren konnte und in die Augen einer alten Frau sah, die bittend ihre Hände zu ihm ausgestreckt hatte.
„Carver...“ sein Erschrecken wahrnehmend begann die Frau zu keuchen und Husten.
Die Augen, in die er soeben geblickt hatte, gehörten in keinem Fall Lynn. Was er sah, war eine sechzigjährige Frau mit tiefschwarzen Haaren, die ihn angefleht hatte. Ihre Kleidung war zerrissen. Der eisige Schnee hatte die Haut an den offenen Stellen zu blutigen Hämatomen gemacht.
Nochmals die Gestalt in dem Lichtkegel seiner Taschenlampe fassungslos musternd erkannte er schließlich, dass er diese Augen bereits zuvor gesehen hatte.
„Yennifer... oh mein Gott...“ stammelnd hatte er die Lampe zu Boden fallen lassen und war zu ihrem eisigen Körper hinab geschnellt.
„Carver, bring mich hier weg...“ keuchte sie kraftlos, seine Vermutung bestätigend.
„Was ist passiert? Wo ist Sakuya? Hast du Lynn gesehen?“ Sie auf seine Arme hievend und dabei krampfhaft die Taschenlampe an sich nehmend, hatte er erschrocken ihren Blick gesucht.
„Ich weiß es nicht... bring mich weg von hier... bring mich zu Hershel, bitte.“
Ohne einen Blick zurück zu wagen, hatte Carver sich mit Yennifer von der Bar entfernt, die unmittelbar an die Tankstelle grenzte, an der er Yennifer gefunden hatte. Er musste sie zurück bringen. Warum auch immer sie so sehr gealtert war und was auch immer diesen Zustand in ihr hervorgerufen hatte. Aber sie brauchte definitiv Hilfe.
„Linnai...“
Die Worte, die Lynn weckten waren in der Realität verhaftet, in der sie noch immer benommen auf dem Schreibtisch im Büro der kleinen Bar lag.
Ihre schweren Lider öffnend, blieb sie stumm und kraftlos auf der Empore des Schreibtische liegen und blickte zu Sakuya hinab, der sie mit blauen Augen ansah.
Keiner der beiden sagte etwas.
Das Blut unter seinem Körper war vollständig verschwunden. Nichts auf dem Boden deutete mehr auf seine schwere Verletzung hin. Weder der blaue Schimmer des Geomas, noch das Blut an seinen Handflächen war noch existent. Hatte es tatsächlich funktioniert? War es möglich, dass Lynn Sakuya mit ihrem Blut voller Geomas zurückzuholen vermocht hatte? Nach allem, was gewesen war? Mehr war nicht mehr von Nöten gewesen?
Müde blinzelnd versuchte sie seine Augen inmitten seiner blassen Haut und den tief schwarzen Haarsträhnen zu erfassen.
„Du warst es, die meinen Geist gestört hat...“ stellte er leise und schwer atmend fest. Noch nie hatte er sie intensiver angesehen.
Stumm und ohne Kraft blieb Lynn regungslos liegen. Allein ihre müden Augen vermochten noch seine Blicke wahrzunehmen. Nein, so hatte er sie noch nie angesehen. Das war neu. Was auch immer er gerade dachte oder fühlte, es war etwas Anderes, als das, was sie einst miteinander verband.
Sich der Müdigkeit ergebend und in der Sicherheit wiegend, dass Sakuya lebte, fielen Lynn schließlich die Augen zu. Zu anstrengend waren all die Jahre gewesen. Zu sehr, hatte Sakuya und all das Vergangene an ihr genagt. Nun war es die Gewissheit, die sie gehen ließ. Die ihren Geist wieder in andere Sphären schickte. Was auch immer folgen würde, sie hatte das einzig Richtige getan. Entgegen Negan, entgegen Shariev. Zum Trotze von Dakon. Was auch immer gewesen war, sie hatte es endlich geschafft. Das Ziel war erreicht. Ihr Leben für Sakuya.
Ihre Kameraden sterben sehend, um etwas kämpfend, was nicht mehr definierbar schien, hatte Lynn stets durchgehalten. An Sakuya gebunden, weil er es war, der ihr einen Sinn gegeben hatte, der ihrem Leben einen Grund verliehen hatte, obgleich alles der reinen Legitimation zum Sterben schien.
Der VCO, Negan war es egal gewesen, ob sie weiter durchgehalten hätte. Sie war nur eine Nummer unter vielen gewesen. Einem Ort entrissen, dem sie sich selbst nicht mehr entsinnen konnte. Voller Schmerz und Ungerechtigkeit. Ohne die geringste Berechtigung leben zu dürfen. Aber mit dem Tag, mit dem die Truppen gekommen waren, war auch dieser klare Blick gekommen. Die blauen Augen die sie angesehen hatten und mit einem Male all das Leid erfasst zu haben schienen. Er hatte sie gepackt, sie an einen anderen Ort gebracht. Von dem Regen in die Traufe. Aber sie war nicht mehr allein gewesen. Von nun an hatte sie an der Seite von jemandem gekämpft. Die Gegebenheiten schienen weiterhin willkürlich. Aber es ergab einen Sinn. Eine Familie, aus Teammitgliedern, die es zu schützen galt. Aber im entscheidenen Moment war sie nicht mehr dazu in der Lage gewesen. Aus reiner Naivität. Aufgrund von Angst, dass alles morgen hätte scheitern können, nur aufgrund einer Unachtsamkeit, weil sie hätte scheitern können und es tat.
Und entgegen jeder Wahrscheinlichkeit, nach Wochen des Leidens, der tiefsten menschlichen Abgründe, hatte er sie wiedergefunden. Obwohl sie alles riskiert hatte.
Sakuya und Lynn blieben über Stunden stumm. Immer wieder glitt sein Blick zu der Kanüle in ihrem Arm. Ihr Blut floss weiter und weiter durch seinen Körper. Kurzzeitig erwachte sie aus der Ohnmacht und blickte starr zu ihm hinunter. Doch das Verlangen in ihrem Blick, blieb ihm dabei nie verborgen.
Seine scheinbare Ignoranz, der Versuch seiner eigenen Distanzierung ihr gegenüber, hatte erst dazu geführt, dass sie beide in dieser Situation anbrandeten.
Wieder und wieder hatte er versucht das Band zwischen ihnen zu kontrollieren, zu erschüttern, wenn es ihm selbst zu nahe gerückt war. Zu gefährlich geworden war, bezüglich Negans Anweisungen, entgegen Hershels Rat. Und doch hatte sich Lynn immer ihm zugehörig, ihm verhaftet gefühlt. So sehr Sakuya auch die Verbindung zu Lynn zu erschüttern vermochte, so sehr schien sie daran festzuhalten. Ohne Rücksicht auf Verluste.
Und seine Resonanz auf das alles mündete schließlich auch nur darin, unterhalb von ihr zu liegen und langsam beobachten zu müssen, wie ihr Blut seinen Körper, seinen Geist davon abhielt zu gehen. Letztendlich zu schwinden. Vielleicht wusste sie um seinen Schmerz, aber sie war immer die gewesen, die für ihn alle Mittel legitimiert hatte.
Abwesend beobachtete er ihre Lider, die unter der Ohnmacht des Blutverlustes zu ersticken schienen.
Ob Tage oder Stunden vergangen waren, vermochte Lynn nicht mehr zu bestimmen.
Ihr gesamter Körper fühlte sich zunächst taub und kalt an. Ihre Gedanken schwirrten innerhalb des leeren Büros umher. Minute um Minute versuchte sie das Leben in ihren Gliedern zurück zu erwecken, durch winzige Bewegungen. Zuerst die Finger- und Zehenspitzen, schließlich Arme und Beine. Wann sie sich jemals so kraftlos gefühlt hatte, kam ihr nur verschwommen in den Sinn, als Bilder ihrer Gefangenschaft in der Wüste langsam ihren Geist überschwemmten. Welch Leid sie dort erfahren hatte. Mit welcher Kälte und Erbarmungslosigkeit man ihr all das angetan hatte. Und doch schienen sich die Ereignisse mit ihren Gefühlen auf der Basis zu decken, die sie einst heimsuchten. Nur, dass ihr bei der VCO noch Sakuya und Hershel geblieben waren. Menschen, die sich um sie gesorgt hatten und vieles um ihretwillen riskiert hatten. Nur der Grund für all das, blieb ihr noch immer verwehrt. Wer war sie, dass man sie nicht hatte sterben lassen? Warum all der Aufwand und die Mühen?
Erneut mischte sich das Bild von Sakuyas zutiefst erschütterten Blick vor ihr inneres Auge. Nie hatte sie ihn so gesehen. Niemals zuvor, hatte er sie mit solch einem Mitleid angeschaut.
„Sakuya...“ seinen Namen leise in die Dunkelheit wispernd hielt Lynn inne und horchte nach seinem Atem.
Ihre Ohren vernahmen keinerlei Geräusche.
War er etwa gestorben?
Sich langsam aufrichtend, nachdem allmählich wieder Blut durch all ihre Glieder pumpte, tastete Lynn die Kanüle in ihrem Arm entlang. Den provisorischen Schlauch nachfühlend hielt sie jedoch rasch das andere Ende in den Händen. Von Sakuya war keine Spur mehr.
Sein Gewehr direkt neben sich liegend, ergriff sie es unsicher und hievte sich schließlich von dem harten Schreibtisch, auf dem sie eine gefühlte Ewigkeit gelegen hatte.
Von einem warmen Licht überrascht, betrat sie schließlich den Gastraum mit der Theke, durch den Lynn Tage zuvor gekommen war. Sakuya saß mit gesenktem Kopf an der Theke. Vor ihm stand eine Falsche Gin.
„Sakuya...“ Seinen Namen erneut leise flüsternd blieb Lynn kraftlos am anderen Ende der Theke stehen und sah gebannt zu ihm, wie er langsam seinen Kopf hob und sie stumm ansah.
Kein Wort kam über seine Lippen. Vielmehr vermochte Lynn stille Trauer in seinem Blick zu erkennen. Wankend steuerte sie auf das Regal hinter dem Tresen, mit dem Whiskey zu. Etwas unbeholfen legte sie das Gewehr auf die Schankfläche unterhalb der geschlossenen Zapfhähne, durch die schon lange Zeit kein Bier mehr geflossen war.
Zitternde Hände ergriffen die gold-braun glänzende Falsche und nahmen ein Glas aus einem der unteren Schränke. Sakuyas Blicke spürte sie bei jeder Bewegung.
Erschöpft und unsicher auf ihren eigenen Beinen, ließ sie sich schließlich neben Sakuya auf einen Barhocker fallen.
Minutenlang sagte keiner von ihnen auch nur einen Ton. Mit zitternden Händen hatte sich Lynn den Whiskey eingegossen, während Sakuya seine Zigarette an einer der Kerzen angezündet hatte, die neben ihm brannten und den gesamten Gastraum in ein goldenes, spärliches Licht tauchten.
Nachdem Lynn den ersten Schluck genommen hatte, drehte sie sich zur Seite, um Sakuya ansehen zu können. Seine Aufmerksamkeit war geradewegs bei ihr, so viel konnte sie einschätzen. Und trotzdem trennten sie Worte und Sätze. Etwas flirrte in der kalten Luft der Bar, zwischen ihnen, was Lynn nicht mehr einordnen konnte. Seine Blicke galten ihr, er war nicht gedankenversunken, und dennoch trennten sie Worte, Sätze, Aneinanderreihungen des Unsagbaren.
„Es tut mir leid.“
Schließlich war es Sakuya, der nach einer Ewigkeit die Stille durchbrochen hatte. Die Whiskeyflasche hatte Lynn bereits zur Hälfte gelehrt. Sakuya nahm derweil den letzten Schluck des Jin.
Wie Lynn nun reagieren sollte, fiel ihr nicht mehr ein. Stattdessen saß sie mit benebelt und fragendem Blick vor ihm. Voller Unruhe wanderten ihre Augen zunächst über seine Lider und hafteten schließlich bei seinen Lippen.
Was tat ihm leid?
Dass er die ganze Zeit gewusst hatte, was ihr widerfahren war?
Dass er sie nicht sofort aus der Gefangenschaft der S-Hudan befreien hatte können?
Dass er sie wieder und wieder mit Ausreden, mit halben Wahrheiten vertröstet hatte?
Dass er sie zur VCO gebracht hatte?
Dass er zugesehen hatte, als man sie gequält, vergewaltigt und misshandelt hatte?
Wut stieg in Lynn auf. Und mit aller Kraft versuchte sie diese Wut beiseite zu schieben.
„Du lebst, das ist Hauptsache, oder nicht?“ wendete schließlich ihre leisen Worte an Sakuya, während ihr Blick versuchte die Farbe des Whiskey zu ergründen.
Ein raues aber ernüchterndes Stöhnen ging von Sakuya aus, der nachdenklich an seiner Zigarette zog, während sein Blick in der Dunkelheit strandete, die hinter Lynn lag.
„Du hättest mich nicht so sehr demütigen müssen...“ Leise klangen Lynns Worte in Sakuyas Kopf nach.
„Ich habe Dich gedemütigt?“ harkte er schließlich entschlossen nach und Lynn spürte prompt seinen kalten Blick.
„Du warst doch da? Oder etwa nicht? Du hast es alles mit angesehen...“ das erste mal sah Lynn Sakuya direkt an. Und sofort erkannte er die Zerrissenheit in ihren Augen.
„Ich war nicht dabei. Ich habe es Dir gesagt, Linnai. Es war deine Erinnerung. Ich war nie da. Ich kam zu spät.“ selten hatte sie ihn so aufgebracht erlebt, wie in diesem Augenblick. Das Blau seiner Augen hatte sich nicht verändert, aber seine markanten Gesichtszüge waren zu reinem Unverständnis gewandelt. Vielleicht lag es nur an der Tatsache, dass er sich vor ihr rechtfertigen sollte. Aber es schien wesentlich mehr dahinter zu stecken, musste sie schnell einesehen.
„Hör auf damit. Ich war es nicht, Lynn. Ich war nicht der, der all das mit dir tat.“ selten hatte sie Sakuya so aufgebracht erlebt wie in diesem Augenblick. Aber er hatte sie angesehen, während man sie vergewaltigt und genommen hatte. Und nur Tage davor, war er es gewesen, dem sie sich hingeben hatte. Aus einer Sehnsucht, die bereits ihr Leben lang dagewesen war. So lange sie der VCO gedient hatte, solange Sakuya dagewesen war.
„Sag mir nicht, du hättest mich nicht angesehen! Du hättest nicht gesehen, was man mit mir tat!“ voller Wut war Lynn aufgestanden und hatte ihr Messer gezückt.
„Lass es sein Linnai. Ich bin nicht der, dem dein Hass gilt. Ich habe nur versucht, dich zu beschützen.“ erwiderte Sakuya und zog erneut an seiner Zigarette, während er sie angespannt beobachtete. Er wusste, zu was sie imstande war. Zu was er sie selbst gemacht hatte, unter den Anweisungen von Negan.
„Aber es war dir noch gerade recht, vor dem Einsatz mit mir zu schlafen?“ Lynns letzte Worte hatte sie kaum zu beenden vermocht, da spürte sie bereits Sakuyas Kraft, die sich gegen sie aufwendete. Mit voller Wucht hatte er sie zurückgedrängt und war mit ihr an einer Wand zu stehen gekommen.
„Du hast also keine Ahnung mehr?“ fragte er ruhig und blies ihr den letzten Qualm seiner Zigarette ins Gesicht, woraufhin sie hustend und zitternd den Kopf schüttelte.
„Du warst es, die in der Nacht vor dem Angriff zu mir kam. Du standest plötzlich da, betrunken und nackt. Was hätte ich also deiner Meinung nach tun sollen, als dich zu packen, einer Eskalation entgegen zu wirken und dich ins Bad zu sperren? Sag es mir Lynn, was hätte ich tun sollen?“ seine lauten Worte waren wieder einem leiseren Ton gewichen, als er bemerkte, wie Lynn versuchte ihren Kopf in Sicherheit zu bringen, indem sie sich vor ihm kleinmachte. Dass er solch eine Wirkung auf sie hatte, hatte er selten wahrgenommen und so ging er einen Schritt zurück und ließ von ihr ab.
„Ich habe gar nichts mit dir gemacht. Der einzige Fehler in unserem Handgemenge war es, dass ich das Zeichen auf deiner Schulter berührt hatte. Externes Geomas ist unberechenbar, aber das hatte Hershel uns wieder und wieder gesagt. Es war unvermeidlich. Und dass danach der Angriff der S-Hudan erfolgte, war ein reines Himmelfahrtskommando ihrerseits. Keiner von uns hatte Schuld daran. Die Anweisungen von Negan hatten keinen von uns auf so etwas vorbereitet“
Momente voller Schweigen verbrachte Lynn damit sich wieder aufzurichten und Sakuyas Worte zu wiederholen. Er hatte nicht mit ihr geschlafen. Das, was sie in ihren Erinnerungen gesehen hatte, hatte somit niemals stattgefunden. Und allmählich zweifelte sich ebenso daran, dass er bei den Vergewaltigungen allgegenwärtig gewesen war. Der Mann, der gerade vor ihr stand und fassungslos zu ihr hinabsah, war immer da gewesen. Er hatte sie instrumentalisiert, hatte sie belogen, aber er hatte sie nie ins offene Messer rennen lassen, ganz im Gegenteil.
„Du warst nie da...“ realisierte Lynn allmählich das Geschehene. Die Schatten, die sie von ihm während ihrer Gefangenschaft gesehen hatte, war nichts als eine Illusion gewesen. Nichts als die Legitimation ihres Geistes für die grausamen Ereignisse die ihr in Gefangenschaft widerfahren waren. Sakuya war nie dort gewesen. Nur, als er sie endlich befreien konnte, mit den Männern eines neuen Teams. Wie es geschrieben stand, in den Akten, die sie auf seinem Schreibtisch gesehen hatte.
„Du hast mir all das gezeigt, Sakuya... warum?“ mit leeren und tränen gefüllten Augen zu ihm aufblickend heilt sie schließlich inne. Und Sakuya ging an ihr vorüber, hinter die Theke und ergriff eine weitere Flasche, deren Inhalt obsolet geworden war.
Langsam ein Glas eingießend schaute er schließlich zu ihr auf:
„Die Zeit ist gekommen. Ein maßloser Kampf wird die Welten in den letzten Krieg stürzen. Und es war an der Zeit, dass du endlich erfährst, was geschehen ist.“
Das Gesagte noch nicht realisierend, hatte sich Lynn gegenüber von Sakuya, auf ihren ursprünglichen Platz begeben. Mit zitternden Händen die Flasche Gin leerend suchte ihr Blick schließlich wieder seinen.
„Was kam nach Tschad Na Ham?“ leise klangen ihr Worte in der Dunkelheit und Stille der Bar nach. Beobachtend wie Sakuyas sich eine weitere Zigarette anzündete, glitt Lynns Blick zu den vernagelten Fenstern. Ihr Körper konnte die fallende Asche und den immerwährenden Schneefall spüren.
„Vertraust du mir noch immer?“ fragte Sakuya schließlich und machte einen Schritt auf das Thekenblatt, näher an Lynn heran. Nickend sah sie zu ihm auf. Darin lag kein Zweifel. Dafür über wiegten die Ereignisse zwischen ihnen und das Vertrauen seit je her, zu sehr.
„Ich zeige es Dir.“ Ohne, dass sie darauf hätte antworten können, gruben sich seine Finger in ihre Handoberflächen und bedeckten sie vollständig. Wankend und voller Schmerz kapitulierte Lynn vor dem aufkommenden gleißend weißen Licht, welches wie ein Erdbeben ihren gesamten Geist erschütterte.
>>„Hershel, besorg sofort einen unbrauchbaren SND!“ schrie Sakuya in sein Mobiltelefon, während er den Transporter der VCO mitsamt seiner Kameraden und Lynns Leiche durch die ersten Zulassschranken des Militärgeländes manövrierte.
„Hast du Sie gefunden, Sakuya?“ ertönte Hershels aufgeregte Stimme am anderen Ende.
„Mach einen SND bereit, uns bleibt nicht viel Zeit!“ brüllte Sakuya weiter. Raunen der übrigen Männer im hinteren Teil des Wagens war zu hören. So hatten sie ihren Teamleiter der letzten Monate noch nie erlebt. Ihre Blicke glitten zu dem blutigen Haufen, der aufgebahrt im hinteren Teil des Transporters lag.
„Du musst STOMA bereit machen und es mit einem Geomas-Zugang ergänzen. Und füll den Tank im Labor mit 89 prozentiger Lösung.“ Die letzten Worte hatte Sakuya immer leiser gesprochen. Hershels ausbleibende Antwort bestätigte seinen Verdacht, dass etwas schreckliches mit Lynn geschehen sein musste.
„Sakuya... ist sie tot?“ kaum hörbar hatte Hershel stockend diese Frage gestellt. Den Anruf stumm beendend hielt Sakuya den Transporter schließlich an einer weiteren Einlassschranke und zeigte sein Legitimationsdokumente einem jungen Burschen, der aus seinem Wachhäuschen zu ihm geeilt war.
Während Lynn die Szenerie stets neben ihrem toten Körper stehend beobachtete, hatte sie Mühe den hektischen Abläufen folgen zu können.
Schließlich sah sie Hershel, der weinend auf ihrem Körper zusammenbrach und Sakuya, der stumm sein Labor verließ.
„Linnai...“ ihren Namen fassungslos flüsternd verblieb Hershel einige Minuten der Lähmung auf ihrem zugedeckten Körper. Erst nachdem Sakuya zurückgekommen war und sich nur stumm auf einen der Stühle niederließ, fasste Hershel wieder die Kraft mit seinen medizinischen Prozeduren zu beginnen.
„Sie wird nicht mehr die Gleiche sein, das ist die klar?“ Es war keine Frage, aber das schien Sakuya zu wissen und verblieb weiterhin stumm in einer der Ecken.
Blut des Massakers in Tschad Na Ham zierte sein Gesicht und die gesamte Uniform.
„Lebt noch einer dieser Männer?“ fragte Hershel fassungslos, während er das erste mal das Tuch, welches Lynns Körper bedeckt hatte, langsam entfernte. Er sah auf die Schnittwunden, auf Hämatome an ihrem gesamten Leib. Blaue Flecken, entzündete Verletzungen, Madenbefall an etlichen Körperöffnungen.
Völlig schockiert wandte sich Hershel schließlich von ihrem Leib ab und vergrub für einige Momente sein altes Gesicht in den Händen. Zu entsetzlich war das, was er erblickt hatte.
Man hatte sie auf jede erdenkliche Art und Weise gefoltert. Vergewaltigt und verstümmelt. Lynns gesamter Körper glich einem einzigen Schlachtfeld aus Blut, Dreck und Ungeziefer.
„Niemand von ihnen lebt mehr.“ Sakuya war aufgestanden und zu Hershels Operationsutensilien hinüber gegangen, die in einer Edelstahlwanne lagen.
„Mein Gott...“ Noch immer rieb Hershel sein faltiges Gesicht in seinen alten Händen, als wäre all das ein böser Alptraum. Als gäbe es ein Erwachen, bei dem sich die Zeit wieder zurückdrehen ließe.
„Weiß Negun bereits von deiner Rückkehr?“ fragte der alte Mann schließlich und wandte sich endlich wieder um, um Sakuya ansehen zu können.
Er schüttelte stumm den Kopf und reichte Hershel schließlich einen kleinen grau-schwarzen Chip, der nicht größer als eine SD-Karte war.
„Wenn Negan herausfindet, dass man ihr den Chip raus geschnitten hat, wird er sich fragen, was damit nicht in Ordnung gewesen sein musste, dass er darüber keine Warnmeldung erhalten hat. Sie braucht einen Neuen, nur vorübergehend.“ Nickend trat Hershel auf Sakuya zu und nahm den Chip in seine zitternden Hände. Nochmals blickte er kurz fassungslos zu ihrem geschundenen Körper, aber was er sah, ließ ihn erneut vor der Grausamkeit kapitulieren.
„Hast du sie erschossen, Sakuya?“ In Hershels Worten steckte keinerlei Anklage ihm gegenüber, das spürte Sakuya sofort. Kopfschüttelnd wandte er sich ab. Zu sehr fraß der Gedanke daran, dass die Situation so grausam gewesen sein musste, dass sie sich selbst erschossen hatte, ihn innerlich auf. Lynn war die stärkste junge Frau, die er jemals kennen gelernt hatte. Keine andere Rekrutin hatte jemals solch eine hohe Toleranzgrenze gegenüber körperlichen, aber auch emotionalem Schmerz gezeigt. Und doch mussten die Vergangenen Monate die absolute Hölle gewesen sein. Entfernt von jeder Menschlichkeit. Entgegen jedem Nutzen, der solch etwas hätte rechtfertigen können. Das einzige was Sakuya darin fand, war die Zurichtung durch absolute Psychopathen, denen kein Leben der Welt etwas hätte wert sein können. Es war mit Worten nicht mehr auszudrücken, was man ihr angetan hatte. Und das alles für nichts. Für rein gar nichts.
„Hershel, wenn das hier vorüber ist, dann werde ich zusammen mit ihr gehen...“
Ungläubig hielt der alte Mann in seinen Bewegungen inne und legte sein Skalpell beiseite, mit dem er gerade begonnen hatte, die vereiterte Wunde in Lynns Nacken zu öffnen.
Für wenige Sekunden hielt er inne und starrte ins nichts, ehe er wieder aufsah, direkt in Sakuyas Gesicht: „Ich weiß... und ich werde euch von hier wegbringen. Endgültig.“
Der Blick der beiden Männer, über Lynns totem Leib hinweg besiegelt in diesem Augenblick ein Versprechen, welches nicht entscheidender hätte sein können.
Schließlich begannen sie gemeinsam, den Eingriff durchzuführen und einen kaputten Chip an Lynns Stammhirn zu verpflanzen.
Mehrere Stunden hatten die Männer sich schweigen gegenüber gestanden. Sakuya hatte Hershel in bester Weise assistiert und immer wieder nach Lynns Hand gegriffen um wieder und wieder feststellen zu müssen, das keinerlei Leben mehr in ihren Gliedern zu finden war.
Nachdem Hershel die Wunde mit einem Lasergerät so verschlossen hatte, dass man lediglich noch darauf schließen konnte, dass jemand versucht haben musste den SND zu entfernen, dabei jedoch scheiterte, atmete er tief durch und blickte auf seine Uhr.
„Ich weiß, Hershel.“ entgegnete ihm Sakuya nur knapp und trat von Lynns Leib weg.
„Du musst zu Negan. Lenk ihn mit einer ausgiebigen Berichterstattung so lange wie möglich ab. Wenn er hier runter kommt, sind wir alle verloren...“ erklärte Hershel voller Adrenalin. Aber er sah seinem Freund bereits an, dass er genau das auch tun würde, indem Sakuya sich nickend von ihm abwandte.
„Da wäre nur noch eine Kleinigkeit... ich brauche dein Einverständnis, um auf das Higgs-Boson zugreifen zu können...“ Im Begriff zu gehen, war Sakuya stehen geblieben und drehte sich mit einem stummen Appell nochmal zu Hershel um.
„Es gibt keine andere Möglichkeit... ich muss auf dein Gen-Material zurückgreifen... nur so kann die Regeneration mit dem Geomas voranschreiten... du bist der Einzige, der es in sich trägt...“
„Hershel, sie wird dann zu einem Teil von mir. Verstehst du, was das bedeuten würde?“ Nickend wusch Hershel seine blutigen Hände in einer kleinen Wanne voller Sterilium. Keineswegs verkannte er, woran Sakuya appellierte.
„Ich weiß es, Junge. Aber du willst, dass sie lebt...“ Ohne ein weiteres Wort trennten sich die Wege der beiden schließlich wortlos. Lynns Schicksal war besiegelt. Sie würde wieder leben, auch wenn das bedeutete, dass danach nichts mehr wie zuvor sein würde.
-27- Repeat Again
Die Regenwolken hingen schwer in der Vollmondnacht über dem dunklen Himmel Tokios, als sich Lynn schließlich in mitten der menschenleeren Straßen, auf dem nassen Asphalt wiederfand.
Kalter Asphalt, der ihren Körper umgab, der Geschmack von Blut in ihrem Mund, das brennen von Verletzungen, die ihren Körper zeichneten und dieser eine Gedanken >> ...was ist geschehen...?<< <<
Benommen hatte Lynn ihren Kopf vom verstaubten Holz des Tresens gehoben und blickte geradewegs in Sakuyas wache Augen, mit denen er sie, an einer Zigarette ziehend, beobachtet hatte.
„Es fehlt etwas...“ stotterte sie kraftlos und führte das Glas vor ihr, zitternd an ihre Lippen.
„Was fehlt, ist der Abgrund in den ich dich geschickt habe.“ sagte Sakuya leise. Seine raue Stimme bescherte ihr eine sofortige Gänsehaut und wieder blicke sie ihn an.
„Was hast du getan...?“ flüsternd fielen ihr die Augen zu, während das Glas in ihren Händen kleine Wellen schlug.
„Ich kann es dir nicht mehr zeigen. Dafür reichen meine Kräfte nicht mehr aus.“ leise Luft holend hatte Sakuya wieder seinen Platz auf einem der Barhocker eingenommen. Die Kerzen an seiner Seite waren beinahe bis auf den Stumpf hinunter gebrannt. Und noch immer spürte Lynn die allgegenwärtige Kälte des Schnees, der vor der Türe unentwegt fallen musste und das Bergdorf zusammen mit der Vulkanasche in ein Niemandsland verwandelte.
Den Rauch von Sakuyas Zigarette beobachtend starrte Lynn in die Dunkelheit, abseits von Sakuya.
„Dakon ist Hershels Sohn, das wissen wir beide. Keiner von ihnen, wollte Kontakt zum anderen. Aber Hershel hatte alles daran gesetzt, seinen Vater davon überzeugen zu können, welch Potenzial wir für die UEF bringen würden.“ Sakuya atmete schwermütig auf und nachdem er einige Zeit in die Dunkelheit geblickt hatte, suchte sein Blick wieder den von Lynn, die ihm kraftlos und erschöpft gegenüber saß. Für einige Augenblicke verloren sich seine Augen in der Sinnlichkeit ihrer Erscheinung.
Er war ihr diese Antworten schuldig. Das wusste er bereits zu lange. Es war seine Schuld gewesen, dass man sie gefangen genommen hatte. Hätte er in ihrer Unterbringung anders auf Lynns Konfrontation reagiert, wäre es vielleicht niemals so weit gekommen. Aber er hatte Schlimmeres vermeiden wollen und versehentlich das externe Geomas an ihrer Schulter berührt, woraufhin sie bewusstlos geworden war. Entgegen der Sehnsucht, die er wieder und wieder ihr gegenüber empfunden hatte, hatte er sich in jener Nacht dazu entscheiden, das Richtige zu tun. Er hatte sie abgewiesen, so schmerzlich es war, aber so vernünftig es angesichts des bevorstehenden Manövers erschien. Nur seine Unachtsamkeit, während eines kurzen Kampfes zwischen ihnen beiden, war schließlich für einen Augenblick maßgeblich gewesen. Und das Leid hatte seinen Lauf genommen. Auf die Gesuche an Negan hin, wieder ausrücken zu können, sie befreien zu können, stieß er mal um mal auf Ablehnung. Vielleicht weil Negan die Kraft und Relevanz von Lynn verkannt hatte, da die neueren Forschungen an den Hybriden mehr Früchte zu tragen schienen. Willenlose Maschinen erscheinen ihm wohl weitaus nützlicher, als beinahe unsterbliche Menschen.
Und doch hatte Sakuya Lynn letztendlich befreien können und musste mitansehen, wie jegliche Verbindung, jede Hoffnung so zerstört worden war, dass sie keinen anderen Ausweg als ihren eigenen Tod gesehen hatte.
Der Schmerz, den Sakuya empfunden hatte, als er vor ihrem blutig gefoltertem Leib in der Zelle stand, mit offenem Schädel und seiner Waffe neben ihr liegend, schnürte ihm noch immer die Kehle zu. Er hatte viel Leid mitansehen müssen. Hatte im Auftrag von Negan so viele Menschen töten und erbarmungslos massakrieren müssen, aber solch eine sinnlose Hölle, hatte er nur das eine mal gesehen.
Und es hatte ihm das Herz gebrochen. Es hatte jegliche Hoffnung auf das Gute in ihm restlos zerstört. Vorherrschend war nur noch der einzige Wunsch, dass Lynn leben möge.
Das Leben, welches er ihr genommen hatte, dadurch, dass er sie aus der Wüste geholt und zur VCO gebracht hatte. Obwohl seine Reise eine andere hätte sein sollen. Was sein eigentliches Ziel gewesen war, lag unter einem schwarzen Schleier aus Fragen und undefinierbaren Fragmenten. Aber er sah dieses Kind und sie veränderte für immer sein Leben.
Sein Blick glitt zu keinem Kind mehr, sondern zu einer jungen Frau, die ihn wartend und mit im Kerzenschein glitzernden grünen Augen anblickte. Braune Haarsträhnen klebten an ihrem makellosen aber verschwitztem Gesicht. Den Geomas-Entzug konnte er ihr deutlich ansehen. Aber sie hatte ihm ihr Blut gegeben. Den Teil von ihm selbst, der ihr einmal das Leben gerettet hatte.
„Ich habe dich erschossen.“ Wie ein Blitz durchtrafen seine rauen Worte die Stille der Bar. Aber sofort nahm er Lynns fassungslosen Blick wahr.
„Hershel versicherte seinem Sohn, als Zeichen seiner Liebe zu ihm, dass er ihm zwei Waffen schicken würde, mit denen die UEF den Kampf gegen die VCO gewinnen könnte. Dakon, der seit dem Verschwinden seines Vaters nur noch seine Mutter und sich selbst hatte, sah darin seine Chance, die Organisation zu schlagen, die für das Leid in seiner Welt und dem Verlust seines Vaters verantwortlich gewesen war. Und er sagte zu.“ Sich einen weiteren Schluck eingießend, entzündete Sakuya schließlich eine weitere Kerze, die neben ihm auf der Theke der alten Bar gelegen hatte und steckte sie in den flüssigen Wachs der Ausgegangenen.
„Hershel und ich waren plötzlich mit einer unberechenbaren Frau konfrontiert.
Du.
Es war mir bereits klar gewesen, als ich deinen toten Leib in sein Labor getragen hatte. Die Verletzungen deines Selbstmords waren zu tiefgreifend. Das Trauma würde wiederkehren. Und das tat es, nachdem Hershel den Übergang nach Elaìs organisiert hatte.
Lynn, wir verschwanden. In einer Nacht- und Nebelaktion, die später Hershels Folter durch Negan begünstigen würde. Wieder und wieder hatte man ihn verhört. Negan ist kein Idiot. Er wusste, dass Hershel etwas damit zu tun haben musste, dass zwei seiner wichtigsten „Waffen“ einfach von der Basis verschwunden waren. Aber Hershel stand zu seinem Wort. Zu sehr nagte sein Gewissen, noch bis heute an ihm. Zu sehr würde er alles ungeschehen machen wollen. Seiner Familie zuliebe, uns zuliebe. Glaub mir, wenn ich dir sage, dass er sehr wohl weiß, was er uns in all den Jahren mit seinen medizinischen Prozeduren Tests und Optimierungen angetan hat. Auf seinen Schulter ruht eine Schuld, die niemals obsolet werden kann.
Und doch tat er alles, um uns von dort wegzubringen.“
Lynns vermeintlich wachsamer Blick galt noch immer Sakuya, der wenige Meter entfernt vor ihr saß und ihr all das darlegte, was sie seit zwei Jahren nicht hatte schlafen lassen. Die Schleier über ihrem Gedächtnis lüfteten sich allmählich. Und doch war es mehr als schmerzhaft.
Mit einer verlangenden Geste hatte sie auf Sakuyas Glas verwiesen und er schob es ihr hinüber, um anschließend direkt aus der Flasche zu trinken.
„Erzähl mir den Rest, Sakuya...“ forderte sie ihn leise auf und suchte wartend seinen kühlen Blick.
„Ein Motelzimmer. Eine Liste voller Aufträge der UEF. Und dazwischen Du und Ich.
Ich habe genügend gesehen, miterlebt und erfahren, um mich bei solchen Einsätzen an die Vorgaben halten zu können. Aber die Situation mit Dir, spitze sich zu.
Du warst nicht mehr dieselbe. Zu sagen, du wärst stets an der Schwelle des Todes gewandert, wäre noch untertrieben... .
Die Ereignisse nagten an dir. Weder dein Körper, noch deine Erinnerungen konnten das zuletzt Geschehene vergessen werden lassen.
Einmal kam ich mitten in der Nacht von einer Befreiungsaktion, die Dakon veranlasst hatte. Du standest mit einem Messer direkt hinter der Türe. Die Narbe bleibt bis heute an meiner Brust.
Ein anderes mal hattest du versucht dich mit einem Handtuch im Badezimmer zu erhängen. Die Messer und Gabeln hatte ich schon aus dem Motel geschafft.
Was zuletzt blieb, war nur noch der erbärmliche Versuch, dich an die Heizung zu ketten. Nach zwei Tagen hattest du sie schließlich aus der Wand gerissen.... .“
Erneut holte Sakuya tief Luft. Bei seinen letzten emotionslosen Sätzen hatte er Lynn nicht mehr angesehen.
„Wieder und wieder hattest du mich gebeten, dich zu töten. Unter weinen und schreien und tiefster Verzweiflung. Ich konnte es einfach nicht.
Bei meinem letzten Einsatz, bei dem Dakon beinahe ums Leben gekommen wäre, fasste ich schließlich den Entschluss, Kontakt zu Hershel aufzunehmen. Ich wusste, dass es sein Tod bedeuten könnte, aber ich hatte keine andere Option mehr. Er erklärte mir über zwei Nächte hinaus, die Anatomie des menschlichen Gehirns. Es gab die Möglichkeit, dir einen Kopfschuss zu verpassen, der dein Langzeit Gedächtnis auslöschen würde. Nichts von alle dem, was Geschehen war, würde mehr überbleiben. Du würdest die Chance auf ein neues Leben bekommen. Ohne die abgründige Erinnerungen, deiner Folter und der Zeit bei der VCO.
Ich setzte mich mit einem ehemaligen Freund von Hershel in Tokio in Verbindung. Er versicherte mir, dich in seine Obhut zu nehmen. Er würde dir die medizinische Versorgung bieten können, um dich vollständig zu rehabilitieren. Für Dakon warst du ohnehin von keinem Wert mehr. Dafür hatte ich dich zu sehr aus der ganzen Sache der UEF ferngehalten. Irgendwann ließ ich ihn glauben, du seist bei einem Einsatz aus dem Motel geflohen. Für ihn spielte es keine Rolle mehr.
Nach drei Tagen waren schließlich alle Maßnahmen getroffen.
Ich schoss dir eine Kugel in den Kopf, ließ dich von einem Informanten der UEF nach Tokio bringen und begann mich nur noch auf Dakon, die UEF und Valvar zu konzentrieren.
Du warst gestorben.
Noch einmal.
Und alles was nach diesem Zeitpunkt geschehen würde, oblag nicht mehr meinem Eingreifen. Du warst endlich frei, Lynn.“
-28- Restart the Program
Ihren Geist dem Alkohol und dem verlorenen Geomas überlassend, blickte Lynn mit verlangsamten Liderschlägen auf, in Sakuyas Gesicht. In die Unberechenbarkeit seiner Präsenz. In sein mitgenommenes und dennoch markloses Gesicht. Dieser Mann verkörperte all die Kraft und Schönheit, die Lynn in ihrem Leben gesehen hatte. Seine blauen Augen zeugten von einem Meer aus Emotionen, aber seine kontrollierten Gesichtszüge ließen in keinster Weise auf seine emotionale Lage schließen. Er saß vor ihr und alles was sie sah, war ein Teamleiter, ein Krieger. Einen Mann, dem es zu gehorchen galt und dessen Entscheidungen man nicht hinterfragte. Trotz seiner Präsenz, die gesamte Räume für sich vereinnahmte, trotz seiner Erscheinung, die Gespräche verstummen ließ. Nur ein Wort seinerseits und die Dinge nahmen ihren Lauf. Und noch immer konnte sich Lynn nicht erklären, warum von diesem Mann eine solch bedrohliche Macht ausging. Eine Manipulation in solch einer Größe, dass sie selbst Umstehende vereinnahmte. Nur ein Wort von ihm, und die Zeit schien sich rückwärts zu drehen. Nichts ergab mehr einen Sinn. Und selbst die logischsten Naturgesetze schienen sich zurückzuziehen und ihm einen Handlungsspielraum zu erlassen, dem er sich mehr als bewusst gegenüber war.
Yennifer hatte er manipuliert. Er hatte sie in einen seichten Traum gepackt, der gespickt von der Vorstellung von Freiheit, oder Glück, oder was auch immer gewesen war. Aber er hatte sie scheinbar mit nur wenigen Worten und spärlichen Berührungen dazu gebracht, sich selbst und ihre Ziele völlig zu verdrängen. So etwas war nicht möglich. Es unterlag in keinster Weise mehr den Gegebenheiten, die Lynn beigebracht worden waren. Jede Gesetzmäßigkeit wurde durch ihn eliminiert. Und doch war er es, der sich Dakon beigeordnet hatte. Von einer Unterordnung zu sprechen, wäre zu viel gewesen. Sakuya hatte sich niemals jemandem untergeordnet. Selbst Negan gegenüber, schien sein scheinbarer Gehorsam gepaart mit all der Verachtung gewesen zu sein, die er für den Herrscher Valvars empfunden hatte. Und doch schien Dakon und ihn etwas Unausgesprochenes zu verbinden, weshalb er an seiner Seite verblieb. Bis heute.
Sakuya hatte sie selbst also retten wollen. Er hatte Lynns Gedächtnis gelöscht, mit der Annahme, dass sie ein normales Leben hätte führen können. Begleitet von der Lüge, dass dies seine letzte Schuld hätte begleichen können. Wut brandete in Lynn an. Das war es nicht. Das war es noch lange nicht. All das, was dazwischen geschehen war, in ruhigen Momenten, in kurzen Augenblicken, zwischen ihnen, das war es, war sie letztendlich in die völlige Selbstaufgabe geworfen hatte. Es war die Illusion einer Gebundenheit gewesen. Der Wunsch nach Austausch und Obhut und nicht zuletzt die Frage nach Liebe zwischen ihnen beiden, die Lynn niemals hatte völlig aus ihrem Gedächtnis verbannen können.
Der Mann, der da gerade eben vor ihr saß, an seiner Zigarette zog und sie ansah, ohne auch nur eine seiner geringsten Gefühlsregungen preiszugeben, war nicht irgendwer. Er war es, der sie gefunden und an sich gebunden hatte. Zu dem sie aufgesehen hatte, wie zu einem Vater, einem Lehrer, einem Seelenverwandten, einem Bruder und Freund. Immer hatte er sie verstanden und wenn er es nur in kurzen, beiläufigen Sequenzen preisgab, hatte es Lynn doch immer gereicht, ihn zu einem Menschen zu degradieren, für den sie gestorben wäre. Eben wie vor einigen Stunden. Ihr wäre es egal gewesen, wäre sie nicht mehr erwacht und das, obwohl sie sich noch in der fälschlichen Annahme befunden hatte, dass er die Gräueltaten der Männer in der Wüste mitangesehen hatte, sie sogar ein Stück genossen hatte. Aber er war niemals an diesem Ort gewesen, das begriff Lynn schließlich. Und so sehr sie sich noch wankend gegenüber von ihm an der Theke wiederfand, so sehr schrie alles in ihr danach, ihm ihre Gefühle entgegen werfen zu wollen. Aber das hatte sie bereits getan. In jener Nacht, vor dem Angriff der S-Hudan in der Wüste. Und er hatte sie daraufhin gepackt und sie ins Badezimmer gesperrt, damit die Situation nicht eskalierte. Wen also, hatte Sakuya in diesem Augenblick schützen wollen? Sich selbst, oder doch Lynn, die sich in Gefühlen verrannt hatte, die er niemals erwidern würde? Die lediglich die logische Konsequenz aus Einsamkeit, Schmerz und Sinnlosigkeit hervorgebracht hatten?
„Warum?“ das Wort nur leise aussprechend hatte Lynn ihn dabei nicht angesehen, obwohl die Frage allein seinem Handeln galt. Sofort spürte sie Sakuyas aufmerksamen Blick.
„Warum … erfahre ich all DAS ERST JETZT...?“ Die letzten Worte hatte sie aus vollem Leibe geschrien.
Ihre Wut anerkennend hatte Sakuya sich aufgerichtet und sah ernst zu Lynn hinüber. Es war nicht mehr auszublenden, dass die Situation in einem Handgemenge oder Kampf ausarten könnte. Aber dem war er sich bereits zuvor bewusst gewesen. Die wunderschöne Kriegerin, die er in einer unaussprechlichen Sinnlichkeit hatte vor sich sitzen sehen, hatte einmal mehr zu viele Schmerzen durchleben und erfahren müssen, zu was die menschlichen Abgründe einen befähigen konnten. Seit jeher, war sie stets weit entfernt davon gewesen, ein unschuldiges Kind, geschweige denn ein purer Ausdruck von Leidenschaft und Begehren zu sein. In ihr schlummerte eine Kraft, die es nicht herauszufordern galt, wäre sie in einer anderen Verfassung. Immer wieder hatte Sakuya das bereits in ihren Tagen auf der Basis erkennen müssen. Sei es, als ihr andere Rekruten zu nahe gekommen war, oder sie all die Ungerechtigkeit durch Negan zu spüren bekam.
„Weil du sonst nicht bei der UEF geblieben wärst.“ lautetet Sakuyas knappe Antwort die, die Wut in Lynn nur noch mehr befeuerte.
„Von Anfang an hättest Du mir all das sagen können!“ brüllte Lynn über die Theke hinweg.
„Aber dann würden wir hier nicht sitzen.“ erwiderte Sakuya ruhig zurück und nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche.
„Willst du mich auf den Arm nehmen?“ derweil war Lynn aufgestanden und hatte sich so nah zu Sakuya begeben, dass er ihr Herz pochen spürte.
„Die Dinge geschehen, wie sie geschehen sollen.“ erwiderte er ruhig und wehrte prompt einen erwarteten Schlag seitens Lynn ab.
Blitzschnell hatte er sich von dem Barhocker begeben und packte sie beim Hals:
„Hör auf damit, Linnai.“ forderte er sie die Fassung bewahrend auf. Aber sie stieß ihm zügig ihren Ellbogen in die Seite und versuchte ihn anschließend mit einem weiteren verzweifelten Schlag auf das Rückrad in die
Knie zu zwingen.
„Lynn!“ erneut rief er ihren Namen und hielt ihren Hieben und Tritten stand, ehe er die Gelegenheit dazu bekam, sie beim Knie zu packen, ihr das Standbein zu entziehen und sie somit auf den Boden zu befördern.
Mit aller Kraft hatte sie ihn zu sich niedergerissen. Atemlos erstickten ihre Bewegungen unter der Masse seines Gewichts.
Stirn an Stirn sah Sakuya zu ihr hinab, geradewegs in ihre grün schimmernden Augen, in denen ein Ausdruck absoluten Hasses und der Trauer lag.
„Ich habe zwei geladenen Waffen an meinem Bund.“ sagte er ruhig zu ihr, während er den Geruch ihres Körpers einsog.
„Und ich habe ein Messer“ entgegnete sie ihm schwer atmend.
„Lass es gut sein... .“
„Du hast mich die ganze Zeit über belogen...“
„Ich habe dich nicht belogen, Lynn. Ich habe versucht dich zu schützen und alles in meiner Macht stehende dafür getan.“ seine tiefe Stimme grub sich tief unter ihre Haut.
„Und wofür? Dafür, dass wir jetzt hier sind? Dafür, dass wir beide beinahe gestorben wären, für die Ziele zweier Männer, zweier Seiten und Welten, für die unser Leben keinerlei Bedeutung hat?“ heftig atmend und nach ihrem Messer greifend, sah Lynn noch immer in Sakuyas nichtssagendes Gesicht. Seine Mimik verriet nicht das geringste darüber, was er in diesem Augenblick fühlte oder dachte. Entgegen dem Wunsch, mit dem Messer augenblicklich seinen Körper ausweiden zu müssen, erstickte ihre Wut für einige Sekunden unter seinem vertrauten Geruch und der Wärme seines Körpers. Ihre Gefühlsregungen wahrnehmend, schwieg Sakuya einige Augenblicke, in denen er ihrem Körper, unter seinen Gliedern nachfühlte.
„Wir sind ihnen nicht egal. Mit uns wird dieser Kampf scheitern oder gelingen. Du und ich, wird sind die Zero-Projekte von Negan. Und wir sind das Ass im Ärmel von Dakon. Das weiß sowohl er, als auch der Rest der UEF. Was glaubst du, warum Dakon dir die ganzen Aufträge so schmackhaft gemacht hatte und nie ganz mit der Sprache herauskam? Obwohl ich dagegen war, dich in die UEF aufzunehmen?“ Blitzschnell hatte Sakuyas Hand nach Lynns Handgelenk gegriffen und ihre Hand mit samt dem Messer darin, neben ihrem Kopf fixiert.
„Und trotzdem sind wir Beide hier!“ rang Lynn nach Luft.
„Und genau das, soll auch so sein. Wenn wir zurück nach Nagoya kommen, wird nichts mehr sein wie zuvor. In Valvar und Elaìs eskaliert die Situation zwischen der VCO und der Sektorpolizei.“ Mit einem Hieb hatte sich Sakuya von Lynn gelöst und war aufgestanden. Die Nähe zu ihr tat ihr ihm ganz und gar nicht gut. Zu sehr vereinnahmte alles an ihr seinen Körper.
„Woher willst du das wissen?“ hustete Lynn leise und blieb benommen am Boden liegen.
„Weil ich es gesehen habe. Auch wenn Dakon glaubt, er wäre der siegreiche Protestkämpfer für den Frieden, sieht er nicht das Ganze. Das kann er aber auch nicht, weil er nicht die geringste Ahnung hat, was sich in den Abgründen der VCO noch so alles abspielt.“
„Was hatte Yennifer mit all dem zu tun?“ hustend hatte sich Lynn aufgerichtet und taumelte zur Theke, um sich daran festhalten zu können. Ihren unsicheren Gang berechnend, hatte Sakuya sie jedoch mit einem Arm davon abgehalten, sich erneut auf dem Boden wiederzufinden. Auf seine blutverschmierte Hand blickend, die an ihrer Hüfte ruhte, löste sich Lynn schließlich wieder langsam von ihm.
„Yennifer ist eine der ersten Hybridinnen, die die VCO geschaffen hatte. Sie ist weit mehr, als nur eine einfache Soldatin. Und deshalb war auch ihr Überleben so wichtig. Wäre es nach Dakon gegangen, lägen ihre zerschossenen Überreste nun in Yevon, oder wäre seine Aktion, Yennifer ausliefern zu wollen geglückt, hätten wir jetzt eine weitaus größeres Problem, als tausende Hybriden, deren einziger Schwachpunkt in ihren elektronischen Komponenten liegt.“
Sakuyas Worten kaum noch folgen könnend, spürte Lynn bereits das staubige Holz der Theke an ihrer Wange.
„Du willst sie nicht...“ Lynns kaum mehr hörbare Frage war Sakuya nicht entgangen, aber er sah mit Besorgnis Lynns schlechten körperlichen Zustand.
„Was ich will und was nicht, spielt in diesem letzten Durcheinander keine Rolle mehr.“ beantwortete er leise ihre Frage und umfasste behutsam ihren kraftlosen Körper.
Noch ehe ihr Geist in andere Sphären abdriftete, spürte sie Sakuyas vertraute Wärme erneut. Stumm legte er sie auf eine der Bänke des beinahe dunklen Gastraumes und bedeckte sie mit seiner Jacke.
In einem besorgniserregendem Dämmerzustand erwachend, fand sich Lynn geradewegs unter Sakuyas wachsamen Blick vor.
An der Theke sitzend betrachtete er sie stumm. Die Ritzen der vernagelten Fenster ließen nicht die Annahme zu, es hätte Tag sein sein können. Keinerlei Lichtkegel fiel in die kleine Bar hinein. Nur das warme Kerzenlicht, gegenüber von Sakuya erhellten den Raum, der unter dem dunklen Holz und den Schneemassen zu ächzen schien.
„Warum?“ leise wimmernd hatte sie ihre Frage erneut an Sakuya gerichtet, der ihr jedoch nur wortlos und stumm gegenüber saß.
Seichter Nebel von erloschenen Zigaretten erfüllte den wenig beleuchteten Schankraum. Es roch nach Alkohol.
Schwermütig hatte sich Lynn aufgerichtete und blickte benommen in Sakuyas blaue und distanzierte Augen.
„Warum hast du es nicht getan? In jener Nacht... in Tschad Na Ham... mit Mir?“ Lynns letzte Worte klangen weniger wie eine Frage, als mehr nach einem stillen Gebet.
Seinen wachsamen Blick nicht von ihr ablassend, war Sakuya aufgestanden und trat schließlich mit schweren Schritten an die Bank heran, auf der sie lag und ihn mit großen und tränenerfüllten Augen anblickte
Seine Hand fuhr eigenartig behutsam über ihre Hüfte, bis hin zu ihrem Arm und den Pulsadern, in denen er noch den Einstich der Kanüle, die ihm das Leben gerettet hatte erkennen konnte.
Von seiner Berührung mehr als irritiert hatte sich Lynn aufgerichtet und stand langsam auf. Ihm gegenüber stehend, blieben ihr beinahe die Worte im Halse stecken.
„Es gibt Vor- und Nachteile, wenn jemand nicht sprechen kann...“ bemerkte Sakuya rau, und ergriff Lynns Schulter, während er weiterhin zu ihr hinab sah, in ein Meer aus Emotionen und Fragen, die sich in ihren grünen Augen widerzuspiegeln schienen.
Und wieder war sie bis an ihre Grenzen gegangen, nur für ihn. Hatte ihm das letzte gegeben was sie noch am Leben erhalten hatte. Ihr Geomas, Ihr Leben, für das seine.
Und nun stand sie direkt vor ihm, das erste mal, mit all den Fragen und sah ihn voller Ohnmacht bittend an. Was auch immer sie die ganze Zeit gesucht hatte, auch auf der Basis, dieses mal schien seine Antwort mehr als bedeutend für sie zu sein.
Sanft strich seine Hand über ihre Schulter, bis hin zu ihrem Schlüsselbein. Die zarte Kontur ihres kraftlosen Körpers nachfühlend, sog er den blutigen Geruch ein, der von ihr Ausging.
Lynns Herz schlug schneller, das spürte Sakuya augenblicklich. Und es schlug ihr beinahe bis zum Halse. Ihren rasenden Puls ignorierend hatte er sich zu ihr hinabgebeugt. Dicht an die verschwitzen Haarsträhnen, die ihr übers Ohr lagen:
„Sieh dir an, wo wir heute sind...“ raunte er leise und Lynn überkam prompt eine Gänsehaut. Die Hand, die über ihr Schlüsselbein fuhr, der massige Körper, der sich näher an sie heranwagte, ließen das pure Grauen in ihr erwachen. Der leichte Druck seiner Handfläche ließ sie beinahe darunter ersticken. Seine Augen schienen ihr Innerstes zu durchdringen. Die Hitze seiner Hände, mit denen er sie hielt, schien sich in ihr Fleisch zu brennen.
Wie von Blitzschlägen getroffen, durchzuckten Sakuyas Worte schließlich ihren gesamten Körper.
„Meine Vollkommenheit ist all das, wonach du dich je gesehnt hast...“ wieder hatte Sakuya flüsternd seine Worte an sie gewandt. Direkt und leise. Nur war niemals sie damit gemeint gewesen.
Ihren Körper nicht mehr kontrollieren könnend, ergab sich Lynn voll und ganz in Sakuyas Hände.
Eine die sie hielt, die andere ruhte mit leichtem Druck noch immer über ihrer Brust. Mit jeder Fingerbewegung Sakuyas spürte ihn Lynn mehr und mehr.
„Du willst nur zu mir gehören... nur zu jenem Teil, der all dem Leid einen Sinn gibt...“ heisern atmend nahm Sakuya Lynns zunehmende Machtlosigkeit wahr. Ihr Geist war ganz bei ihm und ihr Körper tat es ihrem Geist gleich. Wie in einen Bann gezogen, spürte er schon bald Lynns ganze Nähe. Wie sie sich an seinen Körper schmiegte und jeder Atemzug sie dazu zwang, näher an ihn rücken zu wollen. Zu oft hatte er genau das schon mit anderen getan.
Müde Augen sahen ihn voller Begehren an, während ihre sinnlichen Lippen tonlos zu flüstern schienen.
Stumm war sie zu einem Teil seines Geistes geworden. Eine Figur voller Emotionen, Ängsten und Begierden. Was auch immer er ihr in diesem Augenblick hätte abverlangen wollen, sie hätte es getan, wie all die vor ihr. Es gab keine Barriere zwischen ihnen, die es zu überwinden galt, die ihm auch nur die kleinste Anstrengung gekostet hätte.
Aber Lynns Körper war ebenso beseelt wie seiner, mit dem Higgs-Bosom, welches er ihr hatte zuteil werden lassen. Zwei Körper; zwei Seelen, die dazu in der Lage waren, die Naturgesetze außer Kraft zu setzten. Und doch belebt mit dem Gottes-Teilchen, dessen Macht und Möglichkeiten der Forschung ein Rätsel blieben.
Sakuyas Blick glitt über tote Augen, die sich irgendwo in seiner Seele verloren hatten und flohen, vor der Gefahr der Situation. Mit Yennifer war Sakuya ebenso verfahren. Die richtigen Berührungen, die Hand seines Geistes, die in den ihren Eindrang. Worte die sie daran glauben ließen, dass er der Schlüssel zu allem ist. Die Erfüllung nach Anhörung, Zugehörigkeit. Der Wunsch nach Liebe und Fürsorge. Der eine Sinn, der stets zu fehlen schien. Und die eine Antwort auf alles, was Geschehen war.
Zu oft hatte er die Menschen um sich herum manipulieren müssen. Für fremde Zwecke. Für Ziele, die nicht die seine waren. Stumm, unauffällig und beiläufig.
Nur bei Lynn, hatte er sich dazu nie imstande gefühlt. Zu sehr hatte er ihr Dasein, ihre Persönlichkeit, ihre Fehler und ihre aufrichtige Art genossen. Und doch war sie Fluch und Segen zugleich für ihn. Sie zog ihn in einen Sog, dem er nur schwer entkam. So sehr sie ihn vereinnahmte, so sehr stieß sie ihn auch ab.
Der Wunsch sie zu einem Teil von sich werden zu lassen wich wieder und wieder der Schuld und Verantwortung mit der er sich konfrontiert sah. Und nachdem fast eineinhalb Jahre vergangen waren, stand sie plötzlich wieder vor ihm. Sie war zurück gekommen, weil es nötig gewesen war. Weil die Dinge nur so hatten laufen können. Weil nur so, der letzte Kampf stattfinden könnte.
In ihrem Geist wandelnd und etliche Bilder sehend ließ Sakuya schließlich von ihr ab.
„Siehst du, was ich meine... Linnai?“ Wie ein Aufschrei durchfuhr es plötzlich ihre Glieder und Lynn fand sich heftig atmend in Sakuyas Händen wieder. Mit ihrer Hand nach seiner greifend, richtete sie sich langsam unter seinem beobachtendem Blick wieder auf, ehe sie auf eigen Beinen stehen konnte. Unsicher darüber, ob sie in seinen Augen Verlangen oder Begehren sehen konnte, trat sie unsicher einige Schritte zurück, während er weiterhin abwartend zu ihr hinab blickte.
„Was hast du da gerade eben mit mir gemacht...“ flüsterte sie voller blankem Entsetzen.
„Das, was ich auch mit Yennifer getan habe.“ erwiderte er ihr kühl. Kopfschüttelnd trat Lynn noch weitere Schritte zurück in die Dunkelheit.
„Wie oft hast du das schon mit mir getan?“ sich gerade dem Ausmaß bewusst werdend, spürte Lynn die Wand hinter sich und blieb erschrocken stehen.
„Nicht einmal.“ erwiderte Sakuya kühl und betrachtete sie im seichten Kerzenschein der Bar.
„Wäre ich mit Yennifer nicht so verfahren, wären die Dinge nicht so geschehen-“
„Was wäre nicht so geschehen?“ Aus Unverständnis und Entsetzten war wieder Zorn geworden.
„Du wirst es sehen. Wenn wir zurück sind. Und du wirst es sehen, wenn es vorbei ist.“
Kopfschüttelnd hatte sich Lynn abgewandt und verließ unsicheren Schrittes den Schankraum. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und ihr Puls raste. Die blutigen Bilder, denen sie in Sakuyas Geist begegnet war, hatten ihr beinahe den Verstand geraubt. Auf den Toiletten übergab sie sich schließlich ins Waschbecken. Es war unmöglich, dass Yennifer solch einen Zugang zu seinem Geist gehabt hatte. Er hatte ausgerechnet ihr selbst, all diese Bilder gezeigt. Nur für wenige Sekunden, aber es reichte um ihr das Ausmaß seiner Kräfte zu offenbaren. Vielleicht war seine Erscheinung die, die an etwas menschliches erinnerte. Aber das, was sich in ihm verbarg, vermochte nichts mehr von all dem zu entsprechen.
Wartend trank Sakuya den letzten Schluck der Falsche. Was kommen würde wusste er. Und was er zu verhindern hatte, konnte er ebenso einschätzen, wie auch das auszusparen, was den Lauf hätte ändern können. Nur Wände trennten ihn von der jungen Frau, die beinahe alles ins wanken gebracht hatte. Die der Schlüssel war.
Das heftige Atmen ihres müden und langsam sterbenden Körpers konnte er durch die Wände hindurch hören. Selbst wenn die Bar geöffnet und voller lärmender Menschen, die das Leben feiern gewesen wäre, hätte er sie hören und spüren können. Ihn trennte nichts von ihr, außer die Zukunft. Und doch war es an der Zeit, eine letzte Zigarette zu rauchen, ehe es enden würde. Ehe Dakon die Bar erreicht hätte und alles seinen Lauf nehmen würde. Ehe er sie wieder verlieren würde.
Schwer atmend nahm Sakuya den letzten Zug seiner Zigarette.
Ihre Schicksale wurden vor langer Zeit besiegelt. Und er hatte alles in seiner Macht stehende getan, um den Ausgang noch ändern zu können.
Schwermütig stand Sakuya auf und begab sich zu den Toiletten.
Einen Körper der mehr einer Leiche glich umfangend, hatte er sich zu Lynn hinabgebeugt. Zwischen Blut und Tränen, die sich an den Venen seines Unterarms ineinander verliefen, würde er warten. Warten bis Dakon kam, warten bis alles seinen Lauf nehmen würde.
Selbst er konnte an dem Kommenden nichts ändern. Und es nahm ihm beinahe die Luft zum atmen.
-29- Last Sacrifices / Genesis vs. L.V.
Der helle Lichtkegel einer Taschenlampe hatte Lynn aus einem eisigen Schlaf erwachen lassen. Das Murmeln etlicher Stimmen war längst verstummt, als sie benommen die Augen öffnen konnte und in ein von Müdigkeit und Schlafmangel geprägtes Gesicht blicken konnte. Dieses Gesicht war ihr nicht fremd, aber das gleißend helle Licht in ihren Augen, zwang sie zu einem benommenen Blinzeln.
Elliots besorgte Augen musterten sie einen Moment lang, ehe er mit einem leisen Klicken die Taschenlampe wieder ausschaltete.
„Du lebst also...“ stellte er monoton aber dennoch erleichtert fest.
„Wo bin ich...“ fragte Lynn schwach und war im Begriff sich aufzurichten. Man hatte sie auf einer medizinischen Liege platziert. An ihrem Arm entdecke sie eine Kanüle, die sie mit Geomas zu versorgen schien. Langsam kam ihr wieder ins Gedächtnis, dass sie zuletzt mit Sakuya gesprochen hatte. Aber die gesamte Szenerie wirkte nur fragmentarisch und verschwommen vor ihrem inneren Auge. War sie nicht zuletzt in dem Bergdorf in Efrafar gewesen? Oder hatte sie das etwa alles nur geträumt?
Ein Gewirr aus Erinnerungen übermannte sie augenblicklich.
„In Nagoya.“ erwiderte Elliot leise.
„Wie bin ich hierher gekommen?“ Ihre trockenen Lippen weiter formen wollend, unterbrach Hershels Stimme weitere Gedanken.
„Herrgott, du bist wieder da...!“ ertönte seine gewohnte aber in die Jahre gekommene Stimme. Elliot die Taschenlampe abnehmend, begann Hershel damit, die Kanüle aus Lynns Unterarm zu entfernen. Und mit alter Gewohnheit sah Lynn ihm nur stumm dabei zu. Ohne genau begreifen zu können, wo sie überhaupt war und wie sie dorthin gekommen war. In ihrem Kopf drehte sich alles. Dumpfe Schmerzen in ihrem gesamten Leib lähmten sie beinahe vollständig.
Erst wenige Minuten später realisierte sie langsam, dass sie tatsächlich in Hershels Labor an der Universität sein musste. Der Geruch von frisch Gebackenem lag dezent in der Luft und mischte sich mit dem strengen Geruch einiger Anästhetika. Hershel hatte zwei Lampen eingeschaltet, die endlich Licht in die dunkle Ecke des Labors brachten, in der man Lynn platziert hatte.
„Was ist geschehen?“ Auf ihre klare Frage wartend und sie beobachtend, hatte Hershel schließlich nur beruhigt gelächelt:
„Nachdem Carver Yennifer in dem Bergdorf gefunden hatte, berichtete sie uns davon, dass Sakuya sie gerettet hatte. Es lag somit auf der Hand, wo wir ihn und schließlich auch dich finden würden.“ erklärte Hershel, während er Lynn ein Glas Wasser reichte.
„Es stand nicht gut um dich. Der enorme Geomasverlust hatte dir selbst die Kraft zum atmen geraubt. Hätte Dakon dich nicht gefunden, wäre alles vermutlich wesentlich schlimmer ausgegangen... .“
„Sakuya...“ mit schmerzendem Hals hatte Lynn seinen Namen nur gehaucht.
„Ihr ward beide dem Tode nahe. Aber es geht ihm gut. Dank deiner Transfusion.“ erwiderte Hershel mit einigen Sorgenfalten im Gesicht. Nachdem Lynn zitternd einen Schluck Wasser getrunken hatte, stellte Hershel das Glas zurück auf einen seiner Tische.
„Elliot, gibst du uns einen Moment?“ Bat er schließlich und Elliot stand wortlos auf und verließ prompt das Labor.
„Er saß die ganze Zeit bei dir...“ schmunzelte Hershel und sah ihm noch einen Augenblick lang nach, ehe er sich versichert hatte, dass Elliot wirklich gegangen war.
„Ich nehme an, Sakuya hat es dir gezeigt...?“ begann Hershel schließlich schwermütig ein Gespräch, vor dem es ihm graute. Unsicher fuhr er mit seinen Händen über die teigverklebte Backschürze.
Stumm nickte Lynn und wandte ihren Blick von Hershel ab, um zur Decke zu sehen und in ihrer Erinnerung zu suchen.
„Was du getan hast, Linnai, ist in diesem Leben nicht mehr aufzuwiegen. Das weißt sowohl du, als auch ich. Wärst du nicht gewesen, wäre Sakuya vermutlich den Verletzungen erlegen.“ erklärte der alte Mann aufgelöst.
Kopfschüttelnd und noch immer zitternd rutschte Lynn zur Kante des provisorischen Krankenbettes. Ihr Kopf dröhnte nach wie vor.
„Hör auf, das abtun zu wollen.“ erwiderte Hershel unnachgiebig. Leise hustend hatte sich Lynn auf ihre Füße begeben, um feststellen zu müssen, dass sie noch immer ihre Sachen trug. Dieses mal hatte sie niemand ausgezogen. Dreck und Blut zierten die Jeans, die an mehreren Stellen zerrissen war.
„Tschad Na Ham.... wär er nicht gewesen... wärst du nicht gewesen... .“ Lynns Augen füllten sich mit Tränen. Zu sehr übermannte sie das Erinnerte.
„Was habt ihr nicht alles getan... was hast du nicht alles mitansehen müssen...“ Die Ereignisse der Vergangenheit erschraken Lynn mit einem Male und sie brach völlig in sich zusammen.
Unter Hershels einfühlsamen Händen, fand sie schließlich Trost und übergab sich ihm weinend, wie einem längst vergessenem Vater.
„Linnai, so sehr hätte ich mir gewünscht, dass euch das alles niemals widerfahren wäre...“ Vereinzelte Tränen gruben sich in die tiefen Falten, die Hershels Augen rahmten.
„Ich habe geglaubt, ich würde euch das Leben schenken, euch zu etwas Besserem machen...“ mit glucksenden Lauten erstickte seine Stimme unter den Tränen. Lynns zitternden Körper haltend, kniete er mit ihr auf dem Boden. Ihre Tränen hatten bereits sein Hemd durchdrungen.
„Könnte ich all das rückgängig machen... ich würde es tun! Ich würde es sofort tun!“ schluchzte er in ihre braunen, blutverklebten Haare hinein.
„Du hast doch alles getan...“ entgegnete sie ihm weinenden zurück und griff zitternd nach seiner alten, warmen Hand.
„Als Sakuya dich zurückbrachte, gab es nichts mehr, was ich hätte tun können... du warst tot Linnai... du warst einfach gestorben... gestorben durch Menschen, die nur einen Nutzen in dir sahen... gestorben durch mich, durch Negan...“ Hershels Tränen nahmen kein Ende. Und mit jedem seiner Worte begriff Lynn mehr und mehr die Schuld, die auf Hershels Schultern lastete. Eine Schuld die er begangen hatte, weil er seine Familie, seinen Sohn und seine Frau schützen wollte. Eine Schuld, die mit dem Ideal, Krankheiten heilen zu wollen, ihren bitteren Lauf genommen hatte und in zwei Menschen mündete, die das Unaussprechliche erlebt hatten. Deren Seelen von Blut und Gier nur so trieften, deren Seelen durch Kampf und Tod malträtiert worden waren.
„Hershel...“ gluckste Lynn heiser an seiner Schulter.
„Ich habe Sakuya erklärt, wie er dich am besten töten können würde, damit du all das vergessen würdest....“ erwiderte er aufgelöst und sich an Lynns dürren Körper klammernd.
Sie weinte und vergrub noch weiter ihr Gesicht an seiner Schulter.
„Ich habe versagt, weil ich nur an mich gedacht habe...“ stotterte Lynn und erinnerte die letzte Nacht in Tschad Na Ham, als sie voller Begierde nackt vor Sakuya gestanden hatte.
„Niemand würde dir einen Vorwurf daraus machen... du hast dich nach Liebe gesehnt, nach Anerkennung... du bist ein Mensch Linnai... aber wir wollten dich zu etwas anderem machen...“
„Ihr hattet die Befehle... ich hätte nur gehorchen müssen...“
Der Schwall der Tränen nahm keinen Abbruch. Keiner der beiden wollte sich lösen.
All die Gräueltaten zu benennen und das Unsagbare zu formulieren, schien in diesem Moment in Hershels Labor wichtiger denn je zu sein.
Im späten Morgengrauen saßen Hershel und Lynn schließlich an einem seiner Arbeitstische. Nur wenige Bisse hatte Lynn von Hershels Apfelkuchen herunter bekommen. Ihr Hals brannte bei jedem Schlucken wie Feuer und das Sprechen fiel ihr aufgrund des fehlenden Geomas noch immer schwer. Nur langsam regenerierte sich ihr Organismus, mithilfe einer neuen Infusion, die Hershel ihr verabreicht hatte und dessen blaue Zirkulation sie wieder und wieder fasziniert in der Kanüle ihres Unterarms beobachtete. Die Amseln des frühen Morgens waren bereits verstummt. Nur durch die kleinen Kellerfenster konnte Lynn den Sonnenaufgang erahnen.
Hershel hatte ihr davon berichtet, wie Dakon zusammen mit Sakuya und ihr zurück ins Bergdorf gekommen war. Ein schwerer Schneesturm hatte den Übergang beinahe zu einem Himmelfahrtskommando gemacht. Dank Elliot war es Rin jedoch gelungen, die Technologie für den Weltenwechsel so zu modifizieren, dass das Magnetfeld der Synchronisationswellen stabilisiert werden konnte. Einzig Elliot hatte sich anfänglich geweigert, Efrafar zu verlassen. Scheinbar hatte er etwas von einem „noch nicht beendeten Hack“ gefaselt. Angesichts eines Befehls von Sakuya, war er schließlich mit ihnen gereist.
Lynn, die die ganze Zeit über nicht mehr ansprechbar gewesen war, nachdem Sakuya sie den gesamten Weg zurück zum Dorf getragen hatte, machte den Übergang nicht leichter. Da Hershel jedoch immer wieder versucht hatte, Elliot zu versichern, dass Lynns Organismus nicht mit dem eines normalen Menschen vergleichbar sei, sah dieser schließlich ein, dass ein Weltenwechsel unumgänglich war.
Vor zwei Tagen waren sie schließlich in Tokio angekommen und anschließend zurück nach Nagoya gekehrt. Kenny und der verbleibende Rest seiner Männer waren zurück na Yad Wa Shem gekehrt. Carver war in Nagoya geblieben und hatte Kenny versichert, dass er nachkommen würde, sobald es Lynn und Yennifer besser ginge.
Wo Dakon geblieben war, konnte sich Hershel allerdings nicht erklären. Direkt nach ihrer Ankunft hatte sein Handy ununterbrochen geklingelt. Ebenso war Sakuya wie vom Erdboden verschluckt. Einzig Serah und Rin, ließen sich neben Elliot, der Tag und Nacht an Lynns Seite gesessen hatte, immer wieder einmal blicken, um ihren Gesundheitszustand zu erfragen. Aber auch Carver war mehrmals gekommen.
„Yennifer lebt also...“ stellte Lynn mit einem müden Lächeln fest und drückte dabei Hershels Hand. Schon seit einiger Zeit saßen sie so an dem Tisch. Teilweise schweigend.
Immer wieder sah Lynn Hershels prüfenden Blick. Erwartete er etwa, dass ihre Erinnerungen an die Geschehnisse in Tschad Na Ham erneut ihre Wirkung zeigen würden?
„Sie lebt, aber ich bin mir nicht Sicher, ob sie wieder zu der werden kann, die sie einmal war... .“ stotterte Hershel schließlich langsam und unsicher.
„Was soll das heißen?“ fragte Lynn unsicher und musterte das zögerliche Gesicht des alten Mannes.
„Yennifers vorzeitiger Vergreisungsprozess wurde durch die Einnahme von Geomas verhindert... du erinnerst dich sicherlich noch daran, dass sie erst wenige Jahre alt ist?“ stumm bestätigte Lynn seine unsichere Frage.
„Nachdem Sakuya ihr den SND abgenommen hatte, musste ich mit dieser Methode arbeiten. Die Forschungen in Valvar sind längst weitaus fortgeschrittener. Aber nur durch das Geomas sah ich die Chance, der Regulation der pluripotenten Zellen, und damit der Verhinderung des Alterns, einen Riegel vorzuschieben. Da Sakuya und Yennifer jedoch so lange verschwunden waren, ging auch das Geomas zur Neige. Was uns bleibt ist eine gealterte Frau, von etwa vierzig Jahren... ich bin mir nicht sicher, ob ich diesen Vorgang wieder rückgängig machen kann...“ erklärte Hershel plötzlich wieder in einem äußerst wachen Zustand. Er lebte seine Wissenschaft und er liebte die Möglichkeiten und Wunder, die sich ihm durch sie boten. Das musste Lynn abermals feststellen.
„Das heißt, Yennifer ist zu einer alten Frau geworden? Was ist, wenn sie erneut die Geomas-Therapie erhält? Würde es den Zustand nicht rückgängig machen können?“ fragte Lynn leise hustend und blickte Hershel besorgt an. Eine eindeutige Antwort ablehnend, wankte der Doktor mit dem Kopf hin und her.
„Es ist einen Versuch wert. Wenn wir ihr zentrales Nervensystem jedoch mit zu viel Geomas fluten, kann es passieren, dass sie kollabiert und ihre synthetischen Organe durch einen Schock versagen. Es gäbe eine Möglichkeit... aber ich bin mir nicht sicher, ob Sakuya diese Möglichkeit ein weiteres Mal zulassen würde...“ stockend ließ er Lynns Hand los und grub in der Tasche seiner Backschürze nach seiner Pfeife.
„Was meinst du Hershel?“ soeben waren Lynns Sinne augenblicklich wieder geschärft. Ihr war nicht entgangen, was Sakuya ihr in ihrer Erinnerung gezeigt hatte, als ihr toter Körper aus der Wüste zurück kam. Hershel hatte Sakuya nach einem Higgs-Boson gefragt. Meinte er etwa das?
„Hershel, sag mir, was es mit dem Higgs-Boson auf sich hat...“ bat sie ihn leise. Vor Schreck seine Pfeife fallen lassend, holte Hershel bei dem Versuch, sie wieder vom Boden aufzuheben mehrmals tief Luft.
„Es von Grund auf zu erklären, würde Woche füllen... also will ich es dir möglichst einfach machen...“ erklärte Hershel schließlich schwermütig und stand Luft holend vom Tisch auf, um eine seiner Tafel heranzuschieben. Einige Minuten verstrichen, in denen er hektisch nach einem Stück Kreide suchte.
„Stell dir vor, wir sind auf einem Empfang, der VCO.“
Verwundert beobachtete Lynn, wie Hershel einige Kreise auf eine Tafel zeichnete.
„Diese Kreise beschreiben die hiesigen Politiker, die an solch einem Empfang in der Regel beteiligt sind.“ Einen weiteren Kreis einzeichnend, drehte sich Hershel schließlich blitzartig wieder um:
„Und dies hier, ist Negan. Er kommt herein, und seine Vertreter scharen sich um ihn. Denn jeder von ihnen, will mit ihm sprechen. Er kommt dementsprechend nur langsam voran und steht dabei für die Protonen.“ Mit einem Minuszeichen den letzten Kreis ergänzend, ging Hershel schließlich dazu über, einen weiteren Kreis einzuzeichnen.
„Dies hier, ist einer seiner Widersacher. Die Anwesenden reagieren nicht auf ihn. Zu groß ist die Angst vor Negans Restriktionen. Er steht für ein Photon und kommt ungehindert durch die Masse.“
Erneut zeichnete Hershel einen Kreis in das Tafelbild.
„Und nun, sehen wir den Kellner. Er steuert verschiedene Leute an, mit Snacks und Getränken... vielleicht auch mit köstlichem Gebäck...“ Kurz schien Hershel den Faden verloren zu haben und an einem neuen Rezept zu tüfteln, während er Stichpunkte auf einem Zettel notierte. Lynn folgte seinen hektischen Bewegungen erschöpft.
„Wie dem auch sei, der Kellner hingegen ist wie ein Elektron. Er bewegt sich eingeschränkt und verlangsamt. Wichtig ist es, zu wissen, dass weder der Kellner, noch Negan, auf dem Flur zuvor eine Masse besaßen. Diese wurde ihnen erst, mehr oder weniger, zuteil, nachdem sie den Raum betraten und durch die Besucher aufgehalten wurden. Stell dir die Besucher somit als Higgs-Feld vor. Die Teilchen bekommen erst eine Masse, durch die Aufmerksamkeit der Besucher. Verstehst du was ich meine?“
Schwach nickte Lynn.
„Das Problem der neueren Forschung ist jedoch, dass dies zwar die Masse der unterschiedlichen Teilchen erklärt, aber in keinster Weise den Hintergrund, warum sie sich verhalten wie sie es tun. Es kommt also ein Teilchen ins Spiel, ursprünglich angenommen auch gelenkt von dem Feld der Besucher, welches sich völlig entgegen dem verhält, was die anderen Teilchen als Charakteristikum beschreibt. Es ignoriert die Anwesenden. Es ist wie ein Geist in der Masse. Es taucht auf und verschwindet, aber tatsächlich verschwindet es niemals, sondern springt nur, ungehindert der Anwesenden, zwischen ihnen hin und her. Würden wir dieses Teilchen wie einen Flummi beschreiben, der kurzzeitig verschwindet und an völlig anderer Stelle wieder auftaucht, hätten wir das Rätsel gelöst, aber so einfach ist es nicht.“ Mit leicht geöffnetem Mund, beobachtete Lynn, wie Hershel mit aller Kraft einen Flummi auf den Boden knallte, den er kurz zuvor aus einer Schublade hervorgekramt hatte und der kurz darauf seinen Weg durch das gesamte Labor antrat.
„Die Stelle, an dem dieses Teilchen auftaucht und erneut verschwindet, lässt sich nicht bestimmen. Und noch weniger lässt sich bestimmen, mit welchen Parametern und Eigenschaften es reagiert und sich organisiert. Es scheint losgelöst von jeder Verhältnismäßigkeit, von jeder Regelmäßigkeit und von jeglicher Kategorisierung.“ Ein lauter Knall ließ Lynn und Hershel zusammenzucken, nachdem der Flummi eine Lampe getroffen und zerstört hatte.
„Nichts für ungut... aber die Wissenschaft steht bis heute vor der Frage, woher dieses Teilchen kommen mag, wie es nachweisbar wird und wie genau es sich verhält.“ Sich unsicher umblickend wo der Flummi gerade sein Unwesen trieb, hielt Hershel schützend seine Hände über dem Kopf.
„Aber was hat Sakuya damit zu tun?“ richtete Lynn ihre leise Frage an den verunsicherten Hershel.
„Sein Körper hat dieses Boson... . Und niemals konnte ich mir erklären, woher es kam und was genau es in ihm tat. Die einzige Erkenntnis, die ich in meiner Zeit bei der VCO über ihn erlangte war es-“ Hershel brach den Satz ab, nachdem der Flummi geradewegs an seiner Schläfe vorbei schnellte und Lynn ihn schließlich mit einer zügigen Bewegung in der Hand hielt.
„Sprich weiter...“ bat ihn sie ihn und legte den Flummi lautlos auf den Tisch.
„dass ich feststellen musste, dass das Boson, auf unerklärliche Weise, Toti- und pluripotente Zellen an sich band. Wo auch immer es in seinem Körper auftauchte, oder verschwand, Wunden, Krankheiten, Fehlabläufe wurden hinfällig... aber vor allem die Organisation der Teilchen, seines gesamten Körpers, wurde von Mal zu Mal hinfällig...“ mit einem schwermütigen Atemzug hatte Hershel die Karikatur eines kleinen Geistes an die Tafel gemalt.
„Er kann sich also an unterschiedlichen Orten materialisieren?“ fragte Lynn sowohl verblüfft als auch völlig ungläubig. Hershels eindringlicher Blick und sein schwaches Nicken ließen diese Annahme bestätigen.
„Ich bin mir nicht sicher, ob er die Kontrolle darüber hat... aber es wird ersichtlich, warum er so manches mal wie verschwunden scheint. Definitiv ist er in der Lage dazu, zwischen den Welten zu wechseln, ohne große Mühen. Es bleiben jedoch etliche Fragen offen. Zum Beispiel wie es dann noch möglich sein kann, dass er stirbt und sein Körper verfällt. Toti- und Pluripotenten Zellen sind eigentlich nur in den ersten Wochen nach der Geburt im Leib eines Kindes zu finden. Sie organisieren sich schließlich und werden zu jeder Zelle, die gerade vom Organismus benötigt wird. Aber aus irgendeinem Grund sind dein und Sakuyas Blut bis heute voll davon. Immerhin würde dies eure schnelle Regenerationsgabe beschreiben, die unser Forschungsteam jedoch auf das Geomas beschränkt hatte. Ich kann es mir nicht erklären....“ stotterte Hershel aufgeregt. Es brauchte nicht viel Mühe für Lynn, um erkennen zu können, dass er in ihr und Sakuya den Ursprung von allem zu sehen schien.
„Das Higgs-Boson, nach meinem Forschungsstand nicht das Feld, sondern dieses einzige, sprunghafte Teilchen, war in Sakuyas Körper. Und angesichts des Körpers, den ich vorfand, nachdem man dich zurück zur VCO gebracht hatte... war meine einzige Antwort für das Unmögliche nur noch der Rückgriff auf dieses eine Teilchen in Sakuyas Körper.“ erklärte Hershel beinahe atemlos und wild mit der Kreide gestikulierend.
„Aber wenn er es nicht mehr hat...?“ fragte Lynn leise und voller Unverständnis.
„Er hat es natürlich noch. Ich habe es potenziert. In monatelanger Forschung habe ich einen Weg der Replikation von Sakuyas Higgs-Boson gefunden. Es ist nur eine Kopie. Aber es ist auf seine DNA und seinen Organismus ausgerichtet, was immerhin erklären würde, warum dein Weg dich, nach deinem Gedächtnisverlust, in seine Nähe geführt hatte. Und warum ihr nun, so stark aufeinander reagiert.“
„Wenn du es Yennifer gibst... wird sie dadurch ebenfalls für immer an Sakuya gebunden bleiben...“ flüsterte Lynn beinahe abwesend und nachdenklich. Eine große Verunsicherung in Lynns Augen wahrnehmend, zwang sich Hershel aus seiner Euphorie heraus.
„Deshalb muss ich zuerst mit ihm darüber sprechen... . Als es damals um dich ging, hat er nicht einen Augenblick lang gezögert. Und das wusste ich. Aber was Yennifer betrifft... .“ Große, mittlerweile blau gefärbte Augen, sahen ihm nachdenklich entgegen.
„Gibt es von uns Genmaterial?“ richtete Lynn schließlich die kleinlaute Frage an Hershel, der sie schluckend musterte.
Sein Schweigen untermauerte ihre Angst. Ebenso wie er Teile von Sakuya kopiert hatte, hatte er vermutlich auch Teile ihrer eigenen DNA kopiert und potenziert, um die Forschungen in Valvar vorantreiben zu können.
„Ja. Es gibt Genmaterial von euch. Und es war mir zuletzt auch nicht mehr möglich, es aus den Laboren verschwinden zu lassen. Sämtliche Informationen über euch und euren Organismus, dienen heute vermutlich anderen, die an meiner Stelle für Negan arbeiten.“ Stumm nickend war Lynn aufgestanden und entfernte die Kanüle aus ihrem Arm.
„Wo ist Yennifer gerade?“ fragte sie Hershel mit einer enormen Klarheit. Er musste erkennen, dass sie nur wenige Stunden gebraucht hatte, um sich von einem Totalausfall und Weltenwechsel erholen zu können.
„Sie ist bei Dr. Shenker... .“ stotterte er unsicher darüber, was Lynn sich soeben zusammen gesponnen haben musste.
„Ich fahre zu ihr.“ beendete Lynn knapp das ausgiebige und emotionale Gespräch, zwischen ihnen.
Tief einatmend hatte sich Hershel auf seinen Stuhl zurück fallen lassen und sah ihr voller Ungewissheit entgegen:
„Was du sehen wirst, wenn du auf den Straßen bist, wird der Welt, die du hier kennen gelernt hast, nicht mehr gerecht werden...“ murmelte er leise und zutiefst bestürzt. Gerade im Begriff zu gehen, war Lynn stehen geblieben und blickte nochmals in Hershels warnende Augen.
„Was soll das heißen?“ fragte sie verwirrt über seine Aussage.
„Die Zeiten hier haben sich geändert. Die Menschen sind auf die Straße gegangen. Die Sektorpolizei steckt mitten in einem Bürgerkrieg.... zu glauben, du würdest an den Sektorpässen vorbeikommen, ist ein Irrglaube. Sie schießen mit allem was sie haben, um die tobende Meute, der sie die Wahrheit verweigert haben, in Schach zu halten. Du musst unbedingt wachsam sein... hörst du Linnai?“ mahnte sie Hershel, mit den klarsten Worten, die er in seinem fragilen Geist noch finden konnte.
Nickend und eine Waffe von seinem Arbeitstisch ergreifend, verließ sie sein Labor.
Es war egal, wo ihr Genmaterial sich befand. Aber die Tatsache, dass Sakuya zugestimmt hatte, dass Hershel das Higgs-Boson für sie verwenden durfte, um ihren Körper wieder zu beleben, hatte sie stutzig werden lassen. Sakuya hatte ihr mehrmals gesagt, dass die Dinge hatten geschehen müssen, wie sie gekommen waren.
Hätte er in jener Nacht in Tschad Na Ham, als sie in seinem Zimmer stand, nachgeben, sich auf sie eingelassen, hätte sie diesen Teil von ihm vielleicht schon bei der Folter in sich gehabt. Wäre dies jedoch der Fall gewesen, hätte sie damals einfach verschwinden können, von jenem Ort des Unaussprechlichen. Es wäre vermutlich niemals dazu gekommen, dass Hershel seinen Sohn Dakon darum gebeten hätte, Sakuya und sie selbst aus Valvar zu befreien. Ganz im Gegenteil; sie wäre in all dem untergegangen.
Sie hätte sich letztendlich den Befehlen gefügt. Wäre den Anweisungen gefolgt. Niemals hätte sie auch nur darüber nachgedacht, ein Teil der UEF zu werden. Niemals hätte sie das Leid gesehen, was sie und ihre Leute verursacht hatten, für die reine Gier nach territorialen Ansprüchen und erschöpften Ressourcen. Was geschehen war, hatte stattfinden müssen. Sakuya hatte sie ablehnen müssen... denn nur so konnte sie sich in diesem Moment auf ihr Motorrad begeben, welches aus scheinbar vorhersehbaren Gründen auf dem Parkplatz des Unigeländes gestanden hatte, und geradewegs ihrem Impuls folgen, Dr. Shenker einen Besuch abzustatten.
Nachdem sich Lynn, umgeben von einer rabenschwarzen Nacht, der ersten Sektorkontrolle genährt hatte, musste sie schnell einsehen, dass Hershel Recht behalten sollte. In Shizuoka wurde das Ausmaß der Aufstände erst ersichtlich. Auf der anderen Seite der Grenze beobachtete sie wieder und wieder Fluggeschosse der Demonstranten, die in ein Aufgebot von Soldaten einschlugen und zu lodern begannen. Auf dem Weg an der Küste entlang, hatte sie vermehrte Züge des Shinkansen sehen können, die einfach auf der Strecke angehalten worden waren.
Das Ausmaß der Ausschreitungen langsam begreifend, wendete Lynn zügig ihr Motorrad auf der Bundesstraße nach Hiratsuka. Sie würde wieder zurück nach Nagoya fahren.
Zurück zu ihrer Wohnung.
Ein Blick in den Seitenspiegel ihres Motorrads offenbarte ihr schließlich den jämmerlichen Anblick ihrer selbst.
Nachdem sie in Sakuyas Blut gelegen hatte, erkannte sie sich selbst kaum wieder. Dunkle Augenränder breiteten sich in ihrem blassen Gesicht aus. Ihre Lippen waren aufgerissen, durch den Marsch zwischen Vulkanasche und Schnee.
Und wie Lynn erneut Gas gab und sich der Geschwindigkeit ihrer Maschine auf einer gänzlich endlosen Bundestrasse hingab, erschien ihr plötzlich das Vergangene wie ein langer und beinahe endloser Traum.
Unsicher darüber grübelnd, ob sie das Vergangene überhaupt wirklich erlebt hatte, spürte sie dem Wind nach, der auf ihre Stirn eindrosch und ihr beinahe die verdunkelte Brille aus dem Gesicht trieb.
Die Frage danach, ob eine Nacht reichen würde, um über das geschehene Herr werden zu können, wich der Frage danach, was Sakuya und Dakon und die anderen gerade taten. Sicherlich wäre in ihrem Versteck in Nagoya, bei Rin, noch keinerlei Ruhe eingekehrt.
Kurz den Impuls ignorierend, zu Sakuya fahren zu wollen, lenkte Lynn den Weg zu Dakons Hauptquartier bei Rin ein.
Die Auffahrt wieder einmal unsicher beschreitend, tastete Lynn schließlich nach einem Schlüssel, auf einer der Mauern, die das kleine Haus eingrenzten. Unter einem Kirschbaum, bedeckt von Moos und verwelkten Blättern, fand sie ihn schließlich und schloss zögerlich die Türe des kleinen Hauses auf.
Zu ihrer Verwunderung herrschte Stille im Inneren. Entweder war niemand da, oder die Anwesenden schwiegen und hielten inne, angesichts eines unerwarteten Gastes.
Lautlos hatte Lynn den schmalen Flur passiert und stand schließlich geradewegs im Rahmen des Wohnzimmers, von wo aus sie Elliots konzentrierten Blick auf einen der drei Monitore vor ihm, verfolgen konnte. Ohne dass er sie bemerkte, ging sie an ihm vorüber und blieb zu seiner linken stehen, um das Gezeigte einsehen zu können:
„Wer ist L.V.?“ durchbrach ihre leise Stimme die absolute Stille um Elliot herum. Mit einem offensichtlichen Erschaudern, hatte er sich blitzschnell zu ihr umgedreht und sah sie mit weit aufgerissenen Augen an:
„Das ist der eine, der der Schlüssel zu sein scheint...“ erwiderte er ihr nur voller Adrenalin.
Schwere Schritte rissen Carver aus seinen Gedanken, während er neben Yennifer gesessen und eine Zigarette geraucht hatte. Seinen Blick hebend, sah er Sakuya im Rahmen von Doktor Shenkers Praxis stehen. Die Ärztin hatte sich noch am späten Abend von Carver verabschiedet, der ihr versicherte, dass er die Nacht bei Yennifer bleiben würde.
„Wie geht es ihr?“ fragte Sakuya rau und zündete sich eine Zigarette an.
Carver zuckte kopfschüttelnd mit den Schultern und sah in ihr gealtertes Gesicht, dass unruhig atmend vor ihm auf einer Bahre lag. Doktor Shenker hatte ihren Körper mit einigen Wolldecken eingehüllt. Die Kälte des Schnees müsse vertrieben werden, hatte sie gemurmelt, nachdem sie Yennifer eingehend untersucht hatte. Hershels Ratschlag, sie in Eis zu packen, hatte sie völlig ignoriert, oder angesichts dieser unglaublichen physischen Reaktion von Yennifers Körper einfach nur überhört.
In Gedanken die Absurdität des Geschehenen wiederholend, blickte Carver schließlich unverständlich zu Sakuya, der noch immer rauchend in der Türe stand und Yennifer betrachtete.
„Was ist da in Efrafar passiert?“ fragte Carver schließlich voller Erschaudern darüber, dass er Sakuyas Manifestation zusammen mit Lynn mehrmals beobachtet hatte. Und schließlich vor Lynns Körper gestanden hatte, um mitanzusehen, wie sie sich einfach in Luft aufgelöst hatte.
Entgegen seiner Vermutung, er würde von Sakuya keinerlei Antwort bekommen, beobachtete er, wie Sakuya schließlich zu ihm hinüber trat:
„Es ist Geschehen, was geschehen musste, um alles andere in die Wege zu leiten.“
Kopfschüttelnd war Carver aufgestanden und hatte seine Zigarette in dem Aschenbecher auf einem der Beistelltische ausgedrückt.
„Ich weiß, wie viele Dinge bei der VCO liefen, die sich unserem Verstand entziehen. Zu oft habe ich Dinge gesehen, die ich als Sinnestäuschungen tief in mir begraben hatte. Aber dass jemand vor meinen Augen im Nichts verschwindet und wieder auftaucht... . Sakuya, das entzieht sich beim besten Willen meinem Verstand.“ Noch immer fassungslos über das Geschehene stand Carver Sakuya gegenüber und sah ihn direkt an.
„Ich weiß.“ erwiderte Sakuya nur ruhig und erwiderte seinen hoffnungslosen Blick.
Die grünen Augen, die ihn ansahen, wirkten wie nur all zu oft ehrlich und aufrichtig. Und doch wusste Sakuya, wie viele Fragen all das in einem Mann wie Carver aufgeworfen haben musste. Aber es gab nichts in diesem Moment zu sagen.
Vielmehr lag es gerade daran, ob Yennifer wieder zu der werden würde, die sie einmal war. Zu dem, was man in ihren elektronischen Komponenten geschaffen hatte.
„Ich danke dir.“ sagte Sakuya schließlich nur knapp und sah Carver einen weiteren Moment direkt an. Der Wechsel zwischen Verwunderung und der Erinnerung an Sakuyas Worte in Yevon, als er Carver darum gebeten hatte, an Lynns Seite zu sein, schienen ihm wieder bewusst zu werden.
„Sakuya, was soll das alles werden?“ fragte Carver schließlich voller Unverständnis.
„Hilf mir, sie zu Hershel zu bringen.“ Während Carver Sakuya noch immer fragend ansah, hatte dieser begonnen, die Decken von Yennifer zu entfernen.
„Dakon hat ausdrücklich verlauten lassen, dass Yennifer nicht zu seinem Vater solle...“
Carvers Gegenwehr stieß augenblicklich auf Sakuyas aufmerksamen Blick, der in seinen Bemühungen kurz inne hielt: „Was Dakon will, spielt ab jetzt keinerlei Rolle mehr.“
Ohne zu zögern half Carver schließlich dabei, Yennifers Körper weiter von den Decken zu befreien.
Eine leere Whiskeyflasche völlig benommen fallen lassend, hatte sich eine junge Frau ungläubig vor einem ihrer drei Monitore auf ihren Stuhl fallen lassen und blickte gebannt auf die Codes, die langsam an ihren Augen vorbei flackerten. Hektisch nach einer Zigarette tastend, griff ihre Hand in die Papiere, die neben einem Tütchen voller Pillen gelegen hatten. Diese nur kurz zur Kenntnis nehmend, ergriff sie schließlich die halb leere Packung Zigaretten.
Das helle Licht der Bildschirme offenbarte ihre blasse Haut und die letzten Überreste ihres Eyeliners, den sie vor einigen Tagen aufgetragen haben musste. Jegliches Zeitgefühl hatte sie verlassen, nachdem sie erneut auf einige Unterlagen des Sektorpolizei Zugriff erlangt hatte. In einem Forum für geleakte Papiere war sie schließlich wiedereinmal auf den Namen „Genesis“ gestoßen. Einem User, den sie seit geraumer Zeit auf den Fersen war. Denn was sie in den Akten eines gewissen „H. Porters“ gefunden hatte, sprengte bei weitem ihre Vorstellungskraft und entzog sich jeglicher Ethik des Diesseits. Die Uploads dieser Papiere entstammten jedoch stets des gleichen Users: Genesis. Und sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, diese Papiere auf einem weiteren Server hochzuladen, damit schließlich jeder User der Erde darauf Zugriff haben würde.
Die Aufstände in ganz Japan hatten in den letzten zwei Wochen an Fahrt aufgenommen, nachdem vertrauliche Papiere der Sektorpolizei aufgekommen waren, die die Kooperation mit einer unbekannten Organisation untermauerten. Ihre anfänglichen Befürchtungen, ein globaler Komplott mit Wurzeln in Japan würde stattfinden, hatten sie im beschaulichen Arizona, während ihres Studiums am MIT, hellhörig werden lassen.
Gerüchte und Verschwörungstheorien darüber, dass Japan versuchte eine geheime Welt oder Sphäre zu schützen, wurden im Dark Net immer lauter.
Und welchen Hinweisen sie auch immer folgte, ihre Spuren führten sie stets zu diesem einen User: Genesis.
Nebensächlich eine der Pillen aus dem Tütchen kramend, hatte sie sich schließlich zurück fallen lassen und starrte mit leerem Blick an die Decke, an der sich nur langsam der Ventilator drehte, und den Qualm der vergangenen Zigaretten in dem dunklen Raum verteilte.
Die zerkaute Pille mit dem abgestandenen Rest eines Energie Drinks hinunterspülend, hatte sie sich schließlich wieder aufgerichtete und begann konzentriert einen neuen Exploit zu programmieren. Wer auch immer sich hinter „Genesis“ verbarg, sie würde ihn finden. Dafür hatte sie nicht alles zurück gelassen, um nun aufzugeben.
„Was macht ihr denn hier?“ fragte Hershel nur verwundert, nachdem er in seinem Arbeitszimmer, im Labor, von dem lauten Poltern wachgeworden war und zu seinem Erstaunen Carver und Sakuya erblicken musste, die ihm eine vierzig jährige Yennifer aufgebahrt hatten.
„Holst du uns Eis?“ Wies er schließlich Carver an, der prompt in einem der Gänge des Labors verschwand.
„Hershel, hol alles für eine Geomas Therapie.“ erklärte Sakuya konzentriert und begann Yennifer ihre Jacke auszuziehen.
„Sakuya, was erwartest du von mir?“ fragte Hershel verwirrt und machte sich daran, einige Utensilien zusammen zu suchen.
„Ich kann nicht lange bleiben, aber versprich mir, dass du alles versuchst, damit sie wieder zu der wird, die sie einmal war.“ erwiderte Sakuya nur angespannt. Nickend hatte Hershel innegehalten und suchte Sakuyas Blickkontakt, über einem Tisch hinweg.
„Ja, mein Junge.“ sagte Hershel nur langsam und musterte Sakuyas klare Augen.
„Verrätst du mir mehr?“ fügte er schließlich hinzu, nachdem sich Hershel sicher war, Sakuyas volle Aufmerksamkeit zu haben. Auf der Basis hatte das oftmals geholfen. Denn Sakuya schien stets Pläne zu haben und oftmals sprach er mit Hershel, wie mit einem seiner Rekruten.
„Das kann ich nicht und das weißt du.“ Seinen Worten klang keinerlei Wut bei. Es war nur die nüchterne Aussage, die Hershel abermals zu verstehen gab, dass Sakuya gute Gründe für seine Forderung hatte. Die sich im Nachgang niemals als Falsch erwiesen hatten. Wenn Negan nicht gerade über Sakuyas Kopf hinweg entschieden hatte.
„Dass Lynn nicht mehr hier ist, weißt du mit Sicherheit auch schon, nicht wahr?“ Hershel begegnete Sakuyas konzentriertem Nicken.
„Sie ist bei Elliot, in Rins Hauptquartier.“ erwiderte Sakuya und blickte noch immer in Hershels alte Augen. Auch wenn er zunehmend bemerkt hatte, dass Hershels seniler Geist immer seltener in der Lage dazu gewesen sein schien, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, so musste er nun einsehen, dass sein Freund völlig bei der Sache war. Und die nächste Frage, die der alte Mann an ihn richten würde, würde er noch verneinen, noch bevor er sie gestellt hatte.
„Versuch es mit der Geomas Therapie.“
Seine Frage noch nicht ganz formuliert, nickte Hershel schließlich nur anerkennend, bei Sakuyas Antwort. Es war, wie Hershel es sich gedacht hatte: den Zugriff auf das replizierte Higgs-Boson verweigerte er ihm, auch ohne dass er es hatte aussprechen müssen.
„Ich weiß, dass du Lynn davon erzählt hast, mach dir keine Sorgen, Hershel.“ Mit diesen Worten hatte Sakuya nach der Transfusion in Hershels Händen gegriffen und sie Yennifer injiziert. Als schließlich Carver das Labor mit dem verlangten Eis wieder betrat, war Sakuya bereits im Begriff zu gehen.
„Wann wirst du wieder hier sein?“ rief Hershel im hinterher und Sakuya wandte sich im gehen noch kurz um: „Bald.“
Unschlüssig stand Rin vor Elliot, der gerade im Begriff war, einen seiner Laptops in einen Rucksack zu packen, als er bereits auf Lynn aufmerksam wurde, die nur stumm im Rahmen zur Terrasse lehnte.
Rin war gerade von einem Treffen mit Serah gekommen, die ihm versichert hatte, noch etwas erledigen zu müssen. Rin war sich jedoch sicher, dass sie nur noch nach Lynn sehen wollte, die bei Hershel im Labor vielleicht endlich zu neuen Kräften gekommen war, wie er es prophezeit hatte. Nur hatte er nicht im geringsten damit gerechnet, sie geradewegs in seinem Haus vorzufinden, als sei nichts gewesen.
„Ich lasse dich in mein Haus und du beklaust mich?“ fragte Rin verwundert und folgte dabei Elliots hektischen Bewegungen.
„Ich hab dir von ihm erzählt: L.V.! Er ist wieder hinter mir her.“ Erwiderte Elliot nur aufgeregt.
„Was hast du jetzt vor?“ harkte Rin überrascht nach und ließ sich auf das Sofa fallen. Ein Blick zu Lynn, die scheinbar wieder im Besitz ihrer vollen Kräfte zu sein schien, verriet ihm jedoch nur, die Entschlossenheit der beiden. Wie auch immer es dieser zierlichen Frau möglich gewesen war, sich innerhalb so kurzer Zeit zu erholen, vermochte Rin nicht mehr zu hinterfragen, denn sie war schließlich nicht so menschlich, wie er selbst. Und schon lange nicht so fragil.
„Ich habe seinen Standort. Wer auch immer so hart daran interessiert ist, auf die Spuren der VCO zu kommen, wird eine Gefahr für uns darstellen.“ Rechtfertigte Elliot sich knapp und griff nach einer externen Festplatte, die neben dem Computer gelegen hatte.
„Hast du mit Dakon darüber gesprochen?“ Rins Stimme klang skeptisch, das konnte Lynn sofort einordnen.
„Natürlich nicht.“ Erwiderte Elliot genervt und nahm sich eine Zigarette vom Computertisch.
„Er wird nicht erfreut darüber sein, wenn wir ohne seine Zustimmung ermitteln.“ merkte Rin schließlich an und machte einige Schritte auf den nervösen Elliot zu, um ihm Feuer zu geben, welches er vergebens versuchte in seinem Kapuzenpulli zu ertasten.
„Wo ist Dakon eigentlich?“ fragte Lynn schließlich leise in das Wohnzimmer hinein und sowohl Elliot als auch Rin schienen einen Moment zu überlegen.
„Er ist mit Tetsuya an einer heißer Spur dran.“ erwiderte schließlich Rin kleinlaut und sah die Belustigung in Lynns Augen. Ohne, dass er noch weiter überlegen musste, warum sie so auf seine Antwort reagiert hatte, schnappte er sich ebenfalls einen der Laptops auf dem Tisch und folgte den beiden in die kalte Nacht hinaus.
Nachdem sie aus Efrafar zurück gekehrt waren, hatte Dakon sich zunehmend seltsamer verhalten. Lynn und Yennifer scheinen ihm ein einziger Dorn im Auge gewesen zu sein, ebenso wie seine eigene Frau Serah. Bei dem ersten Besucht, als Dakon und Rin Yennifer bei Dr. Shenker ablieferten, schien irgendetwas zwischen Dakon und Dr. Shenker nicht zu stimmen. Die Art und Weise wie sich die beiden angesehen hatten, passte nicht mehr zu dem Konstrukt von Arbeitskollegen. Da war etwas anderes. Auch, dass Dakon seine eigene Frau bei diesem Besuch nicht dabei haben wollte, erschien Rin mehr als suspekt. Mit den Worten: „Sorg dafür, dass Elliot sich im Quartier zurecht findet.“ hatte Dakon seine eigene Frau weggeschickt.
Auch die Tatsache, dass Dakon sich nicht einmal bei Lynn oder Hershel hatte blicken lassen, war ihm aufgefallen. Etwas passte absolut nicht zusammen, aber Rin konnte sich keinen Reim darauf machen.
Völlig neben der Spur musste die junge Frau feststellen, dass ihre Finger den Anweisungen ihres Kopfes keinerlei Folge mehr leisten wollten. Die Tasten die sie berührte, verfehlte sie von mal zu mal. Welche Stellen des Exploits noch korrekt programmiert waren, vermochte sie schon lange nicht mehr zu bestimmen. Viel mehr verflossen die Zeichen und Buchstaben zunehmend in einem Gewirr aus weißem Licht vor ihren müden Augen.
Was auch immer „Master“, ihr Dealer, ihr da angedreht hatte, es hatte nichts mit den gewöhnlichen Amphetaminen mehr zu tun gehabt.
Die leere Tüte, die neben ihrer Tastatur lag, erregte nur noch den Anschein, dass sie nicht im geringsten mehr wach und klar genug schien, um das Projekt, welches sie vor Stunde begonnen haben musste, fertig codieren zu können.
Sich darüber ärgernd, diese wichtige Zeit verloren zu haben, aufgrund von beschissen gestreckten Pillen, nahm sie nur noch am Rande das Klopfen an der Türe ihres Apartments wahr.
Ungeschickt stand sie sofort auf und riss im Dusel der Gleichgewichtsstörung einige ihrer Unterlagen zu Boden. Wankend hatte sie sich zur Tür begeben und prompt war die Übelkeit so unaushaltbar, dass sie sich direkt gegen das dunkle Holz der Haustüre erbrach.
Undefinierbare Brocken, vermutlich Teile der Pillen, sowie andere Ausscheidungen rannen die Türe hinab, auf den dunklen Parkettboden. Das Klopfen war indessen zu einem Hämmern übergegangen und sie griff kraftlos nach der Türklinke, als die Tür bereits aufschnelle und sie mitten ins Gesicht traf.
Der Schmerz kam prompt und sie stürzte zu Boden.
„Was erhoffen wir uns eigentlich hiervon?“ fragte Rin kritisch in die Stille seines Wagens, während er Elliots angespannten Blick vom Beifahrersitz spürte.
„L.V. sucht seit über einem Jahr nach den Akten von Dr. Porter. Ich bin mit den unterschiedlichsten Pseudonymen unterwegs. Und trotzdem findet er mich immer wieder? Kommt sogar in das Net Dive Netzwerk von Valvar? Ich bitte dich Rin, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass das irgendein User ist, der nur auf Verschwörungstheorien steht?“
Konzentriert und nachdenklich blickte Rin auf die Straße, die sich vor ihnen in der Dunkelheit der Scheinwerferlichter auftat.
„Was ist, wenn das eine Falle ist?“ erwiderte Rin schließlich leise.
Elliot deutete indes nur auf den Rücksitz zu Lynn.
„Dafür haben wir doch Lynn dabei.“ erwiderte er monoton.
Das soeben Gesagte ausgeblendet meldete Lynn sich schließlich zu Wort: „Woher weißt du, dass ein User nach Hershels Unterlagen sucht? Warst du nicht lange nach seiner Zeit auf einer anderen Basis? Woher kennst du ihn und seine Unterlagen?“ Keineswegs war Elliot der skeptische Unterton in Lynns Frage entgangen. Und schließlich spürte er auch den verwunderten Blick von Rin.
„Sakuya hat es mir gesagt... er sagte mir, nach wem ich suchen solle. Dass ich die Unterlagen auf einem externen Server hochladen solle.“ nur langsam und gezielt verließen die Worte Elliots Mund. Gleichzeitig suchte er nervös im Handschuhfach nach einer Zigarette. Lynn sah Rins verständnislosen Blick im Rückspiegel.
„Du hattest bereits vor einem Jahr Kontakt zu Sakuya?“ harkte er verwirrt nach. Elliot schwieg einen Augenblick.
Lynn überlegte, ob es möglich gewesen war, dass Sakuya bereits vor einem Jahr Elliot kontaktierte. Woher kannten sich die beiden? Und warum hatte Elliot die Papiere auf einem anderen Server hochladen sollen?
„Hat er dir auch gesagt, wer wir sind?“ fragte Lynn schließlich beinahe lautlos und nahm Elliots langsames Nicken wahr.
„Er sagte mir, dass du kommen würdest und ich mit euch gehen würde.“
Die junge Frau hatte sich nicht wehren können, als man sie gepackt und in ihr eigenes Apartment gezogen hatte. Zu sehr hatten die Drogen ihre Bewegungen gelähmt. Nur das ohrenbetäubende Schreien hatte sie noch von sich geben können, nachdem man ihre Sachen zerrissen und sie nackt auf den Dielenboden zurückgeworfen hatte.
Schreie die niemand zu hören schien.
Der Mann, der sich an ihrem braunen Pferdeschwanz zu schaffen gemacht hatte, brüllte sie indes weiterhin aus vollem Hals an. Ihre Schreie übertönten ihn. Und doch war das Reißen an ihren Haaren und die kräftigen Faustschläge in ihrem Gesicht nicht auszublenden. Man hatte ihr mehrmals mit der Faust mitten ins Gesicht geschlagen, so dass sie sich nun nicht mehr sicher war, ob sie überhaupt noch bei Verstand war, oder ob all das nur ein fürchterlicher Alptraum war.
Die Panik, die in Sakuya hinaufstieg, konnte er nicht mehr ausblenden. Schließlich drehte er den Zündschlüssel seines Wagens und zog nochmals an der Zigarette, die er sich kurz darauf angemacht hatte. Ein Ungutes Gefühl überfiel ihn. Etwas passte nicht in das hinein, was er gesehen hatte. Noch einen Augenblick innehaltend, überprüfte er das, was er als Wahrheit bezeichnete. Er müsste schnell sein. Alles andere, was sich da noch in seinem Kopf versuchte auszubreiten, müsste er abermals unterdrücken. Zu wichtig war das, wofür er gerade eben die Weichen stellen müsste. Zu wichtig war das, was er verhindern müsse. Ein letzter Zug an der Zigarette, ehe Sakuya den Zündschlüssel zog und aus seinem Wagen ausstieg.
Es mussten mehrere Männer sein, da war sie sich sicher. Zwei hatten sie gepackt und auf das Bett in dem Einzimmer Apartment geworfen. Ein weiterer war sofort zur Stelle gewesen und hatte begonnen auf sie einzureden.
Er hatte Sätze gesagt, die sie zu oft gehört hatte.
Man hatte ihr etwas in den Bauch geritzt, etwas, dessen Bedeutung sie sicherlich kennen würde. Zeichen, die sie erinnert hätte, hätte sie sie nur klar gesehen, nachdem, was ihr Vater ihr einst angetan hatte. Wovor sie geflohen war.
Hatten man sie etwa wiedergefunden? Hatte ihr Vater sie wiedergefunden und würde nun das vollenden, was er ihr immer prophezeit hatte?
Die eine zu sein, die eine, die ebenfalls all die Macht erlangen würde, um zu kontrollieren?
Nachdem sie damals in Arizona diesem Mann begegnet war, der ihr gesagt hatte, es wäre an der Zeit gewesen um auszusteigen, um all das hinter sich zu lassen, hatte sie ihm nur all zu gerne glauben geschenkt.
Jahrelang war sie dieser Folter ausgeliefert gewesen. Hatte zugesehen, war von all ihnen genommen worden, hatte getötet und schließlich gegessen, was man ihr als die absolute Macht verkaufen wollte. Man hatte ihr gedroht. Der Tod war nichts, was sie jemals gescheut hatte. Aber der Sinn, die Möglichkeit einer anderen Ebene, waren das, was sie weiterhin am Studium des MIT`s hatte festhalten lassen. Die mögliche Belohnung einer Erkenntnis, eines Sinnzusammenhangs, der sie wecken würde.
Und dann stand plötzlich Er vor ihr und sagte ihr, dass es an der Zeit war, zu gehen.
So viele Male hatte sie sich nur den Tod gewünscht. So oft hatte sie das heraufbeschworen, was das hätte obsolet werden würde, was man ihr angetan hatte. Was sie hatte antun müssen.
Und nur einen Blick in de blauen Augen dieses schwarzhaarigen fremden Mannes hatten gereicht, um ihr zu versichern, dass sie nun gehe musste. Damit alles besser werden würde.
Und es kam alles besser.
In Nagoya.
Bei einem IT-Sicherheitsdienst.
Ihren Vater und all die Gräueltaten zurückgelassen, verspürte sie von mal zu mal Freude, wenn ihr etwas gelang. Wenn sie eine neue Spur entdeckt hatte. Etwas fand, was sie näher an die angebliche Wahrheit ihrer Welt heranbrachte. Auch wenn Arbeitskollegen sie um ihre Theorien belächelten. Aber all das war plötzlich weit entfernt von den Qualen, die sie einmal erlebt hatte.
Während man sie mit heftigen Stößen an den Rand des Abgrundes beförderte und sie nur in Gesichter blickte, die mit Masken verhüllt waren, hörte sie plötzlich diese bekannte Stimme:
„Runter.“
Es lag keinerlei Aggression in ihr nach, wie der, die sie von ihrem Vater kannte.
Noch während sie versuchte aufzublicken, ließen drei Schüsse sie voller Todesangst zusammenzucken.
Schwere Schritte ließen sie kurz bangen, ehe sie in die vertrauten blauen Augen eines Mannes blickte, der ihr zuvor schon einmal das Leben gerettet hatte.
„Ameara, was wird das...“ stellte er nur ruhig fest.
„Willst du sterben oder leben?“ wieder war es seine Stimme die sie dazu zwang, sich in der Realität zu verhaften. Und schließlich blickte sie auf die Pistole, die er ihr die Hand gelegt hatte.
Seinen Namen hatte er ihr niemals verraten.
Als Sakuya vor zwei Jahren zusammen mit Dakon bei einem Auslandsaufenthalt in einem kleinen Ort mitten in Arizona gelandet war, waren ihm die verdächtigen und nicht wohlgesonnen Blicke der Anwohner nicht entgangen. Allem voran der Blick eines Mannes, in einer Bar, in der sie sich mit einem Informanten trafen.
Als er nach dem zweiten Bier Sakuya auf dem Herren WC auflauerte, waren bereits alle seine Sinne geschärft. Die Drohung, dass er seine Nase nicht in fremde Angelegenheiten stecken solle, brachte schließlich das Fass zum überlaufen. Noch in der gleichen Nacht war Sakuya dem Fremden gefolgt. Es stellte sich schnell heraus, dass er zusammen mit drei weiteren Männern an einem hiesigen Kult beteiligt war, der auf allerhand okkulte Mächte schwor. Das erklärte auch, warum die Anwohner des Ortes so allergisch auf seine und Dakons Anwesenheit reagiert hatten. In diesem Nest lief etwas ab, von dem alle wussten, worüber jedoch geschwiegen wurde.
Tieropferungen und Vergewaltigung schienen bei diesen Männern an der Tagesordnung zu sein.
Als einige Tage später, eine junge Frau bei dem Mann einkehrte, konnte Sakuya nur noch eins und eins zusammen zählen. Ein Pullover, den sie trug, hatte ihm verraten, dass sie Studentin am MIT war und nur an den Wochenenden zu ihrem Vater fuhr. Und was dieser schließlich mit aller Selbstverständlichkeit mit ihr veranstaltet, ließ Sakuya noch immer aus der Haut fahren, wenn er daran dachte. Dakon hatte er nichts über diese Vorfälle berichtet. Ihre Mission war eine andere gewesen. Was an diesem Ort vor sich ging, ging sie nichts an. Aber Sakuya war nicht mehr bereit weg zu sehen.
Als er am vorletzten Tag ihrer Abreise in einem Leihwagen vor dem kleinen Haus des Vaters darauf wartete, dass sich erneut die anderen Männer blicken ließen, hatte er sich bereits im Vorfeld von einem Freund der Staatspolizei in Nagoya Papiere für das Mädchen schicken lassen. Zudem hatte dieser herausgefunden, dass Ameara, so war ihr Name, Informatik studierte. Gleichzeitig hatte Sakuya sich darum gekümmert, dass sie in Nagoya einen Job bei einem IT-Dienst bekommen würde, wenn sie bereit wäre, das Land zu verlassen. Abermals hatten seine Kontakte durch Dakon ihm in die Karten gespielt.
Als sich die Männer schließlich nach Einbruch der Dämmerung an dem Haus einfanden, griff Sakuya ein. Keinen von ihnen ließ er am Leben.
Ameara fand er mit einer schweren Gehirnerschütterung in der Gartenlaube, umgeben von allerhand okkulten Gegenständen und einem Ziegenbock. Niemals würde er die weit aufgerissenen Augen und den quälenden Schrei der jungen Frau vergessen, als er ihren Vater direkt vor ihren Augen erschoss.
Nachdem sie eingewilligt hatte, das Land zu verlassen, unter einem anderen Namen und mit gefälschten Papieren, saß Ameara nur wenige Reihen hinter ihm und Dakon im Flieger, zurück nach Japan. Niemals wieder hatte er mit ihr gesprochen. Nur ab und an hatte er vor ihrem Apartment gewartet um nach dem rechten zu sehen und zu überprüfen, dass sie noch lebte. Dabei war ihm das Ein- und Ausgehen der unterschiedlichsten Männer nicht entgangen. Ihr Leben war von Partys und Sex bestimmt, gemischt mit dem ständigen Konsum der verschiedensten Drogen. Nachdem was man ihr über Jahrzehnte angetan hatte, wunderte es Sakuya jedoch nicht. Und dass ihre nächtlichen Aktivitäten, speziell die Suche nach Unterlagen zur VCO, ihr dabei einen scheinbar sicheren Halt gaben, ließ Sakuya davon absehen, sich ein weiteres mal einzumischen. Ameara hatte zur Verbreitung der Unterlagen der VCO beigetragen. Tausende Menschen hatten Zugriff darauf gehabt und sie in jeglichen Foren des Internets verbreitet. Der Unmut der Bevölkerung wuchs indes stetig und die ersten Aufstände gingen los. Das Chaos welches dadurch entstand, spielte ihm nur in die Karten.
„Sakuya hat dir gesagt, dass wir kommen würden?“ Lynn konnte ihre Wut nicht mehr verbergen.
„Willst du mich auf den Arm nehmen? Wie konnte Sakuya davon wissen, dass der Gegenschlag gegen die Hybriden in Mi`hen fehlschlagen und unsere ganze Truppe sich trennen würde?“ brüllte Rin los und hatte dabei Schwierigkeiten den Wagen in dem sie saßen unter Kontrolle zu halten.
Elliot schwieg indes, sichtlich beunruhigt.
„Wusstest du bereits in der Fischerhütte, dass ich kommen würde?“ fragte Lynn schließlich leise und nachdenklich. Elliot schüttelte hektisch den Kopf.
„Er hat nicht gesagt, wann und wo ich dir begegnen würde.“ erwiderte Elliot beinahe unhörbar.
„Du wusstest, wer ich bin?“ Beinahe hätte Lynn geschrien.
Elliot hingegen nickte nur schwach und griff schließlich nach dem Lenkrad, da Rin geradewegs dabei war, ihren Wagen von der Straße abkommen zu lassen.
„Herrgott!“ brüllte dieser und trat auf die Bremse.
Das Auto kam mitten auf der Straße zu stehen.
„Wir sind da... .“ Stellte Elliot nur leise fest und blickte zu dem riesigen Hochhaus, vor dem sie standen.
„Was genau hat Sakuya zu dir gesagt...?“ Lynn hatte einen Moment gebraucht, um ihre Gedanken wieder zu ordnen. Das Dröhnen in ihrem Kopf hatte noch immer nicht nachgelassen.
„Ich kann es dir nicht sagen. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob ich überhaupt mit ihm gesprochen habe.“ Elliots Worte klangen verunsichert aber dennoch ehrlich. Rin schnaubte verächtlich und wandte sich schließlich zu Elliot, dessen Gesicht noch blasser unter der schwarzen Kapuze geworden zu sein schien.
„Was meinst du damit?“ fragte er nur missverständlich. Elliot jedoch zuckte kopfschüttelnd mit den Schultern:
„Ich kann es euch nicht sagen. Aber wir müssen jetzt zu diesem Apartment. L.V. Ist der Schlüssel...“
„Der Schlüssel zu was?“
„Ich weiß es nicht.“
Zitternd hatte Ameara nach einem Laken ihres Bettes gegriffen und damit das Blut an ihrem Bauch abgewischt. Noch immer sah sie verschwommen und undeutlich. Ein wüster Mix aus Formen und Farben gab das Chaos ihres Apartments wieder. Die toten Männer vor dem Bett liegend. Keinen von ihnen schien sie zu erkennen, nachdem sie ihnen die schwarzen Sturmhauben abgezogen hatte. Waren es Freunde ihres Dealers? Hatte er ihnen gesagt, zu was Ameara bereit war?
Wenn es dem Wochenende zuging, brauchte sie immer besonders viel Stoff. Die Amphetamine halfen ihr, bei ihren Recherchen wach zu bleiben. Das Programmieren fiel ihr dann leichter, ebenso waren diverse Hacks dabei zustande gekommen, weil sie sich wie in einem Rausch fühlte, wenn sie mal wieder in ein System eingedrungen war. Das Xanax half ihr schließlich, der Hölle der schlaflosen Tage und Nächte zu entkommen. Die Droge gegen die Droge.
Der Job bei dem IT-Sicherheitsdienst war gut bezahlt, jedoch minimierte der Konsum ihre finanziellen Mittel stetig. Schließlich hatte sie sich darauf eingelassen, „Master“ so einige Gefälligkeiten zu erweisen, wenn ihr Geld knapp wurde. Zu ihrem Erschaudern erinnerte das, was er mit ihr tat, stark an die Dinge ihrer Vergangenheit. Er liebte es, wenn sie sich auf seinem Glied erbrach, weil er ihr so heftig damit in den Rachen rammte, dass sie kaum noch Luft bekam. Was er teilweise von ihr verlangte, erinnerte sie zunehmend daran, was ihr Vater und die anderen Männer mit ihr gemacht hatten. Erst wenn er über ihr verweintes Gesicht strich, wusste sie, dass er fertig war und gehen würde. Die Pillen neben sie geworfen, schloss er seine Hose und ging wortlos. Um fünf Tage später wieder vor ihrer Türe zu stehen und sie ohne Worte zu packen.
Er war kein schöner Mann. Vielleicht einen Kopf größer als sie selbst, übergewichtig und stets ungepflegt. Hinzu kam sein Hang zu Shirts, die ihr immer wieder die Zeichensprache vermittelte, die sie bereits aus ihrer Kindheit kannte. Dass Menschen sich mit solchen Zeichen freiwillig umgaben, konnte sie bis heute nicht begreifen. Sterne und Ziegenköpfe, hatte sie aus ihrem Leben vollständig verbannt.
Ameara wurde hellhörig, als sie wie in Trance auf dem Bett lag und die leisen Schritte vor ihrer Haustür hörte, die noch immer einen Spalt offen stand. Zitternd und voller Konzentration hatte sie die Waffe gehoben, die der Fremde Mann ihr zuvor in die Hand gelegt hatte und zielte geradewegs damit auf die Türe. Wenn „Master“ noch weitere Männer geschickt hatte, würde sie jeden von ihnen auf der Stelle erschießen.
Unruhig betrachtete Lynn die Eingangstüre des Apartments im 11. Stock. Die Zarge war gebrochen. Es schien als hätte sich jemand gewaltsamen Zutritt verschafft. Keinerlei Geräusche drangen aus dem Inneren.
„Ich glaube, wir kommen zu spät...“ flüsterte Rin Elliot zu, der gerade im Begriff war eine Pistole auf der Tasche seines Pullovers zu holen.
„Was ist, wenn L.V. nicht mehr da ist?“ fügte Rin hinzu und versuchte in der Dunkelheit des Flures, Elliots Gesichtsausdruck zu deuten. „Lass mich das besser machen.“ ermahnte er Elliot, nachdem er gesehen hatte, wie sehr seine Hände zitterten. Unter Lynns wachsamen Augen übergab Elliot Rin die Waffe und dieser lud sie behutsam durch.
Lynns Blick suchend, versicherte sich Rin schließlich ihrer Zustimmung, das Apartment zu betreten.
Ameara sah nur in einem Bruchteil von Sekunden, wie ein braunhaariger Mann plötzlich in ihrem Apartment stand und betätigte prompt den Abzug ihrer Waffe, nicht sicher, ob sie ihn überhaupt anvisiert hatte. Ein schmerzverzerrter Schrei verschaffte ihr schließlich Sicherheit.
Noch gerade eben hatte Lynn Rin zur Seite ziehen könnten, um dem Schuss zu entgehen, der schließlich ein Loch in die Wohnungstüre fetzte.
Elliot stand wie gelähmt neben ihnen und blickte auf eine nackte Frau, mit einem blutigen Pentagramm am Bauch, die ihn keuchend und mit weit aufgerissenen Augen entgegen starrte. Drei Leichen umgaben das Bett, auf dem sie kauerte.
„L.V...“ stammelte Elliot ungläubig.
„Genesis...“ erwiderte die junge Frau abwesend und senkte langsam die Waffe.
Warum auch immer der Mann in dem schwarzen Kaputzenpulli sie so angesprochen hatte, aber nichts in seiner Erscheinung löste in Ameara Angst aus. Vielmehr schien es ihr, als hätte er soeben ihren wahren Namen genannt. Ihr Pseudonym mit dem sie stets hinter diesem einen Unser her war. Den Namen, mit dem sie jemand ganz anderes war, in Welten des Dark Net, wo niemand ihr wahres erbärmliches Leben kannte.
Carver beobachtete angestrengt, wie Hershel Yennifers Körper fixierte. Er hatte sie Hals abwärts unter Eiswürfeln begraben und schließlich nur eine leichte weiße Decke über sie gelegt, um nicht stets mit ihrer Nacktheit konfrontiert zu sein. Leise kurze Schritte, verrieten ihm noch bevor er Serahs Stimme vernehmen konnte, dass sie ins Labor gekommen war.
„Hershel, wo ist Lynn?“ ihre besorgten Worte unterbrachen Hershels Bemühungen schließlich für einen Augenblick und er sah von Yennifer auf.
„Sie wollte zu Dr. Shenker...“ erinnerte er sich und sah schließlich fragend zu Carver, der ihm mit einem Kopfschütteln jedoch verriet, dass sie sich nicht begegnet waren.
„Ist das... Yennifer?“ fragte Serah schließlich stockend und blickte auf das gealterte Gesicht, unter Hershels nervösen Händen.
„Ja.“ erwiderte er kleinlaut und nahm seine Arbeit wieder auf.
„Hershel wird versuchen, den Vergreisungsprozess mit Geomas aufzuheben.“ erklärte Carver ruhig und zündete sich eine Zigarette an.
„War es Sakuyas Rat?“ Serahs Frage klang vielmehr nach einer Ahnung und Hershel nickte nur stumm.
„Dr. Shenker hat sie in ein künstliches Koma versetzt, um den Alterungsprozess aufzuhalten. So wie ich das sehe, würde sie bei einem Erwachen weiterhin altern. Zwar verlangsamt, aber dennoch würden ihre technischen Komponenten bald an ihre Leistungsgrenze stoßen.“ erklärte Hershel konzentriert und bereitete einen Apparat vor, der Serah an ein Dialysegerät erinnerte.
„Ich werde ihr Blut mit einer zehn prozentigen Beimischung von Geomas anreichern. Das sollte für den Anfang genügen. Vielleicht erreiche ich damit den Zellprozess, der die Bildung von Toti- und Pluripotenten Zellen anregt. Sicher bin ich mir nicht, da ich von den tiefliegenderen Forschungen an den hybriden Technologien ausgeschlossen worden war. Aber einen Versuch ist es wert.“
Nickend hatte sich Serah neben Carver gesetzt, der nur stumm Yennifers Gesichtszüge musterte.
„Dakon war noch immer nicht bei dir, oder?“ fragte Serah schließlich und nahm eine der Zigaretten, die Carver ihr angeboten hatte.
„Nein. Und ich möchte auch nicht mehr darüber urteilen, was den Burschen so hart umzutreiben scheint. Mich beschleicht das Gefühl, dass da noch etwas im Hintergrund läuft. Und ich habe keine Ahnung, was genau das ist. Ich weiß nur, dass er mal wieder die Leute im Stich lässt, die bereit waren, alles für ihn zu tun. Aber was erwarte ich auch... .“
Ungläubig begutachtete Elliot die Szenarien, die sich ihm nach wie vor bot. Die halbnackte junge Frau, die noch immer zitternd auf dem Bett ihres Einraum Apartments saß und eine Waffe in den Händen hielt, hatte ihn mit ihren großen blauen Augen ausdruckslos fixiert. Ihre eingefallenen Gesichtszüge ließen sie dürr wirken. Das Chaos ihrer leicht welligen braunen Haare, die einst zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden gewesen sein mussten, erstreckte sich bis weit unter ihren Brüsten. Verlaufener Mascara und Eyeliner ließen sie erbärmlich in dem halbdunkel der Schreibtischlampen wirken, die sich zur rechten des Bettes, auf einem großen Schreibtisch befanden . Drei große Monitore und einige externe Festplatten bestätigten Elliot in seinem Impuls, dass er es soeben mit L.V. zu tun hatte. Nur hatte er niemals damit gerechnet, dass eine Frau zu solch komplizierten Cyberangriffen im Stande gewesen wäre. Sein Team auf der Basis der VCO hatte stets aus jungen Männern bestanden. Unscheinbaren jungen Männern. Wäre diese Frau jemals dort gewesen, hätte er sich an sie erinnern können. Und ihrem augenscheinlichen Alter nach zu beurteilen, war sie etwa im gleichen Alter wie er selbst, vielleicht zwei, drei Jahre jünger.
Elliots Blick glitt weiter durch den Raum. Die Tapeten lösten sich langsam vom Mauerwerk und der Boden sah aus, als hätte hier lange niemand mehr sauber gemacht. Eine kleine Küchenzeile, direkt neben dem riesigen Schreibtisch, verriet ihm, dass ihre Essgewohnheiten nicht besonders ausgeprägt waren. Neben einer Flasche Wodka stand nur noch eine leere Packung Instantnudeln vor denen ein schmutziger Löffel lag.
Der Geruch von Erbrochenem und der beißende Gestank von Energiedrinks stiegen ihm langsam in die Nase. Neben dem Bett und einer weiteren Tür, die vermutlich zum Bad führte, stand eine behelfsmäßige Kleiderstange, an der etliche schwarze Shirts und Pullover hingen. Einige hatten Löcher.
„Wollen wir jetzt mal über die Leichen sprechen?“ fragte Rin schließlich voller Adrenalin in den Raum und ein weiterer Schuss ertönte.
In Amearas Kopf drehte sich alles. Nur mit Mühe konnte sie die Waffe noch halten, so stark zitterte ihr Körper. Wer waren diese Leute? Warum hatte der Typ im Kapuzenpulli sofort gewusst, wer sie war? Der andere Mann stand noch immer angespannt in ihrem Apartment und blickte sie voller Angst an, ehe sein Blick zu den toten Männern vor ihrem Bett glitt. Braune Haarsträhnen hingen in sein verhärtetes aber asiatisch anmutendes Gesicht und endeten knapp über seinen Augenbrauen. Seine Körperhaltung drückte absolute Alarmbereitschaft aus. Und seine Größe schüchterte sie ein.
Was wollten sie hier? Hatten sie etwa die Männer geschickt? Schon oft hatte sie Typen der Yakuza bemerkt, in dubiosen Bars und Clubs, aber es nicht wahrhabend wollend, hatte sie sie auf einen reinen Mythos reduziert.
Amearas Blick glitt zu der jungen Frau, die die beiden Männer im Schlepptau hatten. Sie sah fürchterlich mitgenommen aus. Zwischen getrocknetem Blut in ihrem Gesicht und den verklebten braunen Strähnen ihrer Haare, konnte sie jedoch wache und aufmerksame Augen entdecken. Die Lederjacke die sie trug wies etliche Löcher auf, ebenso ihre blaue Jeanshose. Sie war nicht besonders groß, aber etwas an dieser Erscheinung schüchterte Ameara zutiefst ein. Dies wich jedoch augenblicklich dem Gefühl, diese Frau weiter ansehen zu wollen. Etwas überaus Sinnliches lag in ihrer Körperhaltung. Die Kurven ihrer Hüfte und ihre langen Beinen wirkten wie etwas, was Ameara nie an sich selbst hatte sehen können. Ihr stand eine Kämpferin gegenüber, das konnte sie sofort einschätzen. Ihre vollen Lippen schienen Worte formen zu wollen, während ihre klaren blauen Augen versuchten das Gesehene einzuordnen. Ihre hohen Wangenknochen ließen ihr Gesicht schmal und filigran wirken. Diese junge Frau war überaus faszinierend, trotz des Zustandes, in dem sie ihr gegenüber stand.
Und dann war da noch der Mann mit der schwarzen Kapuze, der seine Waffe gesenkt hatte und sie wie wie gebannt anstarrte. Wache Augen umgeben von tiefen Augenringen.
Wäre sie auf einer Party gewesen, hätte sie sich an ihn gewandt um nach Drogen zu fragen. Die Augen die sie musterten erschienen surreal in seinem blassen Gesicht. Und doch konnte sie sich ausmalen, wie er unter dem Pullover und der schwarzen Hose aussehen würde. Vielleicht hätte sie jemanden wie ihn mit nach Hause genommen, weil er ihr gefiel. Weil sie sein eingefallenes Gesicht mochte, welches auf eine völlig ungesunde Lebensweise hindeutete. Er und die Nacht waren eins, ebenso wie sie selbst.
Aber nichts davon löste in Amearas verschwommer Sicht die Panik ab, die sie augenblicklich überkam, als ihr die Bilder ihres Vaters und seiner Freunde wieder einfielen. Was man mit ihr getan hatte. Und was die Fremden, die tot vor ihrem Bett lagen, mit ihr hatten tun wollen. Herzrasen breitete sich in ihrem fragilen Körper aus, unterstützt von den Drogen, die noch immer in ihrem Blutkreislauf zirkulierten. Sie drohte keine Luft mehr zu bekommen, so sehr schnürten die Erinnerungen ihr die Kehle zu. Es folgte der ohrenbetäubende Lärm einer fremden Stimme und noch ehe Ameara realisieren konnte, was geschah, hatte ihr Finger prompt den Abzug der Pistole betätigt.
Rauchend und mit einer immanenten Vorahnung saß Sakuya in seinem Wagen, der noch immer vor dem Wohngebäude der jungen Frau stand. Dinge die unter Einfluss von Drogen geschahen, konnte er nicht besonders gut einschätzen. Eben so wenig wie das, was geschah, wenn ein Körper mit Geomas geflutet wurde. Es waren Handlungen auf die sein Geist nur wenig Zugriff hatte. Die Komplexität des Denkens solcher Menschen, konnte selbst er mit seinen Fähigkeiten weder durchbrechen, noch genau einschätzen. Es gelang ihm in den meisten Fällen, aber sich nur darauf zu verlassen erschien ihm äußerst töricht. Und genau darin lag immer wieder die Gefahr, die alles zum wanken brachte. Das, wofür er die letzten Jahre alle Weichen gestellt hatte, drohte stets ins solchen Augenblicken aus dem Ruder zu laufen.
Voller Konzentration fühlte Sakuya in sich hinein und verfolgte das Gewirr aus Gedanken anderer und deren Entscheidungen und Gefühlsregungen. Und endlich fand er sie. Panik, der Anflug von blindem Aktionismus und die Routine des Kampfes, gespart mit reinem Selbsterhaltungstrieb und den daraus resultierenden Mordgelüsten. Lynn.
Etwas musste geschehen sein.
Ameara hatte auf einen von ihnen geschossen.
Und es prophezeite sich das, was Sakuya mit der Waffe, die er Ameara gab, in die Wege geleitet hatte.
Zielsicher warf er seine Zigarette aus dem offenen Fenster des geparkten Autos. Nur noch wenige Sekunden, ehe er aussteigen würde. Anbei packte er die zwei Kanister mit Fluorwasserstoffsäure, die sich auf dem Beifahrersitz befanden.
Der erschrockene Schrei der jungen Frau auf dem Bett, gepaart mit dem lauten Schuss, hatte Lynn kurz zusammenfahren lassen, ehe sie sich mit Anlauf auf das Bett warf, um der Frau die Waffe abzunehmen und sie mit einem gezielten Schlag ans andere Ende des Apartments zu befördern.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte Elliot Rin an, der sich seine blutende Schulter hielt und nur mit zusammengepressten Zähnen ein heiseres Stöhnen von sich gab. Die Frau hatte ihm direkt in die Schulter geschossen.
Voller Schmerz, der beinahe dafür sorgte, dass Rin schwarz vor Augen wurde, blickte er zu dem Handgemenge auf dem Bett. Lynn hatte sich geradewegs auf die Frau gestürzt und nun wandte sich die Fremde hilflos unter Lynns festem Griff, mit denen sie ihre Hände auf der Matratze fixiert hatte.
„WAS WOLLT IHR VON MIR!“ schrie die Frau immer wieder hysterisch und voller Panik und wandte sich unter Lynn, als sei dies ein Todeskampf.
Mit aufmerksamen Augen versuchte Lynn einen Blick in die verzweifelten Augen der Fremden zu werfen, die sich unter Todesangst unter ihr wandte, wie ein Hund, den man zu Tode prügeln wollte.
Sie war schwach und trotzdem sie Lynn mehrmals ihr Bein in den Unterleib gerammt hatte, erstickten ihre panischen Versuche bald in einem heiseren qualvollen Stöhnen.
„Ich werde dich jetzt loslassen...“ flüsterte Lynn leise und ruhig. Die Frau hatte inne gehalten und sah schließlich endlich zu ihr auf. Ihre großen blauen Augen schienen soeben in ein Spiegelbild zu blicken und Lynn spürte, wie sie die Frau abwesend losließ. Ohne sich von ihrem nackten Körper zu bewegen, blieb sie ruhig auf der Frau sitzen, die sie schließlich ebenso ruhig mit ihrem Blick fixiert hatte. In Ihren Augen schien sich ein Meer aus Leid auszubreiten. Wen auch immer sie da gerade gefunden hatten, sie schien in keinster Weise die Gefahr darzustellen, die Lynn erwartet hatte.
Kopfschmerzen breiteten sich augenblicklich wie eine tosende Welle in Amearas Kopf aus. Ihre Hände wurden nicht länger festgehalten. Wer auch immer sie war, die da gerade noch immer auf ihr saß und sie anblickte, aber sie war nicht der Feind.
Die Augen, mit denen die junge Frau sie ansah, erinnerten sie so sehr an etwas, was sie kannte. Darin lag Schmerz, eine menge Schmerz. Und zugleich, zwischen ihren Wimpernschlägen konnte sie etwas Weiches, sogar etwas Vertrautes erkennen. Gemischt mit dem puren Zerstörungsdrang, den sie selbst nur zu gut kannte.
Die beiden Männer im Hintergrund völlig ausgeblendet, überkam Ameara ein völlig ungewohntes Gefühl. Der Unterleib, der sich so sanft an ihr Becken schmiegte und die blauen Augen, die sie noch immer wortlos ansahen, brachten sie schließlich dazu, in diese verklebten braune Haare zu fassen und die Frau zu sich hinunter zu ziehen.
Nur einen Kuss.
Sie wollte nur einmal diese sinnlichen vollen Lippen berühren. Das Blut daran schmecken, welches dieses schöne Gesicht vereinnahmte.
Im Rausch der Drogen begriff Ameara erst Sekunden später, was sie gerade tat und schreckte schließlich zurück.
Wie in einen Spiegel blickend, registrierte Lynn sofort die Bemühung der Fremden, nachdem ihre Hand sanft durch ihre Haarsträhnen gefahren war. Das vertraute Gefühl zwischen Sakuya und ihr, drängte sich sofort in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit. So oft hatte er das getan. Und gleichzeitig überkam Lynn eine Übelkeit bei dieser Erinnerung. Man hatten ihr die Haare ausgerissen. Man hatte sie zu unsagbaren Dinge gezwungen. Und all das nur, weil sie einem körperlichen Gefühl erlegen war. Weil sie Sakuya gewollt hatte. Und somit eine falsche Erinnerung in sich selbst postiert hatte.
Welch Schuld hatte sie in dieser Nacht auf sich selbst geladen?
Die fremde und doch so vertraute Frau unter ihrem Schoß blickte sie noch immer an. Lynn war sie nicht mehr sicher, ob sie sich selbst oder eine Fremde voller unbestimmter Gefühle ansah. Aber die warmen weichen Lippen, die sich schließlich über ihre eigenen legten, sorgten augenblicklich dafür, dass jegliche Erinnerung an all den Schmerz hochkamen.
Todesängste und unermessliche Schmerzen durchfuhren Lynns Körper prompt.
Man hatte sie geküsst, um ihr anschließend jeden einzelnen Zahn zu ziehen, bei vollem Bewusstsein. Man hatte sie genommen wie ein Tier, um sie anschließend in einen dunklen kalten Raum, wie ein Stück Vieh zu werfen. Und wenn es einem von ihnen wieder beliebte, hatte man sie erneut herausgeholt um Unvorstellbares mit ihrem Körper zu tun. Unsagbare Schmerzen anzurichten nur damit all das, nur wenig später so fortgeführt werden konnte. Lynns Kehle schnürte sich zu. Sie bekam keine Luft mehr, bei dem Gedanken daran, wie man ihr ein blutiges Glied, zusammen mit einem Stück rohen Fleisch wieder und wieder in den Hals rammte.
Augenblicklich hatte sie den Geschmack von Blut und Sperma in ihrem Mund. Keine Chance ihrem Peiniger etwas antun zu können, da ihr Mund taub vor Schmerzen war. Da ihr Gebiss nur noch den blutigen Fetzten eines ausgeweideten Tieres glich. Und während man sie mit rauen Küssen bedeckte, schob sich etwas hartes in ihren Unterleib und schien sie bis in die Bauchhöhle und durch ihre Gedärme zu durchbohren.
Unter Rins panischen Augen, hatte Sakuya schließlich das Apartment betreten. Seine Schritte hatten ihn und Elliot erstarren lassen. Dass Rin angeschossen worden war, war offensichtlich. Mit der rechten Hand die blutende Einschussstelle haltend blickte er jedoch wieder wie gebannt, zu Ameara und Lynn. Innerlich mochte Sakuya die Ironie dieser entsetzlichen Szenerie.
Unter anderen Umständen hätte Rin wahrlich Freude daran gehabt, Lynn und Ameara so zu sehen. Von Elliot ganz zu schweigen, der keinerlei Wert auf sexuelle Interaktion seines Körpers legte, dafür um so mehr davon angeregt wurde, welches Bild sich ihm bot.
Innerlich zählte Sakuya die Sekunden, ehe Lynn zur Seite weg kippen würde. Der Kuss zwischen Ameara und ihr, würde so einiges in ihr wieder heraufbeschworen haben. Erinnerungen an ihn selbst, die sich Lynn nur eingebildet hatte, um dem Schmerz der Folter zu entkommen. Und schließlich jene Bilder, sie sie gekonnt seit mehr als vier Tagen in ihr Unterbewusstsein verdrängt hatte. Es war erstaunlich, dass diese Geste von Ameara gereicht hatte, um in Lynn das Trauma loszutreten, welches sie bereits vor drei Jahren an den Abgrund des Todes getrieben hatte. Nur die zärtliche Berührung eines Menschen, welche Lynn völlig fremd war und sie stets zu der Assoziation von unerträglichem Schmerz führte. Eine Berührung die so intim war, dass Lynns Bewusstsein damit nichts mehr anfangen konnte, nachdem er ihr ihre Erinnerungen offenbart hatte.
Ein leises Keuchen versicherte Sakuya schließlich, dass Lynn ohnmächtig vor Schmerz geworden war. Ameara blickte noch wenige Sekunden in ein Nichts aus Gefühls- und Drogenüberdruss.
„Was zur Hölle tust du hier?“ Rins Entsetzten war Unverständnis gewichen, während er Sakuya anstarrte.
„Ich bringe dich zu Dr. Shenker.“ erwiderte er ruhig und stellte die beiden Kanister neben Elliot ab, der noch immer völlig abwesend zu Ameara blickte, umringt von Leichen und der bewusstlosen Lynn.
„Das hier ist Fluorwasserstoffsäure. Legt die Männer in die Badewanne und haltet die Türe für mindestens 24 Stunden verschlossen.“ Während Sakuya sprach war er zu Ameara und Lynn hinübergegangen. Behutsam beugte er sich über das Bett, ohne Ameara auch nur anzusehen und umgriff Lynns dünnen Körper.
„Elliot, bleib du hier. Ich werde Rin zu Dr. Shenker bringen.“ fuhr Sakuya fort, während er Lynn auf seine Arme hievte. Er konnte deutlich Amearas entsetzten Blick spüren, während er mit Lynn auf den Armen zurück zur Haustür lief.
„Was?“ fragte Elliot nur völlig verstört von den Geschehnissen und sah wieder zu Ameara.
„Du hast mich schon verstanden.“ Während Sakuya sich nochmals zu Rin umdrehte und dieser ihm schließlich nickend und wortlos folgte, spürte er erneut Elliots fassungslosen Blick. Es würden zwei oder drei Stunden vergehen, ehe er und Ameara über die wichtigen Dinge sprechen würden, während die Leichen sich langsam in der Badewanne auflösten.
Das Lenkrad fest in seiner linken Hand, versuchte Sakuya Rins lästigen Fragen auszuweichen. Das war gerade alles nicht wichtig.
Viel wichtiger war die Tatsache, dass er Rin geradewegs zu Doktor Shenker bringen würde, bei der er endlich selbst das Ausmaß erblicken würde, in das sein Boss verstrickt war.
Sakuya hatte Rin und Tetsuya immer für ihre natürliche Unterwürfigkeit bewundert. Für die Tatsache, dass beide dachten, einem wahren Krieger und Meister gegenüber zu stehen. Aber Dakon war weit entfernt von dem, was er diesen jungen Burschen hatte vermitteln wollen. Vielmehr hatte sich in ihm etwas manifestiert, was eher als jedes Mittel zum Zweck hätte klassifiziert werden können.
Belustigt blickte Sakuya auf die Fahrbahn, die sich ihm offenbarte.
Hätte Rin auch nur die geringste Ahnung gehabt, was sich im inneren der UEF abspielte, wäre er der Erste gewesen, der sich andere Ziele gesetzte hätte. Welten hin oder her.
Aber Rin war ebenso wie die anderen der UEF. Sie glaubten an das gute Ziel von Dakon. An dessen Selbstlosigkeit. Zu der nicht zuletzt der Verlust seiner Frau und seiner Tochter beigetragen hatten.
Seine Frau, Serah, war wieder da. Und seine Tochter Miku?
Scheinbar war Dakon nur an Letztere gelegen. Sonst hätte er das, was sich Rin in weniger als einer Stunde offenbaren würde, niemals auch nur gedacht.
Unruhig atmend lag Lynn noch immer auf dem Rücksitz von Sakuyas Wagen. Kurz blickte er besorgt in den Rückspiegel. Was kommen würde, könnte er ihr nicht mehr ersparen. Fest stand jedoch, dass Sakuya sich nicht mehr von anderen Anhängig machen würde. Das hatte in der Vergangenheit zu viel Leid mit sich gebracht.
Lynn würde das überstehen, ebenso wie Serah das überstehen würde, was noch auf sie in dieser Nacht zukommen würde.
Mit lautem Hämmern hatte Sakuya gegen Doktor Shenkers Tür geschlagen. Auf die Frage, warum er Rin nicht zu Hershel gebracht hatte, hatte Sakuya nur mit einem knappen „Hershel hat alle Hände voll mit Yennifer zu tun“ geantwortet. Zu Rins Verwunderung dauerte es eine halbe Ewigkeit, ehe ihnen geöffnet wurde.
Sakuya hatte Lynn im Wagen gelassen. Noch immer war sie nicht ansprechbar und scheinbar wirren Träumen erlegen. Was auch immer da in dem Apartment der Fremden mit ihr geschehen war, konnte sich Rin nicht so recht erklären. Noch nie hatte er gesehen, wie Lynn einfach so zusammengebrochen war. Dafür war sie zu verbissen, zu stark und einfach zu konzentriert und zielstrebig in ihrem Handeln. Der Kuss hatte sie offensichtlich mit einem Male völlig aus der Bahn geworfen.
Als Doktor Shenker ihnen endlich die Türe öffnete, bot sich Rin ein verwirrendes Bild. Noch eilig damit beschäftigt ihren gerade übergezogen Kittel zu schließen, strich sie sich noch schnell die zerwühlten Haare glatt und setzte ein schier künstliches Lächeln auf. Ein Blick an ihr vorbei offenbarte ihm augenblicklich Dakon, der hektisch den Gürtel seiner Hose schloss und schließlich aus der Dunkelheit des Flures trat.
„Sakuya, was tut ihr hier?“ fragte er nur verwirrt und sah zu seinem Freund auf, während er zur Tür kam.
„Rin wurde angeschossen.“ erwiderte er nur knapp und ging zielstrebig an Abbigail vorbei, die zunächst keinerlei Anstalten gemacht hatte die beiden hereinzulassen. Scheinbar ließ Sakuya die ganze Szenerie kalt.
„Stören wir?“ fragte Rin verwundert und unsicher und folgte Sakuya.
Innerlich zählte Sakuya die Sekunden, die es noch dauern würde, ehe Rin ein Licht aufgehen müsste. Dass sie Doktor Shenker und Dakon antreffen würden, hatte er bereits vor Amearas Apartment gewusst. Er kannte Dakon. Und er wusste bereits länger davon, dass er es mit der Ärztin trieb. Zwischen ihm und Serah bröckelte es seit Ewigkeiten. Nur war es Serah gewesen, die unaufhaltsam an der Liebe zu ihrem Mann festhielt, trotzdem er sich einen Dreck darum geschert hatte, dass sie zwei Jahre lang in Gefangenschaft gewesen war. Seine Bemühungen sie zu befreien galten nur seiner Tochter. Und es machte Sakuya mehr als wütend, dass er Serah behandelte, als sei sie nur das Nebenprodukt einer kurzen Liebe gewesen. Aber Dakon war nun einmal berechnend und die Erfolge und Belastungen der UEF hatte ihn in jemanden verwandelt, der blind vor Anerkennung geworden war. Dem reinen Idealismus für eine bessere Welt zu kämpfen folgend, hatte Dakon sich zunehmend verändert. Und es war an der Zeit, auch den anderen die Augen zu öffnen. Der blinde Aktionismus dieser Leitfigur, dem seine Teammitglieder unaufhaltsam folgten, galt es zu unterbinden. Sakuya hatte Dakon mehr als einmal gewarnt, dass seine Herangehensweise Konsequenzen haben würde. Aber wie es für einen radikalen Narzissten üblich war, hatte Dakon Sakuya stets nur belächelt. Die Tatsache, dass Sakuya sich dem jedoch immer bewusst war, hatte Dakon scheinbar gezielt ausgeblendet oder einfach nicht erkannt.
Noch kurz beobachtete Sakuya wie Dakon ein benutztes Kondom von einem Operationstisch verschwinden ließ, ehe Rin sich fassungslos zu Dakon wandte: „Ist das dein ernst, Dakon?“
Stille. Dakon sah Sakuya hilfesuchend an. Aber dieses mal würde er nicht für ihn in die Bresche springen. Ganz im Gegenteil.
„Wir haben den Kampf in Valvar nur knapp überlebt, deine Frau wäre beinahe umgekommen vor Sorge um dich und du hast nichts besseres zu tun als hier herum zu ficken?“ Rins Worte prasselten erbarmungslos auf Dakon ein. Das Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben.
„Es ist nicht so, wie du denkst.“ Da war es wieder. Dakons Alpha-Tier Gehabe. Mit genug Worten würde er die Situation schon wieder geradebiegen können. Rin schüttelte jedoch nur verächtlich den Kopf.
„Und du? Hast du kein Gewissen?“ Diesmal hatte sich Rin zu Abbigail umgewandt, die nur beschämt zu Boden sah.
„Es ist für uns alle schwierig im Moment.“ startete Dakon seinen Erklärungsversuch mühevoll und griff konzentriert nach den Zigaretten in seiner Hosentasche. Sakuya konnte Rins Wut förmlich spüren.
„Nein Dakon. Für deine Leute war es die Hölle was in Mi`hen geschehen ist. Aber dir scheint einfach jedes Mittel recht zu sein. Wann hattest du vor, mit uns über alles zu sprechen? Was läuft noch im Hintergrund ab, wovon du uns nichts erzählst?“ Rin war kurz davor ihn zu schlagen.
„Es gibt Dinge, die ihre Zeit brauchen.“ bemühte sich Dakon weiterhin, die Situation nicht zum eskalieren zu bringen.
„Du bist kein Anführer mehr. Ich habe dich als einen aufrichten Mann kennen gelernt, der für seine Ziele einstand. Aber ich erkenne immer mehr, dass du alle Grenzen überschreitest. Weißt du was? Das wars. Für mich war es das. Mach mit der UEF was du willst, aber glaub bloß nicht, dass ich die anderen nicht warne, vor den Leichen die du übergehst!“ Die letzten Worte beinahe geschrien, hatte sich Rin schließlich umgedreht. Doch noch bevor er die Praxis verließ, hielt Rin inne und drehte sich nochmals zu Dakon um: „Entweder du sagst es deiner Frau, oder ich tue es.“
Doktor Shenker folgte ihm prompt, wieder und wieder Rins Namen rufend. Die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. Ja, so hatte Abbigail sich das ganze wohl nicht vorgestellt, dachte Sakuya.
„Und du, was ist mit dir, Sakuya?“ Dakon klang befremdlich kleinlaut. Auch wenn er versuchte sich die Situation nicht anmerken zu lassen. Mit gespielter Ruhe zündete er sich eine Zigarette an und suchte daraufhin Sakuyas Blick.
Ohne auch nur ein Wort zu sagen, hatte Sakuya zügig die Distanz zu ihm überbrückt und schlug ihm mit stark kontrollierten Kraft direkt ins Gesicht. Es hatte Sakuya einige Mühe gekostet, sich in seinem Schlag zu zügeln. Aber einen weiteren Toten hatte er jetzt nicht auch noch gebrauchen können.
Blutspuckend klammerte sich Dakon schließlich ächzend an dem Tisch, auf dem er es zuvor noch mit der Ärztin getrieben hatte. Hustend brauchte er einige Zeit, ehe er zitternd vor Schmerz wieder zu Sakuya aufsehen konnte.
„Nach allem, was ich für euch getan habe, ist das dein Dank?“ hustete Dakon mit schmerzverzerrter Stimme. Eine schrecklich entstellte, blutige Fratze sah zu Sakuya auf erbärmliche Art und Weise auf. Die glühende Zigarette auf dem Boden qualmte noch.
„Du hast nichts getan. Ich stehe allein in der Schuld deines Vaters, damit das klar ist.“ Ohne ein weiteres Wort und das Geschreie von Dakon ignorierend, ging Sakuya an der zurückgekehrten Ärztin vorüber und verließ die Praxis.
Sakuya und Rin hatten sich stumm in seinen Wagen gesetzt. Beide hatten sich eine Zigarette angezündet und sahen noch einige Augenblicke schweigend durch die Windschutzscheibe auf die dunkle Straße. Schließlich war es Rin, der etwas sagte:
„Du hast das alles gewusst, oder?“ Ohne Sakuya anzusehen nahm er Kenntnis von seinem schwachen Nicken.
„Und du weißt auch noch vieles mehr...“ Erneut nickte Sakuya stumm, aber diesmal sah Rin ihn an:
„Ich habe mich lange gefragt, was da zwischen dir und Lynn läuft. Und wie Hershel da noch mit rein passt. Seit ich Dakon kenne, warst du an seiner Seite. Ich würde lügen, würde ich leugnen, dass Tetsuya und ich uns nicht oftmals Gedanken über deine Motive gemacht hätten. Aber es passte einfach nicht zu einem Mann wie dir, sich jemandem wie Dakon unterzuordnen. Warum also all das?“ Rin war konzentriert und absolut klar. Trotz der Schmerzen die er hatte, schien er es nicht im geringsten eilig zu haben, dass die Wunde an seiner Schulter versorgt wurde.
„Ich kann dir keine eindeutige Antwort geben.“ Sakuyas Worte waren mehr als bestimmend und aufrichtig. Trotz dieser kurzen Enttäuschung erkannte Rin das ganze zügig.
„Wie geht es jetzt weiter?“ fragte Rin schließlich und sah wieder auf die Straße. Sakuya würde ihm einige Antworten schuldig bleiben, damit musste er vorerst klarkommen.
Sakuya nahm einen weiteren Zug seiner Zigarette und startete schließlich den Wagen.
„Wir fahren jetzt zu Hershel.“ erwiderte er ruhig.
Serah saß schläfrig neben Yennifer, die noch immer aufgebahrt in Hershels Labor lag. Die Geomas-Therapie hatte immerhin dafür gesorgt, dass ihr Herzschlag konstant blieb. Nachdem Hershel das EKG angeschlossen hatte, hatte er sich in eines seiner Arbeitszimmer zurückgezogen. Vermutlich schlief er mal wieder auf seinen Unterlagen. Carver hatte angekündigt am Morgen wieder zu kommen um nach Yennifer zu sehen. Und Serah ließ der Verdacht nicht los, dass etwas zwischen ihm und Yennifer gewesen sein musste, weshalb er nun so besorgt um diese Teil-Hybride Schönheit war. In einem an brandenden Traum sprach Serah mit Lynn und sah in Augen, die sie an die ihrer Tochter erinnerten.
Das Geräusch der Labortür ließ sie schließlich hochschrecken. Müde versuchten ihre Augen den Ausdruck in Rins und Sakuyas Gesicht zu deuten:
„Was ist los?“
Nachdem Rin sich zu Serah gesetzt hatte und Sakuya augenblicklich mit einigen Ampullen Geomas aus Hershels Vorratsschrank wieder verschwunden war, nahm Serah wohlwollend eine der Zigaretten, die Rin ihr schwermütig entgegen hielt.
„Was ist los, Rin?“ fragte sie schließlich leise in die Stille des Labors hinein. Unsicher beobachtete sie Rin dabei, wie er mit der Hand durch sein sorgenvolles Gesicht fuhr. Er würde Dakon die Chance geben, es ihr selbst zu sagen. Aber er würde nicht all zu lange damit warten können. Zu sehr belastete es ihn selbst, Serah anlügen zu müssen. Sie war stets ihrem Mann und allen anderen des Teams eine fürsorgliche Mutter, eine eifrige Freundin und eine loyale Mitstreiterin gewesen. Und vielleicht lag genau darin Dakons Entscheidung, mit Dr. Shenker eine Liebschaft einzugehen. Was genau nach Serahs Verschwinden vor einigen Jahren geschehen war, war nie zu Rin durchgedrungen. Dakon hatte über genauere Details geschwiegen. Aber auch Rin hatte feststellen müssen, dass Dakon, trotzdem seine Frau wieder bei ihnen war, nur wenig Freude an diesem Umstand zu haben schien. Vielleicht hatte ihre Beziehung schon vor Serahs Verschwinden erste Risse gehabt. Und vielleicht hatte Dakons Aktionismus nur darauf abgezielt, seine Tochter wieder zu finden. Es kam Rin seltsam perfide vor. War Dakon wirklich so berechnend gewesen?
Hatte er nur nach seiner Tochter und schon lange nicht mehr nach seiner Frau gesucht?
Besorgt hatte Sakuya Lynns bewusstlosen Körper aus dem Wagen gehievt. Sie war noch dünner geworden, als er es die letzten Male bemerkt hatte. Kaum merklich machte sich ihr filigraner Körper auf seinen Unterarmen bemerkbar, während er sie in sein Apartment trug. Er müsste nur diese Nacht zusammen mit ihr überstehen. Danach wäre sie mit Serah an einem Ort, an dem sie genug Ruhe hätte, die Narben ihrer Seele heilen zu lassen. Abseits von dem Druck der UEF und Dakons ständigen Aufträgen und Befehlen. Weg von den Anforderungen, die sie schon ihr ganzes Leben lang erduldet, ja, sogar gesucht hatte. Weil sie nichts anderes kannte.
Das seichte Zittern seiner eigenen Finger mahnend wahrnehmend hatte er Lynn geradewegs auf das Sofa gelegt, nachdem er das Licht ausgeschaltet gelassen hatte. Würde sie in diesem Zustand erwachen, könnte er nicht dafür garantieren, dass sie nicht zu einer äußerst ernstzunehmenden Gefahr für sich selbst und ihn werden könnte.
Ihr Anblick versetzte Sakuya für einige Sekunden in die Vergangenheit. Das Blut, welches er auf ihrem Gesicht und ihrer Kleidung wahrnahm erinnerte ihn an vertraute Situationen zwischen ihnen beiden. Auf der Basis der VCO hatte er sie zuletzt häufiger so gesehen und Gefallen daran gefunden. Ihre strahlenden blauen Augen zwischen Blut und Schweiß. Der ungebrochene Kampfeswille in ihren Augen. Die Magie mit der sie sich bewegte, die ihn mehr und mehr zu vereinnahmen schien. Etwas an dieser Frau hatte ihn niemals losgelassen, so sehr er es auch gewollt hatte.
Rauchend stand Sakuya am Fenster und beobachtete für wenige Augenblicke die Bengalfeuer, die immer wieder die Straßen der Stadt zum glühen brachten. Der Krieg tobte geradewegs im Stadtzentrum. Viele nahmen davon noch keinerlei Kenntnis. Die Menschheit schlief. In sorgenloser Idylle. Die von Ameara und Elliot geleakten Papiere ausblendend. Aber er wusste genau so gut, dass die beiden in diesem Moment dabei sein würden, ihre Informationen zusammen zu tragen um schließlich das losbrechen zu lassen, was Sakuya bereits vor Jahren immer wieder sah. Der Krieg in Elaìs würde kommen. Und es würde nicht mehr lange dauern, ehe diese Informationen ganz Japan und dessen Grenzen geflutet haben würden. Und dann wäre seine Zeit und die Zeit der anderen gekommen, um sich der letzten Schlacht zu stellen.
Eine Nonjod Tablette aus seiner Manteltasche holend hatte Sakuya sich schließlich wieder zu Lynn gewandt. Ihre Augenlider zuckten unaufhaltsam unter den Geschehnissen, die geradewegs ihr Gedächtnis einholten.
Kurz betrachtete Sakuya die Tablette in seinen Händen. Es war absurd. Aber er würde sie nehmen. Das letzte was er jetzt gebrauchen könnte war das Verlangen danach, mit dieser jungen Frau das anzustellen, wovor er sie hatte bewahren wollen. Sein Organismus folgte nur dem Trieb sich reproduzieren zu wollen. Die Auswirkung spürte er prompt mit einer heftigen Erektion.
Die Nonjod Tablette zügig schluckend hatte Sakuya begonnen, Lynns Gliedmaße mit zwei Seilen aus einer seiner Schubladen zu fixieren. Würde sie in der Nacht wachwerden und fliehen wollen, würde ihr das ganze erhebliche Probleme bereiten. Die Tatsache, dass sie an einem vertrauten Ort war, würde schlimmeres hoffentlich vermeiden. Und dann würde er das Apartment verlassen, in sein Auto steigen und zu einer Frau fahren, mit der er tun konnte, was auch immer er wollte.
Ameara hatte Elliot noch eine ganze Weile mit entsetzten Augen angestarrt. Und ebenso wie er selbst, hatte sie sich nicht in der Lage gefühlt sich zu bewegen.
Nach einer Ewigkeit hatte er schließlich das gesagt, was ihm immer wieder in Gedanken eingefallen war, neben dem völlig obskuren Bild, welches sich ihm bot:
„Ich bin nicht hier, um dir etwas zu tun.“ Seine Worte hatten sie ruhig und aufrichtig erreicht. Und während Elliot schließlich langsam die Apartmenttür hinter sich geschlossen hatte, hatte Ameara erstmals das Gefühl atmen zu können. Wie ein Hammer bohrten sich ihre eigenen Herzschläge durch ihre Brust. Er hätte sie hören müssen. Ihre Herzschläge.
„Willst du dir etwas anziehen?“ klang seine vorsichtige Frage in der Stille des Zimmers nach.
Ohne dass Ameara darauf antwortetet, vernahm er schon kurz darauf das Geräusch des Bettes, welches sie verlassen haben musste, während er mit dem Rücken zu ihr an der Türe inne hielt. Es folgte das Geräusch unsicherer Schritte und das Schließen einer Türe. Ameara war im Badezimmer verschwunden und Elliot drehte sich erleichtert um. Scheinbar hatte sie doch nicht den Verstand verloren. Die geschriebenen Codes auf den Bildschirmen des Schreibtisches forderten Elliots ganze Aufmerksamkeit, aber er wandte sich bemüht davon ab und setzte sich stattdessen auf den Schreibtischstuhl, um sich weiter im Raum umzusehen.
Gedankenversunken lehnte Sakuya an einer kleinen Hotelbar und blickte nachdenklich in den Spiegel hinter dem Tresen, in dem sich neben seinem Spiegelbild noch etliche Spirituosen gereiht hatten. Das goldene Licht brach sich in der hellbraunen Flüssigkeit seines Whiskeys.
Zehn Minuten.
Diese Zeitspanne trennte ihn von der sinnlichen und schönen jungen Frau, die gerade in seinem Apartment lag. Fünf Gläser und der Gang in die Kälte. Er müsste nur aufstehen und zum Auto gehen. Den Zündschlüssel drehen und innerhalb von wenigen Minuten würde er wieder vor ihrem Körper stehen. Einem Körper, den man auf übelste Art und Weise gefoltert hatte. Eine Silhouette die man nur zum Töten und zur Erbarmungslosigkeit ausgebildet hatte. Und trotz allem, war er ihr immer wieder nah gewesen. Wenig trennte sie voneinander. Einzig die absurde Tatsache, dass er sie hatte aufwachsen sehen. Er hatte dazu beigetragen, dass Lynn in diesem Augenblick in Träumen voller Todesqualen feststeckte.
Sakuya biss sich auf die Unterlippe und zog schließlich an seiner Zigarette. Der Unmut über seine unberechenbare Genmixtur ließ ihn schließlich die Vorstellung davon ausblenden, was er mit ihr hätte tun können, hätte er sie damals in der Wüste nicht abgewiesen. Es war alles nötig gewesen. Und doch hatte er Lynn so vieles mehr ersparen wollen.
Ungeduldig blickte er auf das Glas in seiner Hand, in dem der Whiskey aufgrund seines Zitterns kleine Wellen schlug. Es wäre besser, wenn die Nonjob Tabletten allmählich ihre Wirkung zeigen und die Jodzufuhr seiner Schilddrüse hemmen würden, damit nur noch vermindert Testosteron in seinem Körper ausgeschüttet würde.Er war es satt, dass sein Körper wie der eines paarungsbereiten Tieres auf Lynn reagierte, wenn er wieder in schwierigen Phasen seines anerzogenen Hormonzyklus kam.
Nur am Rande wahrnehmend, hatte Sakuyas Blick sich an eine dunkelhaarige Frau gehaftet, die ihn mit intensiven Blicken beobachtete. Sie war alleine in der Bar. Und sie würde seine körperlichen Triebe für einen Moment lang befriedigen. Er sah ihre Lippen bereits über seinem Schoß, in einem abgedunkelten Hotelzimmer.
Unruhig blickte Elliot zu Ameara, die schließlich aus dem Bad kam. Ihre Hände zitterten, während sie eine schwarze Strickjacke schloss. Die wachen Augen, die ihr dabei entgegen blickten, ließen sie innerlich nur noch unruhiger werden. Etwas an diesem Mann zog sie dennoch in einen ungewohnten Bann.
„Ich habe mir deine Exploits angesehen. Sie sind gut. Aber du verlierst immer wieder den Faden.“ analysierte er ihre nächtelange Arbeit innerhalb von Sekunden völlig monoton.
„Ich weiß...“ gab sie ernüchtert zurück und ging durch den Raum, zu der kleinen Küchenzeile.
Mit zitternden Händen griff sie in den Kühlschrank und nahm eine Flasche Wodka heraus, um schließlich Elliot fragend anzublicken.
„Ja, ich nehme auch einen.“ bestätigte er sie in ihrem Handeln und sah zu, wie sie zwei ungespülte Gläser ergriff und sie füllte.
Dankend nahm er eines der Gläser von ihr und blieb schließlich erwartungsvoll an ihrem Schreibtisch sitzen, während Ameara einen großen Schluck nahm und sich an die Küchenzeile lehnte.
„Wer ist Er?“ fragte sie schließlich leise, beinahe flüsternd. Elliot war klar, dass sie Sakuya gemeint haben musste und blickte zu den beiden Kanistern, die noch immer im Eingangsbereich, neben der Türe standen. Vermutlich hatte er sie auch im Vorfeld schon kontaktiert, ebenso wie er es mit ihm selbst getan hatte.
„Sakuya Kira.“ erwiderte er verwundert.
„Und du bist die Externe Bedrohung, die wieder und wieder die Firewall von Dr. Hershel Porters Net-Dive Server gekapert hat.“ Ameara blickte voller entsetzten zu Elliot, der sie nur regungslos anstarrte.
„Vermutlich bin ich das.“ erwiderte sie und nahm einen weiteren Schluck Wodka.
„Warum L.V.?“ fragte Elliot schließlich und suchte Amearas Blick.
„Erinnerst du dich an die Hackerethik von Steven Levy?“ Elliot schüttelte den Kopf. Vermutlich sprach sie von einem Autor in dieser Welt. Für ihn und die anderen IT-Spezialisten der VCO gab es keine ethischen Grundlagen. Es wurde gemacht, was verlangt wurde, ohne Fragen zu stellen.
„Wie hast du mich gefunden?“
„Ich habe mit einer DDos Attacke deinen Kill-Switch unterbunden und bin so an deine IP Adresse gekommen. Erinnerst du dich an die E-Mail mit den Informationen zum geheimen Regierungskomplott der Sektorpolizei? Du hast nach dem Absender mit einer Suchmaschine gesucht, weil deine Neugier zu groß war. Die Website die du fandest hatte ich erstellt. Die Mail ging an so ziemlich jede Adresse des Landes. Ein Drive-by-Exploit infizierte augenblicklich deinen gesamten Rechner, durch einen Buffer-Overflow. Ein Rootkit sorgte dafür, dass du nichts mitbekommst. Ich musste mir nur deine weiteren Aktivitäten im Netz anschauen, ehe ich wusste, dass ich nach Dir suchte.“
Ameara blickte ihn verblüfft an. Dass ausgerechnet ihr, die bei einer IT-Sicherheitsfirma arbeitete, so etwas einmal passieren würde, hatte sie bislang völlig ausgeschlossen. Die Methoden mit der sie ihre Identität im Netz verbarg und die laufenden Sicherheitssysteme ihres Computers, hatte sie selbst geschrieben, als sie noch in Arizona war. Dass sich darin eine Sicherheitslücke befinden könnte, hatte sie nächtelang nachgeprüft. Sogar einige Kommilitonen des MIT`s hatte sie selbst angewiesen, zu versuchen ihren Rechner zu kapern. Keiner hatte es geschafft. Und nun saß vor ihr jemand, der sie sogar ausfindig gemacht hatte und sie geradewegs ansah.
„Kannst du das wieder bereinigen?“ fragte Ameara schließlich unsicher und versuchte Elliots Blick zu entschlüsseln. Er zuckte mit den Schultern:
„Warum sollte ich das tun?“ seine Frage klang abwehrend. Vermutlich dachte er nicht einmal daran. Aber was hatte sie auch erwartet?
„Du bist ein Fremd von Doktor Hershel Porter, nicht wahr?“ Endlich ging ihr ein Licht auf. Er musste auf ihre Aktionen an dessen Server aufmerksam gewesen worden sein. Oder er war selbst Teil der Regierung und man hatte ihn geschickt, um sie zu warnen, dass sie ihre Nase nicht in fremde Angelegenheiten steckten sollte. Angesichts ihrer weiterverbreiteten Aufzeichnungen von dem Doktor, der überaus motiviert und akribisch das niedergeschrieben und Protokolliert hatte, was er seinen „Rekruten“ antat, wunderte es sie plötzlich nicht mehr, dass sie Besuch bekommen hatte. Was aber noch lange nicht die toten Männer neben ihrem Bett erklärte.
„Ja, ich bin ein Freund von ihm.“ entgegnete Elliot nur ruhig.
„Was willst du von mir? Die Papiere sind bereits tausende male runter geladen worden. Ich kann den Server deaktivieren, aber die Weiterverbreitung ist bereits im vollen Gange.“ Panik stieg in ihr auf.
„Nein. Ich bin hier, weil ich mit dir zusammen arbeiten will.“ Vor lauter Entsetzten hätte Ameara beinahe ihr Glas fallen gelassen. Belustigt über ihre Naivität bezüglich des Umfangs der VCO schmunzelte Elliot innerlich.
„Was genau meinst du damit?“ harkte sie schließlich unverständlich nach. Wer war dieser Typ?
„Nun, um dir das zu erklären, braucht es etwas Zeit. Vielleicht sollten wir uns zunächst um die Leichen kümmern?“ Elliot deutete zu den Kanistern neben der Tür.
Rin wurde von Sakuyas schweren Schritten und der zufallenden Labortüre aus einem seichten Schlaf gerissen. Mit dem Kopf auf dem Tisch war er eingeschlafen, nachdem er immer wieder wartend auf die Uhr gesehen hatte. Noch immer hoffte er inständig, dass Dakon kommen würde und Serah sagen würde, was er seit Wochen oder vielleicht auch Monaten zu verbergen versuchte.
„Wo ist Serah?“ fragte Sakuya erschöpft und zündete sich eine Zigarette an, während er Yennifers Körper begutachtete, die noch immer mit einer Geomas-Infusion behandelt wurde.
„Sie schläft nebenan. Geht es dir gut?“ Sakuya wich seiner Frage aus und ging an Rin vorüber, in die Richtung eines weiteren Arbeitszimmers von Hershel. Noch bevor er klopfen konnte, öffnete der alte Mann ihm die Türe.
„Du siehst erschöpft aus.“ stellte Hershel kritisch fest und bat ihn herein.
„Nicht der Rede wert.“ erwiderte Sakuya kühl und setzte sich zu Hershel an seinen großen Arbeitstisch, der mit Akten und Aufzeichnungen gefüllt war.
„Das Trauma hat Lynn eingeholt. Sie liegt in meinem Apartment.“ In Hershels Augen blitze eine ungute Befürchtung auf.
„Hoffentlich gefesselt?“
Sakuya nickte stumm und schloss für wenige Sekunden die Augen.
„Sie muss hier raus. Bei mir kann sie nicht bleiben.“ kritisch musterte Hershel seinen Freund. Das leichte Zittern seiner Fingerspitzen entging ihm dabei keineswegs.
„Ich verstehe.“ erwiderte Hershel nur mit besorgtem Blick. Er kannte die Anzeichen des Paarungszyklus bei seinen Rekruten. Und auch die Nonjod Tabletten stießen so manches mal an die Grenzen des Machbaren.
„Erinnerst du dich noch an das Haus von Kudara, an der Küste in Tahara? Ich habe die Schlüssel noch irgendwo in einer der Kisten. Dort sollte Lynn erst einmal vor den Ausschreitungen sicher sein. Und sie wäre zunächst aus dem Wirkungskreis der UEF raus.“ erklärte Hershel leise und sah Sakuya schwach nicken.
„Das ist gut. Solange sich Dakon nicht blicken lässt, können wir sowieso über keine weitere Vorgehensweise entscheiden. Serah und Lynn können sich eine Auszeit in Tahara nehmen.“ ergänzte Sakuya konzentriert.
„Ich weiß nicht, was du noch mit Dakon zu schaffen haben willst, Sakuya. Hat er nicht genug schaden angerichtet?“ Hershels Worte klangen mehr als mahnend. Geradewegs hatte er die Funkgespräche mit seinem Sohn vor Augen, der ihm berichtete, dass Mi`hen ein absoluter Fehlschlag gewesen war. Ganz zu schweigen von dem Umstand, dass er hatte Yennifer ausliefern wollen. Und die schiere Ungewissheit über Sakuyas und Lynns Verbleiben. Noch immer bescherte das Ganze Ausmaß Hershel eine Gänsehaut.
„Ich weiß, Hershel. Aber denk mal an Tetsuya, Carver und Yennifer. Sie haben auch noch ein Mitspracherecht.“
„Na, dass Yennifer auch nur in Erwägung ziehen würde weiter für Dakon zu arbeiten, halte ich für mehr als ausgeschlossen.“ schmunzelte Hershel und nahm dankend eine der Zigaretten, die Sakuya ihm angeboten hatte. Sakuya dachte kurz darüber nach, wie Hershel wohl die Nachricht aufnehmen würde, dass Dakon keinen Wert mehr auf seine Frau legte. Es würde noch etwa eine Stunde dauern, ehe Dakon im Labor auftauchen würde. Und dann wären die nötigen Weichen gestellt, die für Lynns Rehabilitierung von Nöten waren.
„Hättest du sie nicht gesucht, wäre sie vor die Hunde gegangen. Auch wenn ich bis jetzt noch immer nicht verstehe, warum?“ Sakuya fragend ansehend, hatte Hershel sich die Zigarette angezündet. Seine Pfeife zu suchen, hatte er verworfen.
„Lynn wäre dann noch immer nicht schlauer, was ihre Vergangenheit betrifft. Und es ist wichtig, dass sie sich an alles erinnern kann. Mehr kann ich dir dazu nicht sagen.“ schwermütig hatte Sakuya sich durchs Gesicht gestrichen und erneut seine Augen für einige Sekunden geschlossen.
„Glaubst du, sie schafft es, sich mit diesem Trauma zu arrangieren?“ Hershel zog konzentriert an seiner Zigarette und beobachtete Sakuya, der mehr als ausgelaugt wirkte.
„Ja. Sie ist älter geworden. Und die Bedingungen sind weitaus andere, als sie es vor einigen Jahren waren.“ schwermütig hatte Sakuya die Worte ausgesprochen und nahm noch einen letzten Zug seiner Zigarette ehe er sie ihm Aschenbecher ausdrückte.
„Ich glaube, dass der Kontakt zu Serah auch einiges bewirken würde.“ schob er hinterher und sah wieder in Hershels aufmerksame Augen. Sofort entflammte in Hershel eine Ahnung, dass Sakuya mal wieder mehr wusste. Ihn danach zu fragen wäre zwecklos. Mehrfach hatte Hershel bereits erkennen müssen, dass es Dinge gab, über die Sakuya beim besten Willen nicht sprechen konnte. Sei es nun der Tatsache geschuldet, dass er möglicherweise Dinge sah, die er nicht in Worte fassen konnte oder einfach dem Umstand, dass in seinem Geist solch komplexe Abläufe stattfanden, dass Worte ihnen einfach nicht gerecht werden würden.
„Ich stimme dir zu. Und doch schmerzt mir das Herz, nichts für sie tun zu können.“ Mit einer abwinkenden Bewegung war Sakuya schließlich aufgestanden.
„Glaub mir Hershel, du hast schon genug getan.“ Keinerlei Vorwurf lag in Sakuyas Worten. Ganz im Gegenteil. Er meinte es so, wie er es sagte, denn er wusste, dass Hershel alles andere als ein schlechter Mensch war.
„Dein Wort in Gottes Ohr. Wo willst du jetzt hin?“
„Zu Lynn. Nachschauen ob sie noch lebt oder schon die Fesseln durchgekaut hat.“
„Hast du ihn?“ fragte Elliot angestrengt, nachdem sie den letzten verbliebenen Mann ins Badezimmer trugen, um ihn schließlich in die Wanne zu den anderen zu befördern.
„Es ist noch beängstigender, dass niemand von ihnen Papiere bei sich hatte.“ raunte Ameara genervt und begann einen der Kanister über die toten Körper zu entleeren.
Für einen Augenblick sah Elliot ihr fasziniert dabei zu, wie sie sich schließlich mit ihrem Unterarm über die schwitzende Stirn fuhr. Ihre braunen, welligen Haare mit der Hand auf ihren Rücken werfend, bemerkte sie schließlich seinen Blick:
„Was ist los?“ fragte sie verwirrt, da nichts in seiner Mimik Aufschluss über seine Gedankenwelt gab.
„Du bist wunderschön.“ erwiderte er fasziniert von ihr und kippte schließlich entschlossen einen weiteren Kanister in die Badewanne. Kopfschüttelnd öffnete Ameara das einzige Fenster im Bad, da ein unangenehmer, beißender Geruch prompt den kleinen Raum erfüllte.
„Wir sollten die Türe einige Stunden geschlossen halten.“ bemerkte Ameara schließlich, und verließ das Bad. Elliot folgte ihr und leistete ihrem Hinweis folge.
„Erzähl mir etwas über dich.“ bat er sie schließlich und beobachtete sie, wie sie einen Klappstuhl aus einer kleinen Abstellkammer holte, um sich neben ihn an den Schreibtisch zu setzten. Sie war ruhiger geworden und ihre Finger hatten aufgehört zu zittern.
„Warum willst du die Maleware weiterhin auf meinem Computer laufen lassen?“ wich sie ihm schließlich aus und zündete sich eine Zigarette an. Ihre großen blauen Augen musterten ihn kritisch.
„Ich mag, wonach du suchst.“ erwiderte Elliot nur ausdruckslos.
Er mochte was sie suchte? Was meinte er damit?
„Du scheinst über weitaus mehr Informationen zu verfügen, als ich es tue. Erzähl mir also nicht solch einen Bullshit.“ Es ärgerte sie, dass er dachte, er würde sie mit so etwas in die Irre führen können. Aber Elliot sah sie nur verwundert an: „Nein, das meine ich nicht. Ich meine die Videos, die du dir nachts ansiehst, wenn du nicht schlafen kannst.“ Augenblicklich bildete sich ein Kloß in Amearas Hals. Er spielte geradewegs auf die Pornovideos an, die sie sich hin und wieder ansah. Mit der Zeit hatte sie eine Vorliebe für gleichgeschlechtlichen Sex entwickelt. Frauen gingen wesentlich liebevoller miteinander um, und sie mochte die Tatsache, dass alles etwas ruhiger ablief.
Elliot beobachtete wie Ameara die Röte ins Gesicht stieg. Er hatte gemeint, was er gesagt hatte. Er mochte die Vorstellung, wie sie sich diese Videos ansah. Und auch wenn er ursprünglich davon ausgegangen war, es mit einem Mann zu tun zu haben, mochte er diese Art von Filmchen und verstand nur zu gut die Faszination dafür.
„Okay...“ stotterte Ameara schließlich unsicher.
„Erzähl mir etwas von dir.“ startete sie einen Versuch, etwas über diesen mysteriösen Mann herauszufinden.
Elliot kramte einen kleinen USB-Stick aus seiner Hosentasche und legte ihn schließlich bedeutungsvoll auf den Schreibtisch.
„Vielleicht wäre es besser, wenn du es dir selbst ansehen würdest.“ Auf dem Stick befanden sich ausgewählte Akten der VCO. Dinge die er auf Anraten von Sakuya bei einem Hack auf dem Hauptserver gesichert hatte. Chronologisch sortierte Akten zu einzelnen Serientypen der Rekruten, Forschungsergebnisse der Hybriden Testreihen, Papiere zu Mind-Control Programmen, Aufzeichnungen von strategischen Vorgehensweisen mit Bezug zur Übernahme von Efrafar, sowie Programme zur Vorgehensweise für eine weitere Infiltration der Sektorpolizei in Japan. Würde Ameara nach der Durchsicht dieses Materials noch immer mehr wissen wollen, hätte er ein weiteren Fundus an Informationen für sie. Es setzte jedoch voraus, dass sie sich bereit erklärte, mit ihm zusammen zu arbeiten. Denn alleine würde er es nicht wieder schaffen, auf den zentralen Server der VCO zugreifen zu können. Nach seinem letzten Angriff hatten die hiesigen Techniker alles dafür getan, die Sicherheitslücken zu beheben. Wenn er tun wollte, was Sakuya ihm aufgetragen hatte, brauchte er Verstärkung. Und scheinbar hatte Sakuya alles dafür in die Wege geleitet, damit L.V. Ihm nun gegenüber saß und ihn mit offenem Mund anblickte.
„Ich sehe es mir an, wenn du die Maleware von meinem Computer entfernst.“ Ameara war nicht dumm. Die Befürchtung, sie würde geradewegs in eine Falle laufen, würde sie sich weiterhin darauf einlassen, dass er sie und ihre Tätigkeiten ausspionierte, loderte in ihr augenblicklich auf.
„Nein.“ erwiderte Elliot und sah das Überraschen in Amearas blassem Gesicht. Ihre Neugier würde sie nicht loslassen, das wusste er. Sie würde einwilligen, auch wenn er damit eine Grenze überschritt. Wortlos zog Elliot seinen Rucksack zu sich und holte den Laptop heraus.
„Du willst, dass ich mir das jetzt ansehe?“ fragte sie verwirrt und begegnete Elliots stummen Nickten.
„Ich habe sowieso noch etwas zu tun.“ erwiderte er beiläufig und begann seine Finger über die Tastatur des Laptops gleiten zu lassen.
Immer wieder hatte Rin beunruhigt auf die Uhr geschaut. In wenigen Stunden würde die Sonne aufgehen. Wann hatte Dakon also vor, seiner Frau die Wahrheit zu sagen? Wäre er tatsächlich so feige und würde sich nicht mehr blicken lassen? Hershels Labortür fiel abermals ins Schloss und Rin sah geradewegs in das notdürftig behandelte Gesicht von Dakon. Getrocknetes Blut zeichnete sich über seiner Oberlippe ab. Hatte Sakuya ihn etwas geschlagen? Kurz musste Rin innerlich über diesen Umstand lächeln. So kannte er Sakuya; gerade heraus.
Erwartungsvoll blickte Rin zu Dakon auf, der ihn jedoch nur mit einer Mischung zwischen Wut und Anspannung entgegen trat.
„Wo ist Serah?“ fragte er zornig und begegnete schließlich Sakuyas Blick, der geradewegs zusammen mit Hershel eines seiner Arbeitszimmer verließ.
„Wie siehst du denn aus?“ fragte Hershel entsetzt und blickte in das geschwollene Gesicht seines Sohnes. Der Blickwechsel zwischen Dakon und Sakuya entging ihm dabei keineswegs. Er erkannte puren Hass in Dakons angespanntem Gesicht.
„Du weißt noch nicht einmal wo deine eigene Frau ist?“ stellte Hershel kopfschüttelnd fest und wies auf eines der Zimmer im Labor. Aber noch ehe Dakon seinen Gang fortsetzten konnte, blickte Serah ihm bereits außerordentlich wach und mit Entsetzten entgegen:
„Was ist hier eigentlich los?“
Sarahs Blick glitt stumm und kalt durch Hershels Labor. Seit etwa zehn Minuten hatte sie nichts mehr gesagt. Beunruhigt blickte Rin sie wieder und wieder an.
Dakon hatte in Hershels Arbeitszimmer mit ihr gesprochen. Und ohne ein weiteres Wort, war er nach etwa einer halben Stunde stumm wieder gegangen. In seinem Gesicht glaubte Rin noch mehr Wut gesehen zu haben. Dakon hatte nicht einen Ton mehr gesagt. Was Rin wunderte. Es kam nicht oft vor, dass er schwieg und einmal nicht das letzte Wort hatte. Aber vielleicht hatte Dakon dieses mal einfach gewusst, dass er zu weit gegangen war. Das klärende Gespräch bezüglich des Einsatzes in Mi`hen war bis dato ausgeblieben. Er hatte genügend Chancen gehabt, die Wogen wieder zu glätten. Aber jemand wie er, schien lieber vor einer Konfrontation auszuweichen, anstatt sich ihr mit allen Konsequenzen zu stellen. Warum er dennoch das Gespräch mit Serah gesucht hatte, erschloss sich Rin nicht völlig. Aber vielleicht war es einfach nur der letzte Funke in Dakons Gemüt, der noch von seinem überhöhtem Stolz übrig geblieben war.
„Als hätte das, was in Mi`hen geschehen ist, nicht schon gereicht.“ sagte Rin leise zu sich selbst und zündetet sich eine weitere Zigarette an.
„Warum? Warum tut er das?“ endlich hatte Serah etwas gesagt. Mit Tränen in den Augen betrachtete sie Rin fassungslos, als würde er die Antwort auf all das kennen. Kopfschüttelnd zog er an seiner Zigarette.
„Mein halbes Leben lang habe ich nie einen Zweifel an unserer Liebe gehegt. Zwei Jahre lang war ich fort, sah mit an, wie man unvorstellbares mit unserer Tochter tat. Wäre Dakon nicht gewesen, hätte ich all das vermutlich niemals überstanden. Und jetzt erzählt er mir, dass er es mit dieser Ärztin treibt?“ noch immer starrte sie ihn völlig fassungslos an. Rin senkte seinen Kopf. Was hätte er ihr in dieser Situation antworten sollen? Dass Liebe utopisch war? Er selbst hatte ähnliches mit seiner Exfrau erlebt. Sie war ständig unterwegs gewesen. Erst im Nachhinein hatte er all die Anzeichen erkannt. Der Schmerz saß damals so tief, sich in einem Menschen so dermaßen getäuscht zu haben, dass er es bis heute dabei belassen hatte, nur Oberflächliche Kontakte zu Frauen zu haben. Die ein oder andere gemeinsame Nacht war dabei das höchste der Gefühle. Aber die Frauen, mit denen er sich traf, wusste um diesen Umstand. Er hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er nur körperliches Interesse an ihnen hatte. So blieben Konflikte aus.
„Was hast du jetzt vor?“ fragte Rin unsicher und blickte wieder in Serahs verzweifelte blaue Augen.
„Ich weiß es nicht.“ sie war aufgestanden und schlang ihre Arme um die Schultern.
„Ich... werde sehen müssen, wie es mit der UEF weitergeht.“ beendete sie den Satz schwerfällig.
„Dein Sohn ist das allerletzte.“ erklärte Rin geradewegs Hershel, der zu ihnen kam und sich müde setzte, nachdem er einige Zeit in seinem Arbeitszimmer verschwunden war, nachdem Dakon mit Serah das Gespräch gesucht hatte.
„Nun, das ist nichts neues. Was hat er diesmal angestellt?“ noch ehe er eine Antwort bekam, sah er bereits in Serahs Augen, dass Dakon sie zutiefst verletzt haben musste. Und zugleich schossen ihm wieder Sakuyas Worte in den Kopf. Er hatte bereits etwas gewusst.
„Er betrügt mich.“ erwiderte Serah nur kleinlaut und die ersten Tränen liefen durch ihr Gesicht.
„Herrgott...“ Noch ehe Serah sich wehren konnte, war Hershel aufgestanden und hatte sie mitfühlend in seine Arme geschlossen. Rin sah den beiden nur berührt zu. Wie es mit der UEF weitergehen würde, das konnte auch er nicht sagen. War es nicht immer Dakon gewesen, der proklamiert hatte, dass es keine Beziehungen innerhalb seiner Einheit zu geben habe, weil es nur Konflikte mit sich bringen würde? Und ausgerechnet er machte sich jetzt über die Ärztin des Teams her.
„Ich werde eine Wohnung brauchen...“ schlussfolgerte Serah aufgelöst und löste sich schließlich wieder etwas gefasster aus Hershels Umarmung.
„Ja und ich werde zusehen, dass Dakon aus meinem Haus rauskommt.“ ergänzte Rin angewidert.
„Was eine Bleibe betrifft...“ Hershel eilte in sein Arbeitszimmer zurück und schrieb hastig die Adresse von dem Haus auf, über das er zuvor noch mit Sakuya gesprochen hatte. So sehr Hershel sich gewünscht hätte, dass sein Sohn die Liebe seiner Frau, die sie ihm stets entgegengebracht hatte, erkannt hätte, so sehr wunderte er sich einmal mehr über Sakuyas siebten Sinn. Er musste von der ganzen Sache gewusst haben. Nicht umsonst hätte er sonst das Haus seines Freundes Kudara erwähnt.
Nach einigen Sekunden kam Hershel mit dem Zettel zurück und übergab ihn Serah wohlwollend.
„Tahara?“ las Serah nur verwirrt den Namen des Ortes vor.
„Es ist ein Haus direkt am Meer. Es gehörte einem guten Freund von mir, Doktor Kudara. Aber er erträgt das Haus nicht mehr ohne seine Frau.“ erklärte Hershel gedankenversunken. Vermutlich war er geradewegs bei seinem Freund.
„Wenn du mir bis morgen Zeit gibst, finde ich vermutlich auch noch den Zweitschlüssel.“ schob Hershel hinterher, als sein Blick beiläufig zu Rins verletzter Schulter fiel.
„Herrgott Junge, das muss genäht werden!“
„Es gab gerade Wichtigeres.“ erwiderte Rin unbekümmert bezüglich der Verletzung.
„Komm, zieh deine Jacke und das Hemd aus, ich werde mir das mal ansehen.“ hetzte Hershel Rin und zog ihn entschlossen vom Stuhl.
„Serah, wenn du möchtest, leg dich etwas hin. Ein unglaublich bequemes Sofa wartet in meinem Arbeitszimmer. Nimm die Wolldecken dort drüben, sie sind gerade frisch aus der Reinigung wieder da.“ Während Hershel Serah weitere Annehmlichkeiten seines Labors unterbreitete, hatte er damit begonnen, vorsichtig einige Splitter, mittels Pinzette, aus Rins Schulter zu entfernen.
Gebannt und ungläubig las sich Ameara durch die Aufzeichnungen der VCO, die Elliot ihr gegeben hatte. Niemals hatte sie sich auch nur ansatzweise das ausmalen können, was sie darin erfuhr. Wie weitreichend dieses ganze Projekt war, begriff sie erst nach und nach. Aber man hatte nichts ausgelassen. Von transhumanen Mutanten bis hin zu Mind-Control-Programmen war alles dabei. Selbst die Kreuzung mit Tieren hatte man nicht ausgelassen, wenn auch verworfen. Innerlich sträubten sich ihr die Haare. Um so weiter sie las, um so fassungsloser wurde sie. Und schließlich stieß Ameara auf Akten zu Sakuya Kira und Linnai. Sofort erkannte sie die beiden wieder. Es waren nur kurze Ausführungen über ihre Fähigkeiten und ein Verzeichnis der Einsätze, zu denen sie geschickt werden sollten. Die Klassifizierung ihrer Personen war die höchste, die Ameara in den Aufzeichnungen gefunden hatte.
„Bist du auch einer von ihnen?“ fragte sie schließlich in die Stille des Apartments und stieß auf Elliots konzentrierten Blick. Er machte keinerlei Anstalten seine Arbeit am Laptop zu unterbrechen und nickte stumm.
Nachdem Sakuya einige Sachen von Lynn aus ihrer Wohnung geholt hatte, hielt er schließlich vor der Türe seines Apartments inne. Das alles hatte er schon einmal erlebt. Nur dass sie mit einem Messer auf ihn gewartet und ihn schwer verletzt hatte. Wie er sie dieses mal vorfinden würde, konnte er nicht sehen. Wenn ihr Geist sich in einem solchen Ausnahmezustand befand, hatte er keine Chance in ihre Gedankenwelt vorzudringen.
Kontrolliert schloss Sakuya die Türe auf. Es war noch immer dunkel. Angespannt trat er schließlich ins Wohnzimmer. Unverändert lag Lynn mit den Fesseln auf dem Sofa. Scheinbar hatte sie sich nicht einmal bewegt. Aber sie atmete noch und Sakuya ließ sich erleichtert in einen Sessel fallen.
Müde glitt sein Blick über ihr Gesicht. Stumme Worte formend bewegten sich ihre Lippen hin und wieder. Wo sie gerade war, konnte er nicht einschätzen. Aber es waren vermutlich keine positiven Erinnerungen, die sie erneut durchlebte. Ob das Zittern ihres Körper allein auf ihre Ängste zurückzuführen war oder ob sie fror, konnte er ebenfalls nicht bestimmen. Aber Sakuya entledigte sich seines schwarzen Mantels und legte ihn schließlich behutsam über sie.
Vielleicht sollte er selbst auch einen Augenblick lang die Augen schließen. Er würde noch bis zum Mittag warten, ehe er Lynn erneut in sein Auto bringen und mit ihr zu Serah fahren würde. Dass Hershel noch immer den Kontakt zu Kudara pflegte, spielte ihm einmal mehr in die Karten. Auf Hershels Entscheidungen war wie immer Verlass gewesen.
Wie sich die Situation zwischen Lynn und Serah jedoch in Tahara entwickeln würde, konnte er nicht sehen. Er konnte Serahs Handlungen einschätzen. Und er wusste, wie wohlgesonnen sie Lynn war. Das war nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass Serahs Muttergefühle ihr gegenüber immer wieder aufflammten. Aber Sakuya fragte sich ernsthaft, ob er Serah damit nicht zu viel zumutete.
Er legte müde den Kopf in den Nacken und blickte zur Decke.
Ob sich all das lohnte? Ob all diese Opfer wirklich hatten erbracht werden müssen, nur damit am Ende alle Welten weiterexistieren konnten?
Und wieder bemerkte Sakuya, wie Lynns Anwesenheit ihn in einen Bann zog. Das Gute war, dass er zu müde war, um jeglichen Regungen seines Geistes und seines Körpers nachgehen zu wollen. Aber bei dem erneuten Anblick von Lynn, spürte er abermals seine körperlichen Reaktionen auf sie.
„Sakuya...“ leise Worte rissen ihn aus seinen Gedanken und er blickte in ihre blauen erschöpften Augen. Sie sah ihn geradewegs an. Nur eine kurze Handbewegung ihrerseits hatte ausgereicht um feststellen zu müssen, dass er sie gefesselt hatte.
„Ich bin da.“ erwiderte er leise. Entgegen seiner Befürchtung, sie könnte die Fesseln geradewegs zerreißen, blieb sie still vor ihm liegen und blickte ihn weiterhin an.
„Bitte geh nicht...“ flüsterte sie leise.
„Ich werde nicht gehen.“ antwortete er.
Er würde auch nicht gehen. Die Frage die jedoch im Raum stand, war die danach, ob sie nicht schlussendlich gehen würde. Um all das Unaussprechliche hinter sich zu lassen.
Müde blitze ihn das Blau ihrer Augen unter dichten Wimpern an. Gleich würde sie wieder schlafen. Hinabsinken in andere Welten. Weit weg von ihm, aber dennoch physisch anwesend.
Sakuya schloss seine müden Augen langsam und ließ sich zurück in den Sessel fallen. Langsam folgte er seinen Erinnerungen bis hin zu jenen Ereignissen, die die familiäre Beziehung zwischen ihm und Lynn hatte seltsam werden lassen.
>> Noch am Morgen hatte Sakuya von Negan die Anweisung erhalten, Linnai zu Hershel zu bringen. Er müsse mit der Hormontherapie weiter machen, denn es sei an der Zeit, dass Linnai auf das Zuchtrogramm vorbereitet werde. Kopfschüttelnd hatte Sakuya den Mann stehen lassen, der ihm Negans Nachricht überbracht hatte. Die Wut staute sich in ihm, und am liebsten wäre er geradewegs in Negans Büro marschiert und hätte ihn für dieses idiotische Programm zu Tode geprügelt. Linnai war gerade einmal vierzehn und schon sollte sie sich mit Dingen auseinandersetzten, die in diesem Alter noch überhaupt nichts in ihrem Verstand zu suchen hatten. Ganz zu schweigen von den Männern, die man für das Zuchtprogramm für sie vorgesehen hatte. Denn Hershel hatte Sakuya noch vor einigen Tagen eine Liste mit möglichen Kandidaten vorgelegt. Er bat ihn, fünf Männer auszuwählen, auf Negan Geheißen hin. Man müsse sich sicher sein können, dass die Männer mit Linnais verschlossener Art umgehen könnten, um sie für „die richtigen Handlungen“ anleiten zu können. Richtige Handlungen. Sakuya hatte so tief den Rauch seiner Zigarette vor Wut inhaliert, dass er kurz hustend inne halten musste, als er endlich vor Lynns Baracke stand. Das war alles absurd. Richtige Handlungen wären gewesen, Linnai zufrieden zu lassen. Er hatte immer noch die Bilder vor Augen, wie sie das erste mal auf Hershels Operationstisch gelegen hatte und sich das Ausmaß ihrer Kindheit sich ihnen beiden offenbart hatte. Irgendjemand hatte sie am laufenden Band vergewaltigt, da wo er sie hergeholt hatte. Zudem konnte er ihr noch immer nicht verübeln, dass sie mehrere seiner Männer schwer verletzt hatte, als man sie damals aus der kleinen Zelle in jenem Dorf zerren wollte. Elf Jahre alt und voller Hass, hatte sie ihm gegenüber gestanden. Er hatte zwei Jahre gebraucht um ihr Vertrauen zu gewinnen. Und nun sollte er sie wieder solch Dingen ausliefern?
Sakuya hatte gedankenversunken Linnais Zelle betreten und blickte ihren entsetzten Auge entgegen, ehe sie sich hastig, mit freiem Oberkörper von ihm wegdrehte. Es war also schon so weit. Negan hatte ganze Arbeit geleistet. Ärgerlich wartete Sakuya ungeduldig auf dem Flur, ehe sie zu ihm trat und verschämt die Tür ihrer Baracke hinter sich schloss. Ihr war die Situation sichtlich unangenehm.
Während Linnai unsicher vor ihm herlief, geradewegs zu Hershel, dachte er über die Liste der Männer nach. Einige von ihnen kannte er aus anderen Einheiten. Es waren ausschließlich Rekruten mittleren Alters dabei, kaum jünger als er selbst. Innerlich sträubten sich ihm die Haare, bei dem Gedanken daran, was man von ihr verlangen würde. Erwachsene Männer und ein „Kind“. Was sich gerade auf der Basis und in Negans Kopf abspielte, hatte nichts mehr mit Forschung zu tun. Und dass Hershel nur sein Mittel zum Zweck war, lag auch mehr als auf der Hand. Aber auch er konnte nicht aus seiner Haut. Lange genug hatte er die ganze Prozedur aufgeschoben und Negan immer wieder mit Ausreden vertröstet, warum es gerade ein unpassender Zeitpunkt für Lynn sei. Aber nun waren Hershel und Sakuya an einem Punkt angelangt, an dem es kein Entrinnen mehr gab. Vor allem nicht für Linnai.
Einer der Männer, der auf der Liste gestanden hatte, war Sakuya mehr als ein Dorn im Auge. Sein Name war Souta. Natürlich hatte Sakuya ihn nicht für Linnai vorgeschlagen, aber er kannte Negan und seine Spielchen, um andere zu erniedrigen. Bei seinem Glück würde er Souta zu ihr schicken. Das wäre in vielerlei Hinsicht problematisch. Zum einen waren da dutzend Rekrutinnen, die sich bereits bezüglich seiner rauen Übergriffe beschwert hatten, zum anderen wusste Sakuya, dass Souto geradewegs in der kritischen Phase seines eigenen Hormonhaushalts war. Die zunehmende Verknappung der Nonjod Tabletten war dabei absolut nicht hilfreich. Durch Hershel hatte Sakuya davon erfahren. Die Handelsverträge mit Efrafar brachen allmählich endgültig zusammen und an Jod war nur noch schwer heranzukommen. Dementsprechend spürte auch Sakuya die Auswirkungen in seinem eigenen Team. Der größte Teil der jungen Männer war kaum mehr im Griff zu bekommen. Sie benahmen sich wie läufige Hunde und scheuten keinerlei körperliche Auseinandersetzung mehr. Zu viel Testosteron in der Gruppe, ließ das Training schnell eskalieren. Ein falscher Blick, eine missverstandene Geste und er sah sich selbst als Teamleiter mitten in einer Horde wütender Kinder, die aufeinander einprügelten. Wie Negan auf die absurde Idee gekommen war, Männern, die er gewaltvoll zum töten ausbilden ließ, mithilfe einer Hormontherapie zur Fortpflanzung in bestimmten Zeiträumen drängen zu wollen, erschloss sich ihm absolut nicht. Auch Souta war ohnehin schon bekannt für seine mangelnde Selbstdisziplin und sein aggressives Verhalten. Würde er in diesem Zustand auf Linnai treffen, die ebenfalls eher zuschlug als etwas mit Worten regeln zu wollen, wäre eine Eskalation mit tödlichem Ausmaß garantiert.
„Sakuya, hörst du mir zu?“ Hershel riss ihn aus seinen Gedanken. Kurz sah sich Sakuya fragend nach Linnai um, ehe er bemerkte, dass Hershel bereits mit ihr fertig war und sie sich gerade hinter einem Sichtschutz wieder anzog.
„Es ist wegen dem Zuchtprogramm, nicht wahr?“ Hershels Worte klangen weniger nach einer Frage, als nach der Feststellung, weshalb Sakuya gedankenversunken und teilnahmslos in seinem Labor stand.
„Mir passt das ganze auch nicht. Vor allem nicht, wenn ich an Souta denke. Gestern war wieder eine junge Frau aus Hayatos Team hier. Hayato hat den Mistkerl nicht im Griff. Er hatte den Wachmann aus ihrem Trakt zusammengeschlagen und sie schließlich am Abend, nach dem Duschen abgefangen. Die Putzfrauen sagten, sie hätten noch nie solch ein Massaker gesehen. Die Fliesen der Duschräume waren bis auf Schulterhöhe mit Blut bespritzt. Ich musste die junge Frau zweimal nähen, wenn du verstehst, was ich dir sage.“ Sakuya schwieg und sah nur in Hershels mahnende Augen. Was zu tun war lag auf der Hand. Aber wenn Souta nicht auftauchen würde, würde man Linnai jemand anderes zuteilen.
„Sakuya, das ganze Zuchtprogramm läuft aus dem Ruder. Wir müssen uns etwas einfallen lassen.“ appellierte Hershel eindringlich an seinem Freund und suchte Sakuyas verschlossenen Blick. Er ahnte bereits, dass es unter seiner Haut brodelte.
„Ich weiß, Hershel. Lass Souta meine Sorge sein. Aber ich kann Lynn nicht vor diesem Treffen schützen.“
„Das ist mir klar. Ich schreibe Lynn so viel Mut zu, dass sie das nicht mit sich machen lassen wird. Naja außer...“ Hershel hielt kurz inne und begegnete Sakuyas gereiztem Blick:
„Was, Hershel?“
„Naja, außer du wärst derjenige, den man ihr zuteilen würde.“ beinahe hätte Sakuya laut aufgelacht. Mit Hershel ging die Fantasie durch. Niemals würde Lynn ihn als Liebhaber betrachten. Aber etwas in Hershels Blick verriet ihm prompt das Gegenteil.
Kopfschüttelnd hatte Sakuya sich abgewandt:
„Ich kümmer mich um Souta. Schau, dass du dir etwas einfallen lässt, um den Termin heraus zu zögern.“
Nächte später, hatte Sakuya bei den Männerduschen darauf gewartet, dass Souta kommen würde. Er war ihm körperlich deutlich unterlegen, weshalb Sakuya sich auf keinen all zu großen Kampf eingestellt hatte. Er wusste, dass Souta stets als letztes duschte, da er selbst regelmäßig als Teamleiter dazu verpflichtet war, Nachts den Überwachungsraum zu besetzten. Weshalb er auch Lynn schon in Vergangenheit vor einem anderen Rekruten hatte schützen können. Seine Erwartung bewahrheitete sich nach einigen Minuten der Stille, als er die schweren Schritte von Souta hörte. Mit einer zügigen Bewegung hatte er ihn bei den Armen gepackt und drehte sie ihm auf den Rücken, um ihn schließlich geradewegs zurück in die Duschräume zu schieben, wo Sakuya ihn schließlich mit voller Wucht gegen den Fliesenspiegel knallte:
„Wenn Negan will, dass du der Kandidat für das Zuchtprogramm mit Linnai bist, wirst du dich krankmelden! Hast du das verstanden?“ Ohne dass er seinen Worten weiteren Nachdruck hätte verleihen müssen, sackte Souta zitternd in sich zusammen und sah vom Boden zu Sakuya auf.
„Verstanden Sir.“ murmelte er benommen. Sakuya war sich nicht sicher, ob Souta ihn gerade auf den Arm nehmen wollte. Wie ein riesiges Kind saß er voller Angst, an die Wand gekauert und scheute seinen Blick.
„Gut.“ Noch bevor Souta weiteres sagen konnte, war Sakuya bereits schon wieder auf dem Weg zu seiner Baracke.
Die halbe Nacht lang hatte Sakuya noch Berichte geschrieben und wieder über die eigenartige Situation mit Souta nachgedacht. Die einzige Schlussfolgerung, die ihm dabei jedoch in den Sinn kam war die, dass er seine aggressiven Tendenzen primär an Frauen auslebte, oder an Teamkameraden, die ihm weitaus unterlegener waren. Dass er ein grausamer und verachtenswerter Wichser war, stand ohne hin schon fest. Sakuya bereute es für eine Weile, ihn nicht noch geschlagen zu haben, für das, was er der Rekrutin angetan hatte.
Ein weiterer Gedanke kam ihm schließlich in den Morgenstunden, nachdem er endlich das Protokoll zur Befragung eines weiteren Teamleiters geschrieben hatte.
Schwarze Schafe gab es überall, auf der Basis der VCO jedoch zu genüge. Vermutlich musste das daran liegen, dass Negan beinahe ausschließlich die Rekrutierung von Männern aus der Wüste anordnete. Und wer an diesem Ort aufwuchs, hatte alles, aber kein einfaches Leben. Die Männer waren permanent mit Angriffen, Plünderungen und Vergewaltigungen konfrontiert. Dass man sie schließlich auf einer militärischen Basis zur Unterordnung trimmen wollte, war kein besonders gut gedachtes Konzept, SND hin oder her. Der animalische und raue Trieb, der diesen Männern innewohnte, kam bei den unpassendsten Gelegenheiten immer wieder zum Vorschein. So auch vor einigen Wochen, als jemand aus seinem Team sich an Sakuya wandte. Er bat unter Tränen nach einem Termin bei Hershel. Anstandslos hatte Sakuya ihm einen Besuch gewährt. Er vertraute seinen Rekruten. Keiner von ihnen war faul, oder kleinlich. Sie hatten alle samt Durchhaltevermögen. Aber wenn ihn jemand um einen ärztlichen Termin bat, musste die Situation mehr als ernst sein. Am gleichen Abend noch hatte Sakuya Hershel einen Besuch abgestattet um die Berichte für Negan einzufordern. Es stellte sich heraus, dass ein anderer Teamleiter, der seit einigen Wochen mehrmals den Überwachungsraum besetzt hatte, es sich zu seiner nächtlichen Obsession gemacht hatte, die Zelle von Sakuyas Rekruten aufzusuchen. Was sich genau darin abgespielt hatte, war nicht ganz klar. Aus Hershels Bericht ging jedoch hervor, dass sein Rekrut Strangulationen im Halsbereich aufwies, sowie fleckförmige Hämatome im Sinne von Griffspuren an den Innenseiten der Oberschenkel und Verletzungen an Damm und After. Hershel hatte Sakuya nur kopfschüttelnd den Bericht übergeben. Ihm stand das Entsetzten ins Gesicht geschrieben. Mit dem Verweis, dass Sakuyas Rekrut mit einem Schließmuskelriss nicht mehr einsatzfähig war, hatte Sakuya ihn geradewegs stehen lassen. Dieses Arschloch hatte doch tatsächlich seinen Rekruten unbrauchbar gefickt. Nachdem Sakuya schließlich den offiziellen Anhörungstermin mit dem fremden Teamleiter von Negan bestätigt bekommen hatte, hatte er ihm noch am selben Abend einen rauen Besuch mit seinem Gewehr abgestattet. Der Teamleiter war am nächsten Tag nicht mehr verhörfähig. Scheinbar verursachte der Lauf eines Gewehres gleiches im Rektum, wie der Schwanz eines perversen Egomanen.
Möglicherweise hatte sich Sakuyas Aktion herumgesprochen. Und vielleicht hatte Souta aus diesem Grund, voller Panik auf ihn reagiert.
An einem frühen Morgen hörte Sakuya bereits aus seinem Bad, die heftigen Schläge an seiner Tür, ehe sie aufflog und ein junger Bursche das Zimmer betrat:
„Sakuya Kira, Negan will dich sehen.“ waren seine knappen Anweisungen, ehe er wieder verschwand. Warum auch immer Negan ihn in aller Herrgotts Frühe vor dem Training sehen wollte, kam ihm nicht sofort in den Sinn. Wer hatte noch gleich am Abend von Soutas Dusche im Überwachungsraum Dienst? Hayato? Und selbst der hatte mächtige Wut auf Souta. Er wäre Sakuya also niemals in den Rücken gefallen. Dafür verstanden sie sich auch viel zu gut.
Hatte Souta den Vorfall vielleicht gemeldet? Nein, so dämlich war selbst er nicht. Weil was ihn dann erwarten würde, wäre weitaus schlimmer, als die seichte Drohung in jener Nacht.
Sakuya zog seine ID Karte durch den Scanner der Türe, die in Negans Büro führte.
Gemütlich saß er vor der breiten Fensterfront, die noch in der Dunkelheit des frühen Morgens lag.
„Setz dich.“ Wies Negan ihn belustigt an und Sakuya ahnte sofort, dass das was folgen würde, wieder eines seiner Machtspiele sei.
„Nein, ich stehe lieber.“ erwiderte Sakuya monoton.
„Dann bleib halt stehen.“ Mit einem Lächeln hatte Negan sich vom Fenster zu ihm gewandt und musterte ihn:
„Hershel hat gestern Abend noch einen Bericht eingereicht, in dem er erklärt, dass Lynn nicht dem Termin des geplanten Zuchprogrammes beiwohnen können würde. Du hast nicht zufällig eine Ahnung warum er mir solche unliebsamen Zettelchen schreibt?“ In Negans kalten Augen lag pure Ungeduld gepaart mit haufenweise Arroganz. Dennoch hatte Sakuya keinerlei Angst vor diesem Mann.
„Nun, ich wills dir sagen: Linnai hat psychische Probleme.“ letzteres hatte er absichtlich geflüstert, wie ein verklemmtes Schulmädchen. Negan begann hysterisch zu Kichern.
„Weiß du, was nur nicht daran passt?“ abwartend drehte Negan eine Runde um Sakuyas Erscheinung.
„Der psychologische Dienst weiß nichts davon. Da stellt sich mir doch die Frage, ob diese kleine Luder, nicht einen ganz besonderen Draht zu euch Männern hat, dass sie ausgerechnet nur Hershel wissen lässt, was sie seelisch so zu bedrücken scheint.“ beim letzten Teil des Satzes war Negan stehen geblieben und hatte Sakuya mit schief gelegtem Kopf zugeflüstert. Innerlich stöhnte Sakuya auf. So viel narzisstische Energie auf einem Haufen, konnte er kaum ertragen. Alles an diesem Mann schrie nach Anerkennung. Negan wollte das man ihm in den Arsch kriecht und aus seinem Mund wieder herauskam. Wenn er zwei Dinge nicht leiden konnte, waren eines davon starke Persönlichkeiten in seinem Umfeld. Alle hatten nach seiner Pfeife zu tanzen. Vermutlich trugen Sakuya und die anderen Rekruten auch genau deshalb den SND.
„Komm zum Punkt.“ forderte Sakuya genervt und begegnete prompt Negans verwundertem Blick. Mit zwei großen Schritten kam er auf Sakuya zu und blieb geradewegs vor ihm stehen:
„Ich sag dir was, sollte ich herausbekommen, dass Du oder Hershel irgendeine Scheiße im Kopf habt, werde ich sie euch eigenhändig hinaus prügeln. Denn glaub mir, wären meine Gene nur ein paar Jahre jünger, wäre ich geradewegs auf dem Weg zu Linnai und würde ihr zeigen, was es bedeutet sein Mann zu sein. Vermutlich wäre es ihr eine wahre Freude, mal an meinem riesigen Schwanz nuckeln zu dürfen.“ Natürlich wusste Negan, wie sehr Sakuya sich in diesem Augenblick zusammen reißen musste, um ihm nicht geradewegs den Schlag seines Lebens zu verpassen. Von dem er sich gewiss auch nicht mehr erholt hätte. Zugleich war Sakuya aber amüsiert davon, dass Negan tatsächlich glaubte, gegen ihn oder Lynn eine Chance zu haben.
„Sieh das einfach als kleine Warnung an, Sakuya. Ja?“ Negan hatte sich wieder von ihm weggedreht und steuerte geradewegs auf seinen Schreibtisch zu, während er Sakuya mit einer Hand signalisierte, dass er wieder verschwinden solle. Geradewegs als die Tür sich öffnete, rief Negan jedoch noch:
„Achja, Dr. Allan Wake wird sich ab heute um Lynn kümmern. Ich hörte Hershels Familie hatte da einen kleinen Brandunfall in ihrer neuen Wohnung.“
Sakuya hatte sich beim Training kaum auf seine Rekruten konzentrieren können. Auch wenn es niemand von ihnen zu bemerken schien. Er fühlte er sich zunehmend kraftloser. Entweder hatten die letzten Wochen ihm mehr abverlangt als er es sich eingestehen wollte, oder Negan hatte es sich nicht nehmen lassen, die Konfiguration für seinen Chip umzustellen. Was produzierte sein Körper da gerade in solchen Massen? Melanin? Prolaktin? Die Müdigkeit war kaum mehr auszuhalten. Ein Blick zu Negans Büro eröffnete Sakuya schließlich sein grinsendes Gesicht hinter der großen Scheibe.
Als man gegen Sakuyas Tür schlug, schreckte er zügig auf. Ein anderer Teamleiter teilte ihm die jüngsten Ereignisse zwischen Dr. Allan Wake und Linnai mit. Sie hatte ihn mit drei Ampullen Geomas betäubt, nachdem er mit der Hormon-Therapie an ihr fortfahren wollte. Innerlich triumphierte Sakuya still. Auf sie war Verlass gewesen. Nur das Gespräch mit Negan, würde weniger erfreulich verlaufen. Zum einen weil er, als ihre Teamleiter, für ihre Handlungen verantwortlich gemacht wurde und zum anderen, weil Negan sie mit großer Wahrscheinlichkeit selbst zu den Ereignissen befragen würde.
Es waren mehrere Tage vergangen und Negan schien sich immer noch willkürlich an der Hormonregulation von Sakuyas SND auszutoben. Immerhin hatte Hershel seinen Posten zurück erhalten und war nun wieder für Linnai verantwortlich. Jedoch kam Sakuya seit zwei Tagen nicht dazu, bei ihm im Labor vorbei zu schauen und ihn nach den neusten Entwicklungen zu fragen.
Seit einigen Tagen hatte man zudem Lynn in ein anderen Team versetzt. Es hieß, es sei nur temporär, aber Sakuya ahnte nichts Gutes.
Lynn gerade noch im vorbeigehen sehend, hatte Sakuya geradewegs seinen Rekruten die Ergebnisse des Trainings mitgeteilt. Saviour, einer der anderen Teamleiter, hatte sie geradewegs in die Richtung von Hershels Labor eskortiert. Wäre die Müdigkeit in seinen Knochen nicht erneut so ausgeprägt gewesen, hätte er Saviour angesprochen, aber er konnte nicht noch länger ohne Schlaf auskommen.
Unter der Dusche dachte Sakuya noch eine Weile darüber nach, wie sehr sich Lynn in dem letzten Jahr doch verändert hatte. Er musste sich selbst langsam mal eingestehen, dass sogar er sie zunehmend mit anderen Augen wahrnahm. Hershel hatte es ihm bereits mehrmals gesagt; auch die anderen Rekruten reagierten zunehmend auf ihre sinnliche Schönheit. Obwohl Sakuya sich bereits in den letzten Monaten mehr und mehr zurück genommen hatte, ihr gegenüber, bemerkte er, dass seine Reaktionen bei ihr auf Unverständnis stießen. Vielleicht wollte sie mehr von ihm. Oder auch einfach nur die alten Tage zurück. Jetzt fragte sich Sakuya mit jeder Berührung, ob er sie wirklich anfassen sollte. Training hin oder her. Weder wollte er sie in eine unangebrachte Situation bringen, noch wollte er sie zurückweisen. Aber es gab eben Grenzen. Und er hatte schon mehrmals mitbekommen, mit welchen Blick sie ihn angesehen hatte und welches Verlangen darin begründet war. Die Situation war schwierig.
Regungslos lag Sakuya schließlich in seinem Zimmer auf dem Sofa. Die Akten stapelten sich auf seinem Schreibtisch; aber er wollte nichts mehr tun. Die Geschehnisse der letzten Wochen machten ihm mehr als Sorgen. Der Befehl für die anstehende Mission, im nächsten Jahr in in Tschad Na Ham rückte auch immer näher. Bereits zweimal war er in der Wüste gewesen. Was dort geschah, hatte immer tiefe Spuren bei allen Beteiligten hinterlassen und reichlich Opfer gefordert. Krampfhaft versuchte Sakuya sich zum einschlafen zu zwingen. Die Müdigkeit war jedoch mit einem Male wie weggewischt. Nochmals dachte er über Lynn nach. Täglich wurde ihm immer mehr bewusst, dass sie nicht mehr das Mädchen war, das er einmal aus der Wüste gerettet hatte. Mit dem anstehenden Einsatz würde alles vermutlich noch schwerer werden. Immer mal wieder ertappte er sich selbst dabei, wie er sie mit dem Blick eines Mannes betrachtete. Wie seine Augen über ihre Lippen glitten und er daran dachte, wie es wäre, sie unter sich liegen zu spüren. Sakuya schob die Gedanken beiseite. Das war alles absurd. Alles. Vielleicht würde die Wüste etwas verändern. Vielleicht würde er nicht mehr zur Basis zurück kehren . Allmählich dämmerte er weg und erwachte erst wieder, als er hörte, wie jemand die Türe öffnete.
Leise kam Lynn herein; ihre Silhouette hätte er unter tausenden, auch in der Dunkelheit erkannt. Verwundert richtete er sich auf; war etwas passiert? Sie wusste so gut wie er, dass sie nichts bei ihm zu suchen hatte.
Zitternd kniete sich Lynn vor das Sofa, auf dem er lag. Er sah trotz der Dunkelheit, dass ihre Lippen aufgeplatzt waren; es war also etwas passiert. Sakuya kramte in seinem Gedächtnis nach einem möglichen Anlass. Moment, war es nicht die Woche, in der Lynn mit einem Partner am Zuchtprogramm teilnehmen sollte? Wie konnte er das vergessen? Für einen Augenblick musste er die Wut über Negans Herumgebastel an seinem SND ignorieren. Sakuya war seit Tagen völlig am Ende und hatte zunehmend Probleme damit, die Trainingszeiten und Termine einzuhalten. Das hatte Negan extra so eingefädelt. Die Akten und Berichte stapelten sich auf seinem Schreibtisch. Negan wollte Sakuya keine Gelegenheit mehr dazu geben, sich in das Zuchtprogramm einmischen zu können.
„Wer war das, Lynn?“ fragte Sakuya ruhig, in der Hoffnung sich seine Wut nicht anmerken zu lassen, aber sie gab ihm in alter Manier keine Antwort. Stattdessen blickte er in verunsicherte und tränenerfüllte Augen und schlug nachdenklich die Wolldecke um damit Lynn sich ohne zu zögern, zu ihm legen konnte. Ihr Atem kam nur stoßweise und das Zittern wollte nicht enden.
Das würde für diese Nacht noch ein letztes mal gut gehen. Vermutlich ahnte Lynn das auch bereits. Aber die Tatsache, dass sie trotz allem zu ihm gekommen war, zeigte ihm, dass sich an seiner Verbindung zu ihr nicht all zu viel geändert hatte. Welches Mädchen würde auch sonst nach einer knapp entgangenen Vergewaltigung zu einem erwachsenen Bann ins Bett stiegen? Lynn vertraute ihm nach wie vor. Das beruhigte ihn, anlässlich seines Planes, nach dem Einsatz in Tschad Na Ham nicht zurückzukehren. Sie würde ebenfalls bleiben und hätte somit die Chance auf ein Leben abseits unsagbarer Gewalttaten und Krieg.
Nichts desto trotz, war Negan ein elender Bastard. Überhaupt auf die Idee zu kommen, zwei Rekruten miteinander einzusperren, damit sie aufgrund des Hormoncocktails in ihrem Blut wie wilde Tiere übereinander herfielen, glich der Idee eines Idioten. Sakuya konnte nur hoffen, dass man niemanden aus seinem Team zu Lynn geschickt hatte. Wenn sie schon geschlagen wurde, konnte er sich sicher sein, dass ihr Gegenüber erst einmal einen mehrwöchigen Dienstausfall zu beklagen hatte. Seine Wut legte sich langsam.<<
Gedanklich lachte Sakuya über seine damalige Naivität in sich hinein. Aber aufgrund der Auswirkungen des SNDs auf seine Hirnchemie, hatte er zu dem Zeitpunkt nicht anders handeln können. Erst nachdem er Hershel gebeten hatte, den Chip zu deaktivieren, kehrte wieder Klarheit in seinen Gedanken ein. Und er sah immer wieder in Bruchteilen von Sekunden, die Ausmaße und das Leid, welches mit dem Einsatz in Tschad Na Ham auf ihn und Lynn zukommen würde. Aber es hatte damals kein zurück mehr gegeben. Das einzige was ihm blieb, um das Sterben von Lynn zu verhindern, war es gewesen, sie in einem entscheidenden Moment in seinem Hotelzimmer geistig zu manipulieren. Er hatte die Fantasien für sie real werden lassen, die sie sich seit geraumer Zeit ersehnt hatte. Dass ihr Gehirn jedoch mit allen Mitteln gegen diese Lüge kämpfen würde, hatte er nicht kommen sehen können. Eben so wenig wie die daraus resultierende Annahme in er Gefangenschaft der S-Hudan, er wäre ein Teil ihrer Vergewaltiger gewesen. Was letztendlich darin mündete, dass sie nach ihrer Befreiung mehrmals versucht hatte, ihn zu töten. Bei dem Gedanken daran pochte immer noch die Narbe an seiner Brust. Sie hatte ihn so aus dem Hinterhalt erwischt, dass ihm nur noch übrig geblieben war, sie so lange zu würgen, bis sie schließlich Ohnmächtig auf den braunen Holzboden des Flures, in dem Apartment in Efrafar gefallen war. Niemals würde er ihre erstickenden Laute bei diesem Todeskampf vergessen.
Und doch hatte er in Yevon erneut zu einer ähnlichen Methode greifen müssen, um die zurückliegenden Erinnerungen ihres Geistes zu beschleunigen. Gestört in einer Situation, in der er sich bald selbst vergessen hatte, als Yennifer ihm nackt gegenüber stand und er geradewegs dabei war, sich dem zunehmenden Trieb seiner Hormone zu ergeben, aus der Manipulation ihrer Gedanken heraus und den darin verborgenen Bildern.
Er hatte Lynn beinahe ertränken müssen, damit sie im entschiedenen Moment den vollen Zugriff auf all ihr Potenzial haben würde. Aber zugleich hatte er in diesem Augenblick dafür gesorgt, dass Carver ihm sein Versprechen gab, an Lynns Seite zu sein, wenn sie Freund und Feind nicht mehr unterscheiden können würde. Und Carver hatte sein Versprechen gehalten. Er hatte Yennifer gefunden und sie damit gerettet. Während Sakuya die längst überfälligen Ungereimtheiten in Lynns Gedächtnis bereinigen konnte, in der verlassenen Bar in dem Bergdorf in Efrafar.
Und all das nur, damit sie an diesen Punkt und an noch weitere gelangen konnten und würden.
Nachdenklich öffnete Sakuya die Augen und blickte zu Lynn, die regungslos vor ihm auf dem Sofa lag. Sie trug noch immer die gleichen Sachen, die sie schon in Mi`hen bei dem großen Angriff getragen hatte. Blutreste von ihm selbst, von ihr und den Getöteten breiteten sich wie ein abstraktes Muster auf ihrer dunkelblauen Jeans aus. Die Wunde an der Innenseite ihrer Oberschenkel hatte sich durch die Geomas-Tranfusion wieder geschlossen. Aber eine Narbe würde für immer zu sehen sein, weil ihr Körper in dem Augenblick über viel zu wenig Geomas verfügt hatte.
Dakon hatte Lynn von einem Elend in das nächste gezogen. Und Sakuya hatte stets versucht, das Schlimmste zu verhindern.
Im Morgengrauen stellte Elliot fest, dass Ameara bereits seit einiger Zeit mit dem Lesen der Aufzeichnungen aufgehört hatte. Stattdessen hatte sie schweigend mehrere Zigaretten geraucht und ihn immer wieder nachdenklich und schockiert angesehen.
Das Wissen, welches er ihr offenbart hatte, müsste sich erst einmal setzten. Zudem war noch immer ein überaus gefährlicher Drogencocktail Teil ihres Blutes. Ihre dunklen Augenränder, auf wandweißer Haut zeugten davon mehr denn je.
„Elliot?“ schließlich flüsterte sie beinahe den Namen, den sie den Akten entnommen hatte. Daten über ihn selbst waren ebenfalls teil der Aufzeichnungen gewesen.
Mit wachen Augen sah er sie an.
„Willst du schlafen?“ fragte sie mit einer verwirrenden Verzweiflung in der Stimme.
„Ich bin nicht müde.“ erwiderte er ihr und schloss seinen Laptop.
„Legst du dich trotzdem zu mir?“ das unterschwellige Flehen in Amearas Stimme entging Elliot keinesfalls. Nach einigen Sekunden nickte er schließlich und beobachtete, wie Ameara aufstand und zu ihrem Bett hinüber ging. Das Plissee vor ihrem Fenster verbarg nur notdürftig die Helligkeit des Morgens und so folgte Elliot ihr und schaltete die beiden Lampen auf ihrem Schreibtisch aus.
Ohne ein weiteres Wort miteinander zu wechseln, hatte sich Elliot mit verschränkten Armen neben sie gelegt und starrte an die Decke. Er hörte noch eine Weile Amearas Atem, die sich ihm zugewandt hingelegt hatte, jedoch keinerlei Anstalten machte, ihm näher zu kommen oder etwas sagen zu wollen. Vielleicht starb sie gerade, dachte Elliot noch kurz. Aber es wäre schade um sie, denn er könnte sie wirklich für die Aufgabe gebrauchen, die Sakuya ihm bereits schon vor Monaten aufgetragen hatte. Alleine würde er es nicht schaffen und Rins Fähigkeiten waren auch beschränkt, was die Handhabung mit dem Net-Dive der VCO betraf. Und etwas an dieser Frau faszinierte Elliot zutiefst. So sehr, dass er die kommenden drei Stunden seinen Blick nicht mehr von ihr abwenden konnte.
30 – Equilibrium
Unter erstickenden Krämpfen in ihrem Körper, wachte Lynn geradewegs mit einem heiseren Schrei aus schier unsagbaren Bildern heraus auf. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in die untergehende Sonne am Horizont, die sich ihr durch ein riesiges Fenster unter dem Dach offenbarte. Tosende Wellen des Meeres drangen unaufhörlich zu ihr. Hochgewachsenes Gras und der Abgrund einer Klippe, die Himmel und Erde mithilfe des Meeres zu trennen schien, bog sich im stürmischen Wind.
Da draußen gab es nichts mehr für sie.
Wo auch immer sie sich gerade befand.
Zitternd und unkontrolliert schnellten Lynns Hände geradewegs zu ihrem Kopf, der unaufhaltsam dröhnte und in dem sich ein stechender Schmerz weiter ausbreitete. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Trotz ihrer Kleidung schien sie zu erfrieren. Und mit einer plötzlichen Stille überkam sie schließlich eine erneute Flut von grauenhaften Bildern und Eindrücken.
Schreiend hatte Lynn sich zurückgeworfen und drohte in entsetzlichen Empfindungen zu ersticken. Wieder und wieder schrie sie so laut sie nur konnte, in der Hoffnung auch nur ein Mensch würde von ihrem Schmerz Kenntnis nehmen, aber sie blieb stumm.
Niemand hörte sie. Und nicht ein Ton hatte ihre Stimmbänder verlassen. Unter Todesangst blickte sie mal um mal in verschwommene Gesichter. Züge von Männern, die Lust aus der Abscheulichkeit ihrer Taten zogen. Erbarmungslosigkeit und Kälte, mit der man sie ansah und auf sie nieder blickte. Sie war dem Tode geweiht. Ein für alle mal. Und sie sehnte sich nach diesem Umstand. Nach dem Tod. Nach einem Ende. Nach diesem winzigen Schnitt, der mit einem Male alles vorbei sein lassen würde. Wie ein einzelner Sonnenstrahl, der abrupt die Dunkelheit durchtraf, damit danach nur noch endloses Nichts folgen könnte. Blendendes Licht gefolgt von einer Dunkelheit in der nichts weiter zu existieren vermochte. In der Gefühle und Gedanken endlich erloschen. In der es weder Zeit noch Raum, oder ein Vor und Zurück gab. In der Sinn und Vollendung ausgeschlossen waren, ebenso wie Schmerz und Reue.
Lynn wünschte sich nichts sehnlicher als dieses schwarze Loch, in dem nichts mehr Bedeutung hatte und sie endlich erlöst wurde von der Schuld. Keine anklagenden Gesichter. Kein Schmerz. Keine Gewalt mehr.
Nur noch die endlosen Weiten der Sinnlosigkeit. Keine Beteuerungen, keine Ausreden mehr. Keine Erklärungen. Keine Missverständnisse mehr. Nichts außer Stille und Bedeutungslosigkeit.
Heftig atmend rollte sich Lynn auf die Seite und erstickte beinahe an ihren eigenen Tränen. Niemals mehr wieder könnte sie einem Menschen unter die Augen treten. Nie wieder wollte sie auch nur eine Stimme vernehmen. Ihr Selbsthass steigerte sich ins Unermessliche. Ihre Seele schrie aus vollem Halse nach Stille und Frieden. Was sie unter ihrem Herzschlag spürte, brachte sie beinahe an den Rand des Wahnsinns. Nichts von ihrem Körper wollte sie mehr wahrhaben, nicht einen Teil mehr davon spüren. Zu sehr hatten sich die grausamen Erinnerungen bis ins Mark ihrer Knochen gefressen . So klein, wie sie verschwinden wollte, konnte sie sich gar nicht machen. Der Schmerz in ihrem Unterleib lähmte sie bei jeder nur gedachten Bewegung. Unterhalb ihres Bauches fühlte es sich an, als hätte man sie in ihrem Inneren in Stücke gerissen. Als wären selbst ihre Gedärme nicht mehr an Ort und Stelle und würden nur in blutigen Fetzten unaufhörlich pulsieren. Ihr Mund war taub, weil man ihr alle Zähne gezogen hatte. Ihr Kiefer pochte unaufhörlich und der Schmerz zog sich hoch, bis zu ihrem Kopf, um schließlich alles oberhalb ihres Halses zu vereinnahmen. Finger- und Fußspitzen konnte sie nicht mehr differenziert erfühlen, weil nur noch entsetzliches Brennen davon ausging, welches sich unaufhörlich durch ihre Extremitäten bis in ihre Körpermitte fraß. Sogar ihre Nägel hatte man ihr genommen. Der Schmerz ihrer Kopfhaut mischte sich mit dem endlosen Dröhnen ihres Kopfes. Nicht ein Haar hatte man ihr gelassen und es ihr bei lebendigem Leibe ausgerissen. Die klaffende Wunde in ihrem Nacken war noch immer präsent und verstärkte die Kopfschmerzen bis ins Unermessliche. Und etwas grub sich langsam aber sicher unter ihre Haut. Das Brennen und unaufhörliche Kribbeln ließ sich nicht mehr ausblenden. Die Larven der Fliegen schlüpften allmählich. Wie lange hatte man sie in dem Keller liegenlassen, dass sie schon begonnen hatte bei lebendigem Leib zu verwesen? Immer weiter gruben sich die Maden durch die engen Kanäle unter ihrer Haut. Bei einem weiteren Schrei, der ins Nichts abebbte, brannte ihr Hals schließlich so sehr, dass sich Lynn übergab. Ihre Speiseröhre schien in lodernden Flammen zu verbrennen, so unerträglich war das Gefühl. Sofort kehrte der Geschmack von Blut und Sperma zurück. Auf das eine folgte das andere. Wieder übergab sie sich und ihr Hals brannte, als hätte man ihr rostigen Stacheldraht eingeflößt.
Abermals hatte Sakuya von Lynns entsetzlichen Gefühlsregungen Notiz genommen und eilte die Treppen hinauf. Wohl wissend um die Gefahr der Situation, in der sie sich befand, hatte er ihre Fesseln zuvor noch enger gezogen gehabt, als noch in seinem Apartment.
Das Bild, welches sich ihm jedoch unterhalb des Daches in Kudaras Haus an den Klippen in jenem Zimmer bot, ließ ihn kurz inne halten. Jeder Muskel an Lynns Körper schien sich verkrampft zu haben. Ihre Fesseln lagen in ihrem erbrochen Blut. Ihre Lippen formten tonlose Worte und sie sah ihm nur mit weit aufgerissen Augen, heftig atmend entgegen.
Zügig hatte Sakuya einige Schritte auf sie zugemacht und blickte schließlich in Augen, in denen Hass der Angst gewichen war. Wo auch immer sie sich gerade befand, aber sie war definitiv nicht mehr in dieser Welt. Und wieder spürte Sakuya wie die schmerzlichen Erinnerungen abermals in ihm hochkamen. Ohne weiteres Zögern band er Lynns Hände erneut hinter ihrem Rücken fest. Dieses mal jedoch mit so viel Seil, dass sie sich nicht wieder daraus lösen können würde. Es schmerzte ihn, Lynn erneut so sehen zu müssen. Und gleichzeitig erregte ihn der Anblick der wehrlosen jungen Frau. Seine absurden Gefühlsregungen verneinend, rief er sich die alten Bilder ins Gedächtnis. Wie er ihren leblosen Körper aus dem Keller der S-Hudan in der Wüste getragen hatte.
Die verhangene Abendsonne die durch das kleine Plissee in das Einraum-Apartment fiel, hatte Elliot bereits seit einigen Stunden völlig ausgeblendet. Seine Gedanken kreisten um Ameara und Sakuya. Er hatte es darauf angelegt, dass Elliot sie finden würde. Und ebenso obskur wie es ihm vorkam, dass er nicht mehr mit Sicherheit sagen konnte ob und wann er überhaupt mit Sakuya gesprochen hatte, so absurd kam ihm die gesamte Situation an diesem Ort vor. In der Badewanne lagen noch immer drei männliche Körper, die sich langsam in einen organischen, trüben Brei verwandelten. Und auf dem Bett lag noch immer eine braunhaarige junge Frau, die ihn völlig in ihren Bann gezogen hatte.
Elliot dachte darüber nach, was er sich eigentlich von diesem Treffen erhofft hatte. In seiner Vorstellung war er davon ausgegangen, irgendeinem in sich gekehrten Typen zu begegnen. In einem Internet-Cafe oder einem Keller inklusive Serverfarm. Niemals hatte er damit gerechnet, dass sich hinter „L.V.“ eine Frau versteckt haben könnte. Er war davon ausgegangen den User im schlimmsten Fall töten zu müssen, auch wenn dies nicht gerade Elliots übliche Herangehensweise widerspiegelte.
Er war Gott.
Über Einsen und Nullen.
Niemand konnte ihm das Wasser reichen. Und doch musste er sich geschlagen geben, als der unbekannte User, nein vielmehr Ameara, ihm so dicht auf den Fersen gewesen war. Er hatte noch vor zwei Nächten all seine Festplatten restlos zerstört. Hatte die gesamten Betriebssysteme seiner Hardware augenblicklich gelöscht und alles neu bespielt. Mit der tiefsitzenden Angst, dass er selbst bei Rin, der ihm zu genüge versichert hatte, wie sicher sein Versteck sei, entdeckt werden könnte. Dass man ihn finden würde.
Und nun? Amearas Rechner lief noch und summte leise vor sich hin. Ein Geräusch, in das sich Elliot schon früh verliebt hatte. Das Geräusch eines funktionsfähigen Lüfters. Das leise Summen und Zirpen, welches aus dem Gehäuse drang und ihm eine andere Welt eröffnete. Eine Welt in der alles logischen Algorithmen folgte.
Blinzelnd unter der schwarzen Kapuze seines Pullovers, führte Elliot gedankenversunken ein Glas Wodka an seine Lippen.
„Elliot...?“ Und da war sie, die Stimme der Entität, die keinerlei logischem Algorithmus mehr folgte. Leise flüsternd, hatte sie sich an ihn gewandt und blickte ihn geradewegs vom Bett aus an. Scharfes Blau, das ihn anblitze. Unter schwarzen verklebten Wimpern und tiefen Augenrändern. Von der nächtlichen Müdigkeit und Benommenheit war nicht mehr viel übrig geblieben in ihrem Blick. Ameara war wach. Ungefähr so wach wie er selbst. Aufmerksam sah er erneut zum einzigen Fenster des Apartments. Sie Sonne ging endlich unter. Ameara glitt endlich in Elliots und ihre eigene Welt ab. Mit der Dunkelheit kam die Euphorie. Und der Tatendrang Teil eines Geheimnisses, einer nicht erforschten Welt, etwas Verbogenem zu werden. Ohne Rücksicht auf Verluste. Dem Chaos der Einsen und Nullen wieder Herr werden zu wollen. Das an sich zu reißen, was der Logik unterlegen war und keinerlei Abweichung vom eigentlichen Code mehr erlaubte. Die nicht-Duldung jeglicher Unsinnigkeit. Die völlige Unterwerfung der KI. Und die Eliminierung jeglicher Hindernisse.
Der helle Aufschrei der Türklingel unterband schließlich die Blicke, die Ameara und Elliot getauscht hatten. Aber er wusste bereits als er sie das erste mal auf dem Bett sitzend gesehen hatte, nackt und umringt von Leichen, über welche Grenzen sie bereit war zu gehen.
„Wer ist das?“ Monoton und ausdruckslos hatte Elliot ruckartig seinen Worten fragenden Charakter verliehen und beobachtete anschließend, wie Ameara die Bettdecke von sich warf und zittrig aufstand.
„Haze“ Antwortete sie und suchte fragend Elliots Blick. Ihr Dealer war gekommen und in Ameara wuchs die Angst, dass er da weitermachen würde, wo die unbekannten Männer in der letzten Nacht aufgehört hatten. Noch immer war sie sich nicht sicher, ob er sie geschickt haben könnte.
Ihre Erinnerung reichte augenblicklich zu jener Nacht zurück, in der sie Haze auf einer Party kennen gelernt hatte. In einem völlig heruntergekommenen Club hatte sie sich damals nach einer kurzen Auszeit von den Hacks und ihrer Arbeit bei dem IT Sicherheitsdienst gesehnt. Nachdem er sie auf dem Weg zur Toilette gefragt hatte, ob sie noch „etwas bräuchte“, hatte sie ihm das erste mal „Yaba“ abgekauft. Jene Droge, die sie zu einem anderem, zu einem leistungsfähigerem Menschen degradiert hatte. An Schlaf war die darauf folgenden drei Tage nicht mehr zu denken gewesen. Aber sie hatte nächtelang sämtliche Firewalls durchbrochen und unendliche Mengen an Datensätzen heruntergeladen. Das erste mal in ihrem Leben hatte sie wirklich das Gefühl gehabt, allmächtig zu sein. Ihr stand nichts mehr im Wege. Von Code zu Code gehangelt, hatte Ameara in jenen Nächten damit begonnen, sich hinter „Genesis“ zu hängen. Einem User, der ihr zuvor schon in einschlägigen Portalen der Szene aufgefallen war. Und sie war ihm stetig näher gekommen. Als der Rausch jedoch nachließ, blieb ihr nichts anderes mehr übrig, als die zuvor getauschte Nummer von Haze zu wählen. Ab diesem Punkt, wurde er zu ihrem einzigen stetigen Kontakt, neben der Arbeit. Er kam am Freitag Abend und brachte ihr die Pillen, die sie Montags Abends, nach der ersten Schicht erst wieder schlafen ließen. Gepaart mit einer Dosis Morphinen, die er ihr ebenfalls mitbrachte. Nachdem sie immer mehr gebraucht hatte, weil ihr Kopf ihr gesagt hatte, dass sie noch besser werden könnte, reichte bald das Geld nicht mehr, um Haze bezahlen zu können. In einer nächtlichen Diskussion war er schließlich auf sie los gegangen. Nur noch leise erinnerte sie die Worte, die er ihr dabei entgegen geworfen hatte. „Schlampe“, „Junky-Nutte“ und „bemitleidenswert“ waren nur wenige Begriffe, die ihr noch im Kopf geblieben waren. Danach hatte er sie niedergeschlagen, aufs Bett gezerrt und ihr so heftig sein Glied in den Rachen gerammt, dass sie sich mehrmals auf ihn erbrochen hatte. Das Ganze entwickelte schließlich eine schmerzhafte und entwürdigende Eigendynamik. Aber das Yaba hatte sie so weit gebracht, dass sie nur noch wenige Nächte von Genesis getrennt schien. Beim nächsten Mal würde sie ihn finden. Und sie würde hinter das Geheimnis kommen, welches ihn scheinbar mit den Machenschaften der VCO und des mysteriösen Hershel Porters verband.
Ob Haze ihr jemals seinen richtigen Namen genannt hatte, wusste Ameara nicht mehr. Zu verschwommen erschien ihr ihre eigene Vergangenheit.
Elliot beobachtete einige Sekunden Amearas innerliches Zwiegespräch. Scheinbar handelte es sich um jemanden, den sie kannte. Und etwas in ihrer Körperhaltung verriet ihm, dass sie seinen Besuch begrüßen würde. Auch wenn ihr die Angst ins Gesicht geschrieben stand. Ihr Gesicht gab eine Mischung aus schierer Angst, Ekel und Verzweiflung preis.
„Das ist mein Dealer...“ sagte sie leise und starrte Elliot weiterhin fragend an.
„Warum öffnest du ihm nicht?“ erwiderte Elliot langsam und verständnislos. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, warum das gerade ein Problem darstellen sollte. Ameara ging schließlich langsam zur Wohnungstür. Und erst, als sie zitternd nach dem Handknauf griff, bemerkte Elliot ihre absolute Panik.
Noch bevor sich Ameara erneut zu Elliot umgedreht hatte, mit der innerlichen Frage, ob sie die Türe wirklich öffnen solle, hatte er bereits Rins Waffe aus seinem Pulli gezogen und war zu ihr geeilt, um hinter der Wohnungstüre inne zu halten und ihr mit einem Nicken zu signalisieren, dass sie nun die Türe öffnen solle. Angsterfüllte blaue Augen sahen ihm dabei heftig atmend entgegen, ehe sie die Klinke hinunter drückte.
„Warum zum Teufel dauert` das jetzt solange?“ schroffe Worte erklangen durch den kleinen Spalt der Türe, gegen die sich Ameara mit aller Kraft stemmte.
„Haze, mir geht`s grad nicht besonders...“ Ameara wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah durch den kleinen Spalt hindurch.
„Willst du mich verarschen?“ Mit einem Ruck war Ameara zurück gedrängt worden und kam mit taumelnden Schritten zum stehen.
„Ich denke, du brauchst den Stoff so dringend?“ raunte ein mittelgroßer, kräftig gebauter Mann in einem schwarzen Lackmantel sie befremdet an.
Elliot holte tief Luft. Noch war die Türe nicht so weit geöffnet, dass der Fremde ihn sehen konnte.
„Haze, bitte.“ flehte sie ihn an und es schmerzte Elliot zu sehen, wie sie sich vor ihm kleinmachte.
„Du weißt wie das läuft, Ameara.“ seinen Satz noch nicht ganz beendet, hatte der Unbekannte zwei zügige Schritte auf sie zugemacht und sie bei den Haaren gepackt, um sie geradewegs zu ihrem Bett zu taxieren. Den Gürtel seiner Hose dabei hektisch und ungeschickt mit der anderen Hand öffnend, stieß er sie geradewegs auf die Matratze.
In Ameara zog sich alles zusammen. Natürlich brauchte sie weiteres Yaba um arbeiten zu können. Aber angesichts der neusten Ereignisse und Genesis, war dies absolut kein guter Zeitpunkt, um ihrem Dealer die Dienste zu erweisen, die er sonst mit Gewalt von ihr verlangt hatte.
„Du verpisst dich jetzt besser.“ Elliot stand geradewegs hinter dem Mann und hatte seine Pistole entsichert. Er würde sofort abdrücken, würde sich die Situation nur annähernd negativ verändern.
Zu Amearas Erstaunen wich Haze zurück und hob heftig atmend und reflexartig seine Hände. Der von Wut und Lust begleitete Ausdruck seiner Augen wich augenblicklich schierer Angst. Ohne seinen Angreifer sehen zu können, stammelte er lediglich: „Beruhig` dich. Ich verschwinde ja schon.“ Ob das was Elliot in diesem Augenblick in Amearas Augen sah, pure Genugtuung oder Freude war, konnte Elliot nicht mit Sicherheit sagen. Mitleid war es definitiv nicht.
„Lass die Pillen hier.“ Befahl Elliot voller Ruhe und begleitete Haze langsam zur Haustür zurück. Unter Amearas Genugtuung sah sie dabei zu, wie ihr Dealer vorsichtig und langsam in die Tasche seines Lackmantels griff und langsam zwei Tütchen mit Pillen hervorholte.
„Lass sie fallen und geh.“ Wies Elliot ihn mit unbändiger Gelassenheit an.
„Ist gut.“ Erwiderte der Mann nur kleinlaut und noch bevor Ameara das verheißungsvolle Fallen der Tütchen auf den Laminatboden vernehmen konnte, hatte Elliot die Wohnungstür zurück ins Schloss gedrückt und ihren Dealer verbannt.
Unbändige Euphorie keimte in ihr auf. Elliot hatte es geschafft, ihr weitere Stunden voller Schmerz und Erniedrigung zu ersparen. Ruckartig hatte sie sich zurück auf ihre Füße begeben und blickte geradewegs in Elliots weit aufgerissenen Augen: „Ist das dein scheiß Ernst?“ Er lehnte atemlos mit der gesenkten Pistole in der Hand, an der Haustüre.
Aus der Ruhe, mit der er Haze dazu gezwungen hatte zu gehen, war bloßes Entsetzten und scheinbare Wut geworden.
„... du wolltest, dass ich die Türe aufmache...“ erwiderte sie verunsichert und blickte zu den Pillen am Boden.
„Ja, aber vielleicht hättest du vorher erwähnen sollen, was der Typ, für die Drogen, mit dir anstellen will.“ Von Elliots ursprünglicher Gelassenheit war keine Spur mehr.
„Scheiße.“ er ließ sich in die Hocke fallen und fuhr sich mit einer Hand durchs Gesicht.
Dass Ameara für einen Hack gegen jegliche Regeln verstieß, war ihm klar gewesen. Aber dass sie die Drogen so dringend für derartige Aktivitäten brauchte und bereit war dafür alle Grenzen zu überschreiten, damit hatte er nicht gerechnet.
Gedankenversunken hatte Hershel sich am frühen Abend zurück in seinen Stuhl, im Arbeitszimmer des Labors fallen lassen. Noch bevor Lynn ihm in seinem Labor ausgeliefert gewesen war, hatte er bereits endlich eine Blutprobe von Sakuya entnehmen können, der ihn im Bergdorf von Efrafar in die Arme gelaufen war. Dass es zu dem Zeitpunkt so schlecht um ihn gestanden hatte, hätte Hershel niemals für möglich gehalten. Was das fehlende Geomas in seinem Organismus anrichtete, hatte er erst wesentlich später begriffen. Und dann hatte er eine leblose Lynn in seinem Labor behandeln müssen. Sie selbst hatte Sakuya das Leben gerettet. Ein Leben welches bei genauerer Betrachtung, niemals geschwunden wäre, hätte Sakuya sich in Efrafar nicht dermaßen ins Zeug für Yennifer gelegt. Und warum das alles nötig gewesen war, begriff Hershel noch immer nicht, wenn sein Blick durch die halb transparente Tür seines Büros, geradewegs zu Yennifers vergreisten Leib glitt. Warum all die Mühe für eine Hybridin?
Kurz schüttelte er seinen Kopf und blickte geradewegs wieder auf Lynns und Sakuyas Blutanalyse. Sie verband etwas, was so viel stärker war, als alles andere, was ihm jemals in seinem Leben untergekommen war. Ihre Basenpaarungen waren beinahe identisch. Ob dies lediglich dem Geomas zuzuschreiben war, blieb offen. Folglich resultierten daraus jedoch nur eine Annahmen: Sie waren es beide. Die letzte Hoffnung. Und Sakuya war es, der dies schon lange Zeit vorher begriffen zu haben schien.
Unter Hershels kritischen Augen, hatte Serah die Wolldecken wieder an ihren rechtmäßigen Platz zurück gelegt. Wortlos stand sie ihm mit angezogener Jacke gegenüber und betrachtete ihn einen Augenblick lang stumm.
„Wo willst du hin? Sakuya wird in einer Stunde hier sein. Er wird dich zu Kudaras Anwesen fahren.“ Hershels Worte waren frei von jeglichen Vorwürfen. Er meinte es gut, mit der Frau seines Sohnes. Schließlich schien sie die einzige Konstante in alle dem Chaos zwischen VCO und UEF zu sein. Abwesend nickend wandte sie sich schließlich von ihm ab:
„Ich muss noch etwas erledigen.“ erwiderte sie nur leise im Gehen.
Dakons Wagen stand zu Serah Überraschung geradewegs in der dunklen Gasse, in der Abbigail Shenker ihre Praxis hatte. Noch hatte Serah gehofft, dass Dakon sich die ganze Sache anders überlegt hatte. Vielleicht hatte er auf sie bei Rin gewartet, damit sie zusammen ins Bett gehen könnten. Vielleicht würde er sie anflehen, die ganze Misere zu vergessen. Ihr seine unentwegte Liebe beteuern. Aber Serah stand geradewegs vor Doktor Shenkers Türe und klopfte an, als sie einsehen musste, dass sie ihren eigenen Mann bereits vor Monaten verloren haben musste. Sein Wagen vor ihrer Türe bildete nur die letzte bittere Gewissheit.
Mit erschrockenen Augen hatte die blonde Ärztin schließlich die Türe geöffnet. Worte zu verlieren wäre fehl am Platz gewesen. Und so drängte sich Serah geradewegs an Abbigail vorbei.
Die Ärztin hatte ängstlich Serah Gang ins Innere verfolgt und schloss schließlich unruhig die Türe ihrer Praxis.
„Wie lange geht das schon so?“ fragte Serah in völlige Stille hinein.
Abbigail wollte und konnte nicht antworten. Dass die Dinge sie so entwickeln würden, damit hatte Dakon sie nicht vertraut gemacht. Und sie fühlte sich augenblicklich verloren in ihrem eigenen Refugium.
„Wie lange!“ Serah schrie sie aus vollem Halse an. Da waren keine Fragen mehr. Nur noch schiere Wut.
Schulterzuckend blickte Abbigail ihr stumm entgegen. Dakon hatte ihr versichert, dass die Sache zwischen ihnen geheim bleiben würde. Dass sie jetzt mit seiner Frau konfrontiert werden würde, hatte sie absolut nicht kommen sehen.
Serahs Hände zitterten vor Wut. Niemals hatte sie geglaubt, dass ihr Mann sie nach allem so hintergehen könnte.
„Gib mir die Akten unserer Truppe.“ forderte Serah schließlich sichtlich bemüht darum, die Ruhe zu bewahren. Anstandslos hatte die Ärztin ebenfalls zitternd und aufgelöst den Raum verlassen, um die geforderten Akten zu holen. Nichts von ihren eigenen Leuten würde Serah dieser Frau lassen. Sie hatte kein Recht mehr darauf, über solche Informationen zu verfügen. Bei Hershel wären sie ohnehin besser aufgehoben. Und wer wusste schon, zu was Abbigail noch alles im Stande war. Dieser scheinbar zurückhaltenden Frau, konnte sie nicht mehr trauen.
„Serah, was tust du hier?“ Dakon war geradewegs die Türe hineingekommen und stand seiner Frau nun verwirrt und distanziert gegenüber.
„Was ich hier tue?“ wiederholte sie verblüfft seine Frage. Ihre weit aufgerissenen Augen trafen ihn geradewegs:
„Ich tue das, was deine Aufgabe gewesen wäre!“ ihre Stimme zitterte.
„Lass uns darüber sprechen, Serah...“ Dakon war geradewegs im Begriff auf sie zuzugehen, aber Serah schreckte mit einem großen Schritt rückwärts vor seiner Hand zurück.
„Fass mich nicht an!“ Aus vollem Leibe schreiend, hatten ihre Hände reflexartig nach einer Metalliege des angrenzenden Behandlungsraumes gegriffen, die sie nun umriss. Das laute Poltern lies Dakon kurz zusammenschrecken. Aber Serah dachte nicht mehr daran, sich weiterhin zu beherrschen. Dafür hatte sie zu viel geopfert. Für diesen Mann. Für diesen erbarmungslosen Menschen.
Mit beiden Armen setzte sie schwungvoll an einem Medizinschrank an und räumte innerhalb von Sekunden das komplette Equipment ab, welches anschließend polternd zu Bruch ging. Mit einem weiteren Schrank fuhr sie fort, öffnete die Türe und holte mit nur einer Armbewegung den gesamten medizinischen Inhalt hervor, um ihn anschließend zu Boden zu reißen.
Mühevoll riss sie eine weitere Liege zu Boden und ergriff schließlich einen Feuerlöscher, der in einer der Ecken gestanden hatte. Mit aller Kraft hievte sie ihn hoch und warf ihn geradewegs in den Einwegspiegel der Praxis. Mit tosendem Lärm ging dieser sofort zu Bruch. Schützend hatte Dakon seine Hände vor sein Gesicht gerissen. Sein Atem kam nur stoßweise, als er schließlich versuchte Serahs aufgelöstem Blick zu begegnen. Aber Serah war nicht mehr ansprechbar. In blinder Wut packte sie alles, was sie in die Finger bekam und zerstörte beinahe die gesamte Laboreinrichtung.
„Du solltest jetzt besser gehen!“ Mit schierem Entsetzten stand Abbigail samt der geforderten Akten im Türrahmen und blickte voller Schrecken auf den Scherbenhaufen ihrer Praxis.
Einige Sekunden brauchte Serah um sich wieder zu sammeln und zu begreifen, was sie gerade eben getan hatte. Schließlich strich sie sich ihre schwarzen Strähnen aus dem Gesicht und wischte einige Tränen weg.
„Du solltest diesen Saustall mal aufräumen.“ Ohne ein weiteres Wort hatte sie die Akten ergriffen und verließ die Praxis. Nun war der Scherbenhaufen real geworden und das nicht nur in ihrem eigenen Leben, dachte Serah und stieg in ihren Wagen. Noch einige Minuten hielt sie inne und ließ ihren Kopf auf das Lenkrad niedersinken. Hatte Dakon sie überhaupt jemals geliebt?
„Manchmal träume ich davon die Welt zu retten. All das zu unterbinden, womit die Oberen uns versklaven. Unseren Konsum, unser vermeintlichen Glück. Marken, Technik, Bücher, Filme, alles reinster Bullshit. Sie erziehen uns bereits mit der Gehirnwäsche, all das zu brauchen, um unsere Leere damit zu füllen. Die Leere die man empfindet, wenn man Samstags Nachts an einem Bahnhof steht und die Gesellschaft aufzuatmen scheint, für einen kleinen Augenblick. Nach der stressigen Arbeitswoche. Nach der ewigen Versklavung. Die Leere füllen. Mit bunten Lichtern, Trubel und viel zu lauter Musik. Der vermeintliche Schein des Seins in einer Stadt. Nur weg von der eigenen Leere, weil da sonst nichts ist.
Morphium. Ich nehme es, wenn die Traurigkeit mich überkommt. Hätte ich meinen Job bei Allsave nicht, wäre ich innerlich vollkommen leer. Was tun andere Menschen, wenn sie diese Traurigkeit überkommt? Mit Freunden oder der Familie reden? Für mich, keine Option. Der Clou um nicht zum Junkie zu werden? Ich begrenze die Menge auf 30 mg pro Tag. Alles darüber hinaus erhöht nur die Toleranzgrenze. Ich überprüfe jede Tablette die ich kriege auf ihre Reinheit. Ich habe acht Milligramm Suboxon für den Fall, dass ich auf Entzug muss. Das Yaba hingegen lässt mich zu Gott werden. Ich erkenne die Komplexität der Codes, die Grenzenlosigkeit eines Hacks, und in diesen Momenten scheint nichts mehr unmöglich. Einsen und Nullen und ich bin die Herrscherin über all das. Mein Machtinstrument ist die Software. Mein Schwert die Peripheriegeräte. Und für den Todesstoß packte ich schließlich den Zero Day wie ein Weihnachtsgeschenk in einen Code ein. Mit nur einer Bestätigung lege ich ein gesamtes Netzwerk an Servern lahm. Dieses Gefühl wird niemals alt. Ich bin die Schließerin in einem Gefängnis, mit allen Schlüsseln, die mir zu jeder einzelnen Zelle Zugang verschaffen. Nichts ist mehr sicher.
Ich hasse die Gesellschaft. Und alles, wofür sie steht.“
Mit Amearas ehrlichem Monolog hatte Elliot nicht gerechnet. Er hatte erwartet, es mit einer psychisch Kranken zu tun zu haben. Allein ihr Drogenkonsum ließ darauf schließen. Ebenso ihre Art und Weise, wie sie für diese Drogen bezahlte. Warum ließ sie das zu?
Aber soeben wandelte sich dieses Bild in Elliot. Dafür war sie zu ehrlich. Dafür hatte sie seiner Meinung nach, zu sehr den Kern der Wahrheit getroffen, der tagtäglich die Menschen in ihren Bann zog. Er dachte ähnlich wie sie. Nur die Drogen teilten sie nicht miteinander. Elliot reichte der Alkohol, wenn es mal wieder an der Zeit war, sich sozialen Kontakten hinzugeben und mit anderen Menschen „funktionieren“ zu müssen.
Er musterte sie einen Augenblick lang, wie sie sich einige lockere braune Strähnen aus dem Gesicht strich, die aus ihrem notdürftigen Pferdeschwanz gerutscht waren. Müde und gepeinigte Augen erwiderten Elliots Blick.
„Ich bin gut darin Menschen zu lesen. Aber woran ich scheitere, sind die Gespräche mit ihnen. Zu vieles, was nichtssagend ist. Ein buntes Drumherum, um niemals zum eigentlichen Kern des Problems zu gelangen. Aber ich kann sie brechen; mit ihren eigenen Abgründen.“ Ungläubig blickte Ameara ihn an. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er ihren eigenen Monolog kommentieren würde. In dieser Situation erwies sich solch ein Gespräch ohnehin fehl am Platz.
Noch imme3r lösten sich die fremden Männer in der Wanne des Badezimmers in ihre organischen Bestandteile auf. Sie Suppe, die über Nacht daraus entstanden war, roch bestialisch und suchte sich langsam ihren Weg durch die Schlitze der Badezimmertür.
Elliot hatte ebenso ehrliche Worte gesprochen, wie Ameara selbst. Auf das ungläubige „Warum?“ mit dem er sie konfrontiert hatte, nachdem Haze sie beinahe abermals vergewaltigt hatte, fiel ihr keine genauere Antwort ein, außer das, was sie täglich quälte, wenn sie in der U-Bahn auf dem Weg zur Arbeit stand. Den Irrsinn, den all die Menschen umgab, wollte sie schon lange nicht mehr hinnehmen. Die kleinen gemütlichen Parallel-Realitäten die sich jeder einzelne erschaffen hatte um sich nur niemals mit dem Kern des Problems auseinander setzten zu müssen. Und doch war sie ebenso in solch einer Mikrorealität gefangen.
„Hast du Lynn gebrochen?“ Ameara hatte die Frage noch nicht zu ende gedacht, da hatte sie es bereits laut ausgesprochen. Anhand von Elliots prüfendem Blick erkannte sie sofort, dass er sich darüber wunderte, dass diese Frau noch immer in ihren Gedanken umherschwirrte.
„Nein.“ er zündete sich eine der Zigaretten an, die noch immer auf Amearas Schreibtisch lagen und blickte kurz zum Fenster. Sie saßen nun schon seit mehreren Stunden in ihrem Apartment und gingen Hershels Akten durch. So gut es nur ging, versuchte Elliot ihr zu vermitteln, in welches Wespennest sie gestochen hatte, als sie den Hauptserver der VCO hackte. Und noch immer wusste er nicht, welche Dokumente ihr noch vorlagen, die sie noch nicht hochgeladen hatte, damit die ganze Welt davon erfuhr.
„Es gibt keinen Grund für mich, sie brechen zu wollen. Eben so wenig wie dich.“ Fragende, große Augen sahen ihn an. Und für einen Augenblick glaube Elliot sich in diesen großen blauen Augen zu verlieren.
„Was ist, wenn ich der Feind bin?“ vorsichtig fragend hatte Ameara ebenfalls eine der Zigaretten genommen und musterte Elliot erneut.
Er schüttelte schulterzuckend den Kopf und blies ihr den Qualm seiner Zigarette entgegen.
„Du bist nicht der Feind. Sonst hättest du die Dokumente nicht hochgeladen. Das was dich antreibt ist der Durst nach Wahrheit in deiner Scheinwelt. Du gehörst nicht zu denen, die alles dafür tun, sie im Verborgenen zu lassen. Nur der Angriff auf mein System hat mich letztendlich dazu verleitet, wissen zu wollen, mit wem ich es zu tun habe.“ >> Dein Wille ist bereits gebrochen. Du bist die Sklavin der Drogen, die dir suggerieren nur dann über dich hinauszuwachsen zu können. Um etwas Entsetzliches aus der Vergangenheit verdrängen zu können. Du suchst auch nur den Sinn in der Leere und implementierst darin deinen Selbstzweck, unter dem Schutzmantel der vermeintlichen Wahrheit. << Letzteres hatte Elliot nicht laut aussprechen können. Dennoch wusste er darum, wo Amearas Schwachstellen lagen. Vor ihm saß ein verlorenes und verängstigtes Mädchen. Zu sagen, nur aufgrund ihrer Äußerlichkeiten sei sie eine Frau, erschien der Komplexität ihres Problems nicht gerecht zu werden. Die Naivität, mit der sie ständig um sich warf, erstickte jedoch unter ihren technischen Fähigkeiten.
Elliot erinnerte sich an den Tag zurück, als er den Anruf der VCO bekam. Der Sicherheitschef der gesamten IT-Abteilung hatte ihn spürbar aufgelöst angerufen. In dem Wohnkomplex in der Nähe des VCO Stützpunktes, war er zusammen mit anderen Mitgliedern einquartiert worden. Nur noch schwach erinnerte er sich daran, mit einem großen dunkelhaarigen Mann gesprochen zu haben, der kurz zuvor in seiner Wohnung gestanden hatte. Worum es ging fiel ihm nicht mehr ein. Es war, als wäre in Elliots Gedächtnis ein tiefes Loch zurückgeblieben. Erst als sein Handy in der damaligen Nacht klingelte, schreckte er aus einer Art surrealen Traum auf.
>> „Du solltest sofort kommen, Elliot.“ Der Stimme seines Vorgesetzten klang Verzweiflung bei.
„Echt jetzt? Es ist drei Uhr morgens!“
„Schon wieder ein Angriff auf den Server. Nur schlimmer, es ist eine DdoS Attacke.“
„Ruf Hashimoto an, er hat Rufbereitschaft.“
„Er ist schon hier.“
„Spricht wer mit der Technikabteilung?“
„Er ist mit ihnen online, aber bisher noch nichts. Ich denke nicht, dass Hashimoto das hinkriegt. Ich brauche dich hier. Bitte, Elliot.“
Die wenigen Jahre, die Elliot bereits bei der VCO war, hatten mehr und mehr dazu beigetragen, dass er zu einem unverzichtbaren Mitarbeiter für seinen Chef geworden war. Wann auch immer scheinbar unlösbare Probleme aufkamen, war es stets Elliot gewesen, den man zu Rate zog. Dass er dabei kein Händchen für zwischenmenschliche Bindungen und Interaktionen hatte, sah man ihm nach. Sein Chef, Kaito Tanaka, hatte einmal zu ihm gesagt, dass Genie und Wahnsinn oftmals Hand in Hand gingen.
„Ich bin gleich da.“
Da war es wieder. Einer dieser Angriffe, die in den letzten zwei Wochen vermehrt stattgefunden hatten. Hektisch packte Elliot seinen Laptop und eine Jacke zusammen in seinen Rucksack. Würde er sich zu viel Zeit lassen, wäre vielleicht nichts mehr zu retten.
„Na endlich!“ Tanakas Stimme klang Erleichterung bei, als Elliot endlich den Raum betrat, in dem er sonst mit zig anderen Männern an den Firmen-Computern arbeitete.
„Ganz ruhig, es war nicht meine Stunde.“ erwiderte Elliot nur monoton. Noch immer geisterte das Bild des Fremden in seinem Kopf umher, den er plötzlich nicht mehr glaube, in seiner Wohnung gesehen zu haben.
„Und eine Stunde der VCO sind 1.000.000.000 Yen Umsatz, wenn nicht sogar mehr!“ Tanaka war sichtlich ungehalten, aufgrund der Gefahr, die von dem Hack auszugehen schien.
„Keine Sorge, schon verstanden.“ schwungvoll hatte Elliot seinen Rucksack zu Boden fallen lassen und blickte über Hashimotos verschwitze Schulter auf den Monitor, der das Ausmaß des Hacks endlich preisgab.
„Elliot, wie schlimm? Elliot?“ harkte Tanaka sorgenvoll und hektisch nach.
„Echt beängstigend! Die schlimmste Attacke die ich je sah.“ ergriff Hashimoto das Wort.
„Hast du das DNS neu konfiguriert?“ fragte Elliot ungehalten, nachdem ihm das Ausmaß bewusst geworden war.
„Klar!“ erwiderte Hashimoto.
„Stopp sämtliche Dienste.“ Wies Elliot ihn weiter an.
„Hab ich schon. Ich hab versucht die Server neu zu starten, aber sie fahren nicht wieder hoch. Jemand ist geradewegs dabei unser Netzwerk richtig zu ficken.“ Hashimotos Ausdrucksweise ließ in Augenblicken absoluter Anspannung stark zu wünschen übrig, aber Tanaka wusste darum, dass er es immer noch mit jungen Männern von der Straße zu tun hatte. VCO Ausbildung hin oder her.
Hektisch begann Elliot seine Finger über die Tastatur gleiten zu lassen.
>>Code [nicht erreichbar][Protokollfehler: Zugriff verweigert]<< Resümierte er stumm seine Versuche.
„Negan fängt gerade an, darüber zu berichten.“ Tanaka hatte den einzigen Fernseher im Büro angeschaltet und lauschte den Worten der Reporterin: „Massiver Firmenserver-Angriff bei der VCO! Negan Valcours berichtet, es sei schlimmer als gedacht.“
„Scheiße, das ist ist schlimmer als ich dachte. Sie sind im Netzwerk.“ bemerkte Elliot beinahe kaum hörbar, als ein weiterer Techniker das Büro erreichte.
„Wie lautet das Statusupdate? Ich dachte wir hätten Sicherheitsprotokolle geschrieben damit gerade so etwas nicht passiert. Woher kommt der Angriff?“ auch in seinen Augen, lag blankes Entsetzten.
„Offensichtlich von überall: Elaìs, Valvar, Efrafar.“ Elliots Antwort stellte den Mann offensichtlich nicht einmal ansatzweise zufrieden. Aber Elliot wusste bereits, dass dieser Mann nicht die geringste Ahnung von dieser Abteilung hatte. Wer auch immer ihn gerufen hatte, hätte ebenso gut einen Designer zum löschen eines Brandes rufen können.
„Starten Sie die Dienste neu, laden den Zugriff und leiten den Traffic um. Rufen Sie Herrn Valcours zu Hilfe... Was?“ Die letztere Frage entwich dem aufgelösten Techniker hinsichtlich Elliots verwirrtem Blick.
„Das ist nicht nur eine DdoS Attacke. Ich denke sie haben ein Rootkit in den Servern platziert.“
„Was ist ein Rootkit?“ Endgültig war das Unwissen des Technikers besiegelt. Dieser Mann konnte gerade einmal einem kaputten Heizungssystem Herr werden.
„So etwas wie ein Serienvergewaltiger mit nem riesigen Schwanz.“ erklärte Hashimoto ernüchtert.
„Also ehrlich, Hashimoto!“ Wies Tanaka seinen Mitarbeiter zurecht.
„Entschuldigung, es ist ein bösartiger Code, der das System komplett übernimmt. Er... er kann Systemdatein löschen, Programme installieren, Viren, Würmer...“
„Und wie stoppen wie das Ganze?“
„Das ist es ja, es ist prinzipiell unsichtbar, man kann es nicht aufhalten. Alle unserer Server haben einen Timeout, keiner von ihnen fährt mehr hoch.“ erklärte Hashimoto geduldig weiter.
„Ja, bei jedem Neustart des Servers reproduziert sich das Virus während des Startvorgangs von selbst und lässt den Host abstürzen.“ ergänzte Elliot leise.
„Wie sollen wir das Netzwerk online bringen, wenn wir die Server nicht neu starten können?“ Tanaka blickte verzweifelt zu Elliot.
„Gar nicht. Genau das wollten sie auch. Indem wir uns selber verteidigen haben wir den Virus überall verteilt. Das einzige was wir tun können ist, wir nehmen das ganze System offline, bereinigen die infizierten Server und bringen sie wieder online.“
„Sie kommen mit mir, Elliot. Hashimoto, sagen Sie allen, dass alles offline genommen werden muss.“ Offensichtlich hatte Tanaka einen Plan.
„Schon geschehen.“ erwiderte Hashimoto in alter Berechenbarkeit.
„Die Serverfarm im Westflügel, wir brauchen jetzt eine Transportmöglichkeit... .“ Der Techniker nickte stumm Tanakas Ersuchen ab.
Mit dem Wagen hatten sie nur wenige Minuten vom einen Ende der Basis bis zur Serverfarm am anderen Ende gebraucht. Die Luft war zum schneiden gespannt und niemand hatte im Auto auch nur ein Wort gesprochen.
„Sie fahren das Netzwerk wieder hoch. Jetzt laden Sie die Log-Datein wieder hoch, richtig?“ überprüfte Tanaka Elliots Vorgehensweise, der derweil an seinem Laptop saß und konzentriert etwas eingab.
„Stopp! Sagen Sie, sie sollen aufhören!“ Tanaka sah erschrocken zu Elliot, der ihn nur anstarrte. Was auch immer Negan gerade an anderer Stelle veranlasst hatte, war absoluter Müll. Er würde dafür sorgen, dass sich das gesamte System infiziert würde.
„Was?“ harkte Tanaka weiter nach, nachdem er beobachtete, wie es in Elliots Kopf arbeitete.
„Sie dürfen die Boot-Sequenz nicht starten, die haben einen übersehen. Da ist noch ein infizierter Server der läuft.Was ist die voraussichtliche Ankunftszeit bevor es auf dem Server ist?“
Tanaka hatte für Elliot keine Antwort. Dieser ließ sich jedoch nicht weiter beirren und ließ seine Finger über die Tastatur seines Laptops gleiten.
„Läuft der Backup-Server?“ versicherte er sich schließlich.
„Er ist bereit, aber nicht für die automatische Umschaltung konfiguriert.“ erwiderte Tanaka, dem der Schweiß auf der Stirn stand.
„Wir müssen den Traffic umleiten und das DNS ändern. Du schaffst das, du schaffst das , du schaffst das!“ letzteres hatte Elliot immer wieder leise wiederholt. Es durfte jetzt nicht scheitern. Es war wichtig, diesen Angriff zu unterbinden. Wer auch immer da gerade versuchte einzudringen, es mussten absolute Genies sein.
„Ich schätze wir schaffen das nicht.“ Tanakas Missmut war das letzte, was Elliot gerade gebrauchen konnte.
„Du schaffst das, du schaffst das , du schaffst das!“ wieder redetet er leise mit sich selbst.
„Es ist fast bei den infizierten Servern!“
Mit einem letzten Tastendruck brachte Elliot schließlich zu ende, weswegen man ihn mitten in der Nacht angerufen hatte. Unsicher glitt sein Blick zu Tanaka, der gebannt auf die Anzeigetafel für die separierten Server blickte.
„Sind wir noch drauf?“ Elliots Frage durchbrach die Stille.
„Bis jetzt läufst gut!“ Bestätigte Tanaka schließlich erleichtert.
„Ich seh mir mal den infizierten Server an, geben Sie mir eine Minute!“ Nickend hatte sein Chef sich eine Zigarette angezündet und ging zum Ausgang.
„Wir treffen uns am Wagen.“
Elliot dachte nach. Sie mussten irgendwas hinterlassen haben, jeder Hacker liebte Aufmerksamkeit. Sie würden nicht einfach grundlos irgendwelche DdoS-Attacken starten.
„Das ist es: „L.V. !“ Ungläubig starrte Elliot auf die Readme-Datei und dem Verweis „ leave me here“. Sollte das ein Witz sein? Das war viel zu einfach, sie hatten es nicht einmal gut versteckt! >>Diese Nachricht ist für mich! Ich soll es hier drauf lassen... aber wieso? Völlig egal, Zeit sie still zulegen.<< Gebannt glitten Elliots Augen über die Frage, ob die Datei gelöscht werden solle. Seine Finger zuckten.
„Wieso kann ich es nicht löschen? Ich will es nicht löschen, ich will dass es drauf bleibt! Was stimmt nicht mit mir?“ Nach weiteren Sekunden bestätigte Elliot schließlich, die Datei nicht zu löschen. >>Ich werde den Zugang zum Root-Verzeichnis ändern, so dass nur ich es benutzen kann. Niemand wird es merken.<<
Und doch hatte man es bemerkt. Es waren einige Wochen vergangen, bis Elliot sich in Tanakas Büro wiederfand, der nur kopfschüttelnd zu ihm hinauf sah.
„Wieso hast du die Datei nicht gelöscht, Elliot? Was zur Hölle hat dich da geritten?“ Er war wütend.
„Ich war mir nicht sicher, ob ich da etwas Relevantes gefunden hatte. Deshalb informierte ich Sie nicht darüber.“ Das Herz Schlug Elliot bis zum Hals. Tanaka war kein Idiot. Ganz im Gegenteil. Und soeben wurde er selbst Zeuge davon, wie sein Vorgesetzter jegliches Vertrauen in ihn und seine Fähigkeiten verlor.
„Pack deine Sachen. Wir beide werden noch heute getrennte Wege gehen. Hiermit bist du mit sofortiger Wirkung entlassen, Elliot.“ Auf eine Reaktion wartend, hatte Takana sich in seinen Sessel zurückfallen lassen und beobachtete nur Elliots emotionsloses Nicken, mit dem er zur Tür ging.
„Warum, Elliot?“
„Weil ich es nicht besser wusste.“ <<
Nachdem Carver bei Kudaras Anwesen in Tahara gewesen war, um zu sehen wie es Lynn ging, saß er schließlich noch immer im Auto auf der Bundestrasse zurück nach Nagoya. Die etwa zweistündige Fahrt hatte ihn einiges an Klarheit in seinen Gedanken beschert. Und sein Entschluss stand endgültig fest, als er schließlich Hershels Labor an der Universität betrat.
Serah hatte ihm nahegelegt wieder zu fahren, mit dem Hinweis, dass Lynn noch immer nicht ansprechbar war. Entgegen seinem Wunsch sie zu sehen, hatte er unverrichteter Dinge wieder fahren müssen. Zu seiner Erleichterung tat die Sektorpolizei alles, um die Aufstände in den Stadtzentren zu konzentrieren und die wütende Meute dort festzusetzen.
„Carver, mein Freund. Sie ist wach!“ begrüßte Hershels alte Stimme ihn vom anderen Ende des großen Raumes. Während Carver sich langsam Yennifer nährte, die ihn mit müden Augen entgegen blickte, kam er nicht umhin feststellen zu müssen, dass ihr äußerlicher Zustand sich in den letzten Tagen massiv verbessert hatte.
„Carver...“ hauchte sie nur leise und ein wohlig warmes Lächeln glitt über ihre Lippen. In ihren braunen Augen konnte er die Freude sehen, mit der sie seine Erscheinung betrachtete. Einen Moment lang zögernd ließ er ihre Reaktionen auf sich wirken.
Obwohl er in Efrafar, in dem Bergdorf nur aufgebrochen war, um Lynn zu suchen, war er schließlich zur Verwunderung aller mit Yennifer zurückgekehrt. Doch die gesamten Tage über, die er in dem dichten Schneetreiben und der Vulkanasche ursprünglich nach Lynn gesucht hatte, konnte er kaum mehr einen klaren Gedanken fassen, als ihr lebendiger Leib sich einfach vor seinen Augen in Luft aufgelöst hatte. Das letzte mal, dass er solch Gefühle einer Frau gegenüber erlebt hatte, lag Jahre zurück, als es um Elaìne ging. Seither hatte er niemals mehr jemanden an sich herangelassen. Kurz bevor er Yennifer vergreist im Schnee gefunden hatte, hatte er sich selbst eingestehen müssen, dass er bereits lange vorher gewusst hatte, dass Lynn jemand anderem gehörte. Auch wenn ihr selbst das Ganze nie richtig klar zu gewesen sein schien. Ebenso wie er sich seinen Gefühlen erst in jener Trostlosigkeit der verlassenen Stadt bewusst geworden war. Jedoch empfand Carver in dem Moment, als es ihm bewusst wurde, keinerlei Groll. Im Gegenteil. Schon Wochen vorher hatte er mehr und mehr einsehen müssen, dass er ihr niemals das Wasser reichen können würde. Sei es ihren Fähigkeiten geschuldet oder ihrer Vergangenheit. Und der einzige der dazu imstande schien war Sakuya Kira. In Valvar hatte Carver Lynns Erinnerungen geteilt. Auf eine solch intensive Art und Weise, als seien es seine eigenen gewesen. So sehr er sich in einigen Momente gewünscht hatte, ihr näher zu kommen, so sehr verhinderte dies sowohl seine als auch ihre Vergangenheit. Und es war nicht zuletzt Hershel, der Carver immer wieder in kleinen Randnotizen deutlich gemacht hatte, dass Lynn unvergleichlich in ihrer Weise war. Ebenso wie es Sakuya war.
Aber nun lag Yennifer vor ihm. Eine Hybridin. Die ihn noch immer mit haselnussbraunen Augen, die sich allmählich mit Tränen füllten, anblickte.
„Du bist hier...“ flüsterte sie kaum hörbar und griff nach Carvers Hand.
Aus dem Hintergrund hatte Hershel die Szenerie stumm beobachtet und entschied sich schließlich dazu, das Labor für eine kurze Besorgung zu verlassen. Es war ganz offensichtlich, dass etwas zwischen den beiden lag. Schmunzelnd zog er die Türe hinter sich zu.
Nur am Rande hatte Yennifer registriert, dass Hershel gegangen war und widmete ihren Blick wieder Carver, der von ihrer Seite kurz wegtrat um sich einen Stuhl heranzuziehen.
„Wie fühlst du dich?“ fragte er leise und holte eine Schachtel Zigaretten aus seiner Hosentasche hervor.
„Erbärmlich.“ erwiderte sie schwach aber amüsiert und gebar ihm mit einer Geste, ihr ebenfalls eine Zigarette zu geben. Ohne zu zögern hatte er ihr behutsam eine Zigarette zwischen die Lippen gelegt und entzündete sein Feuerzeug. Kurz beobachtete er Yennifer dabei, wie sie mit geschlossenen Augen genussvoll den Qualm einsog.
„Danke, Carver. Für alles was du getan hast...“ auf den leisen und angenehmen Klang ihrer Stimme folgte ein kurzes Husten.
„Du rauchst nicht oft, was?“ stellte er belustigt fest. Sie schüttelte ebenfalls amüsiert den Kopf und blickte ihn schließlich wieder mit einer ungewöhnlichen Intensität an:
„Du hast mir das Leben gerettet. Ohne dich, wäre ich nicht mehr hier.“ ihre eigene Feststellung schien sie kurzzeitig zu übermannen und sie rang mit sich, nicht in Tränen auszubrechen.
„Ich weiß, dass du nicht um meinetwillen gekommen bist, sondern wegen Lynn. Ich weiß ihr dachtet, ich wäre in Mi`hen gestorben. Hätte Sakuya Kira nicht unentwegt nach mir gesucht...“ sie stockte. Scheinbar hatte sie keinen blassen Schimmer, was genau geschehen war, in jenen Nächten. Und vielleicht war es genau das, was Sakuya so besonders machte. Dass er die Schicksale einzelner lenken konnte. Sie in ihre richtigen Bahnen lenken konnte.
31 - Clarity
Mit einem tonlosen Schrei war Lynn aus nicht enden wollenden Alpträumen hochgeschreckt. Während ihr Atem nur stoßweise kam, blickte sie sich mit weit aufgerissenen Augen entsetzt um.
Der Ort, an dem sie sich befand, war ihr unbekannt. Wohin hatte man sie gebracht? Wer hatte sie an diesen Ort gebracht?
Zitternd erfühlte Lynn ihren Hals und ihr Gesicht. Vereinzelte Haarsträhnen fielen über ihre dünnen unruhigen Finger. Ihr Zunge fuhr über die Kanten ihrer Zähne. Und schließlich krümmte Lynn ihre Zehen, um festzustellen, dass sie sie wieder spürte. Mit einem Blick auf ihre Arme war sie sich schließlich sicher: Jemand musste sie behandelt haben. Ihr Körper funktionierte wieder. Sie hatte Haare, Zähne... spürte ihre Beine und Füße. Nur die innere Leere, die sich wie Stacheldraht ins Innere ihres Körpers bohrte, war spürbar. Ohne es zu wollen, rannen erste Tränen über ihre Wangen. Woher diese Gefühlsregung kam, wusste sie nicht. Sie fühlte sich völlig leer.
Unsicher rutschte sie zur Kante des Bettes, in das man sie gelegt hatte. Auf dem hellen Holzboden davor entdeckte sie schließlich ein Seil. Ein Blick auf ihre Handgelenke versicherte ihr, dass man sie damit gefesselt haben musste. Die roten Striemen schmerzten, nachdem Lynn sie entdeckt hatte.
Den Blick durch das Dachgeschoss gleiten lassend, registrierte sie erst jetzt, das große Fenster, gegenüber des Bettes. Es gab den Blick auf das Meer frei.
Dicke Wolken türmten sich empor zum Himmel und verbargen die Sonne. Lynn stand auf und bewegte sich ungläubig zu dieser außerordentlichen Aussicht. Unter ihrem Fenster bog sich hohes Gras im rauen Wind der Küste. In einigen Metern Entfernung erspähte sie schließlich einen Steilhang. Weiter links waren weitere Klippen zu sehen, die das Haus zu umgeben schienen. Wer auch immer solch einen Platz für sein Anwesen gewählt hatte, wollte das Gefühl des absoluten Rückzuges. Und während Lynn weiter auf das tosende Meer hinaus starrte, empfand sie nichts weiter als Verlorenheit und Leere.
„Lynn?“ Die sich öffnende Türe überhaupt nicht zur Kenntnis nehmend, stand Lynn noch immer am Fenster und blickte in die wolkenverhangene untergehende Sonne am Horizont.
„Du bist wach...“ Einfühlsame Worte prallten an ihr ab.
„Wie geht es Dir?“ Schritte nährten sich ihr unaufhörlich. Wer auch immer da gerade auf sie zukam: Es war ihr egal. Und es war ihr auch egal, was man mit ihr machen würde.
Unsicher betrachtete Serah Lynns fragile Erscheinung. Sie hatte keinerlei Reaktion gezeigt. Stumm und regungslos stand sie einfach nur vor dem Fenster. Ob Serah sie anfassen sollte? Einen Augenblick lang mit sich ringend verwarf sie jedoch diesen waghalsigen Plan wieder, als sie ihr Zittern erkannte.
„Lynn...“ beinahe Flüsternd war Serah noch näher an sie heran getreten. Voller Unsicherheit blieb sie direkt neben ihr stehen und sah in ihr stumpfes Gesicht, welches mit leeren Augen nur auf das Meer blickte. Ihre Haut war kreidebleich. Von der sanften Bräune, die sonst Lynn blaue Augen wie ein sinnliches Kunstwerk wirken ließ, war nichts mehr übrig geblieben. Und obwohl Serah ihr, nachdem Lynn tagelang geschlafen und geschrien hatte, in einem ruhigen Moment das Gesicht gewaschen hatte, sah sie beinahe schlimmer aus als vorher. Tiefe Augenringe zeichneten sich auf ihrer sonst so makellosen Haut ab.
„He, Lynn... ich bin es... Serah.“ flüsternd und leise hatte Serah sie erneut mit einem fragenden Lächeln angesprochen. Aber sie reagierte nicht. Hätte Serah nicht mit eigenen Augen gesehen, dass ihr Brustkorb sich hob und senkte, hätte sie die Vermutung beschlichen, mit einer Leiche zu sprechen. Ein erneutes Zittern durchzuckte Lynns Körper.
„Soll ich Dir eine Decke holen?“ Gerade im Begriff ihrer Frage folge zu leisten, hielt Serah schließlich erschrocken inne. Lynns Hand hatte nach ihrem Handgelenk gegriffen und sie am gehen gehindert. Wie angewurzelt blieb Serah hektisch atmend stehen.
Sakuya hatte sie vor diesen Situationen gewarnt. Er hatte Serah mehrmals gesagt, dass es unabdingbar sei, dass Lynn gefesselt bleiben musste, ehe sie ansprechbar war. Aber Serah hatte es nicht noch einen weiteren Tag übers Herz gebracht, Lynn wie ein Tier gefangen zu halten. Am Morgen hatte sie ihr die Fesseln abgenommen, nachdem sie ihr eine Ampulle Geomas verabreicht hatte, wie Sakuya es empfohlen hatte. Es waren nun zwei Wochen vergangen und Serah war sich zeitweise nicht mehr sicher gewesen, ob Lynn jemals wieder zu der werden könnte, die sie einmal war.
Noch immer blickte sie voller Angst auf Lynns Hand, die sie mit einer unglaublichen Kraft am gehen hinderte.
„Sol...sollen wir uns setzten?“ Stotternd war Serah zusammengesunken. Gegen Lynn hätte sie nicht ansatzweise eine Chance gehabt. So schwach wie ihr Körper erschien, so schmerzvoll war der kraftvolle Druck mit dem Lynn Serahs Arm festhielt.
„Komm Lynn... wir setzten uns eine Weile.“ wisperte sie schließlich verzweifelt und zog Lynn mit ihrer Armbewegung in Richtung des Bodens.
Ohne sie auch nur anzusehen, folgte Lynns Körper dieser Bewegung.
Schließlich saßen sie vor dem großen Panoramafenster und blickten gemeinsam aufs Meer. Der Druck, mit dem Lynn Serah zuvor festgehalten hatte ließ allmählich nach. Und wie Serah so über ihr eigenes Leben nachdachte und Lynn ansah, bemerkte sie, dass stetig lautlose Tränen über ihre Wangen rannen.
Im Morgengrauen wälzte sich Serah unruhig auf dem Holzboden des Dachgeschosses umher, ehe sie aufschreckte. Vor lauter Erschöpfung war sie selbst eingeschlafen und hatte völlig ausgeblendet, dass Lynn auch noch da war. Bei einem hektischen Blick durch den Raum, musste Serah jedoch rasch einsehen, dass von Lynn keine Spur mehr zu sehen war.
„Lynn?“ Hektisch aufstehend war sie zur Tür gehastet und blickte in den offenen Flur, der zu zwei weiteren Zimmern und der Treppe ins untere Stockwerk führte.
„Lynn!“ horchend hielt Serah noch einen Moment lang inne. Aber es blieb stumm in dem Anwesen.
Tausend Gedanken flogen Serah durch den Kopf. Wo war sie hingegangen? Hatte sie sich selbst etwas angetan? Wo sollte sie sie suchen? Lynn kannte sich in Tahara nicht aus. War sie geflohen?
„Lynn!“ mit entsetzlicher Angst rannte Serah die Holztreppe hinunter und blieb schließlich keuchend im offenen Küchenbereich stehen, der direkt in das große Wohnzimmer überging. Die Terrassentür stand auf und der kalte Wind des Morgens ließ die weißen Vorhänge darin unruhig flattern.
„LYNN!“ Aus Serahs anfänglichen leisen Rufen waren verzweifelte Schreie geworden. Die Klippen lagen direkt hinter dem Haus. War es möglich, dass Lynn sich... Serah verbot sich alle weiteren Gedanken und schnappte sich im Vorbeirennen das Telefon, welches auf der Kochinsel gelegen hatte um Sakuyas Nummer zu wählen.
Nachdem sie die Terrasse erreicht und das Freizeichen ihres Anrufes völlig ausgeblendet hatte, sah sie schließlich wie Lynn stumm am Rande der Klippen stand. Der raue Wind des Meeres riss an ihren Haaren und an dem schwarzen Pullover, den sie bereits in Efrafar getragen hatte.
„Um himmels Willen...“ Rennend bahnte sich Serah so schnell sie nur konnte ihren Weg durch das kniehohe Gras.
„LYNN! LYNN!“ Der Wind trug ihre Schreie über das Plateau, ohne dass Lynn auch nur Notiz von ihnen zu nehmen schien. Regungslos stand sie einfach nur dar und blickte auf das Meer unter sich.
„Serah? Was ist los?“ Sakuyas Stimme ertönte aus dem Telefon, welches Serah voller Panik an ihr Ohr riss.
„Sakuya!“ atemlos war sie stehen geblieben und blickte geradewegs in Lynns Gesicht, die sich in einiger Entfernung schockartig zu ihr umgedreht hatte.
„Serah?“ fragte Sakuya erneut am anderen Ende der Leitung, nachdem er nur ihr Keuchen vernahm. Aber Serah sah etwas in Lynns Ausdruck, was sie noch nie zuvor gesehen hatte.
Der Reis, den Serah auf den niedrigen Tisch im Wohnzimmer gestellt hatte, dampfte noch. Sein süßlicher Geruch zog sich derweil durch das gesamte Haus.
Nachdenklich rieb sich Serah die Hände an ihrer Schürze. Ihr Blick glitt zu Lynn, die vor der Schüssel und den Stäbchen saß, als wüsste sie nicht mehr, was man damit anfangen solle.
Nachdem Lynn sich an der Klippe zu ihr umgedreht hatte, war Serah sich nicht mehr sicher, ob sie dieser Situation noch Herr werden konnte. Der Ausdruck, der in Lynns Gesicht gelegen hatte, verstörte sie noch immer zutiefst. Es war eine Mischung aus panischer Angst und Verzweiflung gewesen. Und Serah ertappte sich schon den ganzen Tag dabei, sich die Frage zu stellen, was wirklich zwischen Lynn und Sakuya vorgefallen war. Offensichtlich hatte sein Name die erste Reaktion in ihr ausgelöst.
„Hast du denn gar keinen Appetit?“ fragte Serah verwundert, während sie ihre Kochschürze abnahm und sie über einen Barhocker der Kochinsel legte. In Lynns Gesicht war keinerlei Regung ersichtlich. Sie starrte nur stumm den Reis vor sich auf dem Tisch an. Seufzend ließ sich Serah gegenüber von Lynn nieder und blickte auf ihre eigene Schüssel und den Essstäbchen.
„Wenn ich es mir recht überlege, weiß ich gar nicht mehr, wann ich das letzte mal Reis gekocht habe.“ schmunzelnd über diese Einsicht blickte Serah lächelnd zu Lynn.
„Ich glaube, dass letzte mal war es tatsächlich in Efrafar.“ Kurz dachte Serah über die Jahre nach, die dazwischen lagen. Und an all die schmerzhaften Geschehnisse, die seither den Weg in ihr Leben gefunden hatten.
„Miku liebte Jasminreis. Koshihikari schmeckte für mich immer wesentlich besser.“ Ihr lächelnder Blick suchte den von Lynn.
„Erstaunlich, angesichts der Tatsache, dass Jasminreis in Efrafar erst durch die Handelsverträge mit Valvar an Beliebtheit gewann. Die Reisbauern in unserer Welt, kannten diese Sorte zuvor nicht einmal.“ Serahs Schmunzeln verblasste, nachdem sie einsehen musste, dass Lynn in keinster Weise auf ihre Worte reagierte.
„Nun, jetzt bist du die erste, mit der ich nach Jahren das erste mal wieder Jasminreis esse.“ Trotz Lynns Teilnahmslosigkeit lächelte Serah und begann langsam zu essen.
„Dakon hatte nie etwas für Reis übrig. Deshalb habe ich nach Miku auch keinen mehr gekocht.“ Ihr Lächeln verschwand allmählich.
„Bei Rin haben wir uns immer etwas bestellt. Es war kein Familienleben mehr. Aber was hatte ich auch erwartet. Dakon war bis zuletzt völlig von der UEF besessen. Dass er überhaupt noch ein Bett mit mir teilte, erscheint mir jetzt absurd.“ Ohne das Serah es wollte, erschrak sie schließlich über den Hass in ihrer eigenen Stimme.
„Hätte mir vor zehn Jahren jemand gesagt, dass die Dinge sich so entwickeln würden, hätte ich ihn verlassen und wäre mit Miku in eine andere Stadt gezogen. Weit weg von ihm und seinem blinden Aktionismus.“ Tränen mischten sich unter Serahs Worte und erstmals schien Lynn sich ihrer Anwesenheit bewusst zu werden.
„Soll er mit der blonden Schlampe glücklich werden und mit ihr seine Sorgen teilen. Er hat nur Miku geliebt. Ich war nur das Mittel zum Zweck für ihn.“ schluchzend ließ Serah ihre Hände auf den Tisch fallen und ihre Essstäbchen rollten fast lautlos zur Mitte des Holzes. Weinend ihr Gesicht in den Händen vergraben, bemerkte Serah nicht einmal, dass Lynn aufgestanden war und sich zu ihr hinunter beugte. Erst als ihre kalten Hände ihre warmen Schultern tröstend umfassten hielt Serah kurz inne, ehe die Trauer sie erneut übermannte.
Neugierig aufblickend hatten Hershels alte Augen Sakuyas Silhouette wahrgenommen. Im schwachen Licht seiner Schreibtischlampe legte Hershel schließlich einige Akten beiseite, über denen er seit Stunden gebrütet hatte.
„Was treibt dich um, Sakuya?“ fragte er verwundert und richtete sich aufmerksam auf.
Stumm trat Sakuya in Hershels Büro und setzte sich auf einen Stuhl vor seinem Tisch.
„Serah hat mich heute morgen ziemlich aufgelöst angerufen.“ erklärte er nüchtern und zündete sich eine Zigarette an.
„Ist etwas mit Lynn?“ der aufrichtig besorgte Unterton in Hershels Stimme war Sakuya keineswegs entgangen.
„Sie scheint wieder zu sich gekommen zu sein. Aber Serah beschrieb ihr Verhalten als eine Mischung aus Apathie und Todessehnsucht.“ Nickend blickte Hershel ihm entgegen.
„Nun, wundert dich das?“ harkte er nach und griff nach seiner Pfeife.
„Das ist es nicht.“ erwiderte Sakuya müde. Hershel nahm das Zittern in Sakuyas Fingern stumm zur Kenntnis, während er seine Pfeife entzündete und einen langen Zug daran tat.
„Du fragst dich, ob du Serah diese Situation zumuten kannst?“ rätselte Hershel schließlich und begegnete Sakuyas scharfsinnigem Blick:
„Das letzte mal, als sie sich in solch einem Zustand befand, hätte sie mich beinahe getötet.“ Sakuya begegnete Hershels Kopfschütteln:
„Das letzte mal sah sie auch in Dir den Feind.“ Sakuya zog langsam an seiner Zigarette und blies den Qualm schließlich durch das kleine Büro.
„Glaubst du es wäre besser, wenn du in ihrer Nähe wärst?“ fragte Hershel schließlich und begegnete abermals Sakuyas ernstem Blick.
„Nicht in meiner jetzigen Situation.“ Sakuya war nicht entgangen, dass Hershel sein Zittern in den Fingern bemerkt hatte.
„Du hast Angst, dass du die Kontrolle verlierst?“ Die fragende Mutmaßung die Hershel in den Raum gestellt hatte ignorierte Sakuya gekonnt.
„Es ist schwer auszuhalten, dass ich gerade nichts für sie tun kann.“
„Das war es schon immer für dich, solange ich euch beide kenne.“ Erwiderte Hershel leise und versuchte aus Sakuyas Ausdruck schlau zu werden. Er verstand es, jedem in seiner Umgebung mit einer undurchdringlichen Maske zu begegnen, die niemals verriet, was er wirklich dachte oder fühlte. Den einzigen Vorteil den Hershel allen anderen gegenüber hatte, beschränkte sich auf die Jahre, die er Sakuya bereits kannte.
„Das letzte mal warst du von Schuldgefühlen ihr gegenüber zerfressen. Nur deshalb hatte sie dir so nahe kommen können. Wenn du ehrlich zu Dir selbst bist, weißt Du, dass sie niemals eine Chance gegen Dich haben wird. Aber das willst du nicht, nicht wahr?“ erneut zog Hershel an seiner Pfeife. Dass er sich gerade eben mit seiner Einschätzung mächtig weit aus dem Fenster lehnte, konnte er an Sakuyas eindringlichem Blick, mit dem er ihn ansah, sofort ablesen.
„Du willst sie auf Augenhöhe wissen und doch bereitet es dir solche Angst, weil es bedeuten würde, dass Du einmal wahrhaftig mit ihr sprechen müsstest. Weil du ihr endlich mal einen Teil von Dir offenbaren müsstest, den sonst niemals jemand zu Gesicht bekommen hat.“ Sakuya schnaubte verächtlich und zog abermals an seiner Zigarette.
„Auch wenn du allen anderen zuvor kommst und hilfst, wo du nur kannst: aber Du machst Dir das Leben selbst schwer, Sakuya. Begreif das endlich.“ Stumm betrachtete Sakuya einige Sekunden lang Hershels altes Gesicht. Er konnte spüren, wie Hershels Herz schlug. Und er wusste, dass seinem Freund diese Anmaßungen nicht leicht gefallen waren.
„Was soll ich nun deiner Meinung nach tun, Hershel?“ Die schleichende Belustigung, die Sakuyas Worten bei klang, entging ihm keineswegs. Sakuya brauchte keinen Rat von anderen. Er wusste was er zu tun hatte. Für das Ziel würde er alle nötigen Opfer bringen. Aber genau das war es soeben, was scheinbar mit seiner eigenen Gefühlslage zu kollidieren schien. Das eigentliche Ziel und seine Gefühle. Das eine schien mit dem anderen unvereinbar. Und Hershel wünschte sich in diesem Augenblick erneut einmal mehr, dass Sakuya ihm seine Sicht der Dinge und die dahinter stehenden Schicksale und Verstrickungen mitteilen würde. Aber er blieb stumm.
„Sprich mit ihr, solange Du es noch kannst.“ Auf Hershels Rat folgte ein seichtes Lächeln von Sakuya, der seine Zigarette zügig im Aschenbecher ausdrückte und aufstand.
„Ich werde Dir morgen neues Geomas für Yennifer bringen. Ihr Zustand scheint sich rapide zu verbessern.“ Mit diesen Worten hatte Sakuya Hershels Büro verlassen und der alte Mann blieb nachdenklich zurück. Allmählich schwante Hershel das Übel, welches sie alle noch übermannen könnte. Das Schlimmste war jedoch die Vorahnung die ihn langsam überkam, was Sakuya bevorstehen würde.
Ungeduldig lief Elliot durch Hershels Labor. Weder Yennifer, noch Carver oder Hershel selbst waren dort. Einzig ein kleiner Notizzettel auf dem großen Arbeitstisch ließ darauf schließen, dass Hershel einkaufen gegangen war.
„Und das, wo die gesamte Infrastruktur des Landes gerade zusammenbricht...“ stellte Elliot genervt fest und ließ den Zettel zurück auf den Tisch gleiten.
Bereits in der letzten Nacht hatte Sakuya Elliot die SMS geschickt, dass er sich bei Hershel, am nächsten Tag einfinden solle. Was genau er wollte, blieb unklar. Elliot war sich jedoch sicher, dass es etwas mit den Vorbereitungen des Angriffs auf die Hauptserver der VCO zu haben musste.
In den letzten zwei Wochen waren Ameara und er stets damit beschäftigt gewesen, mögliche Sicherheitslücken im System ausfindig zu machen. Die gesamten Sicherheitsprotokolle waren nach Elliots unehrenhafter Entlassung der VCO geändert und neu geschrieben worden. Einzig sein Zugang als Systemadministrator bestand noch immer. Ausgehend von jener fatalen Nacht, als er sich nicht imstande dazu fühlte, die kleine Datei, die mit dem Serverangriff mitgeschickt worden war, zu löschen.
Mit einem Mal überkam Elliot ein heftiger Schwindel und er musste sich auf die Tischplatte stützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Unscharfe Bildfragmenete rasten an seinem inneren Auge vorbei. Wie er mit seinem Boss gesprochen hatte, wie er in jener Nacht seinen Rucksack gepackt hatte, nachdem man ihn über den Cyberangriff informiert hatte. Der Geruch von kaltem Zigarettenqualm packte ihn sofort bei der Nase, als er sich versuchte an den vorherigen Teil es Abends zu erinnern. Er hatte mit jemandem gesprochen. Nur mit wem? Worüber hatten sie gesprochen?
„Elliot, geht es Dir gut?“ Hershel war geradewegs die Türe hereingekommen und war im Begriff seine beiden vollen Einkaufstaschen zu Boden gleiten zu lassen, als Elliot jedoch nur stumm mit dem Kopf nickte: „Es geht schon.“ Weitere Sekunden verstrichen, in dem der Schwindel wieder nachließ und er sich zu Hershel umdrehte.
„Junge, du siehst nicht gut aus.“ Stellte dieser nur besorgt fest und ging mit den Taschen an ihm vorüber, in die kleine Nische, in der er am Ende des riesigen Raumes seine provisorische Backküche eingerichtet hatte.
Etwas neben der Spur folgte ihm Elliot und blieb schließlich nachdenklich im Türrahmen stehen. Obwohl Hershel eilig damit zugange war, die Lebensmittel zu verräumen, hielt er schließlich inne und musterte Elliots blasses Gesicht, dass durch die Kapuze seines schwarzen Hoodys wie eingerahmt wirkte.
„Möchtest Du darüber sprechen, Elliot?“ Innerlich mit sich ringend fingerte Elliot nach der Schachtel Zigaretten in seiner Hosentasche.
„Hältst Du es für möglich, dass Sakuya die Zukunft voraussehen kann?“ Beinahe hätte Hershel laut los gelacht. Sakuya verfügte über reichlich Fähigkeiten, ihn jedoch als Wahrsager zu bezeichnen, erschien Hershel etwas zu metaphorisch. Zu gerne hätte er ihm all das erzählt, was er selbst über Sakuya wusste und in all den Jahren durch seine Forschungen herausgefunden hatte. Obwohl dies nur die Spitze des Eisbergs bildete, angesichts der neusten Entwicklungen, musste Hershel jedoch schweigen. Nichts in der Welt würde ihn dazu bewegen, seinem Freund mit seinem Wissen in den Rücken zu fallen. Nachdenklich rieb sich Hershel sein bärtiges Kinn. Sein Wissen kitzelte ihn bei den Fingern.
„Wie soll ich es ausdrücken...“ nuschelte Hershel gedankenversunken. Elliot zu offenbaren dass Sakuya durchaus in der Lage dazu war, Wahrscheinlichkeiten in eine logische Abfolge zu bringen und somit Handlungsmuster einzelner Personen voraus zu sehen, erschien ihm als eine zufriedenstellende Antwort. Sakuyas Kopf schien eine bessere KI zu beheimaten, die dazu imstande war, einem nichtdeterminiertem Algorithmus zu folgen. Jemand wie Elliot hätte dies sicherlich brennend interessiert.
„Sakuya kann-“
„Es nicht ertragen, wenn andere wie alte Waschweiber über Dinge tratschen, die sie beim besten Willen nichts angehen.“ Mit mahnendem und doch leicht belustigten Blick hatte Sakuya geradewegs das Labor betreten und blickte in Elliots verunsichertes Gesicht. Ein Blick zu Hershel verriet ihm, dass er keineswegs die Absicht hatte, Elliot irgendwelche besonders relevanten Dingen über seine Person zu erzählen. Der alte Mann winkte mit einem Lächeln ab und widmete sich wieder seinen Einkäufen.
„Gut, dass Du gekommen bist. Wir haben einigen zu besprechen.“ leitete Sakuya das Gespräch ein, warum er um Elliots Erscheinen gebeten hatte.
„Lass uns ein Stück über den Campus gehen.“
Die Universität wirkte wie ausgestorben. Angesichts der Aufstände innerhalb der Städte, hatte die Regierung doch vor wenigen Tagen erst den Ausnahmezustand ausgerufen. Nur vereinzelte Studenten huschten über die langen Flure des Geländes, im Begriff die wichtigsten Bücher zu holen, die sie für ihre Abschlussarbeiten brauchten. Zu dem entfernten Lärm des Verkehrs, mischten sich immer wieder Lautsprecherdurchsagen von Regierungsfahrzeugen, die dazu aufforderten, schnellstmöglich nötige Vorkehrungen für eine sofortige Ausgangssperre zu treffen.
„Als wäre das gerade die Zeit, in der man seine Abschlussarbeit schreiben sollte...“ bemerkte Elliot abwertend und sah einer jungen Frau hinterher, die hastig in die große Schwingtür zur Universitätsbibliothek einbog. Unter ihrem linken Arm hatte sie einige Bücher auf denen die Aufschriften „Einführung in die Fourier-Transformationen“ und „Einführung Python“ stand. Auf ihrer Laptoptasche befand sich ein kleiner Aufkleber mit dem Titel „Search for the Truth – L.V.“. Sakuya hatte gesehen, dass Elliot den Aufkleber bemerkt hatte, jedoch nur amüsiert den Kopf schüttelte.
„Ist es nicht das, was du wolltest, nach deiner Arbeit bei der VCO?“ harkte Sakuya nach, während er kurz stehen blieb, um sich eine Zigarette anzuzünden.
Die Luft war klar und obwohl es wieder auf den Herbst zuging, bleiben die Temperaturen in einem konstanten Bereich unterhalb der achtzehn Grad.
Elliot blickte genervt in Sakuyas erheitertes Gesicht.
„Wenn Du meinst, dass es mein Anliegen war, mit einer labilen Irren zum kompliziertesten Netzwerk des Universums Zugang zu bekommen, liegst du mehr als daneben.“ Müde Augen unterstrichen mit einem abfälligen Blick das soeben Gesagte.
„Ob ich die Welt retten wollte, vor dem, was ich alles mit ansehen musste? Vermutlich.“ Stumm hielt Sakuya Elliot sein Feuerzeug hin und zündete ihm die Zigarette an, die er zeitgleich aus der zerknitterten Papierschachtel seiner Hosentasche gefischt hatte.
„Empfindest du Ameara als Irre?“ Skeptisch musterte Elliot Sakuyas undurchdringliche Augen. Es lag keinerlei Vorwurf darin.
„Sie ist besonders...“ letzteres betonte Elliot. Sakuya nickte und die beiden gingen langsam weiter, auf den schmalen Wegen, die zwischen einigen Grünflächen die mit Bäumen bepflanzt waren, vorbeiführten.
Unruhig zog Elliot an seiner Zigarette. Irgendetwas an Sakuya verunsicherte ihn jedes mal aufs neue zutiefst. Und das nicht erst, seit er das erste mal in Valvar aufgetaucht war.
Elliot erinnerte sich noch gut daran, wie er gerade die schweren Taschen aus dem Jeep eines befreundeten Soldaten gehievt hatte. Er war mehrere Stunden mit ihm aus der Stadt und durch die Wälder gefahren, hin in die kälteren Bergregionen Valvars. fest entschlossen ein neues Leben außerhalb der Stadt zu beginnen und aus Negans Wirkungskreis auszubrechen, hatte Elliot eine halbe Ewigkeit das große Tor des kleinen Bergdorfes angestarrt. Zeitgleich mit der entscheidenden Frage, was er in diesem abgelegenen Ort mit all seiner Technik wollte. Die Welt schien genau an diesem Ort zu enden. Und Gott hatte an diesem Ort lediglich alles in puderzuckerweißen Schnee gehüllt, damit zumindest der Arsch der Welt noch einen optischen Charme hatte. Vermutlich läge der Altersdurchschnitt der Bewohner dort bei einundneunzig. Kopfschüttelnd fragte sich Elliot, was ihn bei dieser Idee geritten hatte. Das Leben in der Stadt war für ihn jedoch unvorstellbar geworden. Die vielen Menschen, die ständigen Sanktionen. Sein Wissen war so groß mit den Jahren bei der VCO geworden, dass es eine Frage der Zeit sein würde, ehe die Infrastruktur völlig zusammenbräche. Und dass sich an solch einem Tage jeder selbst der Nächste war, stand außer Frage. Warum also das Chaos suchen, wenn man dem Frieden hinter jagen konnte?
Die Dorfbewohner, jene die ebenfalls Ausgestiegen waren, hatten ihn, wenn auch mit Skepsis freundlich empfangen. Eine kleine Hütte, am Rande des Waldes war ihm noch am selben Tag zugeteilt worden. Hinsichtlich seiner technischen Fähigkeiten sorgte er sich wenig, denn es gab immer etwas zu reparieren. Und sein Plan schien aufzugehen.
In den nachfolgenden Monaten wurde er zu einem wichtigen Bestandteil der Gemeinschaft. Wann auch immer Funkgeräte, Taschenlampen, Radios und Toaster ihren Dienst verweigerten, brachte man diese Dinge zu Elliot. Dass er nicht sonderlich wortgewandt war, schien dabei niemanden zu stören. Ihn hingegen störte es allemal, dass jeder der kam, immer etwas zu erzählen hatte. Ein Leben im Einklang mit der Natur zu führen, sich nach den Jahreszeiten zu richten und den Vögeln zuzuhören erwies sich schon bald als kaum machbar. Es machte ihn regelrecht wahnsinnig, dass jeder ihm von den Belanglosigkeiten des eigenen Lebens wissen ließ. Diese Menschen dort hatten keine Sorgen, seiner Meinung nach. Sie wussten nichts und gingen völlig naiv durchs Leben. Gerade im Stande dazu ein Feld zu bestellen und Wölfe zu jagen. Steinzeitmenschen. Einen anderen Begriff hatte er für diese Sorte von Menschen nicht. Und all diese Belanglosigkeiten, die sie quälten. Zu oft dachte Elliot an die VCO zurück. Dort hatte alles Struktur gehabt. Die Leute mit denen er dort gearbeitet hatte waren fokussiert. Allesamt hätten sie einen Wolf mit einem Kugelschreiber umbringen oder ihn durch einen selbst programmierten Computerchip so modifizieren können, dass er andere Wölfe für sie selbst jagte. Nur die Ziele, denen diese Unterfangen dienten, konnte Elliot nicht mehr unterschreiben. Zu grausam war das was er gesehen hatte. Wie man lebendige Menschen in Monster verwandelt hatte und sie per Mausklick dazu zwang, ihrem eigenen Leben ein Ende zu setzten. Aber das Schlimmste was er dort erlebt hatte, war der Teil des Genprogramms, den Negan zuletzt veranlasst hatte. Elliot war Teil des Teams gewesen, welches die Codes für die Chips schrieb, mit denen es möglich war, auf den Tag genau zu bestimmen, wann die nächste Generation Soldaten geboren werden sollte. Eine technische Zeitschaltuhr, die wie eine tickende Zeitbombe die Hormonregulation am Hirnstamm eines jeden Soldaten steuerte. Und auf Knopfdruck waren sie schließlich dazu bereit, wie Tiere übereinander herzufallen und sich zu paaren. Ohne Rücksicht auf Verluste. Dass es dabei zu dutzenden „Kollateralschäden“ in Form von Toten kam, war für Negan unerheblich gewesen. Das Ziel war es, hundertsiebzig Frauen zu schwängern, die schließlich nur drei Monaten später die nächste Generation gebären sollten. Allein die Tatsache, dass die beschleunigte Schwangerschaft nichts als grausame Fehlbildungen und Mutationen durch das zugesetzte Geomas hervorbrachten, sondern auch die Tatsache, dass es zu einer temporären Massenvergewaltigung kam, hatte Elliot sprachlos werden lassen. Als er dann selbst zum Beobachter eines solchen „eingeleiteten Zeugungsakt“ wurde, hatte er sich wochenlang später noch Nachts in Alpträumen gewunden. Das Bild, wie ein erwachsener Mann eine sechzehnjährige zu Tode vergewaltigt hatte, aufgrund des chemisch erzeugten Hormoncocktails in seinem Blut, ließ ihm beim Gedanken daran erneut das Blut in den Adern gefrieren. Selbst nachdem das Mädchen zu tode Vergewaltigt worden war, war ihr Täter nicht dazu im Stande gewesen, von der Leiche abzulassen.
An keinen dieser Orte gehörte er hin. Und mit dieser Einsicht, die Elliot allmählich kam, kam auch eines Tages der Fremde.
Elliot erinnerte sich daran, wie er eines Nachts in seiner Hütte gesessen hatte und mithilfe eines modifizierten Satellitentelefons endlich ein Netdive-Signal empfing. Sofort machte er sich daran, sämtliche externen Festplatten aus seinem Besitz ins Netz zu bringen. In einer gesicherten Cloud speicherte er die Unmengen von Informationen, die er jede Nacht auf der Basis der VCO zusammengetragen hatte, auf seinem privaten Computer. Dass man ihn bei der Hausdurchsuchung, nach seiner Entlassung nicht mitgenommen hatte, lag einzig daran, dass Elliot die Dateien inmitten der Systemprogramme versteckt hatte und der Soldat, der die Durchsuchung durchgeführt hatte, mit allem vertraut war, aber nicht im geringsten mit der IT.
Der schwere Schneesturm der um die kleine Hütte herum wütete, störte immer wieder das Signal des Satellitentelefons, aber Elliot ließ sich nicht davon abbringen, ein für alle mal all seine Informationen im Netdive zu sichern. Erst ein lautes Poltern an der Türe, ließ ihn aus seiner manischen Unternehmung aufschrecken.
Vor der Tür stand ein Mann, der Elliot eigenartig bekannt vorkam. Aber er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wann er ihm jemals zuvor begegnet war.
„Wenn Du damit fertig bist, wirst du die Festplatten und den Laptop vernichten. Und dann wirst Du zu diesen Koordinaten aufbrechen.“ Der Mann gab ihm einen kleinen USB-Stick. Seine Hände waren eisig kalt und die Schneeflocken des Sturmes blieben unverändert in seinen schwarzen Haaren hängen.
„Eine junge Frau wird kommen und du wirst mit ihr gehen. Alles was du über sie wissen musst befindet sich auf dem Stick. Auch ihn wirst du vernichten, wenn Du das Material gesichtet hast.“ Mit offenem Mund versuchte Elliot den Worten des Fremden Gehör zu schenken. Wo war er mitten in der Nacht hergekommen? Wer hatte ihn in die Stadt gelassen? Und warum sprach er wie jemand, der zur VCO gehörte?
„Du wirst bekommen, was du dir wünscht, Elliot.“ Ohne ein weiteres Wort hatte sich der Fremde von ihm abgewandt und verschwand langsam wieder im dichten Schneetreiben des Sturms. Die Fußspuren die er hinterließ waren neben dem USB-Stick das einzige, was Elliot davon überzeugte, tatsächlich mit jemandem gesprochen zu haben. Denn er fühlte sich wie in einem seichten und beängstigenden Traum gehüllt. Er würde bekommen, was er sich wünsche? Woher kannte der Fremde seinen Namen? Hatte Elliot ihm überhaupt ins Gesicht gesehen? Er konnte sich nicht mehr daran erinnern.
„Elliot?“ Sakuyas raue Stimme katapultierte ihn in die Realität zurück. Keine Frage, es war Sakuya gewesen, in jenen Tagen.
Mit prüfenden Augen sah Elliot ihn an.
„Ameara ist dort nicht mehr sicher. Ihr solltet eure Sachen packen und nach Tahara fahren. Die Adresse habe ich dir bereits geschickt.“ erklärte Sakuya konzentriert.
„Wann?“ fragte Elliot verwundert.
„So schnell wie möglich.“
Stutzig warf Elliot seine Zigarette zu Boden und trat sie aus. Seine Gesichtszüge verhärteten sich.
„Und es war dir nicht möglich, mir das per SMS mitzuteilen?“ Ernüchterung klang der Monotonie seiner Stimme bei und er sah genervt zu Sakuya auf.
„Du musst Ameara von Lynn fern halten, hast du mich verstanden?“ Sakuya war stehen geblieben und blickte Elliot ausdruckslos an.
„Was sollte Lynn von Ameara wollen?“
„Nicht Lynn will etwas von Ameara. Sondern Ameara wird etwas von Lynn wollen. Und ich bitte dich, die beiden voneinander fern zu halten. Wirst du das hinkriegen, Elliot?“ Sakuyas raue Stimme hatte einen bedrohlichen Unterton angenommen und Elliot begriff, warum er ihm dies nicht in einer Nachricht geschrieben hatte. Die Sache war Sakuya verdammt ernst.
„Ja, ich werde das hinbekommen, denke ich.“ erwiderte Elliot unsicher.
In diesem Augenblick war Sakuya sich überaus bewusst darüber, dass seine eigenen Fähigkeiten ihre Grenzen hatten. Er konnte vorherbestimmen was Elliot tun würde, oder wie Lynn sich in etwa verhalten würde. Aber die, die sein System zum wanken brachte, war Ameara, durch ihren ständigen Drogenkonsum. Es nahm ihr die Berechenbarkeit. Und es war der Grund dafür, warum Sakuya sich dazu entschlossen hatte, Ameara den Befehl zu geben, die Papiere der VCO zu leaken, damit Elliot auf sie aufmerksam werden konnte. Damit sich die beiden schließlich begegneten und er Ameara durch Elliot schützen konnte. Sowohl vor anderen, als auch vor sich selbst. Diese Frau hatte so viel durchmachen müssen, dass ihr Geist zu allem bereit war. Ebenso wie Lynn. Und genau das verband die beiden miteinander.
„Verrätst du mir, worum genau es bei der Sache geht?“ Sakuya blickte in Elliots wache Augen, der ihn mit nervöser Neugier ansah.
„Nein.“ erwiderte er kühl und ging einige Schritte.
„Aber es wäre gut, wenn du mir noch einmal vertrauen könntest.“ Auch Elliot hatte seinen Gang wieder aufgenommen und folgte Sakuya.
„Du weißt, dass ich Dir vertraue, Sakuya.“
„Ameara?“ Elliot stand in ihrem Apartment und starrte mit dem Schlüssel in der Hand zum Bett, auf dem Ameara mit weit von sich gestreckten Gliedern lag. Vereinzelte Haarsträhnen lagen über ihrem Gesicht. Das weiße Top, welches sie trug, ließ ihre nackte Haut hindurch schimmern.
„Ameara?“ Verwundert über diesen Anblick ließ Elliot den Apartmentschlüssel zurück in seine Hosentasche gleiten. Sie atmete. Tot war sie also nicht.
Unsicher ging er zu zum Bett und setzte sich schließlich auf die Kante. Sein Blick fiel auf die leeren Tütchen neben dem Bett. Daneben eine Dose Energiedrink und eine Flasche Whiskey.
Vorsichtig griff er nach ihrem Handgelenk und überprüfte ihren Puls. Die verklebten dichten Wimpern ihrer geschlossenen Augen glänzten vor Tränen.
„Scheiße Elliot, ich dachte du wärst gegangen...“ murmelte sie benommen, nachdem sie seine Berührung registriert und die Augen schläfrig aufgemacht hatte.
„Was hast du dir da reingezogen? Yaba?“ Über Amearas farblose Lippen verlief ein schwaches Lächeln.
„Xanax... mal was Neues.“ erwiderte sie an der Schwelle zur Bewusstlosigkeit.
Ameara hatte noch vor einer Stunde die Akten von Lynn und Sakuya studiert. Immer wieder hatte sie Hershels Unterlagen mit Sakuyas Berichten verglichen. Es gab etliche Ungereimtheiten mit Bezug zu Lynn. Jemand musste die Akten nachträglich bearbeitet und geschwärzt haben. Nachdem sie in einem geschützten und versteckten Ordner das Gutachten von Lynn fand, nachdem man sie aus der Gefangenschaft der S-Hudan befreit hatte, mit den dazugehörigen medizinischen Dokumentationen über ihren körperlichen und seelischen Zustand, war ihr so übel geworden, dass sie sich sturzflutartig in die Spüle hatte übergeben müssen. Auf den grausamen Schock folgte unendliche Trauer. Ameara war zusammengebrochen und hatte eine halbe Stunde lang nicht aufhören können bitterlich zu weinen. Um das, was Männer Frauen antaten, oder in diesem Fall noch fast einem Kind, darüber, was man ihr selbst angetan hatte, ihr eigener Vater und darüber, dass es überhaupt noch einen Menschen auf der Welt gab, der solch ein Leid hatte durchleben müssen. Voller Ohnmacht zog immer wieder das Bild vor ihrem geistigen Auge entlang, wie Lynn auf einem Operationstisch gelegen hatte, übersät von Blut und Kot, Würmern und Larven. Ihre wenigen langen Haarsträhnen hatten wie ein fettiger zu dünner Vorhang ihre blutige Kopfhaut bedeckt. Ihre Aufgeplatzten Lippen hatten das Blutbad in ihrem Mund enthüllt. Dr. Hershel Porter hatte in seinem Bericht dazu geschrieben, dass man ihr alle Zähne gezogen, zum Teil abgebrochen und ausgegraben hatte. Entgegen der Vermutung, sie sei an einer Sepsis aufgrund der eitrigen Überreste gestorben, hatte nur noch die klaffende Schusswunde an ihrer Schläfe die eigentliche Todesursache bestätigt. Immer wieder sah Ameara ein zerfetztes und blutüberströmtes Skelett, mit dünner, rissiger, aufgeplatzter Haut bespannt. Wer auch immer diese Bilder aufgenommen hatte, musste jede Hoffnung verloren haben, dass es irgendwo da draußen noch etwas Gutes gab. Nahaufnahmen von Lynns Fingern zeigten verstümmelte Reste, wo einst Fingernägel waren. Zwei Zehen waren von Ratten abgekaut worden, die Fußgelenke hatte man ihr scheinbar absichtlich gebrochen.
Und all das widersprach in einem nicht fassbaren Maße dem, was Ameara zu Letzt gesehen hatte, als eben diese Frau in ihrem Apartment gestanden hatte. Lebendig.
Übermannt von ihrer eigenen Vergangenheit hatte Ameara keinen anderen Weg gesehen, als sich selbst dermaßen zu betäuben, dass sie von dem Schmerz, der sie beim Anblick übermannt hatte, nichts mehr spürte. Sie wollte innerlich leer sein. Als sie hastig nach der letzten Tüte, die ihr von Haze noch geblieben war in einer Schublade kramte, mischten sich die entsetzlichen Bilder ihres eigenen Vaters hinzu. Ohne es zu registrieren, hatte sie prompt alle Pillen geschluckt und mit einem großen Schluck Whiskey hinuntergespült. Nichts von alle dem wollte sie mehr fühlen.
Dumpfes Ruckeln weckte Ameara aus einem verschwommenen Traum. In der Dunkelheit um sie herum zogen längliche Lichter ihre reflektierenden Bahnen. Ihr Kopf dröhnte.
„Du bist wach.“ Elliots ruhige Stimme durchschnitt die Stille. Einige Sekunden brauchte sie noch zur Orientierung, ehe Ameara bemerkte, dass sie auf dem Rücksitz eines Wagens lag. Im Rückspiegel konnte sie trotz der Dunkelheit Elliots wachsamen Blick spüren.
„Scheiße, mein Kopf.“ fluchte sie leise und versuchte sich aufzurichten.
„Kannst du kurz halten?“ fragte sie schließlich kurzatmig und mit zittriger Stimme.
Nachdem Elliot auf einer Landstraße rechts ran gefahren war, zündete er sich eine Zigarette an, während er die würgenden Laute von Ameara, direkt hinter dem Wagen vernahm. Er konnte ihr das ganze nicht verübeln. Er selbst hatte sie Akten mehrmals gelesen. Hatte die Bilder gesehen.
Nachdem er sich in ihrem Apartment jedoch davon überzeugt hatte, dass ihr Puls regelmäßig war, hatte er begonnen ihre Sachen zusammen zu packen. Es hatte ihn den ganzen Abend gekostet, alle Daten zu sichern und die restliche Hardware so sorgfältig zu zerstören, dass keinerlei Informationen mehr abrufbar waren. Nur der Stick in seiner Jackentasche enthielt den Code für ihren Hack, und das restliche Material der VCO, welches Ameara noch zu sichten hatte, um sich völlig sicher sein zu können, dass sie alle benötigten Informationen darüber erhalten hatte.
Obwohl Lynn mitbekommen hatte, dass jemand gekommen war, blieb sie mit einer halb leeren Flasche Gin an den Klippen, hinter dem Haus sitzen, um weiter gedankenversunken auf das Meer hinauszublicken. Die Sonne war schon vor Stunden untergegangen, aber Lynn sah keinerlei Anlass dazu, aufzustehen. Immer wieder brachen sich am Rande der Wolken, die über das Meer hinwegzogen, die farbigen Sicheln der Explosionen und Erschütterungen, die vom Landesinneren selbst Tahara erreichten. Sakuya hatte es ihr in Valvar prophezeit, dass nichts mehr so sein würde wie zuvor. Weder was die Welt in Elaìs betraf, noch was sie selbst betraf. Immer wieder überrollten die Bilder der Gefangenschaft sie und zogen sie in einen Sog auf Hoffnungslosigkeit und unendlichem Schmerz. Irgendwie musste sie mit all dem zurecht kommen. Stark bleiben. Ihre Aufgabe war weitaus größer angedacht, als nun aufzugeben. Allein wegen Menschen wie Serah oder Carver war es den Kampf gegen Valvar wert. Aber das Geschehene griff immer wieder wie eine schwarze Hand nach ihrer Seele, zerdrückte und marterte sie, bis das was übrig blieb die alleinige Todessehnsucht nach ewiger Ruhe bildete. Lynn schloss ihre tränenerfüllten Augen und ließ ihren Kopf zwischen ihre Knie fallen. Der Gin half, die Leere in ihrem Inneren mit einem wohligen Gefühl von Gleichgültigkeit zu füllen. Es war nicht von Dauer. Aber die kurzen Momente, in denen ihre Sicht verschwamm und sie nur noch das Pochen ihres Herzens wahrnahm, machte es erträglicher.
„Was ist mit Ameara?“ fragte Serah besorgt, nachdem Elliot und sie mit mehreren Taschen aus dem geparkten Auto gestiegen waren und Ameara sich erneut, am Rande der Einfahrt, übergab.
„Das wird wieder.“ erwiderte Elliot monoton und schob sich an Serah vorbei ins Haus. Nickend und Amearas ausgezehrten Körper bei seinen Anstrengungen noch kurz beobachtend, folgte sie schließlich Elliot und nahm ihm eine Tasche ab.
„Wo ist Lynn?“ Obwohl es im Haus warm und einladend wirkte, machte Elliot nicht die geringsten Anstalten seine schwarze Kapuze abzunehmen. Kurz musterte Serah auch Elliot besorgt. Er war anders als die Menschen, mit denen sie bisher zu tun gehabt hatte. Und obwohl Sakuya wohl unangefochten der Mann der wenigsten Worte war, machte Elliot ihm deutliche Konkurrenz mit seinem Verhalten. Einzig, dass er sein Gegenüber so oft mit diesen wachen und fragend großen Augen ansah, als würde die Welt ihn falsch verstehen, unterschied ihn deutlich von Sakuya. Und die Monotonie seiner Stimme. Auf pure Freude oder Empathie schien man bei ihm vergeblich zu warten. Jedes seiner Worte strotzte nur so vor Teilnahmslosigkeit. Serah hegte keinerlei Zweifel daran, dass auch Elliot eine menge Dinge erlebt hatte, die ihn zu dem gemacht hatten, wer er war. Und doch fragte sie sich, ob er jemals aus sich herauskommen würde und den Menschen um sich herum sein wahres Gesicht preisgeben würde.
„Jo, Serah?“ Wiederholte er seine Frage und sah in Serahs nachdenkliches Gesicht.
„Ja, Lynn. Sie ist draußen, bei den Klippen.“ Nickend hatte Elliot die Taschen zu Boden gestellt und sah sich kurz um.
„Nett.“ bemerkte er gleichgültig die Inneneinrichtung des Untergeschosses, als endlich Ameara das Haus betrat.
„Das ist wirklich ein scheiß Paradies hier.“ bemerkte sie mit einem schwachen Lächeln und hielt Serah die Hand hin.
„Entschuldigung für das Beet. Ich bin Ameara.“ sagte sie mit dünner Stimme. Serah war dabei nicht entgangen, wie ausgelaugt und fertig die junge Frau aussah. Tiefe Ränder unter den Augen zeugten davon, dass sie nicht viel von Schlaf hielt. Was Sakuya sich dabei gedacht hatte, die beiden Zusammenarbeiten zu lassen, ließ sie innerlich den Kopf schütteln. Sie war sich nicht sicher, wer wen zuerst runter ziehen würde. Aber wie sie Sakuya kannte, würden sie im Team vorzügliche Arbeit leisten. Die Rahmenbedingungen konnten ihr somit egal sein.
Mit einem Lächeln ergriff sie Amearas kalte, dürre Hand.
„Fühlt euch wie Zuhause. Im oberen Geschoss, direkt links, findet ihr ein Zimmer. Sakuya hat bereits alles was ihr benötigt von Rin bringen lassen. Er wird morgen ebenfalls kommen.“ Setzte Serah die beiden ins Bild. Elliot und Ameara sahen einander fragend an.
„Ich denke, wir...“ Ameara zögerte und suchte Elliots Zustimmung.
„Wir sind kein Paar.“ Sprach Elliot den Umstand schließlich aus. Für Serah klang das eher nach einer Frage, aber sie nickte und lächelte: „Entschuldigt. Im Keller ist ein weiteres Zimmer, direkt neben dem großen Bad.“ Noch immer unsicher, nickte Ameara mit offenem Mund.
„Gut, ich werde mal meine Sachen rauf bringen.“ Wieder sah Ameara sowohl Elliot als auch Serah fragend an. Die Situation war mehr als unangenehm und stockend. Unsicher hatte sie schließlich eine Tasche geschultert und war nickend die Treppe im Eingangsbereich hinaufgegangen.
„Gut.“ Versuchte Serah die bedrückende Stille auszumerzen. Elliot zwang sich ein Lächeln ab und balancierte unsicher von einem Bein auf das andere.
„Ich werde mal nach Lynn sehen.“ stieß er schließlich hervor. Wohlwollend deutete Serah in die Richtung der Wohnküche, an deren Ende die Terrassentür offen stand.
„Wenn ihr etwas braucht, ich schlafe dort." Serah deutet auf eine Tür im Eingangsbereich.
"Aber wie gesagt, fühlt euch einfach wie Zuhause.“ Elliot ging nickend an Serah vorbei und trat schließlich erleichtert auf die Terrasse. Mit einem Seufzer atmete er aus. Besser sie würden sich in diesem Haus nicht wie zu Hause fühlen, dachte er angesichts der Leichen, die sich noch vor kurzem in Amearas Badewanne zu Brei aufgelöst hatten. Fasziniert betrachtete Elliot schließlich den klaren Sternenhimmel, der sich über die große Wiese erhob, wie ein unendlicher, schwarzer Raum. Als er Serah kennengelernt hatte, hatten sie nie sonderlich viel miteinander gesprochen. Dafür war die Situation zu entspannt gewesen. Und doch hatte sie bereits in Valvar immer den Eindruck bei ihm hinterlassen, die einzige von ihnen zu sein, die wirklich normal war. Und das, obwohl ihr Mann der Kriegstreiber war, der ständig alle anderen gegen sich aufgebracht hatte. Serah strahlte in allem was sie tat eine gewisse zivilisatorische Ordnung aus. Es war nicht nur die zarte Mütterlichkeit, die er an ihr so oft wahrgenommen hatte, sondern auch ihre Funktion als beinahe neutrales Bindeglied, zwischen den unterschiedlichen Charakteren.
Die Wellen des Meeres, waren deutlich hinter den Klippen zu vernehmen. Elliot konnte das Salz schmecken. Die Luft war voll davon.
Nachdem er das hohe Gras der Wiese überquert hatte, sah er schließlich Lynn. Das letzte mal, als er sie getroffen hatte, war sie stiller als sonst gewesen, aber dennoch hatte sie in allem was sie tat einen ungebrochenen Kampfesgeist ausgestrahlt. Nun war es anders.
Elliot zog eine Zigarette aus seiner Hosentasche und setzte sich neben sie. Kurz überprüfend ob seine Kapuze noch seinen Kopf bedeckte suchte er schließlich ihren Blick und zündete seine Zigarette an.
„Hey, Elliot.“ sagte Lynn schwach, ohne ihren Blick von den immer währendem Wellengang des Meeres zu lösen. Einen Moment lang hielt er inne, tat es ihr gleich. Ja, das Meer hatte eine ungeheure Anziehungskraft. Der Gleichschritt, mit dem es sich bewegte, konnte einen in seinen Bann ziehen. Dann fiel Elliot der Gin auf, der neben Lynns Knien im Gras lag.
„Bedien dich.“ Beinahe flüsternd hatte die Einladung ihn erreicht und er kam ihr nach. Nach drei großen Schlücken spürte er schließlich die wohlige Wärme in seinem Inneren.
„Ameara würde sich sicher freuen, wenn sie sich bei dir bedanken könnte.“ begann er schließlich leise und nahm einen tiefen Zug seiner Zigarette.
Lynns schwaches Nicken zur Kenntnis nehmend, nahm Elliot einen weiteren Schluck. Er dachte darüber nach, dass er sie fragen könnte, wie es ihr ginge. Aber es erschien ihm zu absurd. Warum sollte er das Offensichtliche erfragen? Stattdessen lehnte er sich zurück und blies den Qualm seiner Zigarette in die kühle Nachtluft. Beobachtend wie der Qualm vom Wind fortgetragen wurde schwieg Elliot. In dieser Situation gab es nichts zu sagen. Er hatte es an Sakuyas Augen auf dem Campus gesehen, als er Lynn erwähnt hatte. Etwas schwerwiegendes war geschehen. Was genau ging ihn nichts an. Das war eine Sache zwischen Lynn und Sakuya. Es war schlimm genug, dass er, bis auf einige Details, ihr gesamtes Leben durchstöbert hatte.
„Danke.“ sagte Lynn schließlich leise und sah Elliot das erste mal an. Sofort erkannte er die grenzenlose Trauer in ihren Augen. Die leicht geschwollenen Ränder unter ihren Augen zeugten davon, dass sie viel geweint haben musste.
„Wofür?“ fragte Elliot nur verwundert. Lynn blieb ihm die Antwort schuldig.
Nachdem Lynn noch eine Zeit lang neben Elliot gesessen und mit ihm stumm aufs Meer hinausgeblickt hatte, stand sie schließlich auf und sah zu ihm hinunter.
„Bis später.“ sagte er nur leise und sie wandte sich nickend von ihm ab, um ihres Weges, zurück zum Haus zu gehen. Noch eine Weile blieb Elliot an den Klippen sitzen und dachte nach. Es passte nicht im geringsten zu ihm, mit diesen Menschen unter einem Dach zu leben. Er war schon immer ein Einzelgänger gewesen. Bei der VCO war es nicht anders gewesen. Man hatte ihm, wie auch den anderen IT´lern Einzelapartments gestellt. Wohl wissend darum, dass viele von Ihnen Eigenbrötler waren. Sein Chef hatte mal zu ihm gesagt, dass Genie und Wahnsinn nahe beieinander lägen. In Elliot würde sich jedoch beides miteinander vereinen. Er hatte damit auf Elliots Verbissenheit angespielt. Er war mehr als gut, in dem was er tat. Weil es das einzige war, was ihn lange Zeit überhaupt interessiert hatte. Mit den Einsen und Nullen seines Betriebssystems hatte er sich identifizieren können. Alles funktionierte aus reiner Logik heraus. Das perfekte Zusammenspiel einer Masse, die nicht greifbar war. Die Metaphysik einer nicht existenten Substanz. Erfahrbar gemacht durch Hardware.
Er selbst war weit entfernt von einem solch perfektem Zusammenspiel. Ebenso wie all die anderen. Die Schwäche eines jeden Systems bildete der Mensch und seine vermeintlich wunderbare existenzielle Individualität. Bullshit, dachte Elliot und nahm einen großen Schluck Gin. Die Individualität der Menschen und ihre Schwäche brachte immer wieder alles zu Fall. Hier eine kleine Unachtsamkeit, dort ein kleines Missgeschick. Und ein ganzes System ging den Bach hinunter. Wenn er an Ameara dachte, setzte sein Geist sie mit einer zerstörten Festplatte gleich. Die Software war im Arsch. Egal wie oft man sie rebooten würde, irgendwo hatte sich ein Fehler eingeschlichen, der schließlich immer wieder das komplette System zum Totalausfall bringen würde. Es war nur eine Frage der Zeit, ehe die Hardware auch den Geist aufgeben würde. Ob man nur lange genug suchen müsste? Die fehlerhafte Partition entfernen könnte? Wie ein menschliches Virenprogramm. Und wenn man den Fehler hätte? Unwiderruflich löschen. Papierkorb leeren. Und dann, nur zur Sicherheit, nochmal das Betriebsprogramm neu aufspielen. Elliot sah sich selbst jedoch weder als menschliches Virenprogramm, noch als große Hilfe bei solch einem Unterfangen. Nicht weil es ihm egal war, sondern weil das was er erlebt und gesehen hatte, für die ständige Monotonie seiner Gedanken sorgte. Ein grauer Sumpf. Einsen und Nullen, ohne Farben, ohne Emotionen. Nur ein Programm. Zwei fehlerhafte Programme in einer Welt aus Scheiße. Elliot atmete tief ein. Und Lynn? Ihr Systemabsturz war allgegenwärtig. Ihre Firewall war niedergebrannt worden. Aber er kannte ihr Virenprogramm. Nur sie selbst schien so sehr in sich und dem Geschehenen zu versinken, dass sie völlig auszublenden schien, dass es jemanden an ihrer Seite gab. Die Tatsache, dass Sakuya mit seinem Erscheinen mehr Fragen aufzugeben schien, als er beantwortete, machte eine Bereinigung des Schadens nicht leichter. Wie fühlte sich ein Virenprogramm? Mächtig, angesichts der Gefahren, die es bannen konnte? Oder ohnmächtig, weil es stets mit allen Möglichkeiten der Gefahren konfrontiert war?
Elliot ließ sich zurückfallen und schloss die Augen. Der Gin wirkte. Die Dinge verloren an Wichtigkeit.
„Lynn?“ sie zuckte zusammen, als sie die dünne Stimme im Flur hörte. Gerade im Begriff ihr Zimmer zu betreten, blickte Lynn in Amearas große, müde Augen.
„Ich... Ich wollte dich nicht erschrecken, entschuldige.“ Eine seltsame Zerbrechlichkeit ging von Ameara aus. Ihre Stimme klang kraftlos und unterschwellig flehend. Ihr Blick vermittelte Lynn selbiges.
„Man, siehst du mitgenommen aus...“ begann Ameara zu stammeln, als Lynn sich ihr zuwandte und Ameara erstmals Lynns blutunterlaufene Augen registrierte.
„Geht es dir gut?“ fragte Lynn ausdruckslos. Ameara sah alles andere als gut aus. Die Art und Weise, wie sie ihr gegenüberstand, ihre Arme eng um ihren Körper geschlungen, ihr Pullover so weit, dass ihr ausgezehrter Körper darunter zu ächzten schien.
„Scheiße, nein, mir geht’s nicht gut.“ Sofort bemerkte Lynn die Erleichterung, mit der Ameara unruhig ihr Gewicht auf das andere Bein verlagerte.
„Mir auch nicht besonders.“ erwiderte Lynn und begegnete einem schwachen Lächeln.
„Willst du bei mir schlafen?“ fragte Ameara schließlich unsicher. Wobei es in Lynns Ohren mehr einer Bitte glich. Noch ehe sie reagieren konnte, hatte Ameara die Tür zu ihrem Zimmer geöffnet und ging hinein. Lynn folgte ihr und betrachtete kurz die Monitore und Computertower, die auf einem großen Schreibtisch, unter einer Dachschräge am Fenster standen. Das Bett befand sich direkt an der Wand. Die wenigen Sachen, die Ameara aus ihrem Apartment mitgebracht hatte, lagen über einem der beiden Stühle am Schreibtisch. Ameara hielt selbst kurz inne und nahm schließlich eine weitere Bettdecke aus einer Kommode.
„Ich schlafe eigentlich nicht... .“ bemerkte Lynn leise, während sie Ameara die Decke abnahm und sich auf das Bett legte.
„Ja, ich weiß, Elliot auch nicht.“ Ein flüchtiges und beiläufiges Lächeln zeichnete sich auf Amearas blassen Lippen ab, die es Lynn schließlich gleichtat und sich auf das Bett legte. Kraftlos war Lynn bis zur Wand gerutscht und breitete die Decke über sich und Ameara aus.
„Es fühlt sich alles so surreal an...“ Ameara blickte mit leeren Augen an die Dachschräge über ihnen.
„Ich weiß... .“ stimmte Lynn ihr leise zu und betrachtete das Profil von Amearas dürrem Gesicht.
„Als gäbe es da draußen nichts.“
„Als gäbe es nichts... wofür es sich zu kämpfen lohnt...“ Amearas Worte ebbten in einem leisen regelmäßigen Atem ab. Müde schloss Lynn ihre Augen und nahm noch kurz zur Kenntnis, dass Ameara vorsichtig ihre Hand ertastete und sie schließlich festhielt.
„Danke, Lynn... .“
Tag der Veröffentlichung: 14.08.2016
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