Ich wachte heute mit einem merkwürdigen Gefühl auf. Ich werde sterben ...
Eigentlich sollte ich mir jetzt Sorgen machen, habe ich dann gedacht.
Ein normaler Mensch würde dieses Gefühl in die hinterste Schublade seines Gehirns verbannen und dort für immer einsperren. In der Hoffnung, noch viele Jahre glücklich weiterleben zu können, würde er dieses Gefühl verdrängen und nie wieder darüber nachdenken. Er würde sich nur besser fühlen, wenn er sich einredet, es sei Schwachsinn.
So ist es am leichtesten.
Aber ich wache seit neun Jahren, mit diesem Gefühl auf. Es ist mir also nicht mehr fremd darüber nachzudenken, wie ich vielleicht endlich das Zeitliche segnen würde.
Nun bin ich fast volljährig und die schreckliche Vorahnung hat sich immer noch nicht bewahrheitet. Irgendeinen Grund wird es schon dafür geben, denke ich jetzt. Es kann natürlich aber auch sein, dass der Tod mich einfach vergessen hat und diese Frage mich jeden Tag meines Lebens und auf ewig begleiten wird.
Es quält mich seit dem Moment, in dem meine ganze Familie bei einem Hausbrand vor neun Jahren gestorben ist und ich als einzige überlebt habe.
Und die Sache ist die: Es war meine Schuld.
Ich habe meine Mutter, meinen Vater, meinen Bruder und meinen besten Freund sterben lassen.
Eine Weile hat mich diese Frage in den Wahnsinn getrieben. Wann sterbe auch ich?!, schrie ich jeden Abend in den Himmel hinein und dachte jeden Morgen, dass heute der Tag sein würde. Ich meine, ich habe es verdient. Ich habe es so viel mehr verdient, als meine Familie. Wenn ich die Chance hätte, meine Seele gegen die ihre eintauschenzukönnen, würde ich es ohne zu zögern tun.
Irgendwann fing ich also an, den Tod herauszufordern, da es nichts mehr gab, wofür es sich zu leben lohnte.
Ich hatte mit den falschen Leuten zu tun und tat die falschen Sachen, nur um eine Antwort auf diese Frage zu finden.
Aber ich lebe immer noch.
Warum?
Jetzt ist es einfach für mich, diese Frage zu beantworten:
Der Tod hasst mich und will mich leiden sehen.
„Ach kommen Sie schon!“, jammert der Mann neben ihr, aber sie kann ihn durch die laute Musik, die aus ihren Kopfhörern dringt, nicht verstehen. Das Mädchen zieht einen der Hörer aus dem Ohr und sieht den Mann fragend an.
„Sie wären eine riesige Bereicherung für unseren Artikel.“, fleht er sie an, doch sie steckt nur wieder ihren Kopfhörer ein und ignoriert ihn.
„Erbärmlich.“, meckere ich leise vor mich hin und widme mich meinem Kaffee.
„Es ist grauenhaft, was diesem Mädchen passiert ist. Ihre Eltern sind bei einem Autounfall gestorben.“, flüstert mir eine alte Frau zu und muss sich dabei eine Welt weit zu mir herüberlehnen.
Ich hebe meine linke Augenbraue und mustere ihr Gesicht. So faltig. Man könnte meinen, sie wäre weise, aber anscheinend nicht.
„Und er will daraus eine Story für seinen Artikel machen, das ist widerlich!“, kontere ich.
Jetzt scheint die Frau irritiert zu sein. Wahrscheinlich ließt sie diesen Teil einer Zeitung besonders gern.
Wenn sie wüsste, was mir alles passiert ist, dann würde ihr mit Sicherheit die Lust daran vergehen.
Nachdem ich den Kaffee mit Mühe ausgetrunken habe – es war unglaublich schwer für mich, ihn zu genießen, wenn ich ihn dieser Frau eigentlich nur über den Rock kippen wollte –, klappe ich das Buch zu, was ich gelesen habe und stecke es zurück meine die Umhängetasche.
Ich verstehe dieses Mädchen. Nur wenn meine Vergangenheit bekannt werden würde, hätte ich mehr Probleme, als nur einen Artikel in einer mittelmäßigen Zeitung.
Der Weg zu meiner Freundin ist kurz und es dauert nicht länger als zehn Minuten. Ich laufe an einer langen Straße entlang und dann überquere ich eine große Brücke. Sie ist aus schwarzem Eisen und hat goldenen Spitzen. Der Sand unter meinen Schuhen knirscht, als ich am See ankomme. Das Haus, in dem ich sechs Jahre lang gewohnt habe, befindet sich nicht mehr weit entfernt auf der anderen Uferseite. Es sitzen ein paar Pärchen auf den Bänken und sehen sich zusammen das Glitzern des Wassers an, wie es immer am Tag so ist. Kurze Zeit später, stehe ich an der Eingangstür und schließe auf.
Ein freundliches Gesicht öffnet und begrüßt mich mit einem breiten Grinsen. „Shey, wie schön dich zu sehen! Wie läuft die Arbeit? Hat Finn dir wieder Überstunden aufgedrückt?“ Die Frau fällt mir in die Arme und drückt mich an sich.
„Hi Clare, nein es ist alles bestens, Finn hat ein anderes Opfer gefunden.“, erkläre ich und trete ein. Das Haus sieht aus, wie immer. Keine Bilder an den Wänden und jegliche Erinnerungen an Jackson sind ausgelöscht. Es ist, als hätte er nie existiert.
„Ach Kind, freut mich, dass es dir gut geht. Du hast dich lange nicht blicken gelassen, wir dachten schon, du seist wieder untergetaucht.“
Ich kaue auf meiner Unterlippe und entgegne: „Ja, wäre mir auch lieber gewesen um ehrlich zu sein. Alles hier macht mich so traurig.“ Sie nimmt mich wieder in den Arm. Bei ihrem Anblick, ballt sich ein Kloß in meinem Hals und hindert mich am Luftholen.
Der Brand ist zwar schon neun Jahre her, aber die Trauer vom Verlust ihres einzigen Sohnes, hängt immer noch in der Luft.
Wir gehen zusammen durchs Treppenhaus und betreten das Wohnzimmer, wo Delia auf dem Sofa sitzt und Musik hört.
Sie erinnert mich in diesem Moment so sehr an das Mädchen aus dem Restaurant, dass nur ihr Lächeln mich wieder in die Realität zurückholen kann.
„Hey, Shey!“ Delia springt auf und umarmt mich. „Alles gut? Du siehst so...“, setzt sie an, beendet den Satz aber nicht.
Ich seufze. „Nein, schon gut.“
„Schön!“, freut sie sich und nimmt meine Hand. „Können wir also?“, fragt sie und grinst.
„Wohin?“, will ich wissen, unsicher, nicht etwas wichtiges vergessen zu haben. Vorsichtig sehe ich etwas genauer hin und erkenne, dass Delia ein Kleid trägt. Innerlich könnte ich mich gerade ohrfeigen.
Schlagartig bleibt sie stehen und schaut mir direkt ins Gesicht. „Sag mir jetzt bitte, dass du weißt, dass wir uns heute mit dem heißen Kerl, den ich aus dem Club kenne, treffen. Du weißt es doch noch, oder?“
„Ach so, ja natürlich!“, versichere ich ihr lauthals und zusammen gehen wir in ihr Zimmer.
„Aber ich wusste nicht, was ich dafür anziehen sollte, also bin ich einfach so gekommen.“, erkläre ich.
Delia mustert mich skeptisch von der Seite, doch dann geht sie zu ihrem Kleiderschrank und wirft mir ein enges grünes Koktailkleid zu. Als ich es angezogen habe und in den Spiegel schaue, fällt mir beinahe die Kinnlade zu Boden.
Ich sehe fantastisch aus!
„Wunderschön.“, sagt Delia. „Es lässt deine grünen Augen strahlen.“
„Danke, aber du weißt schon, dass wir morgen Schule haben, oder?“, antworte ich als Gegenfrage.
Sie geht einmal um mich herum und erwidert beiläufig: „Ja, aber wir werden ihm auch nur kurz hallo sagen!“
Strahlend ergänzt sie: „Wow, du wirst ihn umhauen, das verspreche ich dir! Besonders, da du ja eh schon wahnsinnig sexy bist.“, sagt sie und gibt mir einen Klaps auf den Hintern, bei dem ich zusammenzucke.
„Bist du sicher, dass es eine gute Idee ist? Du kennst mich doch...“, frage ich verunsichert und streiche mir durch die rote, wilde Mähne.
Delia grinst und wuschelt durch meine Haare. „Natürlich, mach dir keine Sorgen! Ich habe mit ihm schon gequatscht und es scheint einer von den Guten zu sein.“, versichert sie mir. Als ich aber noch immer nur in den Spiegel starre, sagt sie: „Komm, das wird lustig!“
Einen Moment, starre ich weiterhin mein Spiegelbild an, stimme aber zu.
„Okay, hast Recht. Ein bisschen Spaß, wird mich schon nicht umbringen.“
***
Delia fährt uns mit ihrem Mini zu einem kleinen Club am Rande der Stadt. Es ist ruhig und abgeschieden, und weckt Erinnerungen, an die ich ungern zurückdenke.
Meine Hand krallt sich in die grüne Handtasche, die mir Delia gegeben hat. Es ist bereits dunkel geworden, so dass die Laternen am Straßenland, die einzigen Lichtquellen darstellen.
An der Tür, sind Grafits zu sehen und ein großer dunkelhäutiger Mann steht davor. Er ist ganz in schwarz gekleidet und wirkt nicht wie jemand, mit dem man gerne redet. Delia stellt sich so selbstsicher, wie sie ist, vor ihn und bittet um Einlass. Die Augen des Mannes scannen uns und dann macht er ohne ein Wort die Tür auf. Wir betreten einen fast komplett dunklen Club mit Schwarzlicht und lauter Musik.
Sie hält meine Hand fest und zieht mich zum Tresen, wo sie dem Barkeeper einen Hunderter zusteckt.
Er lächelt uns an und schiebt zwei Tequila Shots, mit jeweils einem Zitronenstück, über den Tisch.
Delia leckt erst das Salz auf und trinkt dann ihren in einem Zug, doch ich sehe ihn bloß an. Irgendwie habe ich das Gefühl, heute nicht hier sein zu dürfen. Aber dann denke ich mir: Scheiß egal! Ich sterbe vermutlich eh heute! , lecke das Salz auf und trinke das ganze Glas auf einmal aus. Hinterher beiße ich schnell in die Zitrone und lasse den Alkohol durch meine Adern fließen.
Schnell spüre ich, wie mir von innen heraus warm wird. Delia sieht sich währenddessen immer mal wieder im Club um, weshalb ich sie darauf anspreche.
Sie antwortet, dass sie auf den Kerl warte, weil er eigentlich schon längst da sein wollte.
Ich nicke verstehend und der Barkeeper schiebt uns zwei weitere Tequila zu, die wir schnell austrinken.
Nach Minuten, die mir wie Stunden vorkommen, tun mir vor lauter Tanzen, die Füße weh und ich lehne mich mit der einen Hand an die Wand. Delia winkt jemanden zu sich und ich erkenne, leider etwas zu spät, dass es genau der Mann ist, den ich niemals wieder sehen wollte.
Dann kommen beide auf mich zu und ich versuche durch die Menschenmenge zu flüchten, doch auch diese, sieht mich jetzt an und hat mich bald darauf umzingelt.
„Scheiße!“, fluche ich und bemerke, dass ich bereits ein wenig lalle.
Die Menschen kommen immer näher und ich stehe in der Ecke des Clubs, was also in der Falle bedeutet.
Plötzlich spüre ich einen kräftigen Schlag auf meinen Hinterkopf und ich falle zu Boden.
Ich wache in einem dreckigen Lagerraum auf. Der Boden ist kalt und staubig, außerdem riecht es nach Alkohol und Zigarren. Immer noch benommen stehe ich auf und muss meine Beide zwingen, nicht einzuknicken.
Aus dem Nebenraum dringen Stimmen. Ich höre Delia und noch jemanden, den ich nicht sofort wiedererkenne.
„Ist dir klar, das du gerade deine beste Freundin an mich verkauft hast?“, fragt die fremde Stimme.
„Sie ist nicht meine beste Freundin. Sie hat meinen Bruder getötet.“, sagt Delia und mein Herz setzt für einen Moment aus. Was?! Sie weiß es? Wie kann sie das wissen? Es wurde doch als Gasleck identifiziert...
„Wenn du meinst...“
„Was!?“, will Delia aufgebracht wissen und klingt dabei genauso durcheinander wie ich mich fühle.
„Ach nichts, du du hast nur gerade deine beste Freundin umsonst verraten.“, sind die letzten Worte des Fremden, bevor ich Schritte höre und dann sehen kann, wie Delia von zwei großen kräftigen Männern aus dem Club gezerrt wird.
Die Schritte werden lauter und ich krieche in die hinterste Ecke des Raumes, um so weit wie möglich von diesem Kerl weg zu sein.
„Reign... Wir haben uns lange nicht gesehen...“
Jetzt weiß ich wieder, wer er ist. „Oh nein.“, flüstere ich geschockt. Er nennt mich bei meinem Codenamen.
Ein lautes schadenfrohes Lachen ertönt und plötzlich steht er vor mir. „Es ist drei Jahre her, Darling. Hast du mich vermisst?“
Ich kneife die Augen zusammen und hoffe, wenn ich sie wieder öffne, ist der Albtraum vorbei und ich liege wieder in meinem gemütlichen warmen Bett. Doch dem ist nicht so. Clay steht immer noch vor mir und sieht auf mich herab. Er kniet sich hin und streicht über meine Wange. Jetzt, da ich ihn wiedererkenne, habe ich keine Angst mehr vor ihm, weshalb ich auch nicht zurückzucke.
„Wie hast du das gemeint? Ich habe Jackson doch getötet.“, will ich wissen und habe ehrliche Angst vor der Antwort.
Clay grinst mich an. „Er lebt und du wirst ihn bald wiedersehen.“ Nach neun Jahren...
„Das heißt, wenn du dich dafür entscheidest, wieder in unserer Branche mitzumachen.“, deutet er geheimnisvoll an.
Mit einem lauten Schnauben, lehne ich ab. „Das kannst du vergessen! Ich werde niemals wieder mitmachen! Nicht in hundert Jahren!“
Clay schüttelt den Kopf und steht auf. „Ach, so schlimm war es doch nicht. Es hat dir sogar gefallen, weißt du noch?“
Und wie ich es weiß, Scheißkerl!
„Vergiss es!“, spotte ich und funkle ihn böse an.
Ein leises Seufzen ist zu hören und Clay läuft im Raum herum. „Du wusstest von Anfang an, dass man nicht aussteigen kann.“
„Ich bin nicht ausgestiegen, sondern abgehauen. Da liegt ein Unterschied!“, schreie ich ihn an und erinnere mich an den Grund. Clay hatte mich gezwungen unschuldige Menschen umzubringen, doch ich hatte mich geweigert.
Er bleibt stehen und sieht zu mir. Anscheinend denkt er auch gerade an diesen Moment zurück.
„Tut mir wirklich Leid, wegen deiner Familie, aber es ist neun Jahre her. Und du bist zu mir gekommen, nicht andersherum, weißt du noch?“, fragt Clay und fordert mich damit heraus.
Ich atme tief ein, antworte aber nicht. Ich weiß nur zu gut, wie es gelaufen ist und er auch.
„Dann siehst du doch ein, dass ich dir helfen kann. An dein finanzielles Problem, muss ich dich doch wohl nicht erinnern, oder?“
Okay, jetzt treibt er es wirklich zu weit!
Ich springe auf und bin bereit, ihm die Nase zu brechen, doch in dem Moment, wo ich schon aushole, fängt jemand, der jetzt neben mir steht, meine Faust und fixiert sie.
Genervt trete ich gegen die Wand.
„Du kannst dein Leben weiterführen, wie du willst. Zur Highschool gehen, Freunde treffen, Jungs daten... Und danach, erledigst du ein paar Gangangelegenheiten.
Eine Win-win-Situation.“ Seine Augen funkeln während er redet, als wäre er wahnsinnig stolz auf diese Argumente. Ich dagegen habe etwas an ihnen auszusetzen.
„Ja, du willst von mir, dass ich Menschen für Geld töte. Vergiss es, das mach ich nicht. Such dir einen anderen.“ Ich zeige auf den einen Typen, der meinen Arm festhält. „Wie wäre es denn mit ihm hier? Er kann das doch sicher auch für dich machen. Töten, foltern und erpressen ist ja nicht schwer.“
Clay schüttelt nur enttäuscht den Kopf. „Du willst es nicht verstehen. Deine Fähigkeiten, Menschen Leid zuzufügen, deine Diskretion und die Tatsache, dass du deine Gefühle ausschalten kannst, zeigt doch, dass du die einzig infragekommende Person für diesen Job bist. Versteh doch, ich brauche dich!“ Mittlerweile ist er so nah an mich heran gekommen, dass unsere Nasen sich beinahe berühren können. „Ja, ich kann meine Gefühle ausschalten, wenn es ums Foltern und Erpressen geht, aber nicht beim Töten.“, kontere ich und hauche ihm dabei ins Gesicht.
Er verzieht es zu einem wütenden Lächeln und straft mich mit seinem giftigsten Blick. Dann entfernt er sich wieder von mir uns sagt, mit neuer Energie: „Das kannst du lernen. Außerdem sind deine Fähigkeiten berüchtigt. Du bist sagenumwoben. Jeder kennt deinen Namen. Es haben sich sogar schon andere nach dir erkundigt.“
Ich mustere ihn misstrauisch.
Clay winkt jemanden zu sich und dieser trägt ein großes Glas voller Ringe in den Händen. Jeder von diesen Ringen hat eine andere Farbe und eine andere Inschrift.
„Sind das etwa-“, will ich fragen, doch Clay lässt mich nicht ausreden.
„Ja, das sind alles Souvenirs deiner Verehrer. Jede einzelne Gang interessiert sich für deine Fähigkeiten, Menschen zu finden, sie zu foltern und zu töten. Nur du kannst das, wie sonst keiner.“, erklärt er und nimmt einen schwarzen Titanring aus dem Glas. „Siehst du jetzt, wie wertvoll du für uns bist?“ Clay steckt den Ring in seine Jackentasche und kommt dann zu mir rüber.
Ich kann es immer noch nicht glauben. All diese Gangs haben nach mir gefragt? Das müssen ja bestimmt hunderte sein. Aus aller Welt...
„Also? Steigst du wieder ein? Es springt auch sehr viel Geld für dich raus.“, versucht er mich zu überreden, doch ich habe noch so meine Bedenken.
Nachdenklich kaue ich auf meiner Unterlippe, wie ich es immer mache, wenn ich nicht weiß, was ich tun soll.
„Versprichst du mir, dass ich anonym bleibe? Ich möchte nicht, irgendwo auf der Straße von einer Gang angequatscht werden.“, fordere ich.
„Ich verspreche es.“, antwortet er und grinst breit.
„Und versprichst du mir auch, dass ich eine freie Wahl habe, wen ich töte und wen nicht?“, will ich wissen.
Seine Augen werden zu Schlitzen und er schluckt. „Auftrag ist Auftrag... Aber meinetwegen... Also bist du jetzt dabei, oder nicht?“, drängt er mich.
„Eine letzte Sache noch.“, kündige ich an und er kann sich das genervte Stöhnen einfach nicht länger verkneifen.
„Niemand sagt mir, wie ich die Aufträge zu erfüllen habe. Ich kann tun was ich will und wann und wie, verstanden? Sonst läuft nichts, kapiert?“
Clay beißt sichtlich die Zähne zusammen, zwingt sich aber dann, zu nicken und mir die Hand auszustrecken.
Ich nicke ebenfalls und besiegle den Vertrag, indem ich einschlage.
Gerade, als ich gehen möchte, hält mich Clay zurück, indem er mit strahlender Miene sagt: „Jetzt, meine liebe Reign, beweist du, ob du auch tatsächlich wieder dabei bist.“
Ich starre ihn an. Fassungslos protestiere ich: „Mein Kopf bringt mich um, ich bin betrunken und du willst von mir, dass ich in dieser Verfassung einen Auftrag erfülle?!“
Hat der sie noch aller?
„Na ja, um ehrlich zu sein, ist es auch eher eine Demonstration deiner Gaben. Um zu du überhaupt noch die selbe bist.“, erklärt er und führt mich mit der Hand auf meinem Rücken aus diesem kleinen Raum. Wir begeben uns in einen anderen, der offensichtlich für die dreckigen Geschäfte genutzt wird, denn ich erkenne Folterinstrumente auf einem Tablett. Was mich allerdings am meisten an meine alten Beschäftigungen erinnert, ist der gefesselte Mann, in der Mitte des Raumes.
Er wurde an einen Bürostuhl gebunden und man kann deutlich sehen, dass Clay bereits versucht hat, ihn zu foltern.
„Wie heißt der arme Scheißer und was hat er getan?“, frage ich an Clay gerichtet und der Typ auf dem Stuhl windet sich in seinen Fesseln und versucht durch das Tape, das ihn am Reden hindert, zu schreien.
Er hat Angst vor mir. Das macht die Sache natürlich um einiges einfacher.
Clay grinst mich stolz an und verkündet: „Jake Dallas, hat vor nicht allzu langer Zeit, einige Geschäfte für mich geführt, in denen sehr viel Geld rausgesprungen ist. Und ich habe dieses Geld nie wieder gesehen!“
Ich ziehe die Mundwinkel nach unten und sehe Jake an. „Ich soll dich also für ihn foltern...“, murmle ich leise, für Clay nicht hörbar.
Dann drehe ich meinen Kopf in seine Richtung und frage: „Muss ich das tun?“
Er mustert mich und erwidert mit sarkastischen Ton: „Auftrag ist Auftrag. Und bitte leise, ich habe noch Gäste da oben.“ Mit diesen Worten verabschiedet er sich und lässt mir zwei seiner Wachhunde hier. Die beiden Männer haben sich rechts und links neben der Tür postiert und verfolgen jede meiner Bewegungen mit Argusaugen.
Ich laufe mit langen Schritten auf Jake zu und genieße es, wenn er bei jedem Geräusch, das meine Highheels machen, zusammenzuckt. Eine böse Angewohnheit, die ich nach all den Jahren nicht ablegen konnte.
„So, mein böser Jake Dallas, was werde ich dir antun müssen, dass du mir verrätst, wo du Clays Geld gelagert hast. Du scheinst mir kein Mann zu sein, der es einfach ausgibt. Eher wie jemand, der sich den silbernen Koffer in eine Vitrine stellt und immer an den Tag zurückdenkt, als du ihn Clay gestohlen hast.“ Und ich habe Recht mit meiner Vermutung. Der Koffer ist noch irgendwo. Genauso wie das Geld.
Mein Blick wandert zu dem Tablett mit den Folterinstrumenten. Es gibt eine Zange zum Fingernägel ziehen, Nägel zum in die Haut hämmern und ein Brecheisen zum Verprügeln. Dann sehe ich den Schlagring. Es ist meine ehemalige Folterwaffe gewesen, bevor ich abgehauen war.
Jetzt, sehe ich ihn an und entscheide mich sofort für ihn. Dieser aus Edelstahl bestehender Schlagring hat mir immer gute Dienste geleistet. Seine scharfen Kanten und die Spitzen, können nicht nur foltern, sondern auch töten.
Mit der linken Hand winke ich einen der beiden Wachhunde zu mir und bitte ihn freundlichst, er solle mir meine Handtasche bringen.
Daraufhin verschwindet er und kommt nach einigen Sekunden mit dem grünen Täschchen wieder.
Ich lege es auf die Folterbank und wühle darin herum. Es dauert nicht lange, da finde ich auch schon, wonach ich gesucht habe. Eine kleine Dose Nagellackentferner. Der Alkoholanteil, wird Jake ganz schön zum Leiden bringen.
Der Mann ist nicht älter als dreißig und scheint ein netter und ehrlicher Kerl zu sein. Der Ehering an seinem Finger und die kleinen Farbkleckse am Hosenbein, deuten an, dass er ein guter Familienvater ist.
Seine liebende Frau und die zwei Kinder, würden es niemals verkraften, wenn er nicht wieder zurückkommt. Oder als Monster zurückkommt. Ich beschließe also, ihn nicht so hässlich zu verunstalten, wie ich es eigentlich tun würde.
Ich ziehe Jake zur Hälfte das Tapeband vom Mund. „Ich kann dir versichern, dass die Zeit, die wir jetzt miteinander verbringen, sehr schmerzhaft für dich wird. Also lasse ich dir jetzt, bevor diese Zeit beginnt, die Chance, es mir zu sagen. Wo ist das Geld, Jake?“
Sein Blick ist nur starr in meine Augen gerichtet. Allerdings kann ich eines durch sie erkennen. Er ist hilflos.
Ich schüttle enttäuscht den Kopf und klebe das Tape wieder auf seinen Mund.
Dann schlage ich zu. Direkt auf seine Nase. Und wer das kennt, weiß, wie sehr es wehtut. Ihm schießen Tränen in die Augen vor lauter Schmerz und er windet sich in seinen Fesseln.
Ich schlage erneut zu, aber diesmal ist es nicht die Nase. Es ist das Schlüsselbein. Man kann seine Knochen knacken hören, als ihn die volle Wucht meines Schlages trifft. Mein Ring hat ganze Arbeit geleistet. Seine Haut ist aufgerissen und die Knochen zerschmettert.
Er jammert auf und fleht mich mit den Augen um Gnade an. Ich bearbeite seinen gesamten Oberkörper mit Schlägen.
So sehr, dass er einfach reden muss!
Aber in Wahrheit, habe ich allerdings Bedenken, ob er mir überhaupt etwas sagen wird. Der Typ ist völlig hilflos. Ein vernünftiger Mensch, hätte mir schon vor dem ersten Schlag verraten, was ich wissen wollte, einfach nur, um sich diese ganze Folterei zu ersparen. Aber dieser hier...
Jetzt nehme ich den Nagellackentferner und schraube ihn auf. Die Auges des Mannes werden riesig, da er es bestimmt von seiner Frau kennt, dass es höllisch brennt, wenn der Entferner in offene Wunden gelangt.
Und genau das tue ich ihm auch an. Tropfen für Tropfen, lasse ich ihn in jede Verletzung laufen, wobei sich seine Hände so sehr in den Stuhl krallen, dass seine Fingernägel abbrechen.
Er versucht zu schreien, aber alles, was davon zu hören ist, ist leises Gemurmel. Als würde er ein Lied summen.
„Du kannst das hier sofort beenden, wenn du willst. Wir können allerdings noch die ganze Nacht Spaß haben, wenn du nicht redest.“, erinnere ich ihn, doch er summt nur weiter sein Lied. Ich nehme ihm ein letztes Mal das Tape ab und gebe ihm somit ein letztes Mal, die Chance, mir einfach zu sagen, wo das Geld ist, aber meine Befürchtung bewahrheitet sich und er sagt überhaupt nichts.
Enttäuscht drehe ich mich zu den beiden Türstehern um. Sie starren mich so fassungslos an, als wäre ich gerade Amok gelaufen. Ihr Blick wechselt zu Jake, der vollkommen kraftlos auf seinem Stuhl sitzt, und hofft, dass die Schmerzen endlich aufhören.
„Ihr könnt ihn jetzt erschießen.“, schlage ich den beiden vor, die immer noch wie gebannt auf den armen Jake starren.
Bei diesem Satz, werden jedoch beide hellhörig und der rechte fragt: „Sind Sie sicher? Der Boss wollte doch-“, setzt er an, aber ich unterbreche ihn mir gehobener Hand.
„Clay wollte, dass ich ihm den Standort des Geld beschaffe, aber dieser Kerl hier, weiß nicht, wo es ist. Ihr. Könnt. Ihn. Also. Erschießen.“ Die letzten Worte unterstreiche ich noch, indem ich den Schlagring, der immer noch an meiner Hand ist, abnehme und mit meinem Finger herumkreisen lasse.
Dann schnappe ich mir meine Handtasche, verlasse den Raum und lasse die zwei Wachhunde, ihre Arbeit machen.
Mit dem Schlagring in der Hand, durchquere ich den Gang.
Plötzlich kommt mir Clay entgegen und will sofort alles wissen. „Wie ist es gelaufen? Wo ist mein Geld?“
Ich schüttle den Kopf und beobachte, wie seine Miene ernst wird. „Was hast du getan?!“, fragt er aufgebracht.
„Der Kerl hätte niemals etwas gesagt. Und weißt du auch wieso? Weil er es nicht wusste! Such dir einen Typen, der weiß, wo dein Geld ist! Dieser hier wusste es nicht!“, erwidere ich, stecke den Schlagring in meine Tasche und laufe an Clay vorbei, Richtung Ausgang.
Oder ich vermute es jedenfalls, denn den Hinweg habe ich ja verschlafen.
Clay hält mich am Arm fest und sagt: „Okay gut, ich werde mich darum kümmern.“
Ich sehe ihn an und zusammen verlassen wir den Club.
Clay bietet mir noch an, mich nach hause zu fahren, aber ich lehne geflissentlich ab.
„Ach, komm schon, Reign. Es ist bloß eine Autofahrt.“
Ich verziehe das Gesicht und willige schließlich ein.
Während der Fahrt, reden wir über Aufträge, die anstehen und geplatzte Deals. Alles langweiliges Zeugs.
Meine Augen mustern Clay, wie er neben mir auf dem Fahrersitz sitzt und seinen schwarzen Lamborghini lenkt.
Er ist dreiundzwanzig und sieht verdammt gut aus. Seine dunklen Haare sind nach oben gegelt und er trägt einen schwarzen Anzug mit Fliege.
Zuhause angekommen, hält er mir die Autotür auf und hilft mir beim Aussteigen.
Er bringt mich zur Tür, als er bemerkt, dass ich kaum noch stehen kann. „Ich bin froh, dich wieder dabei zu haben.“
Ich lache. „Ja klar, damit du mich beobachten kannst.“
Er zwinkert mir zu und sagt: „Das muss man anscheinend auch, du kleine Ausreißerin.“
Auf einmal, nimmt er meine Hand und gibt mir einen Kuss auf die Wange. Clay holt den schwarzen Ring aus seiner Jackentasche und steckt ihn mir auf den Finger. Völlig irritiert starre ich ihn an. „Was soll das? Warum gibst du mir den Ring einer fremden Gang?“, frage ich ihn und blinzle.
Leise flüstert er: „Setzt ihn nie ab. Nicht einmal beim Schlafen. Er wird noch dir so einige Türen öffnen.“
Dann geht er wieder zu seinem Auto und fährt weg.
Zum Abschied hupt er noch einmal laut und biegt um die nächste Kurve.
Während ich so allein vor meiner Haustür stehe, schießen mir unendlich viele Gedanken in den Kopf.
Was sollte das? Warum tut er so, als wäre das unsere letzte Begegnung gewesen? Aber das was mich am meisten beschäftigt, ist diese Frage: Könnte Jackson, der Bruder meiner besten Freundin, meine große Liebe, tatsächlich noch leben?
Angestrengt nage ich an meiner Unterlippe.
Jetzt ist es Morgen und ich muss mich zusammenreißen.
Schule...
Ich konzentriere mich auf die Highschool, um wenigstens für ein paar Stunden, die Tatsache zu vergessen, dass ich wieder einer Gang angehöre und Leute in Clays Auftrag verletzen muss.
Nach einem unbequemen Marsch zur Schule, stehe ich nun vor dem riesigen Haupttor das Gebäudes. Auf dem Schulhof sind bereits einige Schüler versammelt und quatschen über alles mögliche. Welche Haarfarbe das Schulidol heute wohl tragen wird und ob der neue Lehrer immer noch so süß ist, wie gestern. So was halt.
Ich laufe durch das Eingangstor uns werde augenblicklich von einer Masse an Cheerleadern umgerannt.
Schnell weiche ich ihnen aus und suche einen Weg durch die hüpfenden knapp angezogenen Mädchen.
Der Unterricht beginnt in wenigen Minuten, weshalb ich mich zu meinem Spind begebe und alles an Sachen für den Unterricht rausnehme. Mein Blick fällt auf das einsame, am der Innenseite meiner Spindtür klebende Foto.
Es zeigt mich und Delia, wie wir auf einer Bank am See sitzen und Eis essen. Sofort werde ich wütend. Wie konnte mich meine beste Freundin , nur so hintergehen?!
Ich sehe das Foto noch einen Moment an, dann schlage ich den Spind zu und plötzlich steht sie vor mir.
„So sauer kannst du doch nicht sein.“, sagt sie mit einem Grinsen.
Ehrlich, es gibt nichts, was mich in diesem Moment, wütender machen könnte. Ihr freundliches Grinsen und dazu noch die Tatsache, dass sie es nicht für nötig zu halten scheint, sich bei mir zu entschuldigen, macht mich rasend vor Wut.
Ich beschließe also, sie zu ignorieren, bis sie von selbst darauf kommt und gehe ohne ein Wort an ihr vorbei.
Verwirrt, als hätte sie nichts falsch gemacht, sieht sie hinter mir her und wundert sich über meine Reaktion.
In den Gängen der Schule, ist niemand zu sehen. Ab uns zu, laufen Schüler von einer Tür zur anderen und klopfen, aber ansonsten, haben wir keine Zuschauer. Denke ich jedenfalls...
Nach ein paar Schritten, die allein in den Gängen hallen, höre ich, wie sie sich mir nähert und seufze genervt auf.
„Komm schon, Shey! Was soll das?!“, will sie wissen und stellt sich vor mich.
Ruckartig bleibe ich stehen und schreie sie an: „Was das soll?! Ja, das habe ich mich auch schon sehr oft gefragt! Vielleicht kannst du mir diese Frage besser beantworten! Wieso hast du mich verraten?! Warum tust du mir so etwas an?!“
Ich bin so wütend, dass meine Hände nach oben zu Delias Hals schnellen und zudrücken. Reflexartig, schnappt sie nach Luft, und will sich aus meinen Griff befreien, aber ich weiß, wo man zudrücken muss, dass jemand bewegungsunfähig ist.
Ihre Hände machen schlapp und bald sieht sie nur noch aus, wie ein nasser Lappen. Einen kurzen Moment lang, bereue ich es, meinen geliebten Schlagring zu Hause auf dem Nachttisch vergessen zu haben. Jetzt würde ich so gerne ihre hübsche Nase zerdeppern.
Ihr Gesicht wird so rot wie eine Tomate und ihre Augen treten hervor. Sie bekommt keine Luft mehr, weswegen ich sie loslasse und einen Schritt zurücktrete.
Sie starrt mich benommen, aber intensiv an. „Hast du gerade versuch mich umzubringen?“ Ihre beleidigte und geschockte Stimme, macht die Situation nur noch schlimmer.
Ich schüttle den Kopf und gehe nicht weiter auf ihre Frage ein, da es offensichtlich ist, dass ich sie gerade wirklich töten wollte. „Warum hast du mich verraten, Delia?“
Sie atmet tief durch. Dann schließt sie ihre Augen und erklärt: „Ein Kerl hat mich vor ein paar Wochen im Club angesprochen und nach dir gefragt. Ich meinte, wir wären befreundet und da hat er mich gebeten, dich mal mitzubringen und ihm vorstellen.“ Sie schaut mich aus ihren großen braunen Augen an und wirkt dabei fast schuldig. „Ich wusste nicht, dass du ihn kennst, oder was er genau von dir wollte.“, rechtfertigt sie ihr Verhalten mit einer Lüge. Sie muss es gewusst haben...
In meinem Leben, bin ich noch nie so wütend und enttäuscht gewesen, wie jetzt gerade. Mein Kiefer spannt sich an und ich muss mich zurückhalten, Delia nicht ihren zu brechen.
Aber das scheint sie nicht zu tun, denn ihre Hand schnellt zu meinem Gesicht, aber ich kann sie noch im Flug abfangen.
Das erstaunte Gesicht von ihr, lässt mich grinsen.
„Du weißt nicht, mit wem du es zu tun hast.“, sage ich in einem so machtvollen Ton, dass der Boden beinahe vibriert und die Spindtüren klappern.
Delias Augen weiten sich vor Angst und sie will sich mir entreißen, aber mein Griff ist zu fest. Ich drehe ihre Hand um und sehe zu, wie sie schmerzverzerrt auf die Knie fällt.
„Verschwinde aus meinen Leben. Wenn du mir jemals wieder in die Quere kommst, mache ich dich fertig.
Also sieh es als Warnung und hau ab.“, befehle ich ihr und lasse ihre Hand los.
Dann drehe ich mich um und will gerade gehen, als ein Schüler in meinen Alter vor mir steht. Er hat schwarzes welliges aber streng nach oben gekämmtes Haar und einen Blick, der so eisig ist, wie mein eigener. Seine kristallklaren blauen Augen, spiegeln Belustigung wieder und die schwarze Lederjacke, die ebenso schwarze Hose und die Lederstiefel, lassen ihn gefährlich und einschüchternd wirken. Geht er auf diese Schule?, frage ich mich.
Delia richtet sich vom Boden auf und läuft in die andere Richtung davon. Anscheinend, kennt sie ihn besser als ich und weiß, wann man jetzt die Fliege machen sollte.
Er muss achtzehn sein, also höchstens ein Jahr älter als ich. Alles an ihm strahlt Überlegenheit aus, so als ob er die volle Kontrolle über die Situation hätte.
Ich laufe ihm entgegen und remple ihn extra mit der Schulter an, um ihm zu zeigen, dass er eben nicht die Kontrolle hat. Leider ist er nicht der Ansicht, mir unterlegen zu sein, denn er schnappt sich meinen Arm und hält ihn fest.
„Ich würde wirklich gern wissen, mit wem ich es zu tun habe.“, flüstert er und lässt seine Stimme dabei tief und rau klingen. Schön, er hat also auch noch gelauscht.
Ich versuche mich aus seinem Griff zu befreien, doch er ist wie Stahl. Beunruhigt suche ich eine Schwachstelle in seinen Augen, die aus dieser Nähe jetzt besonders funkeln. Dieser Junge hat keine Schwäche. Keine Ängste, keine Sorgen. Es scheint fast so, als sei er der ausgeglichenste Mensch, der Welt. Ein Funkeln leuchtet in seinen strahlenden Augen auf, so eines, als würde es ihm gefallen, mir weh zu tun.
Sein Blick huscht zu meiner Hand und er sieht den schwarzen Titanring. Verwirrt und erschrocken zugleich starrt er mich an. Sein Handy klingelt unterbrechend und ich nutze die Chance, um meine Hand wegzureißen, aber er hält sie zu fest.
„Was gibt’s?“, fragt er ins Telefon und mustert den Boden mit noch immer gerunzelter Stirn. Dann seufzt er und schließt für einen Moment die eisblauen Augen. „Ja, aber wir haben da ein kleines Problem.“
Sein Blick verharrt auf mir und er sagt in den Hörer: „Reign ist eine Frau.“ Er kennt mich? Jetzt bin auch ich verwirrt.
Mehrere Sekunden ist es still an dem anderen Ende der Leitung, doch plötzlich spricht der Blauäugige. „Wir sollten es so lang wie möglich hinauszögern, da-“ Er stoppt, dann nickt er. „In Ordnung. Ich bring sie mit.“
Er legt auf und steckt das Handy wieder in seine Hosentasche. Mein Herz rast und ich atme tief ein und aus, um mich zu beruhigen.
Mit mir im Schlepptau, läuft er durch den Gang.
„Woher weißt du, dass ich Reign bin?“, frage ich und bleibe ruckartig stehen.
Er bleibt ebenfalls stehen und hält meine Hand hoch, so dass ich den Ring sehen kann, der an meinem Finger steckt. Hab ich's mir doch gedacht, Clay du Scheißkerl!
„Der hier, wurde dir nicht umsonst gegeben.“
Mit diesen nicht zufriedenstellenden Worten, zieht er mich weiter. „Wie heißt du eigentlich?“, will ich beiläufig wissen, während wir an Klassenräumen vorbei gehen und Lehrern zu winken, als wären wir normale Schüler dieser Schule. Aber dem ist nicht so. Wir sind die unnormalsten Schüler, oder sogar Menschen, die je durch diese Gänge gelaufen sind. Abgesehen von Clay, der am allerschlimmsten ist. „Shooter- … Ja nenn Shooter.“, antwortet er mir ebenso beiläufig.
Wir kommen am Haupttor der Schule an und laufen über den Schulhof, bis wir das Schulgelände verlassen haben. Dort steht am Straßenrand ein großer schwarzer Van mit getönten Fensterscheiben. Sofort kriege ich Panik und will mich wegreißen, aber Shooters Griff ist einfach zu stark. Das Fahrerfenster wird heruntergelassen und ich sehe eine genau so schwarzgekleidete Person wie Shooter. Nur dass ich seine Augenfarbe durch die Sonnenbrille nicht erkennen kann.
Er hat dunkelblondes Haar, das auf die selbe Weise hochgekämmt ist, wie ich es von dem Mann neben mir kenne. Könnte er vielleicht... Jackson sein?, frage ich mich innerlich, nicht ohne eine gewisse Hoffnung.
Es geht die hintere Autotür auf und ich werde von Shooter reingeschubst.
„Rutsch rüber.“, befehlt er mir und steigt auch ein.
Zusammen auf der Rückbank, bemerke ich erst, wie eng ein Van ist, wenn vier Leute darin sitzen.
Der Beifahrer starrt mich mit großen Augen an und ich hätte ihm beinahe eine fiese Bemerkung zugeworfen, hätte Shooter nicht zuerst das Wort ergriffen. „Ich hab doch gesagt, dass es ein Problem ist.“
Der Beifahrer nickt schnell und zwinkert mir mit einem schiefen Grinsen zu, das viel anzüglicher gemeint ist, als gedacht. Shooter kommentiert es nur seufzend und verrollt die Augen. Auf einmal dreht sich der Fahrer zu mir um und sagt: „Du bist also der berüchtigte Reign.“ Bei seiner Stimme kriege ich Gänsehaut. Hoffentlich bist du es, Jacks.
Ich scanne sein Gesicht, aber durch die Sonnenbrille kann ich leider nicht viel davon erkennen.
„Die berüchtigte Reign.“, korrigiert Shooter und sieht mich prüfend an, als ob er sich vergewissert, dass er auch Recht hat.
Jetzt, da sechs Augen auf mich gerichtet sind, werde ich übermütig und fange an zu prahlen. „Ja, ganz genau. Ich bin die berüchtigte Reign.“
Mit einem Grinsen im Gesicht schaue ich jeden einzeln an und kann sehen, wie ihre Mienen ernst werden.
Als ich fragend zu Shooter gucke, schüttelt er nur den Kopf und wendet den Blick ab. „Ein riesen Problem...“, flüstert der Beifahrer. Jetzt kann ich mich nicht mehr zurückhalten und frage einfach gerade raus: „Was zur Hölle, ist eigentlich los?! Was soll ich hier?! Und wieso ist es so schlimm, dass ich eine Frau bin?!“
Die drei Männer starren mich an. Hilflos und völlig verzweifelt will ich die Autotür aufmachen, aber bevor ich sie berühre, sperrt sie sich zu und ich sitze in der Falle. Shooter will mir tröstend die Hand auf die Schulter legen, lässt es aber dann doch lieber sein, als hätte er Angst vor einem Stromschlag.
Die beiden vorderen Jungs beobachten ihn misstrauisch, wie er sich von mir wegdreht und aus dem Fenster sieht.
Immer noch verwirrt, betone ich: „Bitte, redet endlich!“
Der Beifahrer entschließt sich als erster auszupacken.
„Dieser Ring, den du trägst tragen wir alle.“ Er zeigt mir seinen Ring und deutet auf den von Shooter und dem Vanfahrer. Wir tragen tatsächlich alle den selben Ring.
„Aber das heißt ja-“, setzte ich an, stoppe mich aber selbst.
Der Beifahrer nickt langsam. „Du bist jetzt nicht mehr Mitglied der Lions. Ab heute gehörst du zu den Shadows. Zu uns.“
Diese Nachricht trifft mich echt wie ein Schlag ins Gesicht.
Meine Augen weiten sich vor Schreck und ich muss die Zähne zusammenbeißen, damit mir die Kinnlade nicht herunterfällt. Ich lasse meinen Kopf auf die Hände fallen und atme geschockt aus. „Claymore, dieses Miststück hat sich sogar noch verabschiedet...“, murmle ich leise vor mich hin, aber Shooter versteht es dennoch. Er beugt sich nach vorne, um mir in die Augen zu sehen und versichert mir: „Wir sind viel besser, als dieses Arschloch.“
Das bringt mich ein bisschen zum Lächeln und ich sehe hoch. Alle drei Jungs wirken völlig perplex und ich frage mich, wie oft die wohl ihn ihrem Leben ein Lächeln zu Gesicht bekommen. Nicht häufig, wie es scheint.
Dann dreht sich der Fahrer um und startet den Motor.
Ohne ein weiteres Wort, fahren wir die Hauptstraße entlang. Immer mal wieder wirft mir der Beifahrer ein Augenzwinkern zu, dem Shooter mit einem strafenden Blick kontert. Daraufhin grinst der Beifahrer nur und dreht sich wieder nach vorne. Immer noch überlegend, ob wirklich Jackson vor mir sitzt, sehe ich aus dem Fenster und beobachte, wie die Bäume an mir vorbeirauschen und die Farben zu einer verschwimmen. Nachdenklich kaue ich auf meiner Unterlippe rum, wie ich es schon tue seit ich denken kann.
Eigentlich ist es eine sehr angenehme Gesellschaft. Bei Clay habe ich mich immer so eingeengt gefühlt und vor allem so kontrolliert und gezwungen, aber hier...
Hier bin ich eine andere Person...
Nach vielleicht dreißig Minuten, biegen wir von der Autobahn links ein und landen direkt auf einer kleinen Landstraße. Dort verbindet mir Shooter die Augen, damit ich nicht sehen kann, wohin wir fahren. Lächerlich... Als ob ich nach allem wieder zurück wollen würde...
Es holpert und dann biegen wir ganz scharf nach rechts ab. Dabei rutsche ich aus Versehen zu Shooter herüber und unsere Oberschenkel berühren sich. Sofort, rutscht er ein Stückchen weiter an seine Türseite und ich wieder zu meiner. Auch wenn ich ein wenig irritiert wegen seiner Berührungsangst bin.
Irgendwann, ich weiß nicht, ob nach Minuten, oder Stunden, halten wir und der Motor wird ausgeschaltet.
Shooter nimmt mir vorsichtig die Augenbinde ab und steigt auf der linken Seite des Autos aus. Der Fahrer tut das ebenfalls und hält mir dann die Tür auf. Wenn er tatsächlich Jacks ist, dann hat er sich kaum verändert.
Der Platz, auf dem wir uns nun befinden ähnelt einem Bauernhof. Es gibt ein altes Holzhaus mit zwei Stockwerken, einen Schuppen, eine Garage und ein Feld genau neben dem Haus. Außerdem kann ich in der Nähe einen Fluss plätschern hören. Alles hier, erinnert mich an einen Ferienort, den ich früher mit den Worrens als Kind oft besucht habe:
Die Hütte, mit den zerkratzten Fensterscheiben, das Haus, dessen Eingangstür schief ist und auch der Geruch von frisch gemähtem Gras, liegt in der Luft. Nein, es erinnert mich nicht nur daran, es ist genau dieser Ort!
Ob dieses Haus dem Fahrer gehört? Sollte ich ihn vielleicht darauf ansprechen, um sicher zu sein?
Ich atme die Landluft ein, die ich so unendlich vermisst habe und entferne mich ein wenig vom Van. Shooter, der auf der anderen Seite des Autos steht, warnt mich vor: „Lauf nicht zu weit weg, wir wollen schließlich nicht, dass du ausreißt.“
Ich sehe mir über die Schulter und grinse ihn an. „Wohin sollte ich bitte gehen? Schwimmen werde ich auf keinen Fall.“
Jetzt grinst er auch, wirkt aber nicht überzeugt. Also kommt er zu mir hinüber und greift nach meinem Arm, aber ich bin diesmal schneller und ziehe ihn weg.
Shooter mustert mein Gesicht und erklärt: „Trader wird dich bald kennenlernen wollen. Wenn du nicht mitkommst, werde ich dich dazu zwingen.“ Sein Blick wird ernst und er scheint es tatsächlich so zu meinen. Nach einem kurzen Moment, in dem ich ihm nur in die blauen Augen gestarrt habe, nicke ich und lasse zu, dass er mein Handgelenk nimmt. Als ob ich ihm weglaufen würde... Auf dem Weg in das Haus, fällt mir auf, dass es nur wenige Mitglieder der Gang gibt. Sie laufen umher oder reden miteinander. Einige andere, zeigen sich gegenseitig, wie man eine Waffe hält, oder ein Messer wirft. Sie werfen mir neugierige Blicke zu. Anscheinend haben sie selten Frauenbesuch.
Als wir das alte Haus betreten und die erste Diele knarrt, zucke ich so sehr zusammen, dass meine Hand sich in Shooters Arm krallt. Dieser schaut mich nur belustigt an und amüsiert sich darüber.
Allerdings bin ich nicht vor Schreck zusammengezuckt, sondern, weil mir mit einem Mal, jede Erinnerung an diesen Ort eingefallen ist. Jeder Tag, jedes einzelne Erlebnis, schießt mir in den Kopf. Ich sehe Bilder aus meiner Kindheit, wie ich mit Jackson und Delia am Strand Steine sammle, oder wie wir die Treppen rauf und runter rennen. Doch mit diesen Erinnerungen, kommt auch die an den Hausbrand zurück. Wie ich das Feuer einfach nicht löschen kann und vor Panik noch nicht einmal um Hilfe schreie.
Der Schock ist zu groß, dass ich erst wieder in die Realität finde, als Shooter mich hinter sich her, durch den Flur ins Wohnzimmer, zieht, wo jemand bereits gespannt auf mich wartet.
Shooter stellt mich vor der Tür ab und deutet an, dass ich hier stehen bleiben soll. Dann tritt er ein.
Ich kann angespanntes Geflüster und Stimmen hören, die versuchen ruhig zu bleiben.
Plötzlich winkt mir Shooter zu und ich betrete ebenfalls das Wohnzimmer. Der runde Holztisch steht noch immer in der Mitte des Raumes, so wie es vor neun Jahren der Fall gewesen ist. Eigentlich hat sich überhaupt nichts verändert. Jeder Kratzer auf dem Fußboden, wo ich einst hingefallen war, oder Jackson mit seinen Spielfiguren umhergeworfen hat, ist noch da.
Und alles gibt mir das Gefühl, wieder Zuhause zu sein.
Aber das bin ich ja nicht wirklich.
Trader wirft mir misstrauische Blicke zu. Niemand von uns sagt etwas, während ich zu ihm laufe. Shooter hat sich vor Trader, den Anführer, gestellt und wartet nun, dass ich es auch tue. In jeder Ecke des Raumes stehen schwarz gekleidete Wachleute, von denen jeder eine Pistole am Gürtel trägt.
Meine Schritte sind sicher und mit einem genauso sicheren Gesichtsausdruck, gehe ich auf ihn zu.
„Du hast recht, Shooter. Sie ist ein Problem. Aber was hat man von Clay auch anderes erwartet.“, sagt Trader mit einer tiefen ausdrucksstarken Stimme. Er ist ungefähr 37, wenn nicht jünger und er trägt auch eine schwarze Lederjacke mit Boots, wie die anderen Gangmitglieder, nur dass er ein rotes Stirnband um sein Handgelenk geknotet hat.
Seine Augen zeigen, dass er bereits viel Schlimmes durchlebt hat und auch sehr viel Leid ertragen musste. Das schwarze Dunkel in ihnen, das ein tiefes Braun sein soll, beweist, dass es Menschen gibt, die von ihrer Vergangenheit zerstört wurden. Dieser Trader, hat Dinge erlebt, die so schrecklich waren, dass er sich von dieser Qual trennen musste und somit seine Gefühle völlig ausgeschaltet hat.
„Woher kennst du Clay?“, will ich wissen und achte nicht auf den warnenden Blick von Shooter, sondern halte meinen nur direkt in Traders Augen. „Wir sind alte Feinde.“ Das reicht mir als Antwort.
Shooter ergreift neben mir das Wort und fragt in meinem Namen: „Kann sie also bleiben, oder wird sie wieder zurückgeschickt?“
Diese Frage scheint Trader zu überfordern, denn er schweift nachdenklich mit den Augen durch den Raum.
Schließlich sieht er von Shooter zu mir und verzieht das Gesicht.
„Mir sind deine Fähigkeiten, wohl bekannt und ich würde dich sehr gern als ein Mitglied meines Clans annehmen, aber ich darf trotz allem, nicht vergessen, dass du eine Frau bist. Und wir nehmen grundsätzlich keine weiblichen Mitglieder auf.“ Das erklärt, warum hier alle so von meiner Anwesenheit angetan sind.
Die Worte fließen mit einer so überzeugenden Wirkung aus Traders Mund, dass ich beinahe selbst glaube, ich sei für diese Gang nicht geeignet. Aber Shooter scheint dagegen immun zu sein, und ergreift für mich das Wort.
„Wir brauchen sie in unserem Clan, Trader. Ihre Fähigkeiten sind außerordentlich und du hast selbst gesagt, dass wir mit jemandem wie sie auf unserer Seite, viel mehr Vorteile gegenüber den anderen Gangs hätten. Also, vergessen wir doch einfach die Tatsache, dass Reign eine Frau ist und heißen sie Willkommen.“
Wow, dass sich jemand, der mich so gut wie überhaupt nicht kennt, so sehr für mich einsetzen könnte, hätte ich nicht gedacht.
Trader presst die Lippen zusammen und überlegt. Dann sieht er zu mir und verkündet: „Verlass bitte den Raum. Die Shadows werden über dein Schicksal entscheiden, aber ohne deine Anwesenheit.“
Ein wenig verdutzt, über diese Worte, gehe ich aus dem Raum. Einer der Wachleute aus der rechten Ecke, läuft mir nach und passt auf, dass ich nicht heimlich lausche. Er schließt die Tür hinter sich und stellt sich beschützend mit verschränkten Armen davor, wie der eine Türsteher vor dem Club, in dem ich gestern Abend mit Delia gewesen bin. „Na wie geht’s?“, frage ich ihn scherzhaft und erwarte keine Antwort.
Mein Blick fällt auf den Türrahmen und ich erkenne kleine Einritzungen. Bei näherem Hinsehen, bemerke ich, dass über jedem Strich, ein Buchstabe steht. „Nein, das kann doch nicht sein...“, murmle ich leise, für den Türsteher nicht hörbar. Plötzlich übermannt mich eine Erinnerung und ich lasse mich mitfließen.
„Shey, du bist ja fast so groß wie ich!“, staunt Jackson, als er über meinem Kopf den Strich zieht. Empört sage ich: „Ich bin doch schon längst viel größer als du, Jacks!“
Er schubst mich gegen den Türrahmen und erwidert: „Das stimmt nicht! Du wirst nie größer als ich sein, dazu bist du viel zu klein!“
Dieser Reim bringt uns beide zum Lachen und ich ziehe auch über Jacksons Kopf einen Strich. Delia rennt uns auf dem Flur entgegen und flüstert, dass jemand komme.
Tatsächlich, Clare hat unser Lachen gehört und läuft zu uns herüber.
„Oh, wie schnell ihr doch wachst.“, stellt sie lächelnd fest und schreibt mit einem Stift an Jacksons Strich ein J und an meinen ein S.
Hinter mir höre ich Schritte und werde aus meinen Erinnerungen gerissen, als zwei Personen auf mich zukommen.
Es sind der Fahrer, der zu meinem Erstaunen noch immer die Sonnenbrille trägt, und der Beifahrer. Beide machen, in einem Gespräch vertieft, vor dem Türsteher halt. Ich frage mich, ob er lichtempfindlich ist, oder ob er einfach nicht möchte, dass ihm jemand in die Augen sieht.
Mit befehlender Stimme, bitten sie um Einlass, doch der Wachmann schüttelt den Kopf und erklärt, dass in diesem Raum gerade eine Besprechung stattfinde und ihn deshalb niemand betreten darf.
Der Beifahrer verdreht genervt die Augen und spottet an den Fahrer gewandt: „Dein alter Herr, hat echt ein Vertrauensproblem.“ Dieser erwidert seinen Blick nur halbherzig.
„Trader ist dein Vater?“, will ich verdutzt wissen.
Die beiden werfen sich einen bedeutenden Blick zu. Dann nickt der Fahrer fast unmerklich und eine paar minütiger Stille tritt ein.
„Wer wohnt eigentlich hier?“, breche ich das Schweigen.
Diese Frage überrascht die Beiden und bringt sie dazu, mich anzusehen. Der Fahrer zuckt mit den Schulter und antwortet knapp: „Wir alle.“
„Kann ich mir denken, aber wem gehört dieses Haus?“, will ich weiter wissen. „Uns allen.“, erwidert der Fahrer und wendet sich dem Beifahrer zu, der ein belustigtes Grinsen unterdrückt.
Die darauffolgenden Minuten vergehen so langsam, dass ich glaube, hier ewig stehen zu müssen. Als sich aber dann die Tür öffnet, werden wir hineingelassen.
Trader, Shooter und weitere schwarzgekleidete Männer stehen in einem Halbkreis und reden. Über mich. In dem Moment, wo der Türsteher den Raum betritt und wir anderen folgen, löst sich der Kreis auf und alle Blicke sind auf mich gerichtet. Das Lächeln von Shooter zeigt mir, dass ich nicht rausgeschmissen werde, aber der Ausdruck in seinen Augen ist dennoch nicht ganz so glücklich, wie ich es gerne hätte.
Trader stellt sich vor die anderen und sagt in einem bestimmenden und machtvollen Ton: „Wir haben uns entschieden. Reign, wird als Mitglied der Shadows akzeptiert. Allerdings nur so lange sie gute bis sehr gute Ergebnisse in den Trainingseinheiten absolviert. Sobald sie den Clan in irgendeiner Weise behindert, seine Arbeit zu tun, wird sie aus der Gang verwiesen oder getötet.“
Bei diesen Worten muss ich schlucken und ich kann die Blicke des Fahrers und des Beifahrers in meinem Rücken fühlen.
„Mit Behinderung, sind Romanzen, Streiterein und weiteres gemeint, also reißt euch zusammen, denn jeder, bei dem ich eine Veränderung bemerke, egal ob im Kampf oder in Umgang mit anderen Mitgliedern, wird ebenso verwiesen.“
Jetzt starren mich alle fassungslos an. Selbst Shooter hat offensichtlich nicht damit gerechnet. Seine eisblauen Augen, werden trüb und das Gesicht verliert an Farbe.
„Ende der Versammlung.“
Alle verlassen den Raum. Inklusive mir, wobei ich dem Fahrer noch einen prüfenden Blick zuwerfe, in der Hoffnung, Jackson in ihm zu erkennen. Vergebens.
Im Flur, nutze ich eine Gelegenheit des Unbeobachtetseins und schleiche mich die Treppe nach oben. Es ist noch alles so wie früher. Wie vor neun Jahren, als ich das letzte Mal, hier gewesen bin.
Die Tapeten an den Wänden sind mit Kreide bemalt und zum Teil heruntergerissen. Am Treppengeländer sind Initialen zu sehen und wieder schießen mir Erinnerungen in den Kopf.
Es ist der Moment, als Jackson mir verspricht, mich niemals allein zu lassen. Ich lasse diese paar Minuten wieder und wieder in meinen Gedanken abspielen. Jacks steht am oberen Ende der Treppe, während ich sie gerade hinaufrenne und ihm zurufe, er solle auf mich warten und nicht so schnell sein.
Ich kann mich noch genau an sein Grinsen in diesem Moment erinnern. Seine goldenen Augen funkelten mich freundlich an und er sagte, dass er immer warten würde.
Auf einmal verschwimmt die Erinnerung und ich werde von der Seite angesprochen.
„Kennst du dieses Haus?“, fragt mich Shooter, der sich jetzt neben mich stellt.
Schnell schüttle ich den Kopf und antworte: „Ich habe mich nur gefragt, wo ich wohl schlafen würde.“
Er sieht mich skeptisch an. Seine Augen mustern zuerst nur mein Gesicht, aber dann wandert sein Blick meinen gesamten Körper entlang und ich räuspere mich, um ihm zu zeigen, dass ich es sehen kann.
Mit einem Stirnrunzeln blickt er mir wieder in die Augen und sagt: „Du schläfst unten beim Boss, er ist der einzige von uns, der nicht schnarcht.“
„Du schnarchst?“, will ich schmunzelnd wissen und fahre mit dem Finger über die eingeritzten Initialen am Geländer.
„Nein, aber ich könnte nicht schlafen, wenn ich wüsste, dass dein Zimmer nebenan ist.“
Meine Miene wird ernst und ich flüstere warnend: „Shooter, du kannst nicht-“, doch weiter komme ich nicht, denn er hat seine Lippen bereits auf meine gelegt. Ein warmes Gefühl durchströmt mich und ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten. Hätte mich Shooter nicht gestützt, säße ich jetzt auf der Erde. Seine starken Arme geben mir Halt, lassen mich aber auch nicht gehen. Erst als unsere Münder sich von einander trennen und ich wieder Kraft in meinen Beinen fühle, geht er ein paar Schritte zurück.
„Es tut mir Leid. Ich wollte nicht-“, setzt er an, aber diesmal bin ich es, die ihm unterbricht.
„Nein, es tut mir Leid. Ich habe dir falsche Hoffnungen gemacht. Nur gibt es da jemanden, der auf mich wartet.“
Ich versuche die Situation mit einem halbherzigen Lächeln etwas zu entschärfen. Doch das ist gar nicht mehr nötig, denn Shooter lächelt mich ebenfalls an.
„Ich werde dich aber nicht teilen.“ Das sind seine letzten siegessicheren Worte, bevor er die Treppe hinuntergeht und mich mit einem Gefühlschaos allein zurücklässt. Mir schwirren so viele Fragen im Kopf herum, dass ich sie am liebsten alle in eine Schublade gesteckt, und dann mit einem riesigen roten Stift: Unsinnig!, raufgeschrieben hätte.
Verdammt, wieso gerade jetzt?! Shooter könnte meinetwegen rausgeschmissen werden, oder sogar sterben! Außerdem kenne ich ihn überhaupt nicht!
Was soll ich bloß tun?...
Ich kann ihm ja wohl kaum erzählen, dass ich in jemanden verliebt bin, von dem ich neun Jahre lang dachte, ich hätte ihn umgebracht... Shooter würde mich für verrückt erklären.
Der Tag vergeht in Windeseile und die Sonne hat ihre letzten paar Strahlen abgegeben. Nun ist sie ganz hinter dem Bergen verschwunden und es ist bereits dunkel, als ich mich auf die hölzerne Eingangstreppe des Hauses setze und über die letzten paar Stunden nachdenke.
Immer wieder sehe ich in den Himmel und beobachte, wie einzelne Sterne anfangen heller als andere zu strahlen, während ich auf meiner Unterlippe herumbeiße. Ich vertiefe mich in meinen Gedanken und bemerke die Krieger nicht, die an mir vorbeilaufen. Sie lachen und reden lauthals, doch als ich zu ihnen aufsehe, wird auf einmal alles totenstill. Sie mustern mich heimlich, weichen aber meinen Blicken aus.
Jetzt haben alle Angst vor mir, nur weil sie rausgeschmissen werden könnten, wenn man sie mit mir sieht.
Plötzlich schweifen meine Gedanken zu Shooter und dann auf einmal spüre ich imaginäre Lippen auf meinen und ich muss mich zusammenreißen, nicht aufzuschrecken und wegzurennen.
Ich habe ihm klar und deutlich gesagt, dass aus uns nie etwas werden wird, aber er nimmt das nur als Herausforderung und nicht als Absage.
Wie kann ich ihm zeigen, dass er nicht gegen Jacks gewinnen kann?
Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung.
Nach ein paar Momenten, die mir vorkommen wie Stunden, setzt sich jemand neben mich.
Es ist der Fahrer, wie ich unschwer an der Sonnenbrille erkenne. Er seufzt und lehnt sich an die Treppenstufen.
Soll ich ihn einfach fragen, ob er mein Kindheitsfreund ist, oder wäre das zu direkt...?
Aber was ist, wenn ich mich mit der Frage zum Affen mache und er es überhaupt nicht ist?!
Verdammt, was soll ich tun?!
Der Fahrer schenkt mir ein leichtes Lächeln, streckt mir eine Hand hin und sagt: „Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt.“
Oh Mann, jetzt wird’s spannend!
„Ich bin Shane, aber jeder nennt mich hier Hydra.“
Hm... Dann habe ich mich wohl wirklich geirrt..., stelle ich traurig in Gedanken fest. Ich erwidere das Lächeln und frage verwirrt: „Warum Hydra?“
Jetzt muss er lachen. Und sein Lachen klingt wirklich schön, er sollte es öfter tun, finde ich.
Dann setzt er seine Sonnenbrille ab und ich halte die Luft an, als ich seine Augen sehe.
„Gruselig, stimmt's?“ Seine Miene wird ernst.
Nun bin ich völlig sicher, dass dieser Mann nicht Jackson sein kann. Shane hat graue fast leuchtend silberne Augen und Jacks seine, sind bernsteinfarben mit einem Hauch von Honig. Außerdem scheinen Shanes Pupillen oval zu sein. Beinahe so wie bei einer Schlange.
Ich schüttle ernst den Kopf.
„Eine Genmutation.“, erklärt er und will die Sonnenbrille wieder aufsetzten, doch ich halte seine Hand fest und hindere ich daran. Fragend, runzelt Shane seine Stirn und ich sage mit einem Lächeln: „Deine Augen sind schön. Du solltest sie nicht verstecken.“
Das macht in sprachlos. Staunend, über meine Ehrlichkeit, legt er die Sonnenbrille neben sich auf eine Treppenstufe.
Einige Minuten lang, sehen wir uns nur in die Augen, ohne etwas zu sagen. Doch dann ergreift Shane das Wort. „Du wolltest vorhin wissen, wem das Haus gehört...“, fängt er an und ich setzte mich aufrecht hin.
Verlegen sieht er zur Seite, als ob er nicht weiß, wie er sich ausdrücken soll.
„Es gehört zwar uns allen, aber die Idee, hier unser Lager aufzuschlagen, hatte nur einer von uns.“, spricht er weiter.
Meine Aufmerksamkeit gehört nun ganz ihm und ich fange sogar an, aufgeregt mit dem Fuß zu wippen.
Shane mustert mich und scheint zu ahnen, was los ist, denn er fragt leise: „Du kennst ihn, stimmt's?“
Ich schlucke hart, antworte aber ehrlich, da ich das Gefühl habe, ihm vertrauen zu können.
„Vielleicht... Das muss ich noch herausfinden.“
Immer noch ruht Shanes Blick auf mir und ich kann ein leidendes Seufzen nicht unterdrücken.
Er wartet einen Moment ab und gerade als er anfangen will, etwas zu erzählen, fragt jemand: „Na, was flüstert ihr denn hier so?“
Es ist der Beifahrer, der sich leise angeschlichen hat und jetzt hinter uns an der Treppe lehnt. Shane und ich stehen gleichzeitig auf und er versteckt schnell seine Augen wieder hinter der Sonnenbrille.
„Der Boss sagt, wir sollen der Frau alles zeigen, so dass Morgen ihre erste Trainingseinheit stattfinden kann.“, erklärt der Beifahrer und wendet sich zum Gehen. Shane hält ihn davon ab und stellt mit ernstem Ton klar: „Sie heißt Reign und ich denke nicht, dass sie morgen schon kämpfen sollte...“
Der Beifahrer dreht sich zu mir um und mustert mich prüfend. „Ich weiß, wirklich schade um sie.“
Meine Augen werden riesig. „Was soll das heißen!?“, frage ich aufgebracht, aber Shane schenkt mir nur ein aufmunterndes und trotzdem halbherziges Lächeln.
Zusammen führen mich die beiden durch das gesamte Haus und erklären mir, wo sich alles befindet, obwohl ich mich noch genau erinnern kann.
Immer wieder versuche ich auf meine Frage zurückzukommen, aber beide wechseln dann nur das Thema oder antworten überhaupt nicht. Ich frage mich wirklich, was mich morgen erwartet. Hoffentlich muss ich niemanden umbringen.
Das obere Stockwerk lassen sie komplett aus und sagen nur dazu, dass es der Männerbereich ist und dort keine Frauen erwünscht sind. Na ja, der Beifahrer grinst daraufhin und erwidert: „Erwünscht schon, aber nicht erlaubt.“ Die Zeit vergeht und nach und nach, trödeln auch die letzten Clanmitglieder von Aufträgen ein und ich erwische mich selbst dabei, wie ich unter den vielen neuen Gesichtern, das von Jackson suche.
Leider habe ich keine Ahnung, wie er jetzt aussieht und kann mir deshalb bei niemandem sicher sein.
Insgesamt finde ich drei Personen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm haben, wage es aber nicht, einfach hinzugehen und sie „Bist du zufällig der, der ich vor neun Jahren in meinem Haus angezündet habe?“, zu fragen.
Das wäre äußerst peinlich und außerdem denke ich nicht, dass es so gut für mich wäre, wenn jeder wüsste, was ich für eine Beziehung zu ihm habe. Besonders, da Trader jetzt die Regel aufgestellt hat, dass es keine Romanzen geben darf... Echt gemein von ihm!
Aber insgeheim freue ich mich über dieses Gesetz, da mir immer noch Shooter am Hacken klebt und jetzt auch noch versucht, mich für sich zu gewinnen. Hoffentlich wird er erwischt, denn ihn kann ich jetzt gerade überhaupt nicht gebrauchen.
Sogar heute Nacht, kann ich nicht schlafen, weil der Kuss einfach nicht aus meinem Kopf entweichen möchte, sondern sich lieber noch ein wenig mehr darin verankert.
Die Hoffnung, Jackson bald wieder zu sehen, lässt meine Augen aber dennoch zufallen und mich mit einem schönen Gefühl, in einem weichen Bett im unteren Gästezimmer, einschlafen.
Was war das?, denke ich und versteife mich. Ohne etwas dagegen tun zu können, starre ich aufs dem Fenster in die Dunkelheit. Die Kerze ist einfach umgefallen... Sie ist umgefallen...
Aber in Wahrheit, habe ich sie fallen lassen, als ich den Schatten draußen vor meinem Fenster gesehen habe. Die Flammen breiten sich so schnell aus, dass ich nichts tun kann, um sie zu stoppen. Meine Gedanken kreisen um meine Familie. Mum, Dad, Finnley und Jacks.
Ich muss sie warnen!, das weiß ich, aber meine Füße wollen sich nicht bewegen. Ich schaffe es nicht, mich aus der Starre zu lösen. Ich habe zu große Angst...
Der Schock übermannt mich und der Rauch vergiftet meine Lungen. Hitze brennt auf meiner Haut und plötzlich höre ich den Schrei meiner Mutter. Sie sitzen in der Falle.
Diese Erkenntnis befreit mich aus der Starre und ich will sie retten gehen, aber ich verbrenne mir die Hand am Türgriff.
Es ist unmöglich für mich, aus diesem Zimmer zu kommen, ohne aus dem Fenster zu springen. Die Flammen wachsen, bis sie die Decke berühren und ich sehe keine andere Möglichkeit, als mich selbst zu retten.
Ich zwinge mich, das Fenster einzuschlagen und springe.
Es ist so dunkel, dass das Feuer die einzige Lichtquelle ist. Mit einem brennenden Schmerz lande ich im Gebüsch. Meine Haut ist zerkratzt und mir tut jeder Knochen meines Körpers weh. Ohne das Haus noch einmal anzusehen, renne ich. Ich renne so schnell ich kann.
Tränen fließen mir über das Gesicht, als mir klar wird, dass ich meine ganze Familie, jeden, den ich jemals geliebt habe, zurücklasse, nur weil ich Angst habe. Nur weil ich nicht den Mut besitze, um für das zu kämpfen, was ich liebe.
Mit einem Mal, schrecke ich aus dem Schlaf hoch und reibe mir über die Handfläche. Man sieht nicht mehr, was die Hitze getan hat, aber ich kann immer noch den Schmerz fühlen, als ich die glühende Türklinke angefasst habe.
Wieder merke ich, wie mir Tränen in die Augen treten und die Wange herunterlaufen. Wieso hatte ich nur solche Angst?! Wenn ich jetzt die Chance hätte, würde ich sie retten. Da bin ich mir, trotz meiner unheimlichen Angst vor Feuer, sicher.
Jemand klopft an meine Zimmertür, aber ich ignoriere es.
Wenn er denkt, ich sei nicht da, verschwindet er vielleicht wieder. Falsch gedacht!
Er öffnet meine Tür und späht vorsichtig hinein. Es ist Shane, der mit seiner Sonnenbrille und den dunkelblonden Haaren vor mir steht. Als er mich entdeckt, schließt er sofort die Tür und entschuldigt sich. Ich setzte mich in meinem Bett auf und binde meine störrischen roten Haare zusammen. „Schon gut, komm rein!“ , rufe ich ihm zu. Meine Güte!
Die Tür geht erneut auf und Shane wirft mir einen grauen, mir sehr bekannt vorkommenden Rucksack zu. Verwundert und gleichzeitig hoch erfreut öffne ich ihn. Das was ich vorfinde, bringt mich zum Stutzen. Ein Haufen Unterwäsche.
„Du warst bei mir Zuhause?“, will ich schmunzelnd wissen.
Er nickt und will etwas sagen, aber als sein Blick auf den Inhalt des Rucksacks fällt, verlässt er beschämt den Raum.
„Okay, das heißt wohl, er hat den Rucksack nicht gepackt...“, stelle ich murmelnd fest und ziehe mich an. Wer auch immer ihn das getan hat, besitzt wirklich Geschmack. Es gibt zwei schwarze und drei blaue enge Jeans, mehrere grüne und weiße Oberteile und noch ein paar Sportsachen.
Außerdem hat man mir meine Kulturtasche mitgebracht, worin ich hoch erfreut eine Haarbürste finde.
Ganz unten am Boden des Rucksacks, fühle ich Samt.
„Nein, das gibt’s doch nicht...“
Perplex ziehe ich ein schwarzes Kleid heraus. Das Besondere an diesem ist, dass es von oben bis unten mit grünen Steinchen bestickt ist. Wenn man es trägt, glitzern diese Steine bei jeder Bewegung, wie hunderte von Smaragden.
Als ich es wieder zurückstecken will, fällt auf einmal ein Zettel auf den Boden. Ich hebe ihn auf und staune nicht schlecht, als ich lese, was auf ihm steht.
So wunderschön, wie du...
S
„Tss!“, mache ich und zerknülle den Zettel.
Der Schleimer denkt wohl, mit Komplimenten, würde ich Jackson einfach vergessen. Tja, da täuscht er sich, aber.
Zum Frühstück hat jemand aus der Truppe frische Brötchen vom Bäcker geholt und sie nun an jeden verteilt. Ich nehme mir gleich zwei, um für den heutigen Tag gewappnet zu sein.
Okay, jetzt stehe ich also auf einem Feld vor dem Haus und Trader erklärt mir gerade, wie mein Tagesplan ablaufen wird.
„Heute ist Shooter den Trainer. Tu also was er sagt und denke daran, wenn du versagst, oder dein Ergebnis nicht zufriedenstellend ist, fliegst du hier im hohen Bogen raus. Du weißt ja was mit Ganglosen passiert...“
Und ob ich das weiß. Sie werden von den anderen Gangs getötet...
Shane, - ich habe jetzt endgültig beschlossen ihn nicht Hydra zu nennen, da dieser Name einfach abartig ist! - der neben mir steht, beugt sich zu mir herüber und flüstert: „Pass auf, dass du keine blauen Flecken bekommst.“
Ich funkle ihn giftig von der Seite an und laufe zu Shooter hinüber, der bereits wartend von einem Fuß auf den anderen tritt.
Als ich mich neben ihn gestellt habe, grinst er Shane triumphierend an. Dieser wirft ihm aber einen vernichtenden Blick zu.
Nach ein paar Momenten, sind wir die einzigen auf den Feld, da auch Trader gegangen ist.
Shooter dreht sich zu mir und sagt feierlich: „Na dann, los!“
Er führt mich zu der kleinen Holzhütte, die neben dem Haus, in einem kleinen Wäldchen steht.
Fünf Meter davon entfernt, ist auf dem Boden eine gelbe Markierung. Dort stellt er mich hin. Shooters Hände berühren meine Tallie und ich bekomme ungewollte Gänsehaut.
„Bleib genau da stehen.“, befehlt er mir und geht in die Hütte.
Ein paar Sekunden später kommt er mit mehreren Schusswaffen wieder und legt sie vor mir auf den Boden.
„Was soll ich jetzt damit?“, erkundige ich mich und runzle die Stirn.
Shooter hebt eine kleine Pistole auf. „Hast du schon mal geschossen?“, will er wissen, ohne meine Frage zuerst beantwortet zu haben.
Ich schüttle den Kopf. „Nein, bisher musste ich das auch noch nicht.“
Sein Blick sucht meinen. „Ja, richtig. Du hast ja nur gefoltert.“
Die Art, wie er das sagt, zeigt, wie wenig er meine Arbeit zu schätzen weiß.
„Hey!“, keife ich wütend und boxe ihm kräftig gegen die Schulter. „Das ist schwerer als es aussieht!“
„Ja ja, wenn du meinst.“, gibt Shooter nach und reibt sich über seinen Arm.
„Du hast ganz schön Kraft.“, murmelt er, für meine guten Ohren dennoch hörbar.
Ungläubig sehe ich ihn an. „Wundert dich das?“
Neckisch fahren seine Augen über meinen Körper und er sagt: „Na ja, für eine Frau.“
Er stellt sich breitbeinig auf die gelbe Linie und zielt mit der kleinen Pistole auf die Hütte. Erst jetzt fallen mir die Kreise und roten Punkte an der Holzwand auf, die durch das viele Schießen schon ganz perforiert sind.
Shooter braucht nicht lange zu überlegen, dann weiß er auch schon wohin er schießen will. Mit einem lauten Knall – mich wundert es, dass sich niemand über den Lärm beschwert - landet die Kugel genau in der Mitte des obersten roten Punktes.
Verdutzt starre ich auf das Einschussloch.
„Beeindruckt?“, fragt Shooter und grinst stolz.
„Pff! Das schaffe ich auch.“, erwidere ich und nehme ihm die Pistole aus der Hand.
Dann stelle ich mich auf genau die Weise hin, wie es Shooter getan hat, ziele und... schieße daneben!
Verdammt!
Ein lautes schadenfrohes Lachen ertönt neben mir und ich beiße wütend die Zähne zusammen. Ich mache mich bereit, noch einmal zu schießen, als sich Shooter hinter mich stellt. Sein Atem bläst in meinen Nacken und ich bekomme Gänsehaut.
„Ist dir etwa kalt?“, haucht er an meinem Ohr.
Ich atme langsam aus, bevor ich lüge: „Ein wenig.“
„Versuch sie so zu halten.“, rät er mir flüsternd und nimmt meine Hände in seine. Es fühlt sich unglaublich gut an, wie wir hier so stehen. Ganz nah beieinander.
Ich ertappe mich selbst dabei, wie ich seine Berührungen genieße, beiße mir dann aber geschockt auf die Lippe und konzentriere mich wieder auf das Schießen.
Das Ergebnis muss schließlich am Ende des Tages zufriedenstellend sein.
„Versuchs so mal.“
Ich schieße und die Kugel ist tatsächlich näher dran, als vorher.
Shooters Wange streift meine und dann haucht er, als würde es ihm Spaß machen, mich zu provozieren: „Wenn du's schaffst, kriegst du auch eine Belohnung.“
Bei diesen Worten, rutscht mein Finger aus und ich schieße mehrmals auf den roten Punkt. Völlig sprachlos sehe ich auf die perfekt mittigen Löcher, die meine Schüsse hinterlassen haben. Shooters Kinnlade klappt nach unten und er lacht. „Ich wusste du schaffst es! Zwar nicht so schnell und ganz ohne Übung, aber na ja...“ Den letzten Satz murmelt er so leise, dass ich ihn nicht verstehen kann.
Er hebt die anderen Waffen vom Boden auf und sagt: „Dann brauchst du die hier anscheinend nicht mehr.“
Ich nicke noch ein wenig in Trance, von meinen genialen Schießkünsten.
„Reign! Hilf mir mal kurz!“, weckt mich Shooter aus meinen Tagträumen. Ich drehe mich zu ihm um, kann ihn aber nicht entdecken. „Reign!“, ruft er wieder und ich stelle fest, dass es aus der Hütte kommt. Mit einem genervten Seufzen, stecke ich die Waffe in meine Hose und laufe ihm hinterher.
In der Hütte angekommen, kann ich nicht einmal einen Blick auf die beeindruckende Waffensammlung werfen, da mich Shooter zu sich an die Wand zieht und küsst.
Das kommt so unerwartet, dass ich kurz aufschreie, der Schrei aber sofort von einem weiteren Kuss erstickt wird.
Zusammen drehen wir uns und ich knalle mit dem Rücken gegen einen Holzbalken, woran ich mir den Kopf stoße.
Dieses warme Gefühl lässt den Schmerz allerdings schnell verschwinden. Ich werde es noch einen Moment zulassen, und ihn dann wegschubsen., schwöre ich mir selbst, aber was man ja über die guten Vorsätze sagt, man hält sie selten ein. Seine Küsse vertiefen sich und wie schon letztes Mal knicken meine Knie ein. Gut das er mich so fest an sich drückt, sonst wäre ich vermutlich an der Wand nach unten gerutscht.
Ganz ohne Vorwarnung, schleichen sich plötzlich Erinnerungen an Jackson in meinen Kopf und mir wird klar, was ich hier eigentlich tue. Jacks war immer der Grund, warum ich mich immer von Männern auf diese Weise ferngehalten habe und jetzt gerade betrüge ich ihn...
Shooters Küsse werden aufdringlicher und er fängt an meinen Pullover hochzuschieben, um mit seiner Hand darunter zu fassen.
Ich will ihn wegschubsen, aber er hält sich an den Holzbalken hinter mir fest und lässt mir keine Möglichkeit zu entkommen. Die Art, wie er mich berührt wird grober und brutaler. Er beißt mir in die Oberlippe und ich zucke zusammen. „Autsch! Spinnst du?!“, schreie ich ihn an und kann das warme Blut schmecken, das aus der Wunde fließt. Jetzt hätte ich wirklich gern meinen Schlagring hier, aber dieser liegt bestimmt noch Zuhause. Shooter ist nur damit beschäftigt, sich wieder an mich zu pressen und mir die Luft zum Atmen zu rauben. Immer wieder versucht er mir die Kleider vom Leib zu reißen, doch es gelingt ihm nicht. Ich gebe ihm nicht die Chance dazu. Als ich mich endlich aus seinem schmerzenden Griff lösen kann und die Flucht ergreife, zieht er mich an meinem Arm zurück und schubst mich gegen einen Stapel Feuerholz. Verdammt!, denke ich und will schreien, aber er hält mir den Mund zu, erstickt mich mit harten brutalen Küssen. Ich kann nicht atmen... Mich nicht bewegen... mich nicht wehren... nicht entkommen...
Auf einmal wird er von mir weggezerrt und ich sehe den Beifahrer, der Shooter in die Mangel nimmt. Hinter ihm taucht auch noch Shane auf und seine Miene ist besorgt. Er kommt zu mir herüber und nimmt mich schützend in den Arm.
Währenddessen schreit der Beifahrer Shooter mir gefährlichem Ton an. „Macht dir das Spaß?! Quälst du gerne Frauen?!“
Dann schlägt er ihm ins Gesicht und Shooter taumelt benommen zurück. Doch als der Beifahrer noch einmal ausholt, greift Shooter um seine Tallie und wirft ihn um. Zusammen fallen sie in einen Stapel voller Schusswaffen.
Shane und ich können nur dabei zusehen, wie die beiden sich gegenseitig anschreien und verprügeln. Blitzschnell nimmt Shooter eine der Waffen und richtet sie auf den Beifahrer. Geschockt starren wir ihn an, während er den Lauf an die Stirn des fast bewusstlosen Beifahrers drückt.
Wie ein Reflex greife ich nach der Pistole, die ich mir vorhin in die Hose gesteckt habe und ziele auf Shooter. Wieso habe ich daran nicht schon früher gedacht?
Das beweist mal wieder, wie dämlich ich doch eigentlich bin!
Shane warnt mich flüsternd mit: „Lass es, Reign!“
Shooter hört diese Warnung und sieht zu mir auf. Als er die Pistole in meiner Hand bemerkt, lacht er nur und sagt gelangweilt: „Du würdest mich nicht erschießen. Du bist zu schwach. Hast zu viel Angst.“ Ich grinse ihn an und erwidere überlegen: „Früher vielleicht, aber jetzt...“
Dann schieße ich ganz knapp an seinem Kopf vorbei. Geschockt zuckt er zusammen und fasst sich mit einer Hand an sein Ohr. Als er sie wieder runter nimmt und das Blut sieht, lässt er seine Waffe blitzschnell fallen, geht von dem Beifahrer weg und stellt sich mit gehobenen Händen an die Wand der Hütte.
Der Beifahrer scheint noch völlig benebelt zu sein, denn er murmelt irgendein merkwürdiges Zeug.
„Sieh nach, wie es ihm geht.“, befehle ich Shane, der daraufhin zu ihm rennt und seine Vitalfunktionen prüft.
Er nickt mir zu und ich atme erleichtert auf.
Shooter, der noch immer mit über den Kopf gehobenen Händen an der Wand steht und jede meiner Bewegungen mit Adleraugen verfolgt.
Meine Pistole zielt auf seinen Kopf und ich habe nicht das Gefühl, dass ich noch einmal daneben schießen werde. Shooter weiß das und lässt mir deswegen auch die volle Kontrolle. Mit einem gezielten Schuss treffe ich sein Knie und genieße sogar ein wenig das Gefühl, ihn leiden zu sehen.
„Hau ab!“, schreie ich ihn danach an und sehe nur noch, wie er, so schnell er mir einer Schusswunde im Bein kann, aus der Hütte rennt. Sein schmerzverzerrtes wütendes Gesicht, dass er mir noch ein letztes Mal zuwendet, bringt mich zum Grinsen.
Erst jetzt bemerke ich, wie durcheinander ich eigentlich bin. Meine Arme fallen schlaff nach unten und ich sinke zu Boden.
„Reign! Geht es dir gut?!“, erkundigt Shane sich bei mir und ich nicke schwach. Aber das scheint ihm nicht zu reichen, denn er läuft zu mir herüber und hebt mich hoch. „Ganz ruhig. Alles okay.“, beruhigt er meine Nerven und legt mich neben dem Beifahrer ab. Dieser ist nun wieder bei Bewusstsein und dreht seinen Kopf in meine Richtung.
„Ich sollte mich wohl bei dir bedanken...“, fängt er an.
„Und ich sollte mich bei dir bedanken.“, beende ich.
Wir beide lächeln uns an und keiner braucht ein weiteres Wort zu sagen, um zu wissen, wie dankbar wie einander sind.
„Was soll das heißen, 'er hat es schon öfter gemacht' ?“, fauche ich Trader an.
Er sieht mich mit gekonnter Gleichgültigkeit an und antwortet genauso ernst, wie immer: „Shooter ist dafür bekannt, eine gewisse Blutlust zu haben.“
„Eine gewisse Blutlust?! Der Typ hat mich beinahe vergewaltigt!“, schreie ich und hätte mich fast schon auf ihn gestürzt, wenn Shane mich nicht zurückgehalten hätte.
„Wenn wir ihn finden, und das werden wir, ich habe mein bestes Suchteam losgeschickt, werden wir ein angemessenes Urteil fällen. Aber bis dahin, wirst du Ruhe bewahren und ganz normal an deinen Trainingseinheiten teilnehmen. Du musst schließlich beweisen, dass du als Frau genauso Clanmitglied sein kannst. Was man bis jetzt leider noch nicht behaupten kann.“, erklärt Trader und mustert mich prüfend.
Immer mal wieder höre ich, wie sich die Wachleute Dinge zuflüstern oder mich einfach nur skeptisch ansehen.
Enttäuscht und wütend verlasse ich den Raum.
Zum Teil hat Trader Recht, ich muss noch viel mehr lernen, und jetzt, da Shooter auf freiem Fuße ist, sollte ich mich unbedingt selbst verteidigen können. Denn bisher habe ich Menschen nur Schmerzen zugefügt, wenn sie bereits am Boden lagen, aber ich habe nie den Mut gehabt, sie auf den Boden zu bringen.
***
Shane setzt sich wieder neben mich, als er an unserem Ort vorbeikommt. Die Eingangstreppe vor der Haustür ist in letzter Zeit ein häufiger Ort zum Nachdenken geworden und mir ist aufgefallen, dass die Wachleute und Krieger keine Scheu mehr zeigen, mich in der Öffentlichkeit anzulächeln, oder sogar etwas zu sagen. Ich scheine mich schnell eingelebt zu haben.
Jedenfalls sitzt Shane jetzt neben mir und sagt etwas lang gezogen: „Du...“
Fragend sehe ich ihn an. „Ich...“
„Wusstest du, dass wir immer unterbrochen werden, während wir gerade über etwas reden?“, fragt er hastig, um sich selbst nicht zu unterbrechen, vielleicht.
Ich ziehe die Mundwinkel nach unten. „Nein, wusste ich nicht, warum? Ist dem denn so?“
Er nickt und erklärt: „Letztes Mal, als wir hier saßen, hat uns Stunt unterbrochen.“
Jetzt fällt es mir wieder ein und WOW, der Beifahrer hat es also nicht mehr nötig, Beifahrer genannt zu werden, denn anscheinend heißt er ja Stunt.
„Dann sag mir jetzt, was du gestern erzählen wolltest.“, entscheide ich und warte gespannt.
Shane mustert eindringlich jede Kontur meines Gesichtes, bevor er Luft holt um etwas zu sagen, sich aber dann doch selbst stoppt. „Darüber solltest du mit Trader sprechen. Er... kennt ihn schon sehr lange.“ Gespannt nage ich an meiner Unterlippe. „Und wieso kannst du es mir nicht sagen?“, will ich nicht unmisstrauisch wissen.
Shanes Blick wechselt von meinem einen zum anderen Auge.
„Ich möchte es nicht.“
Mit dieser direkten Antwort habe ich nicht gerechnet. Blinzelnd stehe ich auf und will schon gehen, aber Shane hält mich mit seinen nächsten Worten auf.
„Es tut mir Leid, was Shooter dir angetan hat.“, sagt er und steht ebenfalls auf. Mit einer zögernden Handbewegung, setzt er seine Sonnenbrille ab und sieht mir in die Augen.
Seine Miene ist auf einmal gar nicht mehr so kalt und ernst, wie ich ihn eigentlich kenne. Er hat eine gewisse Wärme in den Augen. Ein ungewohntes Mitgefühl.
„Nein, du hast mich sogar noch vor ihm gewarnt, dir darf es also überhaupt nicht Leid tun.“ , widerspreche ich ihm und schüttle den Kopf.
Er lächelt halbherzig und fügt hinzu: „Ich hätte dich nur deutlicher warnen müssen.“
Seufzend nehme ich seine Hand und erkläre: „Mach dir keine Vorwürfe. Deine Warnung war gut, ich bin nur zu ignorant gewesen, es als Warnung zu erkennen.“
Neben uns taucht Stunt, also der ehemalige Beifahrer, aus dem Gebüsch auf und stellt sich vor uns.
„Darf ich sie dir kurz entführen?“, bittet er Shane, der nickt und mir ein wortloses: Siehst du, wir werden immer unterbrochen!, zuwirft.
Stunt deutet mit mit den Kinn, ein Stückchen zu gehen und ich folge ihm. Das Feld leuchtet in einem warmen Goldton, da die Sonne gerade untergeht und ihre letzten Strahlen nutzt, um diese wunderschöne Atmosphäre zu schaffen. In diesem Licht, sieht Stunt aus, wie Jackson. WAS?!
Seine dunkelblonden Haare, die braunen fast honigfarbenden Augen und das verschmitzte Lächeln. Alles an ihm erinnert mich an meine große Liebe.
Soll ich ihn ansprechen?
Vielleicht sollte ich ihm eine Frage stellen, die nur der wahre Jackson beantworten kann.
Ja, das ist eine gute Idee... Aber welche Frage?
Angestrengt überlegend, welche ich ihm bloß stellen sollte, kaue ich auf meiner Unterlippe. Es sollte möglichst eine neutrale Frage sein, die nicht zeigt, dass ich auf etwas bestimmtes hinaus möchte. Also keine Frage wie: Hast du als Kind hier vielleicht mal mit deiner Freundin die Ferien verbracht?
Oder: Wo ist unser Geheimnisort?
Zur Info, der Geheimnisort, ist ein kleines Versteck zwischen den Wänden, das wir gefunden, umgebaut und uns dann darin immer alle Geheimnisse verraten haben.
Andererseits sollten die Fragen auch nicht zu persönlich werden, wie zum Beispiel: Hast du vielleicht Brandwunden?
Oder: Bist du vor neun Jahren in einem brennenden Haus gewesen?
Dann fällt mir eine gute Frage ein. „Wie bist du eigentlich in diese Gang gekommen?“ Ja, das ist eine wirklich gute Frage, die ich gerne beantwortet hätte.
Sein Blick schießt zu mir. Schweigen breitet sich zwischen uns aus, und ich wäre beinahe so weit gewesen, die Frage zurückzunehmen, würde Stunt nicht jetzt das Wort ergreifen.
„Durch einen Unfall.“, beendet er das Thema und ich lasse ihn. Es gibt schließlich auch bei mir Dinge, über die ich nicht gerne spreche. Oder um ehrlich zu sein, über die ich gar nicht spreche. Allerdings bin ich nun immer mehr der Ansicht, er könnte tatsächlich Jackson sein.
„Hydra leitet morgen deine Trainingseinheit.“, wechselt er elegant das Thema.
„Wirklich?“
Er nickt. „Du wirst viel von ihm lernen können. Hydra könnte, wenn er noch ein bisschen schneller wäre, einem Gewehrschuss ausweichen.“, erklärt er mit nicht wenig Begeisterung in seiner Stimme.
„Wow!“, staune ich und meine Augen weiten sich. Das wäre ja genial, wenn man sogar Schüssen ausweichen könnte. Dann wäre man beinahe unbesiegbar.
Meine vorherige Meinung über Shane war, dass er ein ruhiger, ernster nicht besonders kämpferischer Mann ist, aber jetzt denke ich, er könnte wirklich mehr Fähigkeiten besitzen, als ich für möglich gehalten habe.
„Zwar musst du mit Schrammen und Kratzern rechten, aber wenn du tatsächlich die Gabe haben solltest, die alle glauben, die du hast, dann wird es für dich kein Problem sein.“ Seine Stimme ist geheimnisvoll und mystisch geworden.
Ich ziehe die Stirn kraus und frage: „Welche Gabe soll das sein? Menschen unvorstellbare Schmerzen zufügen zu können? So eine Gabe will man ja unbedingt besitzen.“ Ein wenig Sarkasmus schwingt in meinem Ton mit, den Stunt nur mit einem Augenrollen kontert.
Plötzlich beugt er sich zu mir herunter und flüstert: „Hast du mein Geschenk erhalten?“ Ein schnippisches Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht auf.
Sofort weiche ich einen Schritt zurück. „Du warst das. Du hast den Zettel geschrieben!“ Jetzt ergibt das alles einen Sinn. S für Stunt, ich verstehe.
Verwirrt blinzelnd fragt er: „Wer dachtest du, sonst?“
Dann verdüstert sich seine Miene und das Grinsen löst sich in Luft auf. „Shooter“ Ich beiße die Zähne zusammen.
„Wart ihr irgendwie-“, setzt er an, doch ich unterbreche ihn. „Nein! Nein...“, protestiere ich geschockt. Er soll nicht denken, ich würde so etwas einfach tun.
Er hebt eine Augenbraue. „Klingt sehr überzeugend.“
Ich seufze und versuche es ihm irgendwie klar zu machen. „Es... Es ist kompliziert...“
Ungläubig sieht er mir in die Augen und schüttelt dann den Kopf. „Ist es das nicht immer? Ich meine, du hast ihn so nah an dich rangelassen, dass er dir wehtun konnte.“ Er mustert meine verletzte Oberlippe.
Mein Blick gleitet auf den Boden. Auf das golden schimmernde Gras und die kleinen Steinchen, die in den letzten Sonnenstrahlen wie Diamanten funkeln.
Was soll ich ihm bloß sagen? Er hat Recht... Ich habe Shooter zu schnell zu nah an mich herangelassen. Doch dieser Fehler wird mir nicht noch einmal passieren!
Nachdenklich auf meiner Unterlippe nagend, schaue ich ihm in die hellbraunen Augen, die mir bisher nie aufgefallen sind. Mit langsamen Worten, sage ich ihm das, was ich auch zu Shooter gesagt habe: „Da ist jemand, der immer auf mich wartet und es wird Zeit, dass ich ihn finde.“
Stunts Augen nehmen einen erstaunten und beeindruckten Ausdruck an. Hoffnung keimt in mir auf. Bitte, sei Jackson!
Bitte, ich flehe dich an, sei meine wahre Liebe. Ich will nicht mehr suchen! Bitte!
Stunts Hand nähert sich meinem Gesicht und einen Augenblick, zucke ich zurück, aber als er sanft über meine Wange streichelt, beruhigt sich mein Herzschlag.
„Wie ist er so?“, fragt er mit einem Lächeln.
Ich feuchte meine noch immer durch Shooter verletzte Lippen an und erzähle, die Tränen unterdrückend: „Er ist die wärmste Seele, der gutmütigste Mensch, den ich kenne. Er bringt allein mit seiner Art, jeden zum Lachen. Wenn er da ist, fühlt man sich Zuhause. Er ist einfach...“ Mitten im Satz, breche ich ab, weil mir Tränen über das Gesicht rollen. „Er ist...“
„Deine große Liebe.“, beendet Stunt. Ich sehe zu ihm hoch und erkenne auch in seinen Augen winzige Tränen. Verwundert aber auch so berührt von seiner Reaktion, nehme ich seine Hand. „Sie muss etwas sehr Besonderes sein, wenn sie deine Tränen verdient.“
Bei diesen Worte, lächelt er traurig und nickt. Dann schließt er seine Augen und nimmt mich in die Arme.
Wir bleiben einige Momente so stehen und genießen die Anwesenheit des anderen.
„Wie heiß sie?“, frage ich vorsichtig, nicht wissend, ob ich die Antwort wirklich hören möchte. Wenn er meinen Namen sagt, bin ich sicher, er ist Jackson, aber wenn nicht, heißt es nicht, dass er es nicht ist. Er kann sich auch einfach nur in jemand anderen verliebt haben.
Es ist so schwer...
Ich kann in seiner Brust ein tiefes Seufzer hören. „Lora.“
Natürlich... So muss es ja kommen...
„Ein schöner Name.“
„Sie ist vor drei Jahr gestorben.“, erwidert er und unterdrückt ein Schluchzen.
Ich frage nicht weiter nach, sondern drücke ihn einfach noch ein bisschen stärker.
Wir lösen uns von einander und er bringt mich zurück zum Haus. Während wir neben einander laufen, sagt er plötzlich: „Du behältst das hier doch für dich, oder?“
Ungläubig drehe ich meinen Kopf zu ihm.
„Was sollte ich schon sagen. Dass wir uns heulend in die Arme gefallen sind und uns unsere tiefsten Gefühle offenbart haben?“ Ich lache auf. „Das würde kein Mensch glauben.“
Sein Blick ist prüfend, wird aber weicher, als er erklärt: „Ich vertraue dir nämlich, Reign.“
Mit einem Lächeln, nicke ich ihm zu.
„Dir vertraue ich auch, S.“
Er grinst, als sei ihm etwas eingefallen und sagt: „Morgen Abend gibt es eine Überraschung, zieh also das Kleid an.“
Skeptisch, ob es mich freuen soll oder nicht, runzle ich die Stirn und lächle dann aber.
Es ist dunkel und eigentlich sind fast alle Krieger schon im Bett, nur ich kann nicht schlafen. Mir schwirrt ständig der Gedanke im Kopf herum, ob ich Trader wegen diesem Haus fragen sollte, oder nicht. Shane wird mir die Frage ja anscheinend nicht mehr beantworten und die anderen, die ich gefragt habe, wissen es nicht.
Toll, dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als den großen Boss zu fragen.
Morgen werde ich sofort zu ihm gehen. Aber erst muss ich ein paar Stunden Schlafen bekommen, ich weiß ja nicht, was morgen in der Trainingseinheit auf mich zukommt. Stunt hat mich zwar schon ein wenig vorgewarnt, aber genau vorstellen kann ich es mir noch nicht. Trader scheint mir ein ehrlicher, aber dennoch verschlossener Mann zu sein, der seine Geheimnisse nicht gerne preisgibt. Wie soll ich ihn also dazu bekommen, einer fremden Frau alles über einen seiner Clanmitglieder zu verraten? Ich habe nicht mal einen Anhaltspunkt, denn Shane hielt es nicht für nötig, mir einen Namen zu nennen.
Am nächsten Morgen, mache ich mich fertig und laufe dann auf der Stelle, zu Trader. Er ist bereits wach und blättert ein paar Stapel Papiere durch. Als er mich sieht, setzt er sich gerade hin. „Was möchtest du?“
„Ähm... Ich habe mich nur gefragt, wem dieses Haus gehört...“, deute ich vorsichtig an, immer bereit, einen Rückzieher zu machen.
Sein abschätziger Blick durchbohrt mich förmlich.
„Das muss du dich nicht fragen, weil ihr euch nicht kennenlernen werdet.“, kommentiert er knapp und wendet sich wieder den Papieren zu.
„Warum das?“, will ich wissen.
Er atmet tief durch und sagt mit äußerst ernster und durchdringlicher Stimme, mir aber keines Blickes würdigend: „Zeige, dass du einen Platz in meinem Clan verdient hast, dann reden wir weiter.“
Verwirrt und auch irgendwie beleidigt, gehe ich aus dem Wohnzimmer in den Garten. Dort stehen Shane und Stunt zusammen auf den Feld und besprechen den heutigen Tagesablauf. „Also?“, frage ich, als ich direkt hinter ihnen stehe. Schnell drehen beide sich zu mir um und Stunts breites Grinsen verrät mir, dass es echt spaßig werden wird. Nur nicht für mich.
„Wir haben beschlossen, heute gleich zwei Trainingseinheiten durchzunehmen, da es Shooter jetzt vermutlich auf dich abgesehen hat und du ein sehr leichtes Ziel bist.“, sagt Stunt und ich denke nur: Danke, Arschloch!, meine es aber natürlich nicht ernst.
„Erst einmal warmlaufen.“, bestimmt Shane und deutet auf den Wald ganz in der Ferne.
„Oh nee... Ich hasse Joggen, das habe ich in der Highschool immer geschwänzt.“, protestiere ich und stütze mich auf meinen Oberschenkeln ab.
„Jetzt kommst du daran nicht mehr vorbei, tut mir Leid.“, sagt Stunt und beide laufen los.
Ich bleibe als letztes zurück. „Ach kommt schon! Seit nicht so gemein!“, rufe ich ihnen leidend zu und renne ihnen hinterher.
Das Feld ist viel größer, als ich es in Erinnerung habe. Als wir den Waldrand erreichen, kann man das kleine Haus schon gar nicht mehr erkennen. Es ist nur noch ein winziger Punkt am Horizont. Die Bäume werfen große Schatten auf den Waldboden, was es schwer macht, den dicken Wurzeln auszuweichen. Stunt und Shane scheinen es gewohnt zu sein, denn sie laufen in einem konstanten Tempo und springen leichtfüßig über jedes Hindernis. Ich dagegen bleibe ab und zu stehen, um überhaupt noch Luft zu bekommen. „Siehst du, Stunt, ich sagte doch, sie ist noch nicht bereit zum Kämpfen.“, erklärt Shane ihm beim Laufen.
Dieser dreht sich im Sprung zu mir um und lacht über mein erbärmlichen Anblick. Völlig ausgepowert und durchgeschwitzt, bemühe ich mich, Schritt zu halten.
„Sie packt das schon.“, heitert er mich auf und läuft wieder geradeaus.
Meine Gedanken kreisen nur um ein einziges Thema. Jackson. Ist er wirklich noch da draußen? Stunt scheint es ja nicht zu sein, sonst hätte Trader nicht gemeint, er würde erst noch zurückkommen.
Andererseits muss Trader mir ja nicht die Wahrheit gesagt haben.
Oh Mann, was soll das!?
Ich muss die Vergangenheit ruhen lassen und nach vorne sehen! Sonst bleibe ich für immer da wo ich bin und ich habe nicht vor, mein Leben lang nach jemandem zu suchen, den ich vermutlich niemals finden werde.
Mein Leben hat aber erst durch die Suche nach ihm richtig begonnen... Seit dem Feuer, habe ich immer nur daran gedacht, wann ich sterben werde, ober wie. Doch jetzt, wo ich weiß, dass Jackson überlebt hat, hat mein Leben eine neue Bedeutung gefunden. Und diese Bedeutung, will ich nicht einfach wegwerfen. Ich muss also weiter nach ihm suchen und darf niemals aufgeben, so wie er niemals aufgeben würde.
Der Fluss neben dem Haus, mündet in einem kleinen See in der Mitte des Waldes, genau wie ich es in Erinnerung haben. An diesem See machen wir eine Pause und ich kann mich endlich ausruhen.
Stunt setzt sich neben mich auf einen Baumstamm.
Hydra steht am Wasser und füllt sich seine Flasche auf, ich nutze also die Gelegenheit, allein mit Stunt zu sein und frage: „Was war das für ein Unfall?“
Er scheint sofort zu wissen, wovon ich rede und sieht sich um.
„Die Lions und die Shadows haben einen Bandenkrieg geführt und wir kamen dazwischen. Lora hat sich eine Kugel eingefangen und ist noch im Krankenwagen verblutet.“
Seine Stimme ist so ruhig und emotionslos. Es hilft ihm, darüber zu reden, wenn er die Gefühle ausblendet.
So war es bei mir auch mal eine Weile, bis ich allerdings bemerkt habe, dass Gefühle wichtig sind, und man sie sehr schnell verlieren kann. Sie zeigen, dass man noch menschlich ist.
„Aber warum bist du jetzt selbst Mitglied der Shadows, wenn sie deine Freundin erschossen haben?“, frage ich leise.
Stunt schüttelt den Kopf und erklärt: „Die Lions haben sie erschossen, nicht die Shadows. Ich habe selbst gesehen, wie Claymore den Schuss abgefeuert hat.“
Geschockt starre ich ihn an. „Du musst mich schrecklich hassen.“ Verständnisvoll wende ich den Blick zu Boden und Ohrfeige mich innerlich.
Stunts Lächeln muntert mich etwas auf, aber die Schuldgefühle bleiben. „Claymore ist ein verdammtes Drecksschwein und ich würde ihm gerne eigenhändig das Genick brechen. Du dagegen bist die liebevollste Person, die ich nach Lora kennengelernt habe. Dir könnte ich niemals wehtun.“, versichert er mir und bringt mich damit zum Lächeln.
Ich streichle über seine Schulter und bedanke mich für die netten Worte.
Im nächsten Moment, kommt Shane auf uns zu und die Qual geht weiter.
Zurück auf dem Feld, sehe ich, dass mehrere Krieger etwas aufgebaut haben. Dort, wo vor der Einlaufrunde noch eine kahle Fläche war, steht jetzt eine Art Hindernissparkur.
Er erinnert mich ein wenig an die Militärausbildung.
Ungläubig zeige ich mit dem Finger auf den Parkur und frage: „Wollt ihr mir das ehrlich antun?“
Von hinten läuft Stunt an mir vorbei und flüstert mir ins Ohr: „Ich sagte ja, richte dich auf ein paar Kratzer und blaue Flecke ein.“
„Als ich diesen Satz das letzte mal hörte, wurde ich danach von einem Irren beinahe vergewaltigt.“, rufe ich ihm hinterher und sehe zu Shane, der mir schuldige Blicke zuwirft.
Mit einem aufmunternden Lächeln drehe ich mich um und laufe in Richtung Parkur.
Stunt wartet davor auf mich und erklärt noch bevor ich angekommen bin, was jedes Gerät darstellen soll.
„Das hier“, er deutet auf eine Ballmaschine, „ist zum Testen, deiner Reaktion. Du musst hundert Tennisbällen in einer Minute ausweichen.“ Ungefähr fünf Meter von der Maschine entfernt, ist ein gelber Kreis auf die Erde gemalt. Shane stellt sich in den Kreis und nickt Stunt leicht zu. „Nach diesem Test, kämpfen wir.“, bestimmt er und stellt die Maschine an.
Was dann passiert ist unglaublich. Shane wird eins mit der Luft. Er sieht so konzentriert aus, dass man denken könnte, er wolle die Bälle mit Gedankenkraft umlenken.
Und genau so wirkt es auch. Jedes Mal, wenn ein Ball mit Schallgeschwindigkeit auf ihn zu rast, bewegt Shane nur seinen Oberkörper ein Wenig und der Ball zischt an ihm vorbei ins Leere.
Wow!
Stunt grinst stolz und zwinkert mir zu. Shane dagegen bewegt sich immer schneller. Seine Augen sind starr auf die Bälle gerichtet und seine Muskeln zucken unter dem schwarzen T-Shirt. „Machen wir es doch noch ein kleines Bisschen schwerer...“, murmelt Stunt und drückt einen Knopf an der Maschine. Sofort fängt sie an sich zu bewegen und zielt jetzt nicht mehr nur auf Shane s Oberkörper, sondern auch auf Beine und Kopf.
Seine Bewegungen passen sich der Schnelligkeit der Bälle an. Er dreht sich einmal um sich selbst, um dann hochzuspringen und im Sprung zwei weiteren Bällen auszuweichen.
Stunt schaltet die Maschine aus und joggt zu Shane hinüber um ihm auf die Schulter zu klopfen.
„Das. War. Der. Wahnsinn!“, rufe ich ihnen im Gehen zu.
„Wie hast du das gemacht?! Es sah gigantisch aus!“, ergänze ich staunend.
„Jetzt du.“
Auf der Stelle werde ich ernst. Ich bin so was von tot...
Vorsichtig stelle ich mich in die Mitte des gelben Kreises. Einen Fuß vor den anderen setzend, lasse ich die Maschine nicht aus den Augen. Vielleicht geht sie ja von allein los und ich werde mit tausenden harten Tennisbällen beschossen. Dann will ich doch lieber auf Nummer sicher gehen.
Schließlich grinst mich Stunt von der Maschine aus an und startet sie.
Der erste Ball, der mir entgegen fliegt, ist so schnell, dass ich nicht einmal blinzeln kann, bevor er auf meinem Brustkorb aufkommt.
Jegliche Luft, entweicht aus meinen Lungen und es wird schwarz um mich herum. Mit einem dumpfen Aufprall, falle ich zu Boden.
Starke Hände setzten mich aufrecht hin und geben mir leichte Schläge auf die Wange. „Hey, komm schon, wach auf. Geschlafen wird später.“, sagt eine mir bekannte Stimme. Ich mache meine Augen einen Schlitz weit auf und sehe Jacks.Nein, es kann nicht Jackson sein, er ist tot. Nein, er lebt!
Verwirrt schüttle ich den Kopf und blinzle.
Aus Jacksons Gesicht ist auf einmal Stunts geworden, der vor mir kniet und aufpasst, dass ich nicht zur Seite kippe. „Ganz ruhig. Lass dir Zeit.“, schlägt er vor und nimmt meinen Arm, um mich zu stützen.
Vorsichtig stehe ich auf, wobei mich Shane und er von beiden Seiten halten.
„Wie peinlich...“, murmle ich vor mich hin und verstehe kaum selbst, was ich überhaupt sage.
Stunt kichert leise und zieht mich auf die Beine.
Mit einem Mal, bin ich wieder voll da. Ich sehe jedes Detail der Umgebung und bin sogar selbst der Meinung, wieder gesund zu sein. Doch Shane hat da noch seine Bedenken. Er beobachtet meine Haltung und überlegt sichtlich besorgt. „Ich denke, das war es heute für dich.“, beschließt er und drückt meine Schulter. Blitzschnell starre ich ihn an. „Vergiss es! Ihr sagtet, ich bin ein leichtes Ziel für Shooter und je schneller ich lerne mich zu verteidigen, desto sicherer fühle ich mich.“
Dieses Argument scheint Shane nicht zu überzeugen, denn er tastet nur vorsichtig meine Rippen ab und schüttelt den Kopf. „Du bist noch nicht so weit. Lass es uns morgen versuchen, wenn du dich ausgeruht hast.“
Der bestimmende und befehlsmäßige Ton in seiner Stimme, lässt keinen Widerspruch zu, also halte ich einfach den Mund und sage gar nichts mehr.
Vielleicht kann ich Stunt überreden, mich heute noch zu trainieren. Er scheint auf jeden Fall nicht so besorgt um mich zu sein, wie Shane.
Dieser mustert mich und hält mir seine Hand als Stütze hin, doch ich laufe nur demonstrativ an ihm vorbei. Er ruft mir noch irgendetwas von wegen: „Überanstrenge dich nicht!“, zu, doch ich ignoriere ihn.
„Mir geht es gut! Ich brauche keine überfürsorglichen Eltern, die mir alles vorschreiben.“, murmle ich.
Ich komme auch gut allein zurecht., ergänze ich in Gedanken und stampfe zum Haus, wo ich mich auf die Treppenstufen fallen lasse.
Shane kommt auf mich zu und setzt sich neben mich. Dieser Ort ist tatsächlich unser Platz geworden. Beinahe so, wie der Geheimnisort von Jackson und mir.
„Hast du Dad bereits gefragt?“, will er mit ernster Miene wissen. Ich runzle fragend die Stirn. „Wem das Haus gehört.“, fügt Hydra hinzu, als ich nicht antworte.
Jetzt nicke ich und erkläre: „Er wollte es mir aber ebenfalls nicht sagen. Er meinte nur, ich würde ihn eh nicht kennenlernen.“
Ein wissender Ausdruck huscht über Shanes Gesicht und er seufzt leise. „Nimm es dem Boss nicht übel, er hat wirklich schon viel durchmachen müssen. Fast mehr als wir alle.“
Neugierig sehe ich ihn an und er merkt sofort, was ich will. Mit einem halbherzigen Lächeln verkündet er: „Ich will darüber eigentlich nicht reden.“
Bei diesen Worten nicke ich. „Du musst nichts sagen, was du nicht willst...“, murmle ich leise, eher an mich selbst gerichtet. Auch ich habe solche Dinge, die ich lieber nicht laut ausspreche.
Er beobachtet mein trauriges, in mich zurückgezogenes Gesicht und fängt, vielleicht etwas widerwillig, an zu erzählen.
„Traders Frau, also meine Mutter, war auch früher bei den Shadows. Doch bei einem der Bandenkriege mit den Lions, kurz nach meiner Geburt, wurde sie erstochen. Sie war zu schwach zum Kämpfen und wurde Opfer von Claymores Messer. Seit her hat Dad sich geschworen, nie wieder eine Frau in die Gang aufzunehmen. Du verstehst also, warum er so streng mit dir ist, stimmt's?“
Das Lächeln weicht mir aus dem Gesicht, und ich spüre, wie es die Farbe ebenfalls tut. „Ja, ich verstehe.“ Meine Stimme zittert und ich muss das Bedürfnis unterdrücken, Shane in die Arme zu fallen.
Ich habe Mitleid mit ihm, und trotzdem will mir Traders abschätziger Blick nicht aus dem Kopf gehen.
„Kann es sein, dass er mich tief in seinem Inneren dafür hasst?“, frage ich gerade heraus und Shane scheint mit dieser Direktheit überfordert zu sein, denn er runzelt irritiert die Stirn. Dann schüttelt er überzeugend den Kopf und nimmt mein Gesicht in seine Hände.
„Nein, glaub mir. Niemand könnte dich hassen. Nicht einmal mein Vater.“
„Was geht hier vor sich, Shane?!“, ertönt eine laute gereizte Stimme hinter uns aus dem Haus.
Wenn man vom Teufel spricht...
Traders Art, wie er seinen Sohn anstarrt, bereitet mir Gänsehaut. Es ist beinahe die Art, wie Mr. Worren Jackson immer angesehen hat. Wortlos deutet er Shane, mit ihm zu kommen, und dieser gehorcht. Bevor er im langen Flur verschwindet, schenkt er mir noch ein entschuldigendes Mundwinkelzucken.
Was mit Shane passiert und worüber die beiden diskutieren, kann ich durch die verschlossene Wohnzimmertür nicht verstehen, allerdings höre ich lautes Geschrei und Herumgebrülle. Ich denke sogar, dass es jeder hört, der sich in der Nähe des Hauses befindet. Als dann Stunt angejoggt kommt und mich fragt, was los sei, zucke ich nur mit den Schultern laufe in Richtung Wald. Jetzt brauche ich wirklich einen Moment für mich allein, um mir über alles mögliche klar zu werden. Nach ein paar Metern, die ich allein gelaufen bin, höre ich sich mir schnell nähernde Schritte.
Auf der Stelle fahre ich herum, in der Erwartung eisblaue Augen zu sehen und blicke in dunkelbraune.
„Willst du immer noch kämpfen lernen?“, fragt Stunt und zwinkert mir zu.
Mit gehobenen Fäusten stehe ich vor ihm und bin bereit, loszulegen. Er dagegen mustert mich mit einem skeptischen Blick und schüttelt dann mit geschlossenen Augen den Kopf.
Stunt berichtigt meine Haltung und fragt: „Immer die Deckung oben lassen, verstanden?“
Ich nicke ihm zu und sehe meine Fäuste an. Die rechte ist so nah an meiner Wange, dass ich sie fast fühlen kann. Die andere soll meine linke Gesichtshälfte vor Tritten und Schlägen schützen.
Als dann tatsächlich eine Faust auf mich zu kommt, glaube ich für einen Moment glaube wirklich, dass es jetzt das Ende ist. Aber Stunt ahnt bereits, was los ist und lässt die Faust knapp vor meinem Gesicht stoppen.
„Sei nicht so scheu, komm schon! Weich aus, greif an!“, brüllt er und ich spüre, wie Adrenalin in meine Muskeln schießt.
Die nächsten zwei Versuche sind schon besser. Ich weiche dem ersten Schlag auf mein Gesicht aus, ducke mich dann unter einem zweiten durch und hätte Stunt beinahe einen Kinnhaken verpasst, wenn er meine Hand nicht vorher abgefangen hätte.
Frustriert lasse ich meine Deckung fallen und jammere: „Du bist einfach zu schnell!“
„Nein, du bist nur zu langsam!“, kontert Stunt und schubst mich voller Wucht gegen einen Baum.
Fassungslos und panisch zugleich, schreie ich auf. „Was soll der Scheiß?“
Stunt kommt erneut auf mich zu und schubst mich noch einmal brutal, so dass ich auf den Rücken falle.
„Meinst du, Shooter wird netter sein?!“, fordert er mich heraus, ohne wirklich eine Antwort zu wollen.
Jetzt werde ich wütend. Und zwar so richtig. Ich springe blitzschnell von dem Boden auf und mache mich bereit.
Als er das nächste Mal versucht mich zu schubsen, packe ich seinen rechten Arm und drehe ihn so kräftig um seine eigenen Achse, dass Stunt auf die Knie fällt und aufstöhnt.
Geschockt taumle ich ein paar Schritte rückwärts und lasse ihn somit los. Ein breites Grinsen entsteht auf seinem Gesicht und er erklärt triumphierend: „Wut ist ein mächtiges Werkzeug. Es stärkt uns. Bringt uns dazu, ungeahnte Kräfte zu entwickeln.“
Auch ich muss jetzt grinsen. „Wow...“
„Oh ja, du hast es drauf.“
Lachend laufen wir zurück zum Haus, wo uns Shane entgegenkommt. „Alles in Ordnung?“, frage ich ihn auf der Stelle und untersuche sein Gesicht mit besorgten Blicken. Es scheint alles so weit gut zu sein. Keine Blauen Flecken oder Schrammen.
Wieso sollte jemand seinen eigenen Sohn schlagen?
Diese Frage habe ich mir auch bei Jackson immer gestellt, doch die einzige Antwort, die ich darauf bekam, war: „Er kann nichts dafür. Es liegt am Alkohol.“
Zum Glück haben sich seine Eltern getrennt, so dass Jackson nicht mehr von Mr. Worren geschlagen werden konnte.
Shane schmunzelt über meine Fürsorge und erklärt: „Er ist nur wieder die, Ich-bin-dein-Vater-und-so-dankst-du-es-mir?-Schiene gefahren, keine Panik.“
Erleichtert atme ich aus. „Danke, Leute.“
Er schaut mich fragend an und auch Stunt ist verwundert. „Wofür?“, kommt es aus beiden Mündern gleichzeitig. „Einfach für alles.“, antworte ich und schenke ihnen das freundlichste und ehrlichste Lächeln, das ich seit dem Feuer jemals jemandem gezeigt habe.
Stunts Augen weiten sich erstaunt, aber Shane bleibt ernst. Er erkennt die Traurigkeit in meinem noch so fröhlichen Lächeln.
Er drückt meine Schulter und läuft dann zurück ins Haus. Stunt schüttelt sich und wechselt geschickt das Thema. „Also...“
„Also... was?“, hake ich nach.
In seinen Augen fängt es an mächtig zu glitzern, als er sagt: „Zieh das Kleid an.“
Sofort fällt es mir wieder ein. „Ach richtig, die Überraschung...“
Ein wissendes Grinsen breitet sich auf seinen geschwungenen Lippen aus und er zwinkert mir noch zum Abschied zu, bevor er ebenfalls im Haus verschwindet.
Mit der einen Hand am Türgriff stehe ich in meinem Zimmer und bin beinahe soweit, hinauszugehen. Wäre da nicht die Sache, dass ich ein Kleid trage, meine Haare gemacht habe und sogar geschminkt bin.
Hoffen wir, dass es wirklich eine Überraschung gibt und mich Stunt nicht nur ausgetrickst hat, um mich in einem Kleid zu sehen...
Tief einatmend, öffne ich die Tür nach draußen in den Flur und wer steht davor und wartet bereits?
Stunt, natürlich. Wie jeder hier, trägt er eine schwarze Lederjacke und Boots. Aber etwas ist anders an ihm.
Das weiße Hemd irritiert mich, genau wie die gestylten Haare. Ich muss zugeben, er sieht wirklich sehr gut aus.
In dem Moment, wo er mich sieht, klappt ihm der Mund auf und ich kann mir kein triumphierendes: „Und? Wie findest du mich?“, nicht verkneifen.
„Ich... Ähm.. Ich... Äh...“, stammelt er vor sich hin und findet einfach nicht die richtigen Worte.
Mit einem ordentlichen Hüftschwung drehe ich mich um mich selbst und lasse die grünen Steinchen, die das Kleid besetzen, wie eine Millionen Smaragde funkeln.
Stunt blinzelt schnell, als hoffe er, ich würde verschwinden. Und um ehrlich zu sein, macht es mir sogar großen Spaß, ihn ein wenig zu ärgern.
„Komm schon, lächle.“, schlage ich vor und boxe ihm auf den Oberarm. Seine Mundwinkel zucken leicht, aber er bekommt kein ordentliches Lächeln zustande.
„Also, wo ist denn diese Überraschung, wenn ich fragen darf?“
Er antwortet nicht.
Empört, sage ich etwas lauter und mit Nachdruck: „Hallo, konzentriere dich mal!“
Endlich rührt er sich ein Bisschen, aber noch scheint etwas benebelt zu sein.
So toll sehe ich jetzt auch wieder nicht aus!
Dann bietet er mir seinen Arm und ich hake mich bei ihm ein. Zusammen laufen wir den Flur entlang, am Wohnzimmer vorbei. Dort essen einige Krieger, die bei meinem Anblick ihr Besteck fallen lassen.
Kurz bevor wie die geschlossene Haustür erreichen, hält mir Stunt ein Tuch hin. „Wir wollen ja, dass es eine Überraschung ist.“ Mit diesen Worten bindet er mir die Augen zu und führt mich nach draußen.
Immer lauter werdendes Lachen ertönt und ich kann hören, wie Shane uns zu sich ruft.
Mein Herzschlag beschleunigt sich auf das Doppelte und eine innere Unruhe macht sich in mir breit.
Was könnte das für eine Überraschung sein? Vielleicht führen die Krieger etwas vor, oder ein Showkampf findet statt...
Zu diesem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, wie sehr ich mich getäuscht habe. Stunt bringt mich zu einem Ort, der schon von Weitem eine gewisse Ausstrahlung hat.
Wärme umweht meine Haut und ich bleibe ruckartig stehen. Was ist das?!
„Keine Sorge, Reign. Es wird dir gefallen.“, beruhigt mich Stunt, der immer noch meinen Arm fest hält.
Beim Näherkommen wird die Luft trocken und heiß. Ein kalter Schauer huscht mir über den Rücken und ich kralle mich in Stunts Lederjacke fest.
„Was ist das?“, spreche ich meine Gedanken aus.
Stunt kommt nicht dazu, um zu antworten, da Shane zu uns herüber rennt und: „Wo bleibt ihr denn, es gibt Stockbrot?“, ruft.
Augenblicklich zucke ich zusammen. Shane greift nach meinem Arm und will mich vorwärts ziehen, doch ich reiße mich nur los und werfe die Augenbinde auf die Erde. Mit einem so gewaltigen Schreck, dass ich beinahe aufgekreischt hätte, starre ich in das überdimensionale Lagerfeuer. Sofort schießen mir Tränen in die Augen, so dass sich die verschiedenen Orange- und Rottöne vermischen und zu einem großen Mischmasch werden. Ich spüre Traders misstrauisch und zugleich wissenden Blick auf mir, während ich die Augen nicht von den Flammen abwenden kann...
„Was hat sie?“, will Shane neben mir besorgt wissen.
Stunt sieht mir in die Augen und schnippt in die Finger, aber ich reagiere nicht. Die Schockstarre hat mich völlig in ihren Bann gerissen. „Wüsste ich auch gern.“
Als ich auch noch anfange am ganzen Körper zu zittern, beschließen beide, mich hier weg zu bringen. Der erste Ort, der ihnen einfällt ist der kleine See im Wald, doch Shane meint, er sei zu weit weg und dass ich es nicht schaffen würde, also setzten sie mich vorsichtig auf eine Holzkiste auf der anderen Seite des Hauses, von wo man das Lagerfeuer nicht sehen kann.
Tränen rollen mir über das Gesicht und ich kann nichts machen, dass sie aufhören. Die Gefühle, die der Anblick des Feuers in mir ausgelöst hat, brechen einfach an die Oberfläche.
Stunt zieht seine Jacke aus und leg sie über meine Schultern, doch ich merke nur, wie die Erinnerungen an den Hausbrand meinen ganzen Verstand einnehmen.
„Wieso hab ich nichts getan?...“, murmle ich leise weinend vor mich hin. „Wieso bin ich einfach weggerannt?...“
Shane kniet sich vor mir auf die Erde und tastet meine Stirn ab. „Also Fieber hat sie nicht.“, stellt er fest und sieht zu Stunt, der besorgt meine Hand nimmt.
„Das Feuer muss irgendetwas in ihr ausgelöst haben. Sonst gibt es keine Erklärung dafür.“
Stunt streicht mit dem Daumen über meinen Handrücken und fragt leise: „Wovor bist du weggerannt?“
„Das ist keine gute Idee. Wir sollten sie einfach zur Ruhe kommen lassen.“, erklärt Shane und richtet sich auf.
„Aber es hilft, darüber zu reden.“, widerspricht Stunt und sieht mich eindringlich an. „Du musst darüber reden.“
Meine Hände zittern so sehr und mein Atem geht so schnell, dass ich mir selbst Sorgen deswegen mache.
Wieder rollen mir Tränen über die Wange und ich fange an zu schluchzen. „Wovor bist du weggerannt, Reign?“, wiederholt Stunt und mustert mich neugierig.
Shane dagegen setzt einen leidenden und mitfühlenden Gesichtsausdruck auf, wie ich ihn nur sehr selten an ihm gesehen habe. Aber seit ich hier bin, scheint jeder ein bisschen mitfühlender geworden zu sein. Selbst Stunt, der bei unserer ersten Begegnung noch unmoralisch mit mir geflirtet hat, zeigt Gefühle.
Jetzt, da ich so völlig von den schrecklichen, Angst und Schuld geprägten, Erinnerungen eingenommen bin, kann ich nur weinen und hoffen, dass ich alles vergessen kann.
„Mach das es aufhört... bitte...“, flehe ich und kralle meine Finger in den Stoff von Stunts Hose.
Mein Atem wird so hysterisch, dass es schon Hyperventilation genannt werden kann.
Stunt wirft Shane hilflose Blicke zu, die dieser mit einem leidenden Schulterzucken kontert.
„Bitte... Ich will das es aufhört!“, schluchze ich und sehe keinen Ausweg mehr. Alles bricht auf mir zusammen. Ich habe meine Familie umgebracht! Ich habe meine wahre Liebe in den Flammen zurückgelassen und kann ihn nun nicht wiederfinden!
Ich habe nichts mehr! Es ist alles weg! Ich will es vergessen, neu anfangen können! Oder alles beenden...
„Lass es aufhören...“, bitte ich Stunt noch ein letztes Mal, bevor er mich entschuldigend ansieht. Dann küsst er mich plötzlich.
Der Schreck, den er mir damit verpasst, lindert meine Qualen und ordnet meine Gedanken wieder einigermaßen. Shane staunt nicht schlecht, während er sich ständig nach unerwünsten Zuschauern umsieht.
Durch den Kuss kann ich wieder ruhig atmen, und doch löst Stunt sich erst von mir, als ich mich völlig beruhigt habe.
Mein Herz rast zwar, aber dennoch geht es mir viel besser.
Stunt blickt mir tief in die Augen und sagt mit fester Stimme, um mir zu zeigen, wie überzeugt er selbst von sich ist: „Du wirst deine wahre Liebe finden! Egal wie lange du suchst, denn er wird auf dich warten!“
Diese Worte heilen auch noch den letzten Funken Zweifel in mir und ich kann gar nicht in Worte fassen, wie dankbar ich ihm dafür bin.
Eine dicke schwere Träne rollt mir über die Wange und versucht mir die Hoffnung zu rauben, doch Stunt wischt sie weg, als sei es das einfachste der Welt.
Mit dieser Geste rettet er mich vor der Verzweiflung.
Ich schließe die Augen und lasse mich von diesem wunderbaren Gefühl durchströmen.
Jackson, ich werde dich finden...
Shane setzt sich neben mich und nimmt meine Hand.
„Es tut mir so schrecklich Leid, das mit dem Lagerfeuer war meine Idee, um dich ein wenig aufzuheitern. Aber es hat dir nur unendliche Schmerzen bereitet, entschuldige.“, sagt er tonlos und wirkt dabei so traurig, als wäre er an dem Hausbrand schuld.
Ich drücke leicht seine Hand, um ihm deutlich zu machen, dass ihm verziehen ist.
„Dann lasse ich euch mal kurz allein.“ Mit einem verabschiedenden Lächeln läuft er Richtung Haustür.
Nun ist nur noch Stunt bei mir. Seine dunkelbraunen Augen glühen.
Dann jedoch, kehr das schnippische Grinsen zurück und schenkt mir ein wohlig warmes Gefühl, das sich in meinem Herzen ausbreitet.
„Ich danke dir, Stunt.“ Meine Stimme ist kraftlos und dennoch schallt sie so mächtig, als sei sie aus Stein.
Seine Augen funkeln mich an. „Für den Kuss? Immer wieder gern.“
Ich schüttle lächelnd den Kopf und sage: „Dafür, dass du mein Licht in der Dunkelheit bist.“
„Gern geschehen.“, erwidert er grinsend und hilft mir auf.
Nach ein paar Minuten, des In-die-Augen-Sehens, schleicht sich Shane von der Seite an und reicht mir eine Packung Taschentücher. Lachen nehme ich sie entgegen und drücke das erste Taschentuch gegen mein Gesicht. Bedauernd stelle ich fest, dass sich die gesamte Schminke, die ich aufgetragen habe, nun im Tuch befindet.
„Du siehst hinreißend aus.“, versichert mir Stunt, der meinem Blick gefolgt ist und Shane nickt zustimmend.
„Hast du Angst vor Feuer?“ Direkter hätte Stunt es wohl nicht formulieren können. Shane sieht augenblicklich, mit einem Gemisch aus Sorge und Schrecken, zu ihm.
Ich zucke mit den Schultern und murmle leise: „Vielleicht ist es auch nur eine schlimme Erinnerung...“
„Stunt, ich denke, es ist jetzt an der Zeit, dass sie erfährt, was sie schon seit ihrer ersten Minute hier, wissen wollte.“, erklärt Shane schließlich an Stunt gerichtet.
Meine Augen weiten sich.
Dieser mustert Shane und versucht in seinem Gesicht, Anzeichen für das zu erkennen, wovon er redet.
Hydras Blick huscht zu mir und er erklärt leise: „Wir sollten ihr von Fighter erzählen.“
„Fighter?“, frage ich mit einem ungewohnt hysterischen Ton in der Stimme, der sich leider nicht unterdrücken lässt, und springe auf. Shane nickt. „Ihm gehört das Haus.“
Ein kleiner Schock durchzuckt mich, hindert mich aber nicht daran, gespannt, was nun kommen mag, vor dem hilflos wirkenden Shane zu stehen, der eingehend seine Handflächen mustert.
„Wie kommt es, es mir erst jetzt erzählen zu müssen?“
Ich gebe zu, meine Art hat einen sehr schroffen Geschmack angenommen und auch mein Gesicht, nein, mein komplettes Auftreten, wirkt einschüchternd. Wenn jetzt, in diesem Moment, jemand so vor mir stehen würde, wie ich es gerade bei den beiden tue, wäre ich vermutlich aufgestanden und hätte demjenigen eine verpasst, oder einfach weggegangen, um einen Kampf möglichst aus dem Weg zu gehen.
„Bitte, setzt dich.“ Shane zeigt auf die leere Lücke neben ihm und scheint dabei fast zu flehen.
Das Angebot lehne ich kopfschüttelnd ab und sehe ihm erwartungsvoll in die, durch die Sonnenbrille verdeckten, Augen.
„Also... wieso jetzt?“, wiederhole ich mich mit ein wenig mehr Fassung.
Ein raues Seufzen dröhnt aus seiner Brust und er wechselt einen leidvollen Blick mit Stunt, der schweigend an der Hauswand lehnt.
Schließlich ringt er sich zu einer Antwort durch.
„Deine Angst vor Feuer hat mich an jemanden erinnert.“, fängt er an.
Sofort wirbeln mir wieder die Bilder vom Hausbrand durch den Kopf, doch ich klammere mich an der Tatsache fest, dass diese beiden Männer vor mir, vermutlich mehr über Jackson wissen, als ich anfangs gedacht habe. Vielleicht können sie mir auch sagen, wo und wie ich ihn finde.
„Bevor wir reden, und all die kleinen privaten Dinge über Fighter ausplaudern, müssen wir allerdings noch den Grund wissen, warum er dich so interessiert.“, erklärt Shane und beobachtet meine Reaktion.
Stunt stellt sich gerade hin und versucht mich vor dem Ausrasten zu bewahren, was ihm aber leider nur teilweise gelingt. „Sieh es als Absicherung. Somit können wir hinterher sagen, dass wir einen Grund hatten, es dir zu erzählen. Trader würde uns sonst wegen Verrats am Clan rausschmeißen oder... schlimmeres.“
Ich nicke nur stumm und willige ein.
„Es wäre möglich, dass ich ihn kenne... Damals hatte ich einen besten Freund, nein, nicht nur ein Freund, er war alles für mich. Wir haben so viel Zeit miteinander verbracht, dass ich niemals gedacht hätte, daran könnte sich etwas ändern... Aber das hat es.... Reicht euch das als Grund?“, frage ich an Stunt gewandt, der daraufhin einen skeptischen Blick mit Shane wechselt. Gedankenverloren wische ich mir eine Träne von der Wange, die sich zwischen meinen Augenlidern hindurchgemogelt hat.
Da Shane bereits weiß, dass ich den Verdacht, oder eher die Hoffnung habe, diesen Fighter zu kennen, lächelt er mich nur mitfühlend an.
Stunt nickt nur und Shane beginnt zu erzählen.
„Du musst wissen, ich bin mit ihm aufgewachsen und wir sind sogar recht gute Freunde geworden, aber dennoch hat er mir nie etwas über seine Vergangenheit erzählt. Alles was wir wissen, hat sich in den Jahren so ergeben, oder wir haben es uns so gut wie möglich zusammengewürfelt. Fest steht, Fighter ist ein Rätsel. Und dafür, dass wir in den Jahren, in denen er schon hier ist, eine Art Familie für ihn geworden sind, wissen wir so gut wie überhaupt nichts über ihn. Das ist aber vielleicht auch besser so, denn seit Trader ihn gefunden hat, hat er unglaubliche Albträume und Panikattacken.“ Stunt nickt ihm zustimmend zu, lässt mich aber keine Sekunde aus den Augen.
Mein Kiefer spannt sich automatisch an und ich schließe die Augen, als ich an meine eigenen Panikausbrüche denken muss. Besonders an den am Lagerfeuer vorhin.
Shane merkt, worum sich meine Gedanken drehen und sieht mir direkt in die Augen.
„Aber es ist auch verständlich, er muss schreckliches durchgemacht haben.“
Mit den Händen fahre ich mir durch die Haare, die in Strähnen aus der Haarspange fallen und versuche ruhig zu bleiben. Am liebsten wäre ich jetzt in den Wald gerannt und nie wieder zurückgekommen. Ich will rennen, ich will all das hinter mir lassen, ich will die Erinnerung, einfach für immer beiseite schieben...
Doch es würde nichts ändern...
„Es gibt allerdings etwas, was mir Dad erzählt hat und das weißt nicht einmal du, Stunt.“, er wirft ihm einen entschuldigenden Blick zu. „Mein Vater hat ihn vor neun Jahren aus einem brennenden Haus gerettet.“
Meine Kinnlade klappt herunter und wie auf Kommando fangen meine Hände an zu zittern.
„Er ist es also wirklich...“, hauche ich in den kühlen Windzug. Unsichtbar. Unhörbar. Nur für mich bestimmt.
Fragend sieht Shane mich an. Sein Blick zeigt, dass er nicht weiß, ob ich bereit bin, mehr zu hören, aber ich bin es. Also nicke ich leicht, mit den tränen kämpfend.
Er mustert mich noch einen Moment unsicher, bevor er fortfährt.
„Eines Abends kam Trader von einem Auftrag wieder und sah das Feuer. Es brannte so lichterloh, dass er für einen Moment daran gezweifelt hat, dass überhaupt noch jemand überlebt hatte. Aber dann sah er einen Schatten am Fenster. Er stieg aus und rannte in die Flammen. Er rettete einen kleinen Jungen, nicht älter als zehn. Dennoch wollte er nicht einfach weggehen. Er hat irgendjemanden gesucht und ständig den Namen Shey gerufen. Als mein Vater ihn dann einfach hochnahm und gegen seinen Willen aus dem brennenden Haus trug, schrie der Junge unter Tränen den Namen, aber ihn hatten bereits alle Kräfte verlassen, weshalb er in den Armen meines Vaters einschlief.„
Meine Sicht verschwimmt und ich bemerke etwas zu spät, dass ich weine. Und zwar nicht nur, dass mir ein paar Tränen die Wangen hinunterkullern, sondern schluchzend und bebend. Mein ganzer Körper zittert und ich brauche einfach nur jemanden, der mich in die Arme nimmt. Stunt ist natürlich sofort da.
Seine starken Arme halten mich und geben mir Kraft, gegen den dicken Kloß in meinem Hals anzukämpfen.
Shane schenkt mir nur ein wissendes Lächeln.
Er ahnt, was ich ihm Begriff bin zu sagen, oder eher zuzugeben. Es fällt mir zwar wahnsinnig schwer, aber ich muss es einfach loswerden. Die ganzen Geheimnisse, die ich vor ihnen habe, bringen mich sonst um...
Vorsichtig löse ich mich aus Stunts sicheren Armen und sage mit fester und bestimmter Stimme:
„Dieses Mädchen, Shey... bin ich.„
„Das Feuer war meine Schuld. Ich habe nicht aufgepasst und eine brennende Kerze fallengelassen.“
Langsam atme ich ein und unterdrücke die sich erneut bildenden Tränen in meinen Augen.
Shane legt seine Hand zärtlich auf meine und Stunt, der mich wieder in die Arme genommen hat, verstärkt den Griff.
Ich erzähle ihnen alles, woran ich mich noch erinnern kann, die brennende Tür, die glühende Klinke, das Fenster, aus dem ich sprang.
„... Aber das Schlimmste ist, ich bin einfach weggerannt. Ich habe meine Familie in diesem Feuer sterben lassen. Habe ihre Schreie gehört, ihre Schmerzen gefühlt, könnte mich aber nicht dazu aufrappeln, sie zu retten.
Ich habe mich nicht einmal umgedreht. Mein Blick war starr nach vor gerichtet, während sie verbrannten oder im Rauch der Flammen langsam erstickten.“
Dieses Geständnis fällt mir so verdammt schwer, dass ich den Blick auf den Boden senke und mich frage, wann Stunt mich wohl verächtlich loslassen wird, oder wann Shane beschließt, zu seinem Vater zu gehen und um meinen Rausschmiss zu bitten. Doch dergleichen passiert nichts. Wir schweigen nur lange. Sehr lange.
Plötzlich springt Stunt auf und schreit mich an. „Wie kannst du nur denken, du hättest sie retten können?!“
Ich zucke zusammen und Shane redet beruhigend auf ihn ein. Aber Stunt ist nicht zu stoppen.
„Ein achtjähriges Mädchen! Spinnst du?! Bist du wirklich der Meinung, du hättest etwas tun können?! Nicht einmal ich könnte es? Jeder hätte so reagiert! Niemand hätte sein eigenes Leben riskiert, und wäre wieder in das Haus gegangen! Hör auf zu glauben, du wärst Schuld!“
„Ich-“, setzte ich geschockt an, doch er unterbricht mich.
„Nein! Sag nichts! Lass es einfach, Reign! Hör auf... Das bringt nichts... Wenn jeder so denken würde wie du, dann wäre man an allem Schuld...“
In diesem Moment, weiß ich genau, woran er denkt.
An Lora, seine tote Freundin.
„Man kann nicht jeden retten...“, erklärt Shane und senkt ebenfalls den Blick. „Wir haben alle jemanden verloren, doch das Leben geht weiter. Man muss nur den Weg finden, auf dem es sich am leichtesten leben lässt. Und diesen Weg darf man dann nicht wieder verlassen.“
***
Die darauffolgenden Tage vergehen schnell. Stunt hat mir beigebracht, wie eine richtige Kriegerin zu kämpfen und auch das Schießen fällt mir unter Aufsicht nun richtig leicht. Stunt behält Recht, Wut macht einen stark. Und genau deswegen ist er auch während des Trainings besonders gemein zu mir.
Shane hat mir gezeigt, dass auch ich,„die unsportlichste Person, die er jemals kennengelernt hat“ (seine Worte) schneller als ein Tennisball aus der Maschine sein kann. Die blauen Flecken, beweisen, dass ich allerdings einige Anläufe gebraucht habe.
Trader hat sich meine Fortschritte aus sicherer Entfernung angesehen und ein Urteil gefällt. Anscheinend hat ihm gefallen, was er sah, denn:
Ich darf mich freuen, ab jetzt bin ich eine Shadow.
Wie die anderen, trage auch ich nun eine schwarze Lederjacke und Boots, die mir wohlgemerkt viel zu groß sind. Nach knapp einem Monat bin ich endlich ein vollwertiges Mitglied des Clans und werde auch so behandelt. Die Krieger, mit denen ich mich offen gesagt, schon ein bisschen angefreundet habe, winken mir nun zu, wenn sie mich sehen und wir reden sogar ab und zu miteinander.
Ein gewaltiger Fortschritt, wenn man bedenkt, dass sie meinen Blicken anfangs immer ausgewichen sind.
Einem Gespräch unter vier Augen mit Trader bin ich in letzter Zeit eher aus dem Weg gegangen. Ich will nicht unbedingt, dass er sofort mitkriegt, wie ich zu Fighter stehe. Und auch Shane und Stunt haben, wie gehofft, die Klappe gehalten. Die Tage verfliegen förmlich, aber jetzt da alles so schnell geht, rückt auch der Moment immer näher, in dem ich Jackson wiedersehen werden.
Shane hat mir erzählt, dass Fighters Auftrag ungefähr einen Monat dauern würde. Bei meiner Ankunft, war er bereits eine Woche weg plus die drei Wochen, die ich schon hier bin und man erhält einen Monat. Jetzt ist es nur noch eine Frage der Zeit, wann ich ihm das erste Mal nach neun Jahren begegnen werde...
Aber jetzt wieder in die Realität.
Heute Morgen hat mich Shane aus dem Bett gerüttelt und völlig aus dem Häuschen gesagt, dass er eine Überraschung für mich hätte. Bei diesen Worten bin ich eher skeptisch und erwarte nicht zu viel, aber als er dann noch hinzufügte, dass es um Fighter ginge, konnte ich meine Neugierde nicht unterdrücken.
Jetzt steige ich gerade die verstaubte ausklappbare Dachbodentreppe nach oben. Hier war bestimmt seit dreißig Jahren niemand mehr.
„Phu!“, mache ich, als mir eine riesige Staubwolke entgegenschwebt.
„Alles klar, da oben?“, erkundigt sich Shane, der die Treppe festhält.
„J-Ja“, huste ich und kommen einen Moment aus dem Gleichgewicht, fange mich aber dann wieder.
„Sieht man!“, ruft mir eine zweite Stimme von unten zu. Stunt.
„Kommst du auch hoch, Alter?“, fragt er kurz Shane und klettert mir nach.
„Irgendwer muss ja Wache schieben.“
Auf dem Dachboden ist es staubig und voller Spinnweben, die sich sofort in meinen Haaren verirren. Außer der Schmutzigkeit, ist der Dachboden außerdem sehr eng.
Stunt stößt sich den Kopf, als er aus der kleinen Luke im Boden steigt und sich neben mich stellen will.
Ein kleines Kichern kann ich mir nicht verkneifen, weswegen er mir eine handvoll Dreck zu wirft und ich es direkt ins Gesicht kriege. Mit einem lauten Husten, bedanke ich mich und sehe mich beleidigt um.
Er schmunzelt und kommt auf mich zu. „Ich bin doch kein Unmensch, komm her.“
Ich sehe unschuldig an und er wischt mir den Dreck mit seinem Ärmel aus dem Gesicht. Sein Blick bleibt in meinen Haaren hängen und ich erstarre. Dann grinst er nur schadenfroh und erklärt: „Da ist eine dicke haarige Spinne.“
„Pff! Solange es nur eine Spinne ist.“, spotte ich und suche sie auf meinem Kopf. Mit dieser gleichgültigen Reaktion hat er wohl nicht gerechnet, denn er runzelt die Stirn. „Könntest du bitte...“, deute ich an und zeige auf meine Haare. Stunt grinst breit und flüstert direkt vor meinem Gesicht: „Kleiner Scherz.“
Dafür sollte er jetzt eine Ohrfeige ernten, aber ich lache nur laut auf. Sofort legt er mir den Zeigefinger auf die Lippen und haucht ganz leise: „Uns darf doch keiner hören...“
Seine Augen mustern mein Gesicht, als sei ich ein unbezahlbares Gemälde, was mich um ehrlich zu sein ein kleines bisschen nervös macht.
Einen winzigen Moment lang glaube ich, Begierde in seinen Augen aufblitzen zu sehen, doch dieser Funke verschwindet sofort wieder, als er seinen Finger von meinen Lippen löst und die Wärme durch einsame Kälte ersetzt wird.
Mit einem Lächeln, das zum Teil aus Verlegenheit aber auch aus Schuld besteht, drehe ich mich um.
Hinter mir kann ich ein Seufzen hören und dann ein freudiges: „Ich glaub hier ist sie!“
„Pscht!“, schnauze ich ihn an, will aber unbedingt wissen, was er gefunden hat.
„Ist sie klein und hat einen Schriftzug darauf?“, fragt Shane von unten, der Stunts kleinen Freudenschrei gehört haben muss. „Ja, genau!“
Zusammen, wobei ich keine große Hilfe bin, tragen wir die Kiste die wackelige Leiter herunter und bringen sie in mein Zimmer.
Es laufen uns ein paar Krieger entgegen, die unsere dreckige Visage nur mit einem breiten Grinsen kommentieren und schnellen Schrittes weitergehen, als hätten sie uns nie gesehen. Ich möchte nicht wissen, wonach wir gerade aussehen, oder viel mehr, was man denken könnte, was mir gemacht haben... zu zweit an einem dreckigen geheimen Ort.
Bei diesem Gedanken läuft es mir heiß den Rücken runter.
In meinem Zimmer, schließen wir die Tür und Shane zeigt uns stolz, was er da schönes entdeckt hat.
Zumal man erwähnen sollte, dass auf der Kiste in dicken Großbuchstaben der Name Shey geschrieben steht. Mein Name.
Mit immer größer werdenden Augen, sehe ich Shane zu, wie er Stapel von Fotos, kleine Holzgegenstände und Steine aus der Kiste nimmt und sie vorsichtig, als könnten sie jederzeit zu Staub zerfallen, auf mein Bett legt.
„Bist du das?“, fragt Stunt schmunzelnd und hält mir eines der Fotos unter die Nase, auf dem ich völlig nackt im Fluss bade. Ich ziehe die linke Augenbraue nach oben und antworte ebenfalls nicht unbelustigt: „Ja, mit sechs Jahren.“
Shane späht auf das Bild und kichert leise, doch ich beachte ihn nicht weiter, denn auf einmal ist der Inhalt der Kiste viel interessanter.
Jedes Teil, sei es auch nur ein winziger Stein, sendet Erinnerungen in meinen Kopf. Zum Beispiel sehe ich ein Foto, auf dem ich und Jackson in unserem Geheimnisort sitzen und die Hände vor die Gesichter halten, damit uns niemand erkennt.
Dann gibt es auch noch Fotos, die zeigen, wie viel Spaß wir damals hatten, weil wir herumhüpfen oder uns über die Wieso kullern lassen.
Als Stunt sieht, wie ich auf das Bild mit der Wiese starrt, winkt er Shane zu sich und sagt, auf das Bild zeigend: „Hast du Fighter jemals so erlebt?“ Die Frage ist bedrückt und auch irgendwie bedauernd. Shane schüttelt den Kopf. „Nein, so ist er noch nie gewesen.“
Erschüttert klatsche ich das Foto auf meinen Nachttisch und strafe beide mit giftigen Blicken. „Er kann sich doch nicht so sehr verändert haben.“
Beinahe hätte ich noch ein: Oder doch?, hinzugefügt, lasse es aber lieber.
Shane blickt mir in die Augen und fragt: „Weißt du was
eine Posttraumatische Belastungsstörung ist?“
Auf der Stelle zucke ich zusammen.
Natürlich weiß ich das!
Langsam nicke ich, wissen, was auf mich zukommen wird. Stunt lehnt sich an den Türrahmen und mustert mich eindringlich, sagt aber nichts.
„Weißt du auch, wie sich das äußert?“, hakt Shane nach und sucht meinen Blick. Wieder nur ein Nicken von mir.
„Man hat traumatische Erinnerungen, wie Flashbacks und Albträume. Diese sind, wie das ursprüngliche Erlebnis, mit Panik, emotionalem Chaos und heftigen Emotionen verbunden. Eine Posttraumatische Störung ist eine Stressverarbeitungsstörung.“, versucht uns Shane mit seinem äußert ausgeprägtem medizinischen Fachwissen verständlich zu machen.
„Du meinst, wie bei Soldaten, die aus dem Krieg wiederkommen?“, fragt Stunt, der offensichtliches Interesse für dieses Thema zeigt.
Shane nickt. „Ich denke, Fighter hat in diesem Hausbrand, etwas so schreckliches erlebt, dass er jetzt für immer darunter leidet.“
Mir läuft ein kalter Schauer den Rücken hinunter, wenn ich daran denke, dass aus dem fröhlichen, immer gut gelaunten, lachenden Jackson, ein mürrischer kaltherziger Mensch geworden ist, der einem gleich an die Kehle geht, sobald man ihn etwas über seine Vergangenheit fragt.
Mich schüttelnd, vertreibe ich den Gedanken wieder und folge bemüht dem Gespräch, das wir gerade führen.
„Du denkst also, er könnte nie wieder der Alte werden?“, will ich wissen und Shane zuckt mit den Schultern.
Wie unbefriedigend!
„Na ja, mit der richtigen Therapie ist alles möglich...“ Er setzt ein optimistisches Grinsen auf, das in seinem Gesicht etwas falsch am Platz wirkt, aber trotzdem seinen gewissen Charme unterstreicht. Seine sonst so ernste und leidvolle Miene nun mit einem Grinsen zu sehen, selbst wenn es nicht echt ist, lässt mein Herz schmelzen. Genau wie in dem Moment, wo er das erste Mal gelacht hat. Diese strahlenden silbernen Augen und das Lächeln eines Engels. So sollte er für immer eingerahmt werden.
„Aber ohne Therapie könnte er doch auch-“, fange ich an, doch er unterbricht mich mit einem Kopfschütteln.
„Nein, Reign. Die Wahrscheinlichkeit, dass es jetzt auf einmal besser wird, nach neun Jahren, ist so gering, fast gleich null.“
Enttäuscht, nein, vollkommen verzweifelt, lasse ich mich auf mein Bett fallen. Frustriert kralle ich mich in die Kissen und verstecke mein Gesicht und meine Augen, die sich mit Tränen füllen. Stunt setzt sich neben mich und legt mir seine Hand auf den Rücken.
Es fühlt sich so gut an, ihn einfach bei mir zu haben. Ohne ein Wort zu wechseln, aber trotzdem spüren wir beide, wie wichtig die Anwesenheit des anderen ist.
„Fighter hat so jemanden wie dich gar nicht verdient...“, höre ich seine Stimme ganz leise flüsternd durch die Federkissen dringen.
Widerwillig hebe ich meinen Kopf und sehe in seine dunkelgoldenen Augen, die so liebevoll auf mich herabblicken, dass mir kurz schwindelig wird, weswegen ich ihn wieder in die Kissen drücke.
War das gerade ein Liebesgeständnis?
Nein, das kann nicht sein. Viel zu offensichtlich!
Denk nicht an so etwas dämliches, Shey!, keife ich mich selbst innerlich an.
Shane ist so ruhig, dass ich mich frage, ober er einfach weggegangen ist und uns allein gelassen hat, wie es schon öfter der Fall gewesen ist.
Vorsichtig schmumle ich zwischen ein paar Kissen hindurch und entdecke ihn in der einen Zimmerecke, wie er Stunt gerade strafende Blicke zu wirft. Er
beobachtet uns aus Adleraugen.
Anscheinend möchte er seinen Freund vor dem wütenden Trader bewahren, der ihn rausschmeißen oder sogar umbringen könnte, wenn er das hier rauskriegt... Halt, warte mal! Habe ich gerade zugegeben, dass da etwas zwischen uns ist?! Das kann doch nicht wahr sein, Shey!
Meine Gedanken schwirren völlig wild in meinem Kopf herum. Ohne Kontrolle zeigen sie mir Bilder von Stunt, wie er mich im Arm hält, oder mich angrinst. Und es taucht die Erinnerung auf, als er mich aus der Panikattacke gerettet hat. Mit einem Kuss, der so lange gedauert hat, wie ich zum Ruhigwerden gebraucht habe.
Immer noch spüre ich seine weichen vollen Lippen auf meinen, wie sie zärtlich und trotzdem eindringlich meinen Atem in Ordnung bringen.
Ich kann mich an mein Herzrasen in diesem Moment erinnern und auch, wie er mich danach angesehen hat. Dieser liebevolle und besorgte Schimmer in seinen nur zu schönen dunklen Augen.
Auch jetzt wird mein Puls schneller, wenn ich daran zurückdenke, also schüttle ich schnell den Kopf, springe auf und verlasse eilig den Raum.
Verdattert, was ich denn jetzt schon wieder vor habe, blinzelt Shane schnell, aber Stunt ist derjenige, der mir folgt. Ich kann seine Schritte hinter mir hören und bleibe ruckartig stehen. Mitten im Flur. Wieso geht er mir nach? Wieso kann ich nicht für einen Moment, ohne ihn sein?!
Ich drehe mich um und sehe direkt in braune wunderschöne, mit dunklen Wimpern umrahmte Augen, die mir entgegenglitzern, wie Bernstein.
Mein Atem beschleunigt sich erneut, da er so nah bei mir steht, dass ich seinen auf meinem Gesicht spüren kann. Ich schließe die Augen und atme den süßen und zugleich herben Duft ein. Eine Wärme streichelt meine Wange. Es ist keine wirkliche Berührung, sondern mehr der Hauch einer Zärtlichkeit, die zeigt, wie nah wir uns nach diesen wenigen Wochen schon sind. Wir sich das ändern, wenn Jacks in ein paar Tagen hier auftaucht? Wird für uns zwei überhaupt noch Zeit bleiben, wenn ich nur noch in der Lage bin, an Jackson zu denken?
Sorge breitet sich in mir aus und ich öffne die Augen, während Stunts Hand noch immer ganz nah an meiner Wange liegt, mich aber nicht wirklich berührt. Er muss es in meinem Blick gelesen haben, denn einen Moment später sind wir in einen leidenschaftlichen Kuss vertieft.
Er hält mein Gesicht in seinen großen beschützenden Händen, während sein Körper an mich gepresst ist. Heiße Lippen spielen mit mir und die warmen Hände gleiten über meine Schultern und drücken mich stärker an ihn. Ich fühle mich so klein und zerbrechlich. Meine Arme um seinen Hals geschlungen, kralle ich mich mich an ihm fest und bin nicht bereit ihn wieder gehen zu lassen. Die Gefühle, die ich gerade verspüre sind ein Gemisch aus Trauer, Verzweiflung, Glück und Lust.
Was ist so schwer daran, nur einen Mann zu lieben?! Warum müssen es denn gleich zwei sein?!, schreie ich innerlich. Stunts Körper fühlt sich so unglaublich gut an, wie er sich an mich schmiegt und die kalte Einsamkeit verscheucht, die sich nach neun Jahren in mir angestaut hat. Heiße und kalte Schauer jagen durch mich hindurch und ich spüre die Wand an meinem Rücken. Er drückt mich an sich und vertieft den Kuss. Seine eine Hand an meinem Rücken und die andere in meinem Haar. Wirklich, es ist nicht zu beschreiben, was ich jetzt fühle.
Draußen kann man ein Auto anfahren hören. Dann, wie die Krieger laut durch die Gegend brüllen. Dieses Geräusch, lässt mich erstarren und für einen Augenblick erwache ich aus dieser Extase und löse meinen Mund von Stunts. Auch dieser hat das Auto gehört und sieht mich jetzt mit tief traurigen Augen an. „Ich dachte, wir hätten mehr Zeit...“, flüstert er und von hinten nähern sich Schritte. Als ich an Stunts breiten Schultern vorbeischaue, sehe ich Shane, der mich besorgt mustert.
„Was ist denn los?“, will ich mit kratziger Stimme irritiert wissen. Noch immer leicht neben der Spur. Doch Shane antwortet bloß: „Es wäre besser, wenn du ihm noch nichts über dich erzählst. Das könnte sonst in einer Katastrophe enden.“ Bei diesen Worten werde ich sofort ernst und renne aus dem Haus. So schnell ich kann.
In meinem Gehirn duellieren sich zwei Gedanken:
Jackson, ich habe dich gefunden!
Und: Bitte lass Shane sich irren, und du bist normal!
Die Haustür schwingt auf, und ich springe die Eingangstreppe hinunter.
Augenblicklich kann ich das Lachen der Krieger ausmachen und ich sehe mich suchend um.
Und da steht er...
Umzingelt von Clanmitgliedern, steht er an einem Auto und fährt sich lässig durch die kurzgeschorenen Haare.
Ich ertappe mich dabei, wie ich erleichtert ausatme und ein strahlendes Lächeln im Gesicht habe. Auch wenn er sich verändert hat, erkenne ich meinen Jackson in ihm. Seine Wangenknochen, die Art, wie seine Schultern in den Rücken übergehen und wie er sich bewegt.
All das erinnert mich, beweist mir, dass dieser Mann Jackson ist.
Plötzlich ertönt ein ohrenbetäubender Knall und reißt mich aus den Gedanken. Jeder duckt sich, außer ich natürlich.Wie dämlich muss man auch sein!
Noch ein Knall und ich sehe, wie etwas sehr knapp in die Holzplatte schießt. Scheiße!, fluche ich und will mich irgendwohin verziehen, um außer Reichweite zu sein.
Aber da ertönt auch schon der nächste Schuss und ich spüre einen so starken Schmerz, dass ich beinahe auf der Stelle ohnmächtig geworden wäre.
Dann noch ein Schuss und noch einer.
Worin die ganzen Kugeln landen, erkenne ich erst, als meine Sicht sich schärft und ein dunkler Schatten vor mir sichtbar wird. Jemand hat sich als Schild vor mich gestellt und fängt jetzt jede weitere Kugel ab.
Auf einmal hört das Schießen auf und die Person vor mir fällt auf die Knie. Einen kurzen Moment, stockt mein Atem. Wer hat sich da vor mich gestellt, und sich somit geopfert?
Stunt kommt von der Seite angerannt und lässt sich neben mich rutschen. Meine Hände sind voller Blut. Erst jetzt bemerke ich, dass auch ich getroffen wurde. Zwar nur in die Schulter und es sieht für mich wie ein glatter Durchschuss aus, aber brennen tut es trotzdem höllisch und ich muss stark mit dem Blutverlust kämpfen.
„Reign! Geht's dir gut?!“ Er rüttelt mich, um mich bei Bewusstsein zu halten. Die anderen Krieger, die bis gerade noch am Wagen standen, sind jetzt überall verteilt und verfolgen den Schützen, von dem ich sicher bin, dass es Shooter gewesen sein muss.
Ein paar der Krieger, kommen zu uns gerannt und knien sich neben meinen Retter. Stunt beugt sich vor, um mich hochzunehmen, doch ich protestiere. Kriechend bewege ich mich über das Gras zu meinem Retter. Oh nein!
Als ich erkenne wer es ist, bleibt mir fast das Herz stehen. „Shane!“
Bei dieser Erkenntnis bin ich wieder hell wach und da.
Ich nehme seine Hand und drücke sie so fest, weil ich Angst habe, dass er mir entgleiten könnte und eine Reise durch den Tunnel in das helle Licht macht.
„Es geht mir gut. Nur ein Streifsch-“ Mit diesen Worten verliert er das Bewusstsein.
Ich rüttle ihn hysterisch am Arm und Tränen fließen mir über das Gesicht. „Nein, komm schon! Bleib wach!“
Auf einmal höre ich Traders Stimme, die zu uns herüberdringt und sofort abrupt abbricht, als er mein verheultes Gesicht sieht und dann seinen Sohn, der halb tot im Gras liegt. Fast maschinell befiehlt er, sie sollen doch eine Trage holen und ihn ins Krankenzimmer bringen.
Als das getan ist, wirft er mir ein mörderischen Blick zu und knurrt unsagbar aufgebracht: „Wenn er stirbt, dann bist du die Nächste.“
Stunt zerrt mich von der Stelle, wo bis gerade noch der verblutende Shane lag und flüstert mir beruhigende Worte ins Ohr. Doch all das hilft nichts, denn ich bin jetzt schuld, dass noch jemand vielleicht stirbt.
Und mit dieser Qual komme ich nicht klar. Ganz und gar nicht. Nicht noch einmal.
Mein Blick schweift glasig umher. Gefüllt mit Trauer, Verzweiflung und unendlichem Leid. Meine Augen bleiben an einer Person haften, die mir direkt in meine sieht. Als sich unsere Blicke treffen, explodiert die Luft zwischen uns. Eine Art Schock durchzuckt mich und ich weiß sofort, dass es Jackson ist.
Nur ist er so kalt, dass ich glaube, sogar Bedauern in seinem Blick zu erkennen. Bedauern, für meine Tränen.
Jackson sieht mich zwar an, nur dass er irgendwie nicht anwesend zu sein scheint. Alles was ich in seinen viel zu schwarzen Augen erkennen kann, ist Leere und Dunkelheit.
All das, was ich niemals in irgendwelchen Augen sehen wollte. Und ganz besonders nicht in seinen.
- ENDE -
Tag der Veröffentlichung: 27.01.2017
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