© Sina Katzlach
© H.N.Parder
© Jenna Killby
© Shadow Light Peppenbach
Hrsg.:
Sina Katzlach
94447 Plattling/Niederbayern
Kontakt:
Oslinfjorder.Kurier@gmail.com
ebook:
ISBN: 978-3-7368-9074-9
erhältlich bei BookRix, Amazon etc.
Taschenbuch:
ISBN: 978-1-5118-3272-4
erhältlich bei Amazon für 11,56 Euro
Das Mord-Projekt
Band eins: Rosenrot
Psycho-Thriller/Krimi
© Sina Katzlach and Authors
***
Gewidmet
der Ignoranz
der Gleichgültigkeit
der Heilen Welt
die es nicht gibt
gewidmet
der Inakzeptanz
der Intoleranz
gewidmet:
Dir, Mensch!
und Mir
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XXL Leseprobe: Das Mord-Projekt eins
Vorwort
Ein Gesicht in der Menge
Von Strohwitwern und Rosen
Fahrt in den Tod
Bittere Wahrheit
"Toter Hund"
Fahrerflucht
Maja und Marco
Tod eines Kronzeugen
Tanz der Erinnerung
Rosenrot
Rendezvous mit dem Tod
Eine andere Perspektive
Unter Verdacht
Das Rosenzimmer
Autoren-Verzeichnis
Die Story eines Projekts
Es könnte überall sein. Frank Mittnachts Irgendwo ist eine fiktive Kreisstadt im Allgäu und Ausgangspunkt tragischer Geschehen, die nicht nur sein Schicksal bestimmen. Nach dem Verlust seiner Familie ist der Kommissar und Teamleiter der Kripo Großdummsdorf nicht mehr er selbst. Seltsame Träume erzählen ihm eine Geschichte, die er nicht versteht, und plötzlich ist ein Killer hinter ihm her.
Eines Tages wird ein junger Mann von seiner Freundin gefunden - ermordet. Frank steht neben sich selbst und vor der Frage: "Bin ich der Täter?"
Zugleich findet der Witwer in den Armen einer jungen Frau neues Glück, doch dann trifft ihn die Faust der Vorhersehung mit aller Macht. Das Geschehen gipfelt in einer Tragödie, und er steht einmal mehr vor seinem Henker.
Doch das ist erst der Anfang!
Er wurde keines Blickes gewürdigt, wie er da saß. Es gab nichts an ihm, an was sich ein Auge festhalten konnte, sein Antlitz war nur ein weiteres Gesicht in der Menge.
Rings um seine Bank flanierten Familien mit ihren Kindern im besten Sonntagsgewand. Die Kirche war soeben zu Ende, und nun wollten viele nach Hause, in die Eisdiele oder ins nächste Gasthaus, um ihr spießbürgerliches Leben vor aller Augen zu präsentieren. Wie er es hasste!
Der Mann lehnte sich zurück und schmiegte seinen Rücken gegen die Rinde des Baumstamms hinter seiner Bank ohne Lehne. Mit verschränkten Armen versenkte er sich in die Atmosphäre des Zentrums aller Übel, der Langeweile des Alltags, dem Streben nach Wohlstand und Macht, der Gleichgültigkeit der Menge gegenüber der Welt und was darin geschah.
Und doch war er einer von ihnen: Jeden Tag ging er zur Arbeit, und er liebte seinen Beruf. Er war einer der Guten, zumindest dachten jene dies von ihm, die ihn besser als Andere kannten. Es gab nicht viele davon, und die Meisten seiner Freunde waren seine Kollegen. So wie er waren sie für die vielen Verbrechen zuständig, die täglich geschahen.
Frank Mittnacht erhob sich und reckte seinen Körper zu voller Größe. Auf der gegenüberliegenden Seite des Marktplatzrondells sah er ein junges Paar, engumschlungen, wie es auf den ersten Blick schien. Ein rührendes Bild, doch dann sah er noch einmal hin. Der Junge drückte das Mädchen mit voller Körperkraft gegen einen Laternenpfahl und zwängte seine Hand mit Gewalt unter ihren kurzen Rock. Einige Passanten sahen geflissentlich in eine andere Richtung und beschleunigten ihre Schritte, um der Situation so schnell wie möglich entkommen zu können.
Der Mann überquerte den Platz und begab sich zu ihnen. Angsterfüllte Augen sahen ihn an, doch ihre Lippen wurden vom Mund des jungen Mannes versiegelt. Er legte einen Arm schraubstockartig um den Hals des Jungen und zog ihn mit sanfter Gewalt weg. „Ich glaube, die junge Dame möchte das nicht“, sagte Frank mit ruhiger Stimme.
„Verpiss dich, du Penner“, zischte ihn die Stimme des Jünglings an, von dem er annahm, dass er den Windeln noch nicht lange entwachsen war.
Frank übte noch einmal etwas Druck auf seinen Arm aus, um den Jungen ganz von dem Mädchen wegzuziehen. Die Kleine löste sich von der Laterne und gab Fersengeld. Zwei Minuten später war sie auch schon verschwunden. Doch mit seinem Opfer war Kommissar Mittnacht noch lange nicht fertig. Mit rotem Gesicht und erstaunten Augen lag der Junge fünf Minuten später am Boden. Wutschnaubend stieß er die Worte hervor: „Das wirst du mir büßen.“
Frank drehte sich nur um und ließ ihn ungerührt liegen. Der Bursche hatte seine verdiente Abreibung bekommen!
***
Eine Woche später schien die Sonne von einem wolkenlosen Himmel. In der Fußgängerzone war die Hölle los. Offenbar war ganz Großdummsdorf auf den Beinen.
Kommissar Mittnacht befand sich nach der Arbeit auf seinem Heimweg. Normalerweise begab er sich nach Feierabend zügig nach Hause, doch heute eilte es nicht. Niemand erwartete ihn. Seine Frau war mit den beiden Kindern zu ihren Eltern aufs Land gefahren. Kleindummsdorf, wo diese wohnten, war fünfzig Kilometer entfernt und zählte noch zum Regionalkreis Großdummsdorf.
Die Kreisstadt selbst hatte nicht ganz vierzigtausend Einwohner ohne Eingemeinden. Rechnete man die kleinen Vororte außerhalb hinzu, kam man auf weitere achtzehntausend. Vom Stadtkern aus verlief das Straßennetz aus der Vogelperspektive gesehen fast wie ein Achteck in alle Himmelsrichtungen. Die Stadt verfügte über drei Zufahrtsstraßen in die Nachbarstädte und eine weitere zur nächsten Bundesstraße, die wiederum eine Anbindung an die Autobahn Richtung Memmingen war. Diese Zufahrtsstraße begann am Memminger Ring, einem großen Rondell.
Wie in den meisten anderen Städten auch war ein großer Marktplatz mit einer großflächigen Geschäftszone über mehrere Straßenzüge hinweg der Mittelpunkt von Großdummsdorf. In der Mitte des gepflasterten Platzes stand eine mindestens dreihundert Jahre alte Linde, die zugleich Namensgeberin einer benachbarten Wirtschaft war.
Der Baum bildete das Zentrum einer rundläufigen Bank ohne Lehne, die oft genug Frank Mittnachts Ruheplatz und Beobachtungsposten war, wenn er durch die Stadt streifte wie ein einsamer Wolf.
Seine Arbeitsstelle war das Polizeipräsidium der Stadt. Frank Mittnacht war Beamter im gehobenen Dienst und Vorgesetzter des hiesigen Polizeiapparats. Sein täglicher Arbeitsweg führte ihn aufgrund Parkplatzmangels regelmäßig über den Marktplatz.
Während er wie immer durch die Fußgängerzone schlenderte, erwiderte er den Gruß seines Nachbarn Andreas Berger und wechselte ein paar unverbindliche Worte mit ihm. Sein Blick blieb am Schaufenster des Elektromarktes hängen, und er überlegte. Tom - sein Sohn - lag ihm schon seit Wochen mit einer neuen Spielekonsole in den Ohren.
Frank beschloss, sich in dem Markt beraten zu lassen und trat durch die automatisierte, breite Flügeltür in die klimatisierten Geschäftsräume.
Nach einem ausführlichen Verkaufsgespräch stand er auch schon wieder mit einer großen Plastiktüte und dem neuesten Trend darin in der spätnachmittaglichen Sommersonne. Direkt gegenüber befand sich ein Eiscafé. Eine lange Schlange hatte sich vor dem Straßenschalter gebildet. Es waren hauptsächlich Familien, doch die waren es nicht, die Franks Aufmerksamkeit auf sich zogen.
Eine Gruppe Jugendlicher stand tuschelnd ein paar Meter entfernt an einem Hauseck. Mit aggressivem Gebaren gestikulierten die drei Halbstarken in Richtung einer dunkelhäutigen Frau mit einem Mädchen im Kindergartenalter an ihrer Hand.
Gemütlich ging er auf die andere Straßenseite und stellte sich ebenfalls in der Schlange an der Eisdiele an. Mit geheucheltem Desinteresse und die Augen hinter seiner Sonnenbrille verborgen, behielt er die Gruppe im Auge.
Schließlich war die junge Mutter die Nächste am Schalter und bestellte zwei Waffeleis. Kurz darauf zog das kleine Mädchen energisch an der Hand der Frau und strebte quengelnd in Richtung eines Spielwarenladens zwei Häuser weiter. Sie mussten unweigerlich an den Jungen vorbei.
Genau darauf schienen die drei gewartet zu haben. Kaum war das Mutter-Tochter-Gespann mit ihnen auf einer Höhe, trat einer der Halbstarken aus der Gruppe heraus. Er zog das Mädchen zur Seite und hielt es fest. Die anderen beiden nahmen die Mutter mit roher Gewalt in die Zange.
Der Junge, welcher das schreiende Mädchen an der Hand hielt, packte es fest am Arm und verlangte mit barscher Stimme Geld von der Frau. Mit zitternden Fingern kramte sie in ihrer Tasche.
Frank machte einen Schritt auf die Gruppe zu und räusperte sich. „Lasst gefälligst die Frau und das Mädchen in Ruhe!“, fuhr er die drei Jungs in schwarzer Lederkluft an.
„Was willst du Opa denn?“, schnauzte einer von ihnen pampig zurück. Er hatte eine kurzgeschorene Igelfrisur, sein Gesicht war über und über gepierct. Es kam ihm bekannt vor. Hatte er das Pickelgesicht nicht letzte Woche schon am Wickel gehabt?
Frank fixierte ihn mit seinem Blick und holte seine Brieftasche aus der Innentasche seines Jacketts. Ohne sich von dem aggressiven Gebaren der drei beeindrucken zu lassen, kramte er darin herum und hielt seinem Gegenüber schließlich seine Dienstmarke direkt vor die Nase. "Noch Fragen?"
„Scheiße, der Typ ist ein Bulle!“ Panisch rannten die drei jungen Männer davon. Frank Mittnacht lächelte bitter.
Der jungen Frau stand der Schrecken deutlich ins Gesicht geschrieben. Kommissar Mittnacht sprach sie an, ob alles okay sei, doch sie schüttelte nur mit dem Kopf. Das kleine Mädchen schrie wie am Spieß.
Frank legte den Arm um ihre Schulter und versuchte, die Kleine zu trösten. Da begann die Mutter, in einer fremden Sprache zu schreien. Vorwurfsvolle Blicke wanderten in ihre Richtung.
Frank Mittnacht wandte sich ab und ging weiter. Er wirkte gelassen, doch die Ruhe, die er ausstrahlte, täuschte!
Leise Wut gärte in ihm. Er liebte seinen Beruf. Erwählt hatte er ihn zu einer Zeit, als er noch an das Gute im Menschen glaubte. Je mehr er jedoch im Verlauf der Jahre erleben hatte müssen, umso mehr sah er sich in seinen Intentionen getäuscht.
Jeden Tag auf seinem Heimweg - dieses kurze Stück Weg vom Präsidium durch die verwinkelten Gassen des Geschäftsviertels und das weitläufige Marktplatzrondell - sah er in leere Gesichter und mürrische Mienen von Passanten, die gesenkten Blickes wie Gespenster an ihm vorbei huschten. Wie oft schon hatte er Verhöre geführt und das Gefühl gehabt, gegen eine Mauer des Schweigens zu prallen.
Normalerweise freute er sich darauf, nach Hause zu kommen, zu seiner Familie. Ihre Liebe war das Einzige, was ihn nicht endgültig in dem Sumpf des Verbrechens um ihn herum ertrinken lassen würde.
Frank Mittnacht überlegte das erste Mal, seinen Beruf an den Nagel zu hängen. Doch was käme dann? Was sollte er tun? Ihm wurde alles zu viel, doch er konnte nur dies: Für Gerechtigkeit sorgen und zusammen mit seinen Kollegen verhindern, dass das Böse in seiner Stadt überhand nahm.
Er war zwar stolz darauf, dass es Menschen gab, denen er helfen konnte, schließlich war er deshalb zur Kripo gegangen. Vieles, was geschah, konnte jedoch auch ein Polizist nicht verhindern.
Manchmal verstand er die Resignation eines Kollegen. Doch immer wieder überwog der Zorn und die Entschlossenheit, der Verderbtheit menschlicher Seelen keine Macht über die Gesellschaft zu geben und dagegen zu kämpfen.
Wie es der Teufel wollte, machten derzeit Jugendgangs Großdummsdorf einmal mehr zu ihrem Spielplatz.
Verdammt, und die Bürger der Stadt schauten ungerührt zu, wenn Halbstarke Überfälle begingen, auf Schulhöfen randalierten und kleine Kinder zu Drogen verführten. Zerdepperte Flaschen zerstörten das Stadtbild, Kippen verseuchten die Fußgängerzonen - doch dies war seiner Meinung nach das kleinere Übel. Allerdings wurde durch diese winzigen Details doch so viel offenbar: Die Welt war oberflächlich und schlecht. Und nur wer eine Nische in einem liebevollen Herz-Kämmerchen hatte, um sich darin zu erholen, konnte darin überleben.
Ziellos streifte er weiter durch die Gassen. Allmählich begann es, zu dämmern. Die Sonne tauchte die schneeweißen Fachwerkhäuser des Stadtkerns in rotgoldenes Licht, und normalerweise war es ein Anblick, den er genoss. Die große Plastiktüte, welche die neue Spielekonsole für seinen Ältesten enthielt, schlenkerte vergessen an seinem Handgelenk. Sein Blick huschte über alles und jeden hinweg, doch niemand beachtete ihn.
Er hingegen sah alles, jedes Detail. Er sah ein Gesicht, sah die Verzweiflung darin, erkannte ungute Gedanken in den Augen von Menschen, die im Begriff waren, etwas zu tun, was sie später bereuen würden.
Bitter lachte Frank in sich hinein: 'Leider ist es nicht verboten, böse Pläne zu schmieden.'
Kommissar Mittnachts Magen knurrte und erinnerte ihn daran, dass es auch noch etwas Anderes gab. Er hatte Hunger. Kurz überlegte er, in einem Restaurant essen zu gehen, doch dann reute ihn das Geld, was die Wirtsleute ihm aus der Tasche zögen, ohne adäquate Leistung in Form eines wohlschmeckenden Menüs dafür zu erbringen. "Nicht einmal anständig einkehren kann man hier noch", murrte er laut.
Ein Paar zog an ihm vorbei und hatte sein Selbstgespräch gehört. Entgeistert sahen die beiden ihn an, stockten kurz und liefen vorbei. Nach zwei Schritten drehte sich der männliche Part - so um die dreißig - um und rief ihm nach: "Da haben Sie recht."
Frank lächelte erfreut. Ihm war nun aus unerklärlichen Gründen etwas leichter ums Herz. 'Also gut', dachte er. 'Gehen wir heim und schieben uns etwas hinter die Kiemen.' Dann drehte er sich auf den Hacken um und überquerte den Marktplatz. Mit beschleunigten Schritten wandte er sich nach links und begab sich zu dem Parkplatz, auf dem er sein Auto abgestellt hatte.
"Feierabend, auch mit den miesen Gedanken", rief er sich selbst halblaut zur Ordnung. "Frankie allein zu Hause, und Mami hat die Bude verlassen. Was ist denn mit dir los?"
Plötzlich stieg Gelächter in ihm hoch. Er fühlte sich auf einmal ... verrückt. Und er lachte, und lachte, und lachte. Menschen gingen an ihm vorbei, und sie drehten sich um. Er versuchte, sich zu beherrschen, um sein Gelächter nicht allzu brüllend werden zu lassen. Sonst würde er wohl noch heute in der Klapsmühle enden.
Mit rasendem Herzen stieg er in seinen schwarzen Opel Corsa und wusste schon jetzt: Diese Nacht würde sehr lang und einsam sein. Energisch startete er den Motor, legte krachend den Rückwärtsgang ein und verließ nach einem schnittigen Wendekreis den großen Parkplatz. Hupend grüßte er Andreas Berger und fuhr grinsend davon, als dieser - noch immer zu Fuß - vor Schreck zusammenzuckte.
***
Frank Mittnacht wohnte außerhalb der Innenstadt von Großdummsdorf, am Stadtrand, kurz bevor sich das gelbe Ortsschild bei den Autofahrern, welche die Stadt verließen, mit einem Negierungsstrich durch den Ortsnamen und einem "Auf Wiedersehen" für ihre Stadtanwesenheit bedankte. Oder für ihren Fortgang, wie man dies auch sehen konnte!
Das Wohngebiet war eine beschauliche Gegend mit ein paar Häusern und wenig Verkehr. Wiesen und Felder beherrschten die Landschaft dahinter und grenzten an einen großen Wald.
Zwischen Groß- und Kleindummsdorf gab es noch etliche Einsiedelgehöfte, die richtig emsig Landwirtschaft betrieben. Hier wusste man noch, wie Kühe aussahen, wie ein Schwein grunzte und dass Hühner nicht fliegen können.
Frank und Barbara Mittnacht hatten sich für ein Haus am Ortsausgang entschieden. Gemeinsam mit ihren beiden Kindern wohnten sie hier seit der Geburt des Ältesten, Tom. Er kam im Frühjahr 2000 zur Welt, und seine kleine Schwester zwei Jahre später. Der heutige Präsidiumsleiter war damals noch ziemlich am Anfang seiner Karriere gestanden, hatte sein Ziel jedoch fest im Blick.
Seine Frau war Hausfrau und Mutter. Ihr ganzer Stolz war ihre Rosenzucht, und diese pflegte Barbara Mittnacht mit Leib und Seele. Dass sie im Angestellten-Verhältnis zum Arbeiten ging, war nicht vonnöten gewesen und stand schon vor der Hochzeit im Jahr 1999 komplett außer Frage. Zu der Zeit hatten sie noch in einer kleinen Wohnung im Stadtzentrum gewohnt, und Tom war noch nicht auf der Welt.
Das zweistöckige Einfamilienhaus mit sonnengelber Fassade und schokobraunen Jalousien war seine Insel der Liebe, der Abgeschiedenheit von der korrupten Welt da draußen, wie er sie brauchte. Beide hatten sie hart dafür gekämpft, das Haus zu erwerben, und es war nicht billig gewesen. Doch ohne Barbara und das Lachen der Kinder ...
Um 19:30 Uhr bog Frank von der Ausfahrtsstraße aus in seine Wohnstraße ein. Am Horizont ballten sich dunkle Wolken zu einem Gewitter zusammen, doch es schien noch weit weg. Eine leichte Brise strich durch die geöffneten Autofenster, als er mit halblauter Musikberieselung in die mit Knochensteinen bepflasterte Hoffahrt einfuhr.
"Nothing else matters" summte er leise mit und hegte manch bitteren Gedanken dabei. Ihm machte es etwas aus, allein zu sein. Es machte ihn fast verrückt, zu wissen, dass sie nicht da war. Schlecht gelaunt stellte er den Wagen ab und schob die beiden am Boden liegenden Kinderfahrräder in den Bretterverschlag linkerhand der Garage.
Mit einem wütenden Fluch kickte er einen Fußball gegen das Garagentor, fuhr sich durchs Haar und lief dem Ball hinterher. Schließlich warf er ihn über den Zaun und zuckte zusammen, als er das Klirren vernahm, gefolgt von einem Fluch. "Sag mal, Frank, spinnst du?", kam es von drüben. "Wer soll das jetzt bezahlen?"
"Sorry, Andreas, mir war grad danach", rief Kommissar Mittnacht hinüber und grinste. "Du warst aber schnell."
"Na Gottseidank", antwortete sein Nachbar Berger. "Sonst hättest du dich womöglich einfach mal schnell aus dem Staub gemacht, und niemand wäre es dann gewesen. Hättest du nicht wenigstens ein anderes Fenster nehmen können? Das Küchenfenster war frisch geputzt!"
Andreas trat an den Gartenzaun und streckte Frank einen von fettiger Brühe triefenden Fußball entgegen. Angeekelt machte Frank einen Schritt rückwärts und weigerte sich, ihn entgegenzunehmen. "Nee, lass mal. Den kannst du behalten. Für deine Kinder."
Empört schnaufte der ältere Mann auf: "Ich habe keine Kinder, und das weißt du genau. Das ist typisch Frank!"
Kommissar Mittnacht ging zum Auto und warf über die Schulter zurück: "Ach ja, stimmt, dazu braucht man ja eine Frau." Er grinste noch einmal hinter seinen Stockzähnen hervor, warf sich schwungvoll in seinen Corsa und fuhr ihn in die Garage. In aller Gemütsruhe stieg er aus, verließ den Raum und schloss das Tor. Andreas plärrte derweil hinüber: "Und wie machen wir das jetzt mit dem Fenster?"
"Schick mir die Rechnung", antwortete Frank lakonisch, ließ ihn kurzerhand stehen und ging in Richtung Haus. Gedankenverloren streifte er mit seiner rechten Hand an dem gußeisernen Zaun des Vorgartens entlang, pflückte eine von Barbaras Rosen und steckte sie sich hinters Ohr. "Autsch!" Mit einem entnervten Ausruf zog er sie wieder hervor und warf sie zu Boden. 'Wenn das Babsi sähe ...', dachte er, hob sie wieder auf und steckte sie ins Knopfloch seines Revers.
Zwei Minuten später hängte er die prall gefüllte Plastiktüte aus dem Elektrofachmarkt an die Garderobe und betrat hungrig die in Nussbaum eingerichtete Küche, die sich gleich neben seinem Arbeitszimmer befand.
Seine Frau hatte quasi dem ganzen Haus einen rustikalen Stempel aufgedrückt, doch er mochte diese heimelig anmutende Atmosphäre sehr. Hier, in diesem Nutzraum, der regelmäßig von wohltuenden Gerüchen durchzogen war, von würzigen Aromen und dem Gelächter seiner beiden Kinder und ihrer Mutter durchdrungen, war für die ganze Familie das Herz des Hauses.
Grinsend stellte Frank die Küchentür etwas schräg und öffnete einen Coca-Cola-Kühlschrank, der sich halb dahinter befand. Es war gar nicht so einfach gewesen, Barbara davon zu überzeugen, dass dieses knallrote Ding da in ihre Küche gehörte. Er hatte ihn bei einem Weihnachtspreisausschreiben von Coca Cola gewonnen. Ehrensache, dass er mit dem Weihnachts-Truck geliefert worden war, sehr zur Freude seiner zwei Kinder.
Frank hatte den Hauptpreis erspielt, gezogen aus einigen Caps mit Webcode. Anschließend war sogar noch eine Runde für die Kinder durch Großdummsdorf mit drin gewesen. Die glücklich leuchtenden Augen von Tom und Lina hatten mit den bunten Lichtern des Trucks und der festlichen Weihnachtsbeleuchtung in den Straßen der Stadt regelrecht gewetteifert. Dies war sein allerschönstes Weihnachtsgeschenk gewesen.
Das gesamte Haus war von Barbaras Liebe durchdrungen. Die weißen Gardinen mit dem zierlichen Blumenmuster am Fenster, die fein gehäkelte Spitzentischdecke, der Strauß Rosen aus dem Garten darauf, die rote Kerze daneben …
Nachdenklich setzte sich Frank mit einer Flasche Bier in der Hand an seinen Lieblingsplatz auf der Eckbank. Er konnte sich nicht erklären, weshalb er seine drei plötzlich so sehr vermisste, schließlich waren sie nicht lange weg. "Nur ein zweiwöchiger Aufenthalt auf dem Land", hatte sie ihm erklärt. "Wir waren schon so lange nicht mehr bei meinen Eltern."
Und die Kinder hatten sich tierisch gefreut. Er hatte keinen Urlaub nehmen können, sonst wäre er mit dabei.
Barbara Mittnacht war mit ihren Kindern Tom und Lina über die Pfingstferien zu ihren Eltern aufs Land gefahren.
Eingebettet in weitläufige Wiesen lag Kleindummsdorf zwischen dem Dummersbach - einem gemütlich dahinplätschernden Bach mit kristallklarem Wasser - auf der einen und einem großen, langegezogenen Waldgebiet auf der anderen Seite. Die Nachbarn kannten sich untereinander und halfen sich gegenseitig bei irgendwelchen Problemen.
Zweimal im Jahr - zur Sommersonnenwende und an Silvester - trafen sich traditionell alle Kleindummsdorfer im Gemeindehaus, um gemeinsam zu feiern. Auf den Wiesen wurde in den Sommermonaten regelmäßig Heu gemacht, und nicht nur ein Hahn krähte auf dem Misthaufen zum Weckruf des Morgens.
Am Waldrand sagten sich Fuchs und Hase "Gute Nacht", und Eichhörnchen tollten in Scharen die Bäume hinauf.
Auf der Fahrt nach Kleindummsdorf kam man an großen Gehöften vorbei, vor denen die Landwirte ihr Saisonobst oder Gemüse verkauften, sogar geimkert wurde hier noch. In der anderen Richtung - zum Allgäu hinauf - waren Weinberge zu finden, und Hopfen säumte hüben und drüben die Straßen. Tatsächlich gab es im Winter noch Schnee, wenn auch nicht mehr so viel wie in früheren Jahren.
Die Kreisstadt Großdummsdorf mit seinen Eingemeinden - inklusive Kleindummsdorf - lag im Hinterland zwischen Memmingen und Lindau sehr gut versteckt. Über die Autobahn war es nicht direkt erreichbar. Serpentinen und unwegsame Landstraßen führten dorthin, und als Touristikort war diese oberschwäbische Gegend nicht sehr bekannt.
Der Bauernhof, auf dem Barbara Mittnacht aufgewachsen war, wurde von ihren Eltern nur noch sporadisch bewirtschaftet. Margot und Heinz Krämer waren mittlerweile bereits über siebzig und wollten gemeinsam ihren wohlverdienten Lebensabend genießen. Aus diesem Grund waren die meisten Weiden und Wiesen an Nachbargehöfte verpachtet worden und gewährten ihnen ein einträchtiges Einkommen.
Seit mittlerweile 49 Jahren miteinander verheiratet, standen sie kurz vor der Goldenen Hochzeit und hatten bereits eine große Feier bis ins kleinste Detail vorgeplant. Elf Monate mussten sie jedoch noch warten, und im Wonnemonat Mai nächsten Jahres wäre es endlich soweit.
Das Jubiläumsbrautpaar freute sich darüber, sechs wohlgeratene Kinder großgezogen zu haben und diese an ihrem großen Tag um sich herum versammeln zu können. Barbara war die Jüngste ihrer drei Töchter und hatte mit ihrer Hochzeit das Haus als Letzte verlassen. Sie hatte noch einen jüngeren Bruder, der ein Gehöft in der elterlichen Nachbarschaft hatte, und zwei ältere. Nur einer der Jungs war noch im Haus und nahm den Eltern die restliche Hofarbeit ab. Später würde er ihn vermutlich erben, und Jürgen - der Älteste - machte sich schon jetzt mit dem Gedanken vertraut.
***
Am ersten Abend seiner Strohwitwerschaft führte sich Frank Mittnacht ein bereits vorgeklopftes Elefanten-Ohr mit Bandnudeln und Pilz-Sauce zu Gemüt, und sein Abend dürfte kulinarisch gerettet sein, wie er sich erhoffte. Zumindest hatte seine häusliche Frau vor der Abfahrt für alles gesorgt.
"Das wird eine lange Zeit werden, mein Schatz", sandte er Grüße in Richtung Kleindummsdorf. "Wenn du zurück kommst, bin ich verhungert." Frank grinste über sich selbst, um sich anschließend einmal mehr über seine Masche, Selbstgespräche zu führen, zu ärgern.
Eine weitere halbe Stunde später war er fertig mit Essen und stellte sein Geschirr in die Spülmaschine. Dann begab er sich hinaus in den Hinterhof, um die Wäsche von der Spinne zu holen. Es war ihm nicht peinlich, die zarte Spitzenunterwäsche seiner Frau in den Händen zu halten, im Gegenteil, er genoss das Gefühl. Er fühlte sich ihr plötzlich so nahe, als wäre sie immer noch da.
Ein leichter Rosenduft schlug ihm entgegen, und er musste an sich halten, um nicht in aller Öffentlichkeit sein Gesicht darin zu vergraben.
Leichte Erregung rührte sich in seinen Lenden. "Mein Alles", flüsterte er, "komm bald wieder zu mir zurück. Ich weiß nicht, wie lange ich es ohne dich aushalten kann."
Es war dieser Widerspruch in seiner Frau, den er so sehr liebte: Zum Einen war sie ein Hausmütterchen und lebte für ihre Familie. Zum Anderen wurde Barbara meist als fast spießig und introvertiert eingeschätzt, doch er wusste es besser. Ein Mann, der es verstand, die Raubkatze in ihr zu erwecken, erlebte das Paradies.
Er war dieser Mann, und oft konnte er sein Glück kaum fassen. Seine Frau hatte etwas in ihm gesehen, das andere nicht sahen. Rein äußerlich hatte er nicht viel zu bieten, war weder sonderlich muskulös noch sehr attraktiv.
Es hätte jeder sein können, und doch war es er gewesen, der diesen Schatz auf einem Bauernhof hob. Frank wusste dies auch zu schätzen und bemühte sich, ein treuer Ehemann und liebevoller Familienvater zu sein. Doch würde er seine Lieben verlieren: Er wüsste bei Gott nicht, was er täte!
Schließlich brachte er den halb gefüllten Wäschekorb zurück ins Haus und stellte diesen ins Bad. Auch hier schlug ihm ein Hauch Rosen entgegen. Er schloss die Tür, holte sich noch eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und machte es sich im Wohnzimmer bequem.
Dies lag auf der linken Seite des Flurs und war der erste Raum neben der Haustür. Die Vorhänge an den beiden Fenstern zum Hof hinaus hatten das gleiche, zierliche Muster wie die Küchengardine.
Er legte sich auf das bequeme, riesige Sofa und schaltete mit der Fernbedienung den Fernseher ein. Dann zappte er sich durchs Programm, bis er dies fand, was ihn interessierte. Auf ARTE lief eine Sendung über Verbrechensbekämpfung, und solche Themen ließ er sich nur selten entgehen.
***
Barbara - oder Babsi, wie ihre Familie sie oft liebevoll nannte - bog mit ihrem blauen Astra am Marktplatz von Kleindummsdorf nach links ab. Zum elterlichen Hof waren es nur noch gut acht Kilometer auf einer schmalen Straße, die vom Ortskern aus in ein wunderschönes Tal führte. Sie fuhr in gemächlichem Tempo und warf ihren beiden Kindern einen liebevollen Blick im Rückspiegel zu.
Barbaras Lippen umspielte ein Schmunzeln. Lina hatte ihre Nase während der Fahrt nicht ein einziges Mal aus ihrem Buch herausbekommen. Vor ein paar Monaten hatte sie Hanni und Nanni für sich entdeckt und verschlang nun ein Buch nach dem anderen.
Tom hingegen spielte mit seinem Nintendo DS, das er für seine guten Noten bekommen hatte. Doch eigentlich gab er sich damit schon lange nicht mehr zufrieden und hatte sich eine große Drei-D-Spielekonsole mit Webanschluss von seinem Vater gewünscht, wie Barbara wusste.
"Bald haben wir es geschafft", sagte sie mit einem Lächeln zu ihren Kindern.
"Okay, Mama. Dann hör ich jetzt gleich auf zu lesen." Lina's Blick blieb jedoch weiter auf ihr Buch gerichtet.
Von Tom kam gar keine Reaktion. Aber das war in letzter Zeit typisch für ihn. Barbara hoffte inständig, dass er während der Zeit auf dem Hof wieder auftaute.
Erst das Tuckern eines Traktors riss die beiden Kinder aus ihrer Welt. Die neunjährige Lina war die Erste, die es bemerkte, und aufgeregt winkte sie aus dem geöffneten Fenster. "Da ist Onkel Jürgen", jubelte sie.
Ihr elfjähriger Bruder würgte mit einem Crash-Geräusch sein Konsolenspiel ab und versuchte, seine Miene so undurchdringlich wie möglich wirken zu lassen.
'Cool bleiben', dachte Tom. Über sein hübsches Jungengesicht ging jedoch bald darauf ein strahlendes Lächeln.
Der Wagen rollte langsam die schmale Straße entlang. Linkerhand plätscherte der Dummersbach gemütlich vor sich hin, auf der rechten Seite schmiegten sich sanfte Hügel aneinander. Überall weite Wiesen mit blühenden Blumen. Barbara seufzte leise. Ihr fehlte die Freiheit in der Natur!
Der Traktorfahrer verließ die Wiese und fuhr ihr mit einem kurzen Winken entgegen. Barbara hielt am rechten Straßenrand an und stellte den Motor ab. Jürgen hielt an, stieg von seinem Gefährt und trat an ihr geöffnetes Fenster. "Hey, Schwesterherz! Seid ihr auf dem Weg zum Hof? Oder habt ihr euch verfahren?", scherzte ihr ältester Bruder.
"Haben Mama und Papa dir nicht verraten, dass wir über die Pfingstferien rauskommen?" Sie sah ihn erstaunt an.
"Nein, wahrscheinlich wollten sie mich überraschen. Wo hast du denn Frank gelassen?"
"Er muss arbeiten. Und du weißt ja. wie ungern er einen weiten Weg zur Arbeit hat. Aber wenn alles klappt kommt er nächste Woche nach und bleibt ein paar Tage hier." Sie zuckte leicht mit den Schultern.
Jürgen lächelte verständnisvoll. Er kannte Frank schon seit der Schulzeit. War er es doch gewesen, der die beiden damals miteinander bekannt gemacht hatte.
"Tut mir leid, aber ich muss noch was erledigen. Wir sehen uns heute Abend!", entschuldigte er sich, bevor er mit ratterndem Motor wieder anfuhr. Barbara blieb noch einen Moment stehen und sah ihm gedankenverloren hinterher. Sie war gerade in der vierten Klasse gewesen, als Jürgen Frank zum ersten Mal mit nach Hause gebracht hatte. Irgendwie hatte sie es während der gesamten Schulzeit geschafft, in der Nähe von anderen Kindern zu sein, die sich einen Spaß daraus machten, sie zu hänseln. Frank hatte sich schützend vor sie gestellt. Er war ihr Held gewesen, ihr heimlicher Superman.
"Mama, können wir mal weiterfahren?", wurde Barbara von Lina aus ihren Gedanken gerissen.
"Oh Schatz, das tut mir leid. Natürlich." Sie fuhr wieder an. In Gedanken verweilte sie jedoch bei ihrem Mann.
Es war eine herrliche Kindheit gewesen, die sie miteinander verbracht hatten. Sie, die kleine blonde mit struppigen Zöpfen und Zahnspange, etwas zu pummelig, doch er? Frank Mittnacht hatte sich niemals daran gestört, selbst wenn andere Kinder über sie lachten.
Plötzlich fiel es Barbara auf: Schon damals hatte niemand anderes in ihrer gemeinsamen Welt Platz gehabt.
***
Mittlerweile war es dunkel geworden. Frank Mittnacht schlenderte ruhelos durch die Räume des Hauses und sog den Geruch Barbaras ein. Es war ein ebenso schwüler Abend, wie es der Tag gewesen war, und normalerweise säßen er und seine Frau noch bei Kerzenlicht auf der Terrasse.
Das erwartete Gewitter war nicht gekommen. Wolkenberge zogen über den Nachthimmel und drückten schwer auf sein Gemüt. Frank öffnete eine Tür und trat ein.
Vor seinen Augen lag ein riesiger Wintergarten, mit Bambusmöbeln - und natürlich konnte man auch hier Barbaras Liebe zu Rosen erkennen. Der Raum hatte drei abgeschlossene, rot geziegelte Wände, und nur die langgezogene Vorderwand zur Terrasse hinaus bestand aus leicht abgedunkeltem, funkelndem Glas.
Über die gesamte Glasfront hing bis auf halber Höhe ein bauschiges Gebilde aus schneeweißen, filigranen Wolkengardinen. An den Wänden rankte sich Efeu entlang und wechselte sich sporadisch mit einigen Exemplaren aus Barbaras preisgekrönter Rosenzucht ab.
Seine Eltern waren nicht sehr begeistert von der Kleinen gewesen, die sich in seiner Jugend an seine Hacken gehängt und ihn angebetet hatte, als sei er Gott. Er selbst hatte sich damals auch oft gefragt, was sie in ihm sah.
Schließlich hatte er die Schule beendet und mit 16 Jahren seine Ausbildung zum Polizisten begonnen. Zwangsläufig hatten sie sich nicht mehr gesehen. Allerdings war er sehr enttäuscht gewesen, nicht wenigstens hin und wieder eine Ansichtskarte von ihr zu erhalten. Es war gewesen, als hätte es sie nie gegeben.
Frank schlenderte selbstvergessen in den Raum hinein und blieb an einem Rosenstock stehen. Zärtlich strichen seine Finger über die zarte Knospe, als vor seinem inneren Auge die junge Barbara auferstand.
Schließlich war sie mit Brachialgewalt wieder in sein Leben getreten. Auf dem Sommerfest von Großdummsdorf hatte sie hinter ihm gestanden und mit ihrer melodiösen Stimme gefragt: "Herr Wachtmeister, ich möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben. Können Sie mir vielleicht helfen?"
Sie war ganz anders, als Frank sie in Erinnerung gehabt hatte. Aus den Zöpfen war eine blonde Wuschelmähne geworden, und strahlendweiße Zähne hatten ihn angeblitzt, während sie lachte. Er hatte ihr Spiel mitgespielt und so getan, als würde er sie nicht mehr erkennen.
Er nahm ihr Foto von einer Kommode und betrachtete es lange. Türkisfarbene Katzenaugen strahlten ihn an wie zwei in abendliches Sonnenlicht getauchte Bergseen.
Neben Barbara stand seine Mutter, und Franks Blick verdüsterte sich. Bei ihrem damaligen Wiedersehen stellte sich heraus, dass seine Mutter etliche Briefe von ihr an ihn abgefangen und einfach nicht an seine Wohnadresse weitergeleitet hatte. Da er Barbara schon immer gemocht hatte, war er ziemlich sauer gewesen.
Als er seinen Eltern mitgeteilt hatte, dass er sie heiraten werde, standen sie Kopf. Am Liebsten hätten sie eine andere Frau an seiner Seite gesehen, eine mit Geld und Prestige. Doch Barbara hatte es ihnen gezeigt. Mit ihrer Rosenzucht hatte sie regelmäßig an etlichen Wettbewerben teilgenommen und bereits einige kleinere Preise gewonnen.
Letztes Jahr war es der erste Preis auf der Landesgartenschau im bayrischen Rosenheim gewesen. Dieser war mit 10.000 Euro dotiert. Triumphierend hatte sie das Geld in die letzten Hypotheken des Hauses gesteckt. Er war höllisch stolz auf seine fleißige Frau. Und - Frank grinste bei dem Gedanken - seitdem sahen auch seine Eltern sie mit anderen Augen.
Gedankenverloren trat er auf die breite Terrasse hinaus, steckte sich eine Zigarette an und starrte zum sternenklaren Nachthimmel hinauf. Das Gesicht des Vollmonds verzerrte sich zu einer teuflischen Fratze und lachte ihn aus.
***
Barbara legte die letzten zwei Kilometer zum Hof ihrer Eltern zurück. Linkerhand rollten Weiden an ihnen vorbei. Kühe lagen wiederkäuend im Gras. Alle Last des Alltags im fünfzig Kilometer entfernten Großdummsdorf fiel von der jungen Mutter ab. Glücklich lachte sie auf.
"Warum lachst du?", fragte Tom. Er streckte den Kopf aus dem Fenster. Seine blonden Strubbelhaare wedelten wie kleine Strohhalme im Wind.
Mittlerweile schien er sich zu freuen, und Babsi atmete erleichtert auf. Sie hatte schon befürchtet, dass es schwierig würde mit ihm. Er begeisterte sich mehr und mehr für eine Jugendkultur, die ihr Angst machte. Noch war es Hobby und zeigte sich in spielerischer Form, und doch barg er eine dunkle Seite in sich.
"Ich lache, weil ich glücklich bin." Barbara sah ihren Sohn über den Rückspiegel an und lächelte gerührt. Ein Marienkäfer krabbelte unbehelligt auf seiner Nase und fühlte sich dort offenbar wohl.
Lina zog ihre Mutter von hinten leicht an den Haaren. "Mami, ich will ein Pferd."
Barbara kicherte und fragte: "Und wo willst du das unterbringen?"
"Och, in meinem Zimmer. Dann ist es immer bei mir."
Tom lachte laut auf. "Am besten nimmst du es mit ins Bett zum Kuscheln. Du bist vielleicht eine alberne Nudel."
Die Kleine zog eine Schnute. "Immer noch besser als eine Totenkopflampe. Du sei mal still, sonst sage ich's Papa."
Der Junge ließ sich ins Wageninnere fallen und kniff Lina in ihre Nase. Der Marienkäfer flog durchs Autofenster davon, und das Mädchen sah ihm hinterher.
"Autsch", fiel es ihr nach fünf Minuten ein. "Mami, Tom hat mich in die Nase gekniffen."
Lina, der kleine Bücherwurm, war leicht zu begeistern. Ständig war sie in ihren Buchwelten versunken und strahlte bei jedem Tierchen und jedem Blümchen, das sie sah. Ihre Welt war so bunt wie ein Regenbogen, und unbekümmert sprang sie zwischen Fiktion und Realität hin und her.
'Ihre Vorliebe für Bücher hat sie von Frank', sinnierte Barbara und schwankte zwischen Vorfreude und Heimweh. 'Du bist albern', schalt sie mit sich selbst. 'Es sind nur zwei Wochen, und vielleicht kommt er ja noch.'
"Lesen formt Geist und Fantasie", war die Maxime ihres Gemahls. Frank las ebenfalls viel, doch seine Literatur war ihr ein bisschen zu heavy. Er war mehr der zerrissene Philosoph, und manchmal machten ihr seine Gedankengänge sogar etwas Angst. Diese hatte sich indes bisher als unbegründet erwiesen. Für Barbara war er der zärtlichste Ehemann und liebevollste Vater der Welt. Sie hatte die Wahl ihres Herzens getroffen - und dies noch niemals bereut.
Barbara legte die letzten paar hundert Meter zum Hof ihrer Eltern zurück und sog das durch die Baumwipfel brechende Licht in sich auf. Schattenkreise tanzten um sie herum, und ihr Geist tanzte mit.
Soeben rollte der Bauernhof ihres jüngeren Bruders an ihnen vorbei. Johannes hatte sich für ein eigenes Gut entschieden und sich auf Pferdezucht spezialisiert. Zehn seiner Pferde grasten auf der Weide direkt neben dem Hof.
Erika Krämer - ihre Schwägerin - trat mit einem Wäschekorb in der Hand aus dem Hauptgebäude des Hofes und winkte lachend, als sie Barbaras Auto erkannte.
Fröhlich hupend fuhr sie an ihr vorbei. 'Alltag auf dem Land', dachte sie schmunzelnd und grüßte insgeheim ihren Mann, fünfzig Kilometer entfernt. 'Ich bin gespannt, wie du dich ohne uns hältst. Ich habe dir auch etwas dagelassen, damit du uns nicht vergisst.'
Sie hatte Franks Lieblings-Dessous ganz bewusst hängen gelassen, in dem Wissen, dass er sie erst entdecken würde, wenn er von der Arbeit nach Hause zurückkehren würde. Barbara wollte es ihm nicht allzu einfach machen, seine Entscheidung, sie eine Woche lang ohne ihn ziehen zu lassen, nicht zu bereuen.
Das Murmeln des nahegelegenen Bachs drang an ihr Ohr. Dessen kristallklares Wasser würde die Kinder sicher unwiderstehlich anziehen. Barbara freute sich schon darauf, unten an der Alten Mühle mit ihnen zu plantschen.
Als sie schließlich in den großen Vorhof des elterlichen Guts einbogen, standen Margot und Heinz bereits wartend am Eingang. Tom und Lina rissen die Autotüren auf und rannten auf ihre heißgeliebten Großeltern zu.
Gerührt vernahm Barbara das Begrüßungsgeschrei ihrer Kinder und schnappte Wortfetzen von "Bonbons", "Will reiten", "hast du Apfelküchle gemacht?", bis zu bewegten Antworten ihrer Eltern wie "Endlich seid Ihr da", "Wie geht es euch?", "Was macht die Schule?" auf. Gerührt trat sie zu ihnen und fiel ihrem Vater tränenüberströmt in die Arme.
***
'Die Nacht! Eine Nacht ohne sie, ohne ihre Wärme, ohne ihre Liebe, ohne ihr Feuer ...'
Ein gemartertes Seufzen entfleuchte seinem schmal zusammengekniffenen Mund.
Unablässig dachte er an den biegsamen Körper in seinen Armen, an die Zärtlichkeiten, die Barbara ihm regelmäßig angedacht hatte, und an Wünsche, die sie ihm regelmäßig erfüllte. Sie hatte dafür gesorgt, dass er nicht vergaß.
Frank wandte sein Gesicht von der gehässigen Fratze des Monds ab und blickte hinaus in den Garten. Schemenhaft entdeckte er auf dem Rasen die Spuren seiner Kinder, und nur weil er es wusste, erkannte er den großen Traktor, der Lina gehörte. Im silbernen Licht des Mondes erschien er ihm wie ein Monster in klein. Seine lustigen Kulleraugen musterten den Strohwitwer Mittnacht fast schon überheblich und hämisch.
Lang würde das Plastikfahrzeug den Ansprüchen seiner Tochter nicht mehr genügen, und sie würde zur Frau. Schaudernd dachte er an die Probleme, die sich für den Vater eines heranwachsenden Mädchens auftun konnten.
Er hatte Angst! Frustriert sprang er von dem Terrassensockel herab in den Garten und verpasste dem unschuldigen Spielzeug einen verärgerten Tritt. "Glotz nicht so blöd!", fuhr er das grinsende Traktorgesicht an. "Sie kommen wieder, und erzähl' mir du gefälligst nichts Andres."
Kommissar Mittnacht hörte das Klappern einer Jalousie und die Frage einer männlichen Stimme: "Frank, ist bei dir drüben alles in Ordnung?" Mit verhaltenem Zähneknirschen presste er die Antwort zwischen den Lippen hervor: "Ja Andi, bei uns ist alles okay. Ich bin nur gestolpert."
"Was machst du auch um diese Zeit noch im Garten? Es ist bereits Nacht."
Als ob er das nicht selbst wüsste ...
"Ich genieße den Vollmond", antwortete Frank laut mit Sarkasmus in seiner Stimme, "und warte auf meinen Bus."
"Sehr witzig", mokierte sich Andi. "Aber so kennen wir dich. Und mit wem hast du gerade gesprochen?"
"Oh mein Gott", stöhnte Frank. "Du willst es aber ganz genau wissen. Bist du ein Bulle?" Er lachte laut auf. "Nun gut, ich habe telefoniert. Mit meinem Handy. Zufrieden?"
"Schön, Herr Nachbar, dann kann ich ja wieder ins Bett. Ich habe mir nur Sorgen gemacht, dass bei euch vielleicht ein Einbrecher sein könnte. Gute Nacht, Frank." Er hörte erneut das Gerassel der nachbarlichen Jalousie, ein leises Krachen, und er war wieder mit dem Vollmond allein.
Mit einem letzten, verärgerten Blick zu seinem neugierigen Nachbarn hinüber verließ er den Garten und schwang sich wieder hinauf auf die Terrasse. Sorgfältig schloss er die die beiden Flügeltüren, löschte das Licht und stieg die Treppe hinauf.
Laut hallten seine Schritte in der Stille des Hauses und zeigten ihm seine Einsamkeit. Er entschied sich dafür, den Abend mit einem Vollbad in den Armen seiner Frau zu beenden. 'Es lebe die Kunst, den Geist schweifen zu lassen und Universen der Lust zu erklimmen', schoss ihm ein Zitat aus dem Buch von Marquis de Sadé durch den Kopf.
Dessen Ansichten waren allerdings eine Variante, die er sich versagte. Er hatte noch nie begriffen, wie Gewalt und Lust miteinander in Einklang gebracht werden konnten, und eigentlich wollte er es auch gar nicht so genau wissen. Das Zitat jedoch: Ja, das gefiel ihm.
Er trat ins Schlafzimmer und betrachtete nachdenklich das Zentrum seiner Sehnsucht. Das Arbeitszimmer eines eifrigen Vaters. Produktionsstätte. Kinderfabrik. Lustmolch.
'Und das mir', dachte er grimmig.
Schließlich lachte er über sich selbst. Die Realität holte ihn ein, und er erkannte das Zimmer als dies, was es war: Ein großes Bett für zwei Menschen zum Schlafen, darauf zwei rosenlieblich überzogene Federbetten. Zusammengeknüllt, denn er hatte keine Lust gehabt, vor Verlassen des Hauses Betten zu machen. Zu beiden Seiten eine Bauernkommode, gegenüber dem Bett ein riesiger Kleiderschrank. Ein Bauernzimmer, auch hier die Hand seiner Frau.
Rosenlieblichkeit, wohin er auch sah: Auf den beiden Kommoden, an den Tapeten ..."Was Wunder, Babsi, dass zwischen meinen Beinen noch keine Rose hängt", brüllte er lachend ins Zimmer hinein.
Sein Blick glitt zum Fenster: Ein weiterer Stilbruch in rot - Seidengardinen. Sein Anteil an der Konservativität des vorliegenden Raumes, als Symbol für die schmale Gratwanderung zwischen anständigem Bauernmädel und Tigerin.
Und er - 'oh was bin ich für ein Glückspilz' - war ihr Dompteur. Und Vater zweier ganz toller Kinder. Und Bulle. Ein erfolgreicher sogar. Mit ihr war er so vieles. Ohne sie war er nichts!
Frank setzte sich auf die Kante des Betts und warf seine Slipper von sich. Dann ließ er sich einfach fallen und starrte gegen die Decke.
Was sie wohl tat? Dachte sie genauso an ihn? Wanderten ihre sehnsüchtigen Finger an den Stellen entlang, die nur ihm zugedacht waren?
Sein Atem ging schwer bei der Vorstellung, seine Zunge über Barbaras zartes, rosiges Röslein gleiten zu lassen. Unvermittelt sprang er auf, riss sich seine restliche Kleidung vom Leib und flüchtete splitternackt vor seinen geilen Gedanken in das nebenan gelegene Bad.
Er steckte den Stöpsel in den Badewannenabfluss, griff zu einer Karaffe mit rotem Badeschaum und gab einen üppigen Strahl in die Wanne.
Kurze Zeit später war der Raum von rosenlieblich duftendem, heißem Nebel durchdrungen.
Frank lehnte sich zurück und schloss wohlig die Augen. Seine Hände glitten unruhig durch Rosenwolken und Wasser. Und er ließ sich treiben bis zum Horizont …
***
Kommissar Mittnacht und sein Team hatten momentan genug um die Ohren. In Großdummsdorf nahm das Problem "Jugendkriminalität" überhand. So wie es aussah, hatten sich einige Banden gebildet, mit einer Altersbandbreite von dreizehn bis knapp über zwanzig.
Er arbeitete eng mit seinen Kollegen zusammen, um ein Projekt zur Prävention von Jugendgewalt in Schulen auszuarbeiten. Dabei dachte er an eine Seminar-Reihe.
Bei seinen Plänen hätte es sich nicht gut gemacht, sich in einer heißen Phase auszuklinken, um mit Frau und Kindern Urlaub in Barbaras Heimat zu machen. Klar hätte er pendeln können, er hatte ja schließlich ein Auto. Jeden Tag eine Stunde Fahrzeit hin und die gleiche Strecke wieder zurück, das wollte er sich jedoch nicht antun.
Also schickte er seine Familie allein in den Urlaub und sagte sich, dass sie ja bald wieder zurück kommen würden. Zwei Wochen würde er sich schon selbst irgendwie durchschlagen können, schließlich war er lange genug Junggeselle gewesen und war zu dieser Zeit auch nicht verhungert. Und wie ein Haushalt zu führen war, wusste er auch. Seine Spießer-Mutter hatte schon dafür gesorgt, dass er es lernte.
Der Anteil seines Vaters, der seine vierköpfige Familie gedrillt hatte wie ein General, war gewesen, ihm und seiner Schwester beizubringen, auf die Mutter zu hören. Wenn sie es nicht taten, hatten die beiden Kinder die Folgen zu tragen - und die waren nicht schön.
Frank hatte trotzdem während seiner Kindheit manchmal gewaltig über die Stränge geschlagen und konnte sich somit in die Problematik am Wohnort viel zu gut hineinversetzen. Nur straffällig geworden, das war er nie. Vielleicht aber auch nur, weil er sich prinzipiell an das Elfte Gebot gehalten hatte: "Lass dich nicht erwischen."
Frank Mittnacht hatte alles, was mit seinem Elternhaus und seiner Familie zu tun hatte, so gut es ging, aus dem Gedächtnis gestrichen. Kinderfreundschaften hatten ihm nicht sehr viel bedeutet, doch er hatte es genossen, bei der Familie Krämer - dem Elternhaus seiner Frau - durch den ältesten Sohn ein- und auszugehen können und sich dort dies zu holen, was er zuhause vermisste: Die Wärme einer intakten Familie.
Dabei hatte er auch die damals noch kleine Barbara kennengelernt, mit Zahnspange und blonden Zöpfen, doch bereits Beine vom Hals bis zum Boden: Ellenlang. Das Klischee des hässlichen Entleins hatte sich einmal mehr erfüllt. Ihre gemeinsame Liebesgeschichte hätte somit wunderbaren Stoff dafür geboten, Heimat- oder Liebesromane zu schreiben. Er hatte sich jedoch für die Laufbahn des Kriminalisten entschieden, und Barbara fehlten die Ambitionen.
***
Während Frank in der Zeit seiner Strohwitwerschaft des Morgens um sieben das Haus verließ, um Pläne für sein Weiterkommen zu schmieden, genossen seine beiden Kinder ihre Freiheit, fern von Schule und Verantwortung, ohne Hausaufgaben machen zu müssen, und ohne Einschränkungen vonseiten irgendwelcher meckernder Nachbarn, wenn sie einmal schrien.
Es war die erste Pfingstwoche, und der Urlaub sollte bis zum Ende der Schulferien sein. Danach mussten sie auch wieder dran glauben, an die Knebelverträge der Bildung, um es später zu etwas bringen zu können.
Tom tat sich etwas schwer mit dem System und neigte dazu, derselbe grüblerische Außenseiter wie sein Vater zu werden. Er fühlte sich bereits jetzt in der virtuellen Gothic-Szene zu Hause, und am Liebsten war ihm, wenn man ihn in Ruhe ließ.
Die Zeit im Freien würde er dennoch genießen. Vielleicht konnte er ja eine Fledermaus fangen, wie er hoffte. Schließlich nahm ihn das Ambiente der freien Natur vollends gefangen, und er vergaß für eine Weile seine oft düsteren Gedanken, die sein Hang zum Morbiden mit sich brachten. Von früh bis spät tobte er mit seiner Schwester durch Hof und Garten und verbrachte viel Zeit auf dem Pferdehof seines Onkels.
Barbara genoss die Tage bei ihren Eltern fernab von Autolärm und neugierigen Nachbarn genauso. Zwar hatten sie es mit der Wahl ihres Domizils in Großdummsdorf nicht so unglücklich getroffen, schließlich hatte sie es ja auch so gewollt. Im Großen und Ganzen waren ihre Nachbarn recht nett, und die Familien verbrachten viel Zeit miteinander.
Nur Andreas Berger im Haus links neigte dazu, sich überall einmischen zu wollen, und sie wusste, wie sehr Frank diese Art von Anbiederung hasste. Ihr Mann konnte beides nicht leiden: Allzu viel Nähe - oder Ignoranz, das andere Extrem der Gesellschaft. Beides stand für ihn als Synonym für das Spießbürgertum, und weil sie sein Elternhaus kannte, konnte sie dies verstehen.
Barbara hingegen hatte es in ihrer Kindheit bestens getroffen gehabt, nur die ewigen Hänseleien ihrer Mitschüler wegen der Zahnspange und ihrer Zöpfe waren etwas belastend gewesen. Frank hatte sie vor Allem beschützt.
***
Am zweiten Tag auf dem Hof lachten sie alle gemeinsam über eine etwas skandalöse Episode aus Franks Jugend. Jürgen hatte das Thema beim gemeinsamen Fernsehabend auf den Tisch gebracht und seine Schwester gefragt: "Weißt du noch, wie dein Mann eine Woche lang mit Blindenbinde und Stock herumlief?"
"Wie sollte ich das vergessen", war Barbaras trockene Antwort. "Seine Mutter wollte ihm glatt weismachen, dass man beim Onanieren erblindet." Sie lachte laut auf.
"Er hatte die Lebenslügen seiner Eltern nur zu gern auseinandergeklaubt und ihnen ihr Gesicht im Spiegel gezeigt", warf Heinz - Barbaras Vater - stolz ein, als ob dies sein Verdienst gewesen wäre. "Allerdings hatte er auch eine gewaltige Tracht Prügel kassiert, als herauskam, woher er seine damaligen Utensilien eigentlich hatte."
Jürgen grinste. "Es gehört auch nicht gerade zum guten Ton, einem Blinden Stock und Binde zu klauen. Der Arme stand völlig orientierungslos vor dem Laden, und wenn eine ältere Frau ihm nicht geholfen hätte, wäre er bestimmt nicht mehr nach Hause gekommen."
Barbara verteidigte ihren Mann vehement: "Immerhin hatte Frank ihm 100 DM in die Hand gedrückt. Von wegen geklaut. Der Blinde gab es ganz und gar freiwillig her."
"Schäfchen!" Margot strich ihrer Tochter zärtlich über den Kopf. "Das hat er dir auch nur erzählt. Und du glaubst deinem Helden natürlich. Aber das ist schon in Ordnung so."
"Ich bin nur froh, dass die Kinder im Bett sind", antwortete Barbara Mittnacht mit sorgenumwölkter Stirn. "Tom macht mir schon genug Probleme. Letztens wollte er seine Schwester überreden, sich in ein ausgedientes Aquarium im Keller zu legen, um mit ihr Schneewittchen zu spielen. Glücklicherweise habe ich es noch rechtzeitig verhindert."
Heinz machte ein erschrockenes Gesicht. "Das sind ja wirklich seltsame Spielchen, die deine Kinder spielen. Nicht auszudenken, was da hätte passieren können. Weiß Frank davon?"
"Ich habe es ihm erzählt, aber er hat nur gelacht."
"Nun ja, das wundert mich nicht", warf Margot Krämer ein. "Er war damals gerade mal zwei Jahre älter, als dein Sohn jetzt ist. Kinder haben nun einmal viel Fantasie, und wenigstens spielen deine noch."
"Schon, schon. Toms Fantasie erstreckt sich jedoch weitestgehend auf seine Spielekonsole. Deshalb bin ich wirklich froh, dass er hier auch einmal etwas Anderes sieht."
"Wir werden schon dafür sorgen, dass deine Kinder hier etwas erleben." Jürgen streckte sich und gähnte. "Ich für meinen Teil geh' jetzt ins Bett. Macht nicht mehr so lange, es ist schon fast Mitternacht. Ihr seid richtige Nachteulen."
Barbara wollte sich ebenfalls gerade erheben, da spürte sie ein leichtes Vibrieren. Sie zog ihr Smartphone aus ihrer Jeans und schaute auf den kleinen Monitor. 'Frank!', dachte sie und verkniff sich ein Lächeln. 'Das hat ja ganz gut funktioniert. Er hat heute schon Sehnsucht nach mir.'
Sie stand auf und verabschiedete sich von ihrer Familie. "Gute Nacht, Ihr Lieben. Ich gehe auch ins Bett. Frank ruft grade an, und ich möchte mit ihm noch etwas plaudern."
***
Die familiären Zusammenkünfte verliefen allesamt in ähnlich harmonischer Weise. Barbara bedauerte, dass sie sich übers Jahr so wenig trafen, doch meist fehlte die Zeit.
Frank ließ ihr jedoch keine Ruhe. Allabendlich rief er sie auf ihrem Handy an und flüsterte ihr erotische Ferkeleien ins Ohr. Dabei machte er sich über eventuelle Ohrenzeugen nur wenig Gedanken, oder besser gesagt: Es war ihm ganz offensichtlich egal. Die junge Frau musste sich regelmäßig beherrschen, um sich ihre Erregung und ihre Sehnsucht nach ihm nicht allzusehr vor der Familie anmerken zu lassen.
"Willst du nicht endlich kommen?", fragte sie ihn zum Ende der ersten Woche. Er wand sich jedoch wie ein Aal und sagte ihr ab. "Keine Lust, bei der Hitze im Auto zu sitzen", antwortete er. "Das weißt du genau. Komm du nach Hause."
"Das kann ich den Kindern nicht antun. Es gefällt ihnen hier, und wer weiß, wann sie das nächste Mal bei Oma und Opa sein können."
"Du weißt nicht, was dir entgeht", raunte ihr seine Stimme aus dem Hörer entgegen. "Hast du deine Liebeskugeln oder doch nur den Vibrator dabei?"
Barbara errötete verlegen. Ihre Eltern saßen nicht weit von ihr entfernt auf der Couch und spitzten die Ohren.
"Und du?", fragte sie Frank. "Hast du auch genug zu ... ESSEN?" Dabei legte sie eine Kunstpause ein und flüsterte das letzte Wort sinnlich ins Mikrophon.
"Ich tauche in meinen Träumen in dich hinein, und dann bist du bei mir", wisperte er leise mit seiner heiseren Stimme. Barbara Mittnacht durchlief ein Schauer von oben bis unten.
***
Am Mittwoch kam Barbaras jüngerer Bruder Johannes vorbei und nahm die Kinder zum Heumachen mit. Tom war Feuer und Flamme, als der Pferdezüchter ihm erlaubte, selbst den Traktor zu fahren und genoss das Gerüttel.
Lina hatte sich am Wiesenrand ein großes, rundes Heuschloss gebaut und spielte Königin, die von ihrem König in Form ihres Bruders mit diesem Stahlross abgeholt wurde. Glücklich winkte sie Tom entgegen und kletterte begeistert auf den Hänger, um in weiteren pieksigen Heudaunen die Prinzessin auf der Erbse zu sein.
Barbara hingegen nutzte den Tag, um gemeinsam mit Margot verschiedene Marmeladen zu kochen. Danach zog sie sich mit einem spannenden Krimi in den Garten zurück, von wo sie den Nachmittag über auch niemand mehr weglocken konnte.
Nach erfolgreich beendeter Heuernte wurde am Abend gemeinsam gegrillt, und dann fielen die Kinder auch schon todmüde ins Bett. Lange saßen die Erwachsenen noch zusammen und genossen das seltene Zusammensein.
Am Donnerstagmorgen teilte sie ihrer Familie mit, bereits am Freitag nach Hause zu fahren. Margot und Heinz Krämer waren enttäuscht, doch sie hatten Verständnis. Also bereiteten sie gemeinsam mit ihren beiden Söhnen zum krönenden Abschluss noch etwas vor: Ein Lagerfeuer am Abend mit Stockbrot.
Als es am Donnerstagabend soweit war, kamen Johannes und Erika Krämer hinzu. Alle hatten viel Spaß und lachten über alte Kindergeschichten.
Irgendwann wurde es dunkel, und Barbara holte ihre Gitarre. Unter einem strahlend silbernen Mond und funkelnden Sternen sangen alle gemeinsam alte Bauernweisen, und so manchem wurde es wehmütig ums Herz.
An diesem Abend gab es keine Einschränkungen für die beiden Kinder. Sie gingen mit den Erwachsenen schlafen. Tom und Lina teilten sich letztmalig gemeinsam ein Zimmer.
Kurz vor Mitternacht standen Oma und Opa vor ihren Betten und betrachteten traurig die glücklichen Mienen der Kinder. Wann würden sie diese zum nächsten Mal sehen?
Am Freitagmorgen rollte Barbaras Astra vom Hof, mit einer tränenüberströmten scheidenden Tochter am Steuer. Aufgeregt winkten die Kinder nach allen Seiten und freuten sich auf ihren Vater.
Im Rückspiegel sah sie die immer kleiner werdenden Silhouetten ihrer Eltern. Barbara Mittnachts Herz war plötzlich so schwer, und sie fragte sich: "Wann seh' ich sie wieder?"
***
Ungefähr zur gleichen Zeit erklangen in Großdummsdorf Heavy-Metal-Klänge von AC/DC im Schlafzimmer von Frank und Barbara Mittnacht. Schlaftrunken drückte er einen Knopf und drehte Angus Young den Ton ab. Er hatte gestern noch bis in die frühen Morgenstunden mit seiner Frau telefoniert und ihr gehörig eingeheizt.
Grinsend hörte er im Geist noch einmal ihr sehnsüchtiges Seufzen und stellte sich vor, was ihre Finger wohl in jenem Moment taten. Seine Fantasie bekam gewaltige Flügel.
Gequält stöhnte er auf und hätte am Liebsten zum Telefonhörer gegriffen, um da weiterzumachen, wo sie aufgehört hatten. Doch dann rief er sich zur Ordnung: Er musste zur Arbeit, und Barbara frühstückte bestimmt gerade im Schoß der Familie. Er wollte nicht dafür verantwortlich sein, wenn sie vor aller Augen einen Orgasmus bekam.
Sein Grinsen wurde noch breiter, als er sich eingestand, dass allein die Vorstellung an und für sich reizvoll sei. Frank klemmte sich das Federbett zwischen die Beine und drehte sich noch einmal um.
Etwas später stand er senkrecht im Bett, als AC/DC noch einmal loskreischte, um ihn auf dem Highway zur Hölle zu schicken. Nach einem Blick zur Uhr stellte er fest, dass er noch einmal eingeschlafen sein musste. Er kam um Längen zu spät!
Brummend setzte er sich auf und überlegte. Es war zwar nicht zu erwarten, dass sein Chef ihm kündigen würde, wenn er zu spät kam. Zumindest konnte er sich nicht erinnern, ein Kündigungsschreiben an Frank Mittnacht in Auftrag gegeben zu haben.
Er hasste es trotzdem, unpünktlich zu sein, immerhin erwartete er ja auch Zuverlässigkeit von seinem Team. Dann zuckte er jedoch mit den Schultern und griff zu seinem Handy. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Barbara würde sich freuen, wenn er auf den letzten Drücker noch käme.
Wenig später hatte er seinen Anruf gemacht, und im Präsidium wussten sie, dass sie mit ihm heute nicht mehr zu rechnen hatten. Voller Vorfreude stellte er sich unter die Dusche und sang beim Einseifen Barbaras Lieblingslied: "Rote Rosen" von Freddy Breck.
Er experimentierte hierbei mit verschiedenen Variationen, so dass es ein bisschen rockiger klang. Übermütig begann er, zu blödeln und verfälschte den Refrain in "Tote Hosen".
Noch hatte er allen Grund, glücklich zu sein!
***
Kurz vor Kisslegg verließ Barbara die holprige Landstraße und befuhr die Bundesstraße nach Leutkirch. Sie hatte beschlossen, dort noch ein paar Besorgungen zu machen.
Den kleinen Umweg nahm sie gern in Kauf, da sie etwas ganz Besonderes plante. Ihrem Mann sollte Hören und Sehen vergehen.
Zwanzig Minuten später befand sie sich in der kleinen Stadt. Sie suchte sich einen Parkplatz in der Nähe der Fußgängerzone. Schließlich wurden ihre beiden Kinder in einem Café zwischengeparkt, mit dem mütterlich-fürsorglichen Argument, dass sie alt genug wären, um ein paar Minuten ohne ihre Mutter zu sein, und dass Tom ja auf seine Schwester aufpassen solle.
Wenig später betrat sie ein Erotik-Shop ganz in der Nähe und kaufte sich ein paar Accessoires, von denen sie wusste, dass sie diese garantiert noch nicht daheim haben würden.
Heute abend würde Frank zur Abwechslung einmal eine Orientdame erwarten. Sie freute sich schon jetzt auf sein Gesicht, wenn sie Salomes über Monate hinweg heimlich einstudierten Sieben-Schleier-Tanz vorführen würde.
Voller Vorfreude strichen ihre Finger über die zarten Gebilde aus durchsichtigem Organza und suchte sorgfältig die dazu passende Musik-CD aus. Ein paar Räucherstäbchen, Duftkerzen und rote Seide als Wandverkleidung dazu, und es würde die heißeste Nacht seines Lebens.
Barbara roch jetzt schon den schweren Sandelholz-Duft, der über dem Raum hängen würde, gemischt mit dem zarten Aroma der Rose. Sie sah sich tanzen, mit wirbelnden Schleiern, den begehrlichen Blick ihres Mannes auf ihren zart durchschimmernden, nackten Körper gerichtet. Wann immer er versuchen würde, sie zu berühren, entzöge sie sich ihm, bis er sie zu den schnellen Klängen von Flöte und Tambourin jagen würde wie ein gieriger Faun.
Ein leises Räuspern riss sie aus ihrem Tagtraum und erinnerte Barbara daran, wo sie gerade war. Sie griff sich ihre Utensilien und begab sich damit zur Kasse. Der seltsame Gesichtsausdruck des Verkäufers reizte sie zum Lachen, sodass sie schnellstens den Laden verließ.
Wenig später hatte sie zwei zufriedene Kinder wieder bei sich, Lina mit kakao-verschmiertem Gesicht, und Tom zeigte ihr stolz sein neues Zungen-Tattoo. Gerührt streichelte sie beiden über die Wangen.
Kurz darauf bestiegen sie gemeinsam das Auto und legten die letzten 38 Kilometer nach Hause zurück. Noch zirka 45 Minuten. Barbara konnte die Heimkehr kaum erwarten!
***
In Großdummsdorf saß Frank gerade beim Frühstück, als Barbara den Laden verließ. Es eilte ihn nicht, wusste er doch, dass sie tagsüber ohnehin mit den Kindern auf dem Feld verbringen würde. Vor Mittag würde er sie bestimmt nicht zu sehen bekommen. Es genügte also, wenn er rechtzeitig zum Essen kam, und er freute sich schon auf richtig deftige Hausmannskost.
Schließlich widmete er sich noch dem bisschen Haushalt, räumte sein Frühstücksgeschirr weg und goss Barbaras Rosen. Sie würde ihn kaltlächelnd lynchen, wenn er dies vergäße. Kurz vor elf Uhr saß er im Wagen und verließ den Hof in Richtung Kleindummsdorf. So gutgelaunt wie schon lange nicht mehr begab er sich auf die Hauptverbindungsstraße zwischen den kommenden Städten und Dörfern und ließ das Ortsschild hinter sich.
Die zweispurige Straße war kurvig und stieg bald darauf leicht hügelig an. An der Spitze der Serpentine angekommen, hörte er Sirenen im Hintergrund. Er hielt rechts an und schaute von oben die wieder abfallende Straße hinab.
Plötzlich verwandelte sich sein Leben in einen Albtraum. Seine Augen sahen so scharf wie noch nie. Vor sich erblickte er zwei Autos, ineinander verkeilt, als hätten sie sich in einer letzten, liebenden Umarmung gefunden.
Auf der Straße lag in einer großen Blutlache ein Nintendo DS, und im rechten Graben ein rosafarbenes Plüschpony mit blutverschmierter Mähne. Er kannte beides.
Und dann sah er seinen Sohn, den er an seiner Kleidung erkannte. Tom lag in einem Feld und war offensichtlich beim Aufprall aus dem Wagen geschleudert worden.
Eine Menschen-Traube stand um die Unfallstelle herum. Vier Krankenwagen versuchten vergeblich, durch die Masse zu kommen. Zwei Gerätewagen der Feuerwehr befanden sich bereits vor Ort, und seine Kollegen von der Streife versuchten, die Menschenmenge auseinander zu treiben.
Ohne Rücksicht auf Verluste startete Frank den vorher abgestellten Motor und raste den Hügel hinab. Mit quietschenden Reifen stoppte Frank seinen Corsa und verließ eilends den Wagen, verzweifelt bestrebt, zu seiner Familie zu kommen. Aus den Augenwinkeln sah er einen Hubschauber landen. Zwei Sanitäter leisteten Tom Erste Hilfe, und kaum zwei Minuten später wurde sein Sohn abtransportiert.
Tränenüberströmt sah Frank dem Hubschrauber nach. Für Tom konnte er nur noch bibbern und beten. Als dieser hinter der nächsten Wolke verschwand, drängte er mit Brachialgewalt einige Katastrophen-Touristen zur Seite, nur um vor der nächsten lebenden Mauer zu stehen.
Voller Zorn drückte er weiter und weiter und fühlte sich wie ein Nicht-Schwimmer in unergründlichen Tiefen, der versuchte, nicht zu ertrinken. Schließlich schaffte er es, dass sich eine kleine Gasse bildete, und er rief seine Kollegen zu Hilfe. "Hier!", brüllte er mit sich überschlagender Stimme. "Hier ist eine Lücke, bitte helft meiner Familie."
Als ob jemand soeben einen Startschuss gegeben hatte, rannten acht Sanitäter an ihm vorbei und machten sich gemeinsam mit einigen Feuerwehrmännern an den beiden Autos zu schaffen.
Frank versuchte, den Männern zu folgen, wurde jedoch von zwei Polizisten daran gehindert. Haltlos schluchzend sah er, wie vier leblose Körper am Straßenrand abgelegt wurden. In zwei von ihnen erkannte er Babsi und Lina. Schreiend begann er, um sich zu schlagen, um sich aus dem eisernen Griff der Kollegen zu befreien. "Lasst mich zu meiner Frau und meiner Tochter!"
Er holte aus und schlug dem linken Polizisten die Faust auf die Nase. Mit einem Schmerzensschrei ließ dieser ihn los und rief einen weiteren Kollegen zu Hilfe.
Dieser schien ihn zu kennen. "Frank!", sprach er in beruhigendem Ton. "Das bringt doch nichts. Du siehst doch selbst, dass es kaum ein Durchkommen gibt, und deiner Familie wird schon geholfen. Hab einfach Vertrauen und warte ein bisschen."
Er wurde auf die Seite geführt und noch einmal eindringlich gebeten, nichts zu unternehmen. "Du würdest den Verletzten nur schaden, das weißt du als Kriminaler doch selbst am Besten."
Notgedrungen hörte Frank Mittnacht auf seinen Kollegen. Zur Sicherheit wurden ihm drei weitere Polizisten zur Seite gestellt. "Peter", sprach er den ersten mit brechender Stimme an. "Versprich mir, dass du mir sagst, was mit Lina und Barbara ist."
Mit traurigen Augen sah dieser ihn an. "Klar, Frank, will ich dir das versprechen. Es wird alles gut!"
Kommissar Mittnacht wandte sich ab. Von seinem Standort aus hatte er einen guten Ausblick zum Unfallort und beobachtete mit rasendem Herzen, was dort geschah. Alles spielte sich wie in Zeitlupe ab, wo es doch um das Leben seiner Familie ging.
Wie in einem Film sah er Notärzte und Sanitäter im Großbild-Zoom, wie sie sich verzweifelt um die Unfallopfer bemühten. Bei Barbara erhob sich der Notarzt soeben vom Boden und schüttelte kaum merklich den Kopf.
Frank bemerkte, wie sich auch die Helfer bei Lina verschwörerisch erscheinende Blicke zuwarfen - und da machte etwas "Klick" in seinem Gehirn.
Ohne dass ihn jemand daran hindern konnte, raste Frank Mittnacht fast augenblicklich wie ein wildgewordener Stier durch die Masse, schlug um sich und schrie: "Ihr Mörder! Ihr gottverdammten Mörder!"
Wieder und wieder brüllte er dieselben Worte, hätte sie am Liebsten jedem Einzelnen von ihnen auf die Stirn eingebrannt.
Hinter sich hörte er die rennenden Schritte seiner Kollegen, die plötzlich zu seinen Häschern wurden - dabei hatte er gar nichts getan!
Er spürte, wie ihm jemand beide Arme auf dem Rücken umdrehte - der wohlbekannte Polizeigriff. Und nun spürte er dessen Schmerz an eigenem Leib. Dunkel begriff er, wie fies und raffiniert dieser war. Frank hoffte, ihn nie wieder anwenden zu müssen. Dann spürte er den Pieks einer Nadel.
Sekunden später wurde ihm schwummrig. Fast unhörbar hauchte er die Worte hervor: "Das werdet Ihr büßen!"
Um ihn wurde es Nacht!
Irgendwann später kam Frank Mittnacht in Irgendeinem grellweißen Zimmer wieder zu sich. Seine leer erscheinenden Augen starrten gegen eine neongleißende Decke im Irgendwo. Neben ihm stand ein junger Mann im weißen Kittel und machte sich an Irgendetwas zu schaffen.
Der Mann im Bett war diesem unheimlich, und Angst stand in seinem noch unfertigen Antlitz. Tino Machweter stellte das Tablett mit den geschlossenen Menüschalen ab.
Die Worte, die Frank hervor stieß, wieder und wieder wie ein schlechtes Mantra, brannten sich ein in sein Gehör. Sie begannen, in seiner Seele zu hallen, wurden leiser und lauter, lauter und leiser, langsam und schnell.
Scheu warf er einen Blick in das entseelte Gesicht seines Patienten. Dessen Lippen bewegten sich unaufhörlich und brabbelten heiser in immer demselben Tonfall: "Ihr habt sie umgebracht! Ihr habt sie einfach so umgebracht!"
Der Junge wich langsam zurück bis zur Tür und hastete dann in seinem eigenen Schlappentakt den Gang entlang.
Franks Blick glitt zur Tür. Seine Augen begannen allmählich, klarer zu werden und sich mit Tränen zu füllen. Als er im Hier und Jetzt das leise Klicken der Klinke wahrnahm, ließ er sich treiben und versank wieder in seinem Nirgendwo.
***
Die Welt war doch so offensichtlich! Diese Wahrheit hatte sich Frank Mittnacht angeeignet, und er fühlte sich bestätigt, als er nach dem Spiel vor dem Stadion von Großdummsdorf stand und das Treiben beobachtete. Der lärmende Pulk zog vorüber, schwatzend, lachend und bellend, nicht darauf bedacht, wo sie ihre Füße hinsetzten, blind für ihr Umfeld, geradezu ignorant. Sie waren so absehbar!
Ein junger Mann grinste ihn an und schob sich eine der langen Strähnen hinter das Ohr, als er mit seiner Freundin vorbei schlenderte.
Der Unbekannte wusste bereits jetzt, wie verlegen sie lächeln würde. Er ahnte, wie der Junge nach ihren Fingern tasten und sie beide abziehen würden, frisch verliebt und glücklich in ihrer eigenen Naivität.
Es war nicht so, als hätte er es ihnen nicht gegönnt. Im Gegenteil: vielleicht war er sogar neidisch auf ihre stumpfe Sicht der Dinge, die um sie herum geschahen.
Sie würden sich noch überraschen lassen: Von dem Finale ihrer Lieblingsserie. Sie würden über die Witze und raffinierten Pointen lachen, und sie würden die Offensichtlichkeit ihrer Umwelt mit ihrem dümmlichen Grinsen übersehen. Ignoranz, während er hier stand und die einzige, harte Wahrheit mit sich herumtrug: Die Offensichtlichkeit der hiesigen Welt. Mit langsamen Bewegungen ließ er sich von der Masse verschlucken, ertrank in ihr und tauchte wenige Sekunden später darin wieder auf. Jeder Schritt mit Bedacht.
Er genoss es, anders zu sein als der lärmende Pulk, seinen Verstand zu gebrauchen und die Augen offen zu halten. Er wollte ihnen zeigen, wie SIE eigentlich waren.
Manchmal blieb ein Blick an ihm hängen, einige Male sogar zwei, aber es waren nie mehr als ein paar Sekunden Aufmerksamkeit. Mit demselben Atemzug war er auch schon wieder vergessen. Ein Zufallsblick - oder auch zwei!
***
Seit dem Tod seiner Familie hatte Frank sich verändert. Seine Wahrheit war bitter geworden, bitterer als Bittermandel-Aroma. Nahezu tödlich für seine Seele.
Noch einmal schweiften seine Augen über die Menge und verfolgten in der Ferne das glückliche Paar. Der junge Mann überragte die Menschen um ihn herum um ein gutes Stück, so dass Frank sogar jetzt noch das Wippen seiner langen, braunen Haare erkannte.
Seine zierliche, blonde Freundin hingegen wurde von der wogenden Menschenmenge verschluckt. Wie seine Familie!
Irgendwie fühlte er sich wie Chucky. Nur mit dem Unterschied, dass er nicht zu morden begann. Selbst diese hässliche Killerpuppe hatte eine Familie gehabt, eine liebende Frau, und sogar eine Tochter. Oder war es ein Sohn? Dieses Puppen-Etwas war zwar genauso verrückt wie der Vater, doch immerhin besser als nichts.
Er hingegen hatte in einem Irgendwann in seinem Irgendwo etwas Besonderes gehabt und war nicht nur ein Irgendwer gewesen, so wie es jetzt war. Sein Irgendwo war ein Ort gewesen, der Liebe ausstrahlte, die Fröhlichkeit seiner beiden Kinder, und eine besondere Zeit mit seiner Frau. Der Hohlraum seines Irgendwanns war mit ihrer Aura gefüllt und hatte ihn - Irgendwen - zu ihrem Helden gemacht.
Was blieb, war das Nirgendwo!
Nach dem Unfall, bei dem Barbara und Lina ihr Leben verloren, hatte Frank eine Zeitlang in einer Nervenheilklinik verbracht. In diesem Irgendwann wurde das Nirgendwo in ihm geboren. Es gab noch einen Teil von ihm im Hier und Jetzt, ein Rest Besonderheit, der ihn nicht vollends zu einem Nirgendwem machte.
Dieser letzte Rest Besonderheit war mit ihm ins Stadion gegangen - nicht mit Irgendeinem, sondern mit Ihm.
Sein Fleisch und Blut, und dieser letzte Rest Besonderheit hielt sein Irgendwas an einem seidenen Faden. Dieser hatte weizenblonde Haare wie seine Mutter, diese Steigerung der Besonderheit, die Frank in ungeahnte Höhen erhoben hatte, als es diese noch für ihn gab.
Diese besondere Frau hatte ihn - den Irgendjemand - geliebt. Für sie hatte es nichts Anderes gegeben, nicht Irgendwas, nicht Irgendwen, sondern nur Ihn.
Er hatte ihr nicht viel zu bieten gehabt, weder Attraktivität noch besondere Hässlichkeit, sondern nur ein Durchschnittsgesicht.
Frank Mittnacht war nicht nur ein Irgendwer, sondern zudem ein Jedermann. Sein größtes Glück war indessen gewesen, dass sie nicht Jedermann liebte, wie es Irgendwelche Frauen oft taten und ihre Geliebten dadurch zu Irgendwem machten. Er war ihr Erster gewesen. Von Kindheit an bis zum letzten Tag, an dem Barbara und Lina zu einem Nirgendwas wurden, hatte sie ihm die Treue gehalten.
"Papa, gehen wir nach Hause?", holte ihn Toms Stimme zurück in die Realität. "Wie lange willst du hier noch herum stehen und darauf warten, dass etwas geschieht?"
Frank wandte ihm den Blick zu und sah ihn voll an. Mittlerweile war sein Sohn zum richtigen Gothic geworden, zumindest zu dem, was dieser darunter verstand. Zwei Jahre waren seit dem Unfall vergangen, und dieser Rest Besonderheit, der Barbaras Schoß und seinen eigenen Lenden entsprungen war, wurde erwachsen. Nicht mehr lange, und er würde ihn überragen.
Schwarz war schon damals zu seiner Lieblingsfarbe geworden, als seine Mutter noch lebte. In der Zwischenzeit gab es für ihn nichts Anderes mehr.
Sein ganzer Stolz waren seine drei Piercings. Wo immer Tom ging und stand, hinterließ er einen Hauch nostalgischer Melancholie, und die Mädchenherzen flogen dem Jungen jetzt schon zu.
Frank gönnte es ihm, und er ließ ihm in allem, was er tat, seine Wahl. Er konnte sich Großzügigkeit leisten, denn er wusste, dass Tom nie etwas täte, was jemand Anderem schaden würde. Er war froh, dass dieser sich abhob. Ein Jedermann hatte es schwer und musste sich alles im Leben hart erkämpfen, sei es Achtung und Respekt, ja sogar Liebe.
Kommissar Mittnacht konnte ein Lied davon singen. Ohne Barbaras kindliche Bewunderung in seiner Jugend wäre er heute nicht da, wo er stand. Er wäre nichts weiter als ein herkömmlicher Streifenpolizist und müsste sich tagtäglich all den Problemen und kleinen Sünden der Bevölkerung widmen. Er jedoch hatte sich dies verdienen wollen, was sie in ihm sah, und so ging er schließlich zur Kriminalpolizei.
"Wie kommst du darauf, dass ich auf etwas warte?", reagierte Frank auf Toms halb fragende Aufforderung, ihren Tag an Ort und Stelle zu beenden.
"Ach komm schon, Paps, deinen lauernden Tigerblick kenne ich doch. Es ist nicht das erste Mal, dass ich ihn sehe."
"Ist das so?", hakte Toms Vater brummend nach und rieb sich dabei nachdenklich das stopplige Kinn. "Dessen bin ich mir gar nicht bewusst."
"Ja, Papa", bestätigte der Junge noch einmal. "Manchmal kommt es mir vor, als ob du hoffst, dass dir jemand etwas bietet, das dir Grund gibt, dich aufzuregen."
War es mit ihm schon so weit gekommen? Hielt ihm sein dreizehn-jähriger Sohn zu Recht einen Spiegel vor? War der Rest seines bisschen Lebens so öde geworden, dass er den Ärger regelrecht suchte? Frank wusste es nicht, und alles in ihm sträubte sich dagegen, sich selbst so sehen zu müssen.
Das Lachen war durch Barbara immer an seiner Seite gewesen, und er hatte ihr Lachen geliebt. Sie war durch sein Leben getanzt, und ... ohhh: Nicht nur bei Tag, sondern auch in der Nacht. Es war bestimmt nicht einfach gewesen, ihn zu lieben und mit ihm zu lachen.
Frank wusste über sich selbst sehr wohl Bescheid. Sein charakterliches Abbild stand neben ihm. Im Gegensatz zu seinen eigenen Eltern ließ er Tom jedoch genügend Raum, um sich selbst zu entwickeln, ohne allzusehr über die Stränge schlagen zu müssen.
Er selbst war in seiner Jugend etwas wilder gewesen, öfter im Bestreben, aus dem Käfig, in den sein Vater ihn gesteckt hatte, auszubrechen und sich heimlich an ihm zu rächen. Besser gesagt: An seiner Mutter, denn dieser hatte auch nur deren Erziehung gestützt, nur mit seinen eigenen Mitteln.
"Komm, gehen wir, Sohn", forderte er seinen Jungen auf und schlug ihm kumpelhaft auf die Schulter. "Beenden wir den Tag bei einem Rumpsteak in Pullermanns Steak-House."
Beide prusteten plötzlich einheitlich los. "Mit so einem Namen hätte ich mich schon lange erhängt", antwortete Tom. "Geschweige denn, damit ein Steakhouse eröffnet."
Es war das erste Mal seit Langem, dass sie gemeinsam lachten. Dabei hatte Tom Lebensfreude verdient. Nur sein unbändiger Wille hatte ihn damals am Leben erhalten.
Er war es gewesen, der mit dem Handy seiner Mutter den Notruf abgesetzt hatte, schwer verletzt wie er selbst gewesen war. Danach hatte er sich in das Feld geschleppt, in dem die Sanitäter ihn geborgen hatten, und war dort bewusstlos zusammen gebrochen.
Während der Vater in der Klapsmühle gewesen war, hatten die Ärzte den Sohn im selben Klinikum, nur drei Stockwerke tiefer, wieder zusammengeflickt. Tom war nach vier Wochen wieder aus dem Krankenhaus draußen gewesen und verblieb ein Jahr bei Barbaras Eltern.
Frank war indessen nicht nur einmal am Fenster gestanden, mit dem Wunsch, sich in die Tiefe zu stürzen. Die Gitterstäbe hatten jedoch das Allerschlimmste verhindert. Er hatte sich die ganze Zeit so absolut wertlos gefühlt, so absolut nichts, schlimmer als jemals zuvor.
Zwei Monate nach dem Unfall hatte er erfahren, dass sein Sohn Tom noch lebte. Das gab ihm Auftrieb, und weitere vier Wochen später gelangte er angeblich stabil zurück in sein Irgendwo.
Erst später erhielt seine Welt wieder Konturen, in der Kälte des Winters, die er in Kleindummsdorf bei Barbaras Familie hinter sich ließ. Es war eine Zeit der gemeinsamen Tränen gewesen, die er mit ihren Eltern und Geschwistern verbrachte. Vater - und Sohn - Tage, die weihnachtlichen Friedenstage der Illussion.
Tom hatte diese Nähe zu den Wurzeln der Mutter gebraucht, um den eigenen Schmerz und die Trauer einigermaßen aushalten zu können.
Als Frank wieder zur Arbeit konnte und wollte, blieb sein Sohn einfach da, und möglicherweise war dies zum damaligen Zeitpunkt auch besser für den Jungen gewesen.
Mittlerweile waren sie hingegen wieder zusammen, und Tom lebte bei ihm in Großdummsdorf. Das Haus hatte Frank behalten, schließlich hatte er teuer dafür bezahlt. Und nun gingen Vater und Sohn Schulter an Schulter zum Parkplatz des Stadions, einander sehr ähnlich und doch so verschieden. Gemeinsam ließen sie sich von der Masse verschlucken, ertranken in ihr und tauchten wenige Sekunden später darin wieder auf.
Jeden einzelnen ihrer Schritte taten sie mit Bedacht. In Eintracht ließen sie den Pulk hinter sich und genossen die Blicke, die auf sie fielen.
Simultan zueinander griffen Vater und Sohn in das Innere ihrer Jacken und zogen zwei fast identische Sonnenbrillen heraus. Mit lässigem Fingerschnippen setzten sie diese auf, sahen blinzelnd hinauf in die Herbstsonne und kickten einen Laubhaufen am Wegrand zur Seite.
Ein gelöstes Lächeln verjüngte Kommissar Mittnachts Gesicht. Ausnahmsweise war er heute mal glücklich!
***
Aus dem Herbst wurde der Winter. Wieder rückte Weihnachten näher. Die beiden verbliebenen Mittnachts sahen den kommenden Feiertagen mit Schaudern entgegen. Tom flüchtete regelrecht aus dem Haus, weil sein Vater ihm immer unheimlicher wurde. Frank streifte durchs Haus wie ein rastloser Panther, und sein Blick nahm wieder jene seltsame Leere an, die ihm schon aufgefallen war, kurz nachdem dieser aus dem Krankenhaus entlassen worden war.
Er selbst suchte Zuflucht im Kreis seiner Freunde und traf sich mit ihnen regelmäßig hinter dem Friedhof der Stadt.
Seit Kurzem interessierte er sich für ein hübsches Mädel, welches er in der Schule kennengelernt hatte. Sie war zwei Jahre älter als er.
Dem Jungen imponierte ihr Mut, mit kahlgeschorenem Schädel herumzulaufen. Tamara konnte sich dies auch locker leisten, wie Tom jedenfalls fand.
Sie war noch nicht lange zu seiner Clique gestoßen, und eigentlich passte sie auch nicht wirklich zu seinen Freunden. Hubert, Markus, Guido, Sabine und Wilke waren nicht sehr begeistert und hatten ganz schön gelästert, weil er sich mit einer Skinny abgab.
Hubert hatte ihn zur Seite genommen und ihn gewarnt: "Das könnte Ärger geben, wenn ihre Freunde dies merken. Goths und Skins mochten einander noch nie."
"Ach was", hatte Tom spöttisch gelacht. "Mein Vater ist Bulle, was soll uns da geschehen?"
Sabine kam hinzu und fragte die beiden Jungs: "Seit wann haben wir Geheimnisse voreinander?"
"Hubert hat Angst, dass wir Ärger bekommen", klärte Tom sie auf. "Wegen Tamara."
"Da hat er ja auch recht, findest du nicht?", fragte sie. "Sie passt nicht zu uns."
Hubert wandte sich erneut an Tom: "Dein Paps mag zwar ein Bulle sein, aber ein Kindermädchen brauchen wir nicht. Lass ihn aus dem Spiel und bleib uns weg mit der Tusse."
"In dem Fall bleibe ich auch weg. Ihr könnt mich mal!" Tom Mittnacht ging zurück zu den anderen und suchte Tamara. "Du bist hier nicht erwünscht. Komm, wir gehen!"
Demonstrativ schnappte der junge Mittnacht sie bei der Hand und zog sie mit sich. Die empörten Mienen seiner angeblichen Freunde hinterließ er unbeeindruckt im Winterschatten der Nacht.
Als ihm sein bester Freund Markus hinterher eilte und die Hand auf seine Schulter legte, im Versuch, ihn zu halten, schüttelte er ihn locker ab.
"Ihr denkt alle, Ihr wärt ja so cool", höhnte er. "Trefft euch auf Friedhöfen im Kerzenlicht, zieht euch schwarz an und hört eure Gruselmusik. Ihr stemmt euch gegen alles, lebt in einer Vergangenheit, die es nicht mehr gibt, sucht das Dunkle, und habt doch keine Meinung. Und wenn etwas geschehen würde: Da hätte jeder einzelne mit all seinen Ringen, Totenköpfen und Piercings die Hosen voll. Solche Freunde brauche ich nicht. Mein Vater ist tausendmal cooler als Ihr alle zusammen."
"Tom, hör mal ...", rief Markus ihnen noch nach, nachdem er sich endgültig abgewandt hatte, doch er rannte bereits mit seiner Freundin hinaus in die Nacht, lachend, glücklich und frei. Hand in Hand schlenderten sie gemeinsam über den Marktplatz, setzten sich auf die rundum laufende Bank unter der steinalten Linde, redeten und genossen die winterlichen Nebelschwaden, die ihr Atem in den Laternenschein malte. Unter ihren Füßen knirschte eine leichte Reifdecke, das Maximum, was der Dezember in Großdummsdorf noch aufbieten konnte.
Ein Nikolaus bog bimmelnd in die Gasse zwischen Rathaus und Kirche ein, auf seinem gebeugten Rücken schleppte er einen riesigen Jute-Sack. "Komm, Tammy", forderte Tom seine kleine Skin-Freundin auf. "Schauen wir mal, ob er uns etwas beschert."
Lachend sprang sie auf die Füße, zog ihn hoch, und gemeinsam rannten sie dem Mann hinterher.
Etwas später lief beiden ein leichter Schauer über den Rücken. Um sie herum leuchtete die Weihnachtsbeleuchtung der Stadt.
Die Kirchenglocke läutete mit elf Schlägen die volle Stunde ein, und St. Nikolaus verschwand vor ihren Augen im Nebel. Neben dem Hintereingang der Kirche zeigten vereinzelte Reifbüschel wie Totenfinger anklagend in ihre Richtung - und dazwischen lag ein erschlagener Schäferhund.
***
Kommissar Mittnacht wusste nicht mehr so genau, wann er begonnen hatte, sich für Alexa und Sebastian zu interessieren. Er hatte das junge Paar bei einem Freundschaftsspiel des SV Großdummsdorf gegen die Memminger Kickers kennengelernt. An jenem Tag Anfang Oktober war er mit seinem Sohn im Stadion gewesen, und da fielen sie ihm das erste Mal auf.
Es war ein ungewöhnliches Paar, auffällig durch die Größe des Jungen, dessen demonstrativer Coolness und der Zierlichkeit seiner Freundin. Alexa hatte blonde, lange Locken wie seine verstorbene Frau und wirkte ebenso schutzbedürftig wie sie. 'Ein Wolf und ein Lamm', hatte er gedacht, als er sie das erste Mal im Fokus hatte.
Frank sah das Pärchen wieder. Nicht nur einmal. Wieder und wieder. Als würden sie ihn verfolgen, liefen sie ihm auf seinen regelmäßigen Streifzügen durch die Stadt über den Weg. Oder er ihnen.
Er sah sie im Park, wie sie unter den herbstlichen Laubbäumen flanierten. In der Stadt mit ihren Freunden, wie sie mit ihnen lachend durch die Gassen im Stadtkern zogen. Er begegnete ihnen auf dem Marktplatz, wo er des Öfteren herumlungerte wie ein hungriger Tiger auf seinem Raubzug.
Vor seinem Stammlokal erblickte er sie, wenn er sich mit zwei seiner Kollegen zum Skat traf.
Er sah sie in so vielen Situationen, die sie gemeinsam erlebten. Manchmal mit einem älteren Paar, von dem er vermutete, dass dies die Eltern von Irgendwem waren. Er sah sie allein auf der Bank, auf der er selbst meistens saß, eingemummelt in warme Winterjacken - und ineinander.
Öfter mit einer Clique vor der Spielothek, viele der Jungs mit langen Haaren wie Basti. All seine Freunde nannten ihn so, wie Frank schon lange spitzgekriegt hatte. Er sah sie leben - doch niemals allein.
Alexa und Sebastian. Alex und Basti. Ihre Namen geisterten ununterbrochen durch sein Gehirn wie ein hallendes Echo.
Es war ihm ein Leichtes gewesen, an ihre Namen zu kommen. Er hatte sie heimlich mit seiner Handy-Kamera fotografiert, und Josef Neureuth besorgte ihm anhand der Fotos Name und Adresse der beiden.
Sein Freund und Kollege hatte sich zwar gewundert, was er damit wollte, gab sich aber mit Franks lapidarer Erklärung zufrieden, dass sie eventuell wichtige Augenzeugen bei einem Banküberfall in Memmingen gewesen waren. Er hatte sich schon lange abgewöhnt, Fragen zu stellen und tat, was man ihm sagte. Der 42-jährige Mann war für die Recherchen in Franks Team zuständig, und kaum jemand ahnte, welche Quellen er hatte.
Es hätte sich auch niemand dafür interessiert, solange seine Kollegen das Ergebnis bekamen. Und so stellte auch er keine Fragen!
Alexa Winter und Sebastian Tränkle: Alex und Basti! Irgendwann wusste Frank alles über die beiden, und das Paar wurde zu seinem neuen Irgendwo.
Er wusste, wann sie ihre Wohnung verließen, um Freunde zu treffen, er wusste, wo sie sich trafen. Er sah, wann sie sich küssten, und manchmal sogar, wann sie sich liebten.
Die beiden waren nicht sehr konventionell, und ihre Welt war kein Irgendwo. Ihre Welt war ein Universum - das Universum der Liebe. Ihre Welt war die Stadt - seine Stadt, sein Revier.
Er teilte es gern mit ihnen, sah sie gern lieben und lachen. Dadurch erhielt auch sein Irgendwo wieder Konturen.
Eines schönen Wintertages trat ein neues Irgendwann ein. Die Konturen begannen erneut, sich zu vermischen. Frank und Barbara Mittnacht wurden wiedergeboren. Wiedergeboren in seinem Gehirn, reinkarniert in den Körpern von zwei jungen Menschen. Kommissar Mittnacht wusste auch nicht so genau, wann es begann!
Vielleicht passierte es, als Alex auf Franks Heimweg über die Fußgängerzone auf dem Glatteis ausrutschte und er die zierliche Blonde auffing, bevor sie auf dem harten Boden aufschlug.
Vielleicht in diesem Moment, als er verhinderte, dass Bastis dampfender Glühweinbecher bei einem Zusammenprall mit ihm auf das gefrorene Steinpflaster fiel.
Oder an diesem einen Abend, an dem er da stand, in Gedanken bei Barbara und dem Duft ihres Haares, seine Hände an dem Stein der Litfasssäule, vergeblich nach etwas tastend, das ihrer Haut gleich kam und in die Dunkelheit starrend, in der Hoffnung, ihre Augen zu finden.
Er hatte Alexas - Barbaras - Stimme bereits von Weitem erkannt. Inzwischen war sie ihm so vertraut wie eine Freundin, obgleich sie ihn nicht einmal kannte. Oder wie eine Geliebte. Die beiden luden ihn ein in ihr Universum der Liebe, und das galt es zu schützen. Ohne ein Wort, ohne ihn jemals zu sehen, nur durch seine Präsenz. Für sie war er unsichtbar, und doch war er da und sah ihnen aus seinem Nirwana heraus beim Leben zu.
Alexa rief fröhlich winkend ihren Geliebten, und Basti lachte zurück. Lachte glücklich wie Frank beim Klang seines Namens, als dessen Irgendwo noch kein Nirgendwo war. Als Barbara noch seinen Namen rief!
Er vermisste sie so sehr, dass es körperlich weh tat. Linderung erhielt Franks Schmerz nur in diesen Momenten, die er in ihrem Schatten verbrachte.
Oft sah er Bastis Versuche, Schritt zu halten mit ihr. Mit Alex, die ihm immer ein paar Nasenlängen voraus war. So wie Babsi es gewesen war: Erst handeln, dann nachdenken. Sie war ein tanzendes Abenteuer gewesen. Sein Abenteuer!
***
Am Nikolausabend hatte sich Frank noch einmal auf den Weg gemacht. Es war weit nach Mitternacht, und sein Sohn war noch nicht lange nach Hause gekommen. Er hatte ihm eine Geschichte erzählt, die dem Kommissar nicht sehr glaubwürdig erschien.
Toms Worten zufolge hatte dieser vor seiner Heimkehr gesehen, wie ein als Nikolaus verkleideter Mann einen toten Schäferhund vor die Kirchentür legte. Dies war zwar nicht wirklich ein Fall für seine Abteilung, doch die Überprüfung der Situation war für ihn ein guter Vorwand gewesen, noch einmal auf die Straße zu gehen.
Insgeheim hoffte er indessen, sich "seinem Pärchen" noch einmal auf die Fährte setzen zu können. Er wusste genau, dass sie sich in der Regel bis in die frühen Morgenstunden irgendwo herumtreiben würden. Also hatte er sich seinen dunklen Winterparka übergeworfen, die Autoschlüssel geschnappt und war zum Marktplatz gefahren. Er stellte seinen Corsa an der gewohnten Stelle außerhalb der Fußgängerzone ab und ging die letzten Meter zu Fuß.
Die üblichen Verdächtigen teilten sich mit ihm sein Revier, lungerten rauchend in Hauseingängen herum, frotzelten, lachten und tratschten. Von der Besinnlichkeit der Weihnachtszeit war bis auf die Straßenbeleuchtung nicht viel zu spüren - diese Illussion war schon lange in Großdummsdorf verloren gegangen. Ersetzt wurde diese durch eine unterschwellige, doch stets präsente Gewalt-Atmosphäre, wobei Frank nicht so genau wusste, weshalb er diese überhaupt wahrnahm. Sie versetzte ihn jedoch wie stets in einen angespannten Zustand der Alarmbereitschaft.
Er streifte die schmalen Kopfstein-Pflaster-Straßen entlang, die Augen schmal zusammengekniffen, der Blick lauernd wie ein Wolf auf der Jagd. Manchmal fiel der Lichtstrahl einer Straßenlaterne hinein und verlieh ihnen ein düsteres Glitzern.
Wie er es sich schon in frühester Jugend angewöhnt hatte, waren seine Schritte fast lautlos und schleichend. Bei seinem Vater war dies notwendig gewesen, um diesem keine Angriffsfläche zu bieten. Je unsichtbarer er sich selbst machte, umso weniger Ärger war zu erwarten.
Nur manchmal war er sichtbar geworden, wenn der Drang in ihm, sich an den Eltern zu rächen, überhand nahm.
Oder wenn er Barbara liebte!
Je weiter er vorrückte, umso lauter klang das Stimmengewirr der Nachtschwärmer - wie er - zu ihm herüber. Er folgte dem jugendlichen Klang ihrer Stimmen und setzte sich auf deren Fährte.
Auf einem Parkplatz hinter dem Rathaus sah er Basti und Alex im gedämpften Licht der Straßenlaternen. Sie sahen glücklich aus. Ihr Lächeln war getränkt von billigem Wein und der Euphorie der Nacht, die Frank so sehr fehlte.
Hand in Hand schlitterten sie auf zugefrorenen Pfützen herum, jagten einander im Kreis, kicherten, flüsterten verschwörerisch, brüllten. Energiegeladen feierten sie ihre Liebe und ihre Jugend.
Kommissar Mittnacht beobachtete sie eine Weile und schwelgte in Erinnerungen an Zeiten, die längst im Alltagsgrau untergegangen waren und erst durch seine eigene Einsamkeit und durch den Verlust seiner Familie wieder Bedeutung erlangten. Sein eigener Atem stand als kalter Nebel vor seinem Gesicht. Er sah die bedrohlichen Schatten, die sich lautlos heranschleichen wollten, dennoch.
Sie näherten sich von der Seite, geradewegs auf die ungeschützte Breitseite der jungen Liebenden zu. Weder Basti noch Alex würden darauf vorbereitet sein, dessen war er sich sicher.
Das wären Babsi und er genausowenig gewesen, und wenn doch, dann sähen sie keine Gefahr.
Wenn Naivität und Glück sich in den Herzen zweier Liebenden miteinander vermählten, dann dachte niemand an so etwas Grausames wie rohe Gewalt. Sie würden den Hass und die Ignoranz nicht in den Augen der jungen Männer erkennen, die sich die Haare abschoren, sich mit Ketten behängten, die schwere Stiefel anhatten, stets bereit, damit zu treten und dies, was nicht in ihre beengte Gedankenwelt passte, kaltblütig zu töten.
Würden die zwei es erkennen, dann wäre ihre Antwort ein Lachen, weil sie sich unter dem Schutzschirm der Liebe sicher fühlten. Barbara und er hatten genauso gelacht, über die Dummheit von Menschen, die sich nur mit Verachtung für Andre umgaben. Diese wussten nicht, was ihnen entging: Weil sie die Magie des Verliebtseins nicht kannten. Dafür stahlen sie anderen Menschen das Glück - und deren Leben.
Frank hörte auf zu denken und trat aus seinem Baumschatten im Dunstkreis der potentiellen Angreifer heraus. Niemand durfte dies stören, was er mit ihnen teilte. Es war ihr Universum: Von Alex und Basti. Von Babsi und ihm. Er vertrat dem Ersten der fünf-köpfigen Clique den Weg und blieb mit verschränkten Armen vor ihnen stehen. "Ich würde euch empfehlen, einen Umweg zu nehmen."
Seine Stimme klang eiskalt und knurrend, als er ihn ansprach. In seinen Gedanken stand Barbara hinter ihm, zitternd, verängstigt. Er musste sie diesmal beschützen. Ihr durfte nichts zustoßen. Nicht ihr. Nicht wieder. Nie mehr!
Aus dem Hintergrund drang Alex' Kichern zu ihm und vermischte sich mit der angriffslustigen Stimme des jungen Skinheads, der vor ihm stand: "Hey Arschloch, was soll das denn bedeuten, hä?"
"Hier geht es nicht lang." Er klang verkrampft. "Haut ab und nehmt einen anderen Weg!"
Ein vorlauter Halbstarker machte einen großen Schritt nach vorne. Seine Augen blitzten kämpferisch im Halbdunkel. "Und was ist, wenn wir eben hier lang wollen?"
"Hier geht es nicht lang", wiederholte Frank eisig. Er hörte Sebastians Lachen, als Alex etwas sagte, das er nicht verstand. Oder war es Barbara? Er bekam Kopfschmerzen.
"Ich würde jetzt da weg gehen!", schnauzte der Erste, der vor ihm stand. Er war etwas größer als die Andern und wirkte bedrohlich. "Oder es gibt eins auf die Glocke."
Der Glatzköpfige trat mit aufgeblähter Brust ganz nah an ihn heran und hauchte ihm seinen Alkoholdunst ins Gesicht. "Zisch endlich ab!"
Er hörte Kettengerassel und Stampfen, und das kampflustige Gröhlen der anderen Vier wurde lauter und lauter. Von der Seite flog eine angedeutete Faust auf Frank zu, ohne ihn zu touchieren.
Er blieb stehen, doch sein Herz ging durch. Sie wollten ihn schlagen. IHN! So wie sein Vater. Ihn, Frank, und Ihn, Basti. Wieder verwischten sich seine Konturen.
Etwas klickte in seinem Gehirn. Sie wollten Ihnen etwas tun: Basti und Alex. Babsi und ihm. Die Welt begann, sich um ihn zu drehen. Die Namen hallten vermischt durch sein Gehirn, wurden lauter und leiser, leiser und lauter.
Er würde Babsi beschützen. Ihren Duft. Ihr Lachen. Ihre Haut. Ihr Haar.
Er spürte ihr Zittern, wie sie hinter ihm stand. Ihr Schatten, ihr Geist, ihr Leben. Einstmals gewesen - oder noch da?
Plötzlich vernahm Frank ein kehliges Jaulen: "Scheiße Mann!" Sein Angreifer hielt sich die Nase. Auf einmal war da Blut in dessen Gesicht. Blut, viel Blut! Es rann zwischen seinen Fingern hindurch, verteilte sich auf den Seiten und tropfte langsam zu Boden. Blut, überall Blut. Frank sah alles wie im Wahn. Barbaras Blut?
Er heulte auf wie ein sterbendes Tier. "Was hast du getan?", brüllte er. Noch einmal sah er eine Faust fliegen und spürte den Schmerz fast augenblicklich. Er fraß sich in seine Niere. Wieso jedoch schmerzte seine eigene Faust?
Automatisch griff seine Hand unter seinen halbgeöffneten Parka, und er holte seine Dienstwaffe heraus. Franks Blick glitzerte irr. Seine Stimme jedoch klirrte wie Eis. "Was hast du mit ihr gemacht?", fragte er ihn noch einmal.
Sein Gegenüber war plötzlich wie gelähmt und blickte wie erstarrt in die gähnende Mündung. "Von ... von was redest du da?", stammelte der junge Skin. Ich ... ich habe mich doch nur gewehrt."
"Was hast du mit Babsi getan?", klang Franks heiserer Schrei in das Dunkel der Nacht und schien aus tausend Ecken zu hallen. Sein Blut rauschte wie ein Wildwasserfluss durch seine Adern, dröhnte in seinen Ohren und füllte alles in seinem Inneren aus. Er fühlte sich, als müsste er bersten.
Langsam wichen die fünf Halbstarken zurück, Schritt für Schritt und die Augen unverwandt auf Kommissar Mittnacht gerichtet.
"Scheiße ... kommt, lasst uns abhauen!" stammelte der Größere, der offenbar der Anführer war. In sicherem Abstand drehte sich einer nach dem Anderen um und rannte hinaus in die Winternacht.
Alex und Basti starrten mittlerweile zu ihm herüber. Angst stand in ihren Augen.
'Warum ...', fragte sich Frank, 'fürchten sie mich? Ich habe sie doch nur beschützt.'
Er sackte in sich zusammen. Alles in ihm schrie nach Barbaras Händen auf seiner Schulter. "Nie wieder!", schrie die bittere Wahrheit in ihm. "Nie wieder teilt sie dein Nirgendwo."
Sebastian nahm sein Mädchen fest an der Hand und hastete an ihm vorüber. Sein Blick streifte Frank, fragend, fast neugierig, zwischen Wachsamkeit und angstvollem Respekt. Er hatte den Wolf in ihm erkannt!
Kommissar Mittnach fragte sich, wann er Alexa vor diesem selbst schützen musste. Er wandte sich zum Gehen, im Bewusstsein, ihr Universum der Liebe gerettet zu haben.
***
Als er gegen zwei Uhr früh nach Hause kam, lag sein Sohn schon im Bett. Auch Tom konnte nicht schlafen und starrte hinaus in die Dunkelheit. Unablässig hatte er das Bildnis des erschlagenen Hundes vor seinen Augen, sah das eingetrocknete Blut auf dessen Schädel und fragte sich, was dies für Menschen seien, die so etwas Schreckliches taten.
Auf seinem Nachttisch glühten schwach die roten Lichter im Inneren eines Totenschädels aus Plastik, den er sich selbst dahin gestellt hatte. Plötzlich sah er sein Zimmer mit anderen Augen. Überall hingen und standen Relikte seiner Totenkultur, die er sich gemeinsam mit seinen Freunden aufgebaut hatte. Selbst sein Bett hatte Sargform und war sein ganzer Stolz gewesen, als seine Mutter noch lebte.
Der Tod war so weit weg von ihm gewesen. In seiner Vorstellung war dies nur eine andere Welt, und er hatte gern mit und in dieser gespielt. Mittlerweile jedoch begriff er, dass dies keine Spielewelt war.
Dies war der Moment, in dem er sich von seiner Kindheit zu verabschieden begann. Seine Hand tastete im Dunkeln auf der Suche nach dem Lichtschalter an der Wand entlang, und kurz darauf gleißte helles Licht in sein künstlich verdüstertes Zimmer. Mit angewidertem Gesicht setzte er sich auf und sah sich um. Sein fester Entschluss war gefasst!
Er wollte wieder Farbe in seinem Leben, und er würde sie sich verschaffen. Wenn dies bedeuten würde, dass er seine Freunde verlöre, dann wäre dies eben so.
Und er würde den Täter stellen, der ihm und Tamara einen solchen Schrecken eingejagt und ein Lebewesen getötet hatte. Zur Not ginge Tom Mittnacht seinen Weg auch allein!
Am Samstag, dem siebten Dezember, verbrachte Frank gemeinsam mit seinem Sohn den dienstfreien Morgen. Eine seltsame Stimmung hing in der Luft, und Tom war sehr schweigsam.
Kommissar Mittnacht hatte sich alle Mühe gegeben, um ein kulinarisch leckeres Frühstück mit Orangensaft, Rührei mit Speck und verschiedenen Brötchensorten auf den Tisch zu zaubern. Sie ließen sich Zeit.
Hin und wieder richtete sich Toms Blick nachdenklich auf seinen Vater. Er überlegte, wie er es anfangen sollte, ihm seinen Plan darzulegen. Schließlich fragte er ihn direkt: "Was geschieht jetzt mit dem toten Hund?"
Frank sah auf und zuckte nur mit den Schultern. "Ich kann dir nur raten, zur Wache zu gehen und Anzeige zu stellen. Aber da du ja keine Vermutung hast, wer dies gewesen sein könnte, dürfte das ziemlich aussichtslos sein."
Tom senkte den Blick. Auch sein Vater sah nicht viel Möglichkeiten, den Täter zu fassen. Den Weg konnte er sich also sparen, so wie es aussah.
"Paps, ich muss nachher mal weg. Ich treffe mich mit Tamara zum DVD gucken. Bist du den ganzen Tag zuhause?"
Frank bestrich sich ein Sesambrötchen mit Marmelade und biss herzhaft krachend hinein. "Eigentlich schon, ich habe frei. Soll ich dich fahren?", antwortete er und schnippte ein Körnchen von seiner Nase.
Tom errötete leicht. Das hätte ihm gerade noch gefehlt und hätte seinen ganzen Plan zunichte gemacht. "Nein, lass mal, Papa", wehrte er ab. "Ich gehe zu Fuß. Das sieht sonst so nach bravem Bull ... Polizistensohn aus. Du weißt schon, was ich meine!"
Frank grinste. Er verstand seinen Jungen nur zu gut, und den kleinen Versprecher nahm er ihm nicht sonderlich übel. "Na, dann mach mal, mein Junge. Tamara: Ist das die kleine Skinny, von der du mir erzählt hast?"
"Ja, Paps, das ist sie. Aber sie ist einfach wundervoll. Meine Freunde mögen sie nur leider nicht und haben Angst, wegen ihr Ärger zu kriegen."
"Du bist ganz schön mutig, dass du trotzdem zu ihr hältst. Und dass sie keine Haare hat, das stört dich nicht?", wollte Frank neugierig wissen.
Toms Blick wurde trotzig. "Sinead O'Connor hat auch keine Haare, und sie ist trotzdem schön. Du und Mama waren ganz verrückt nach ihr."
Frank hob beschwichtigend die Hände. "Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Es gefällt mir, dass du integer bist. Du bist für dein Alter schon ganz schön erwachsen." Kumpelhaft klopfte er seinem Sohn auf die Schulter.
Das Lob seines Vaters rann Tom hinunter wie Öl. Gefühlt wuchs er um einige Zentimeter. Insgeheim dachte er: 'Du wirst dich wundern, wie erwachsen ich noch werden kann.'
***
Am frühen Samstagmorgen ging Hanno Kekkonen zum Wochenenddienst. Er genoss die morgendliche Schneeluft ebenso wie den weihnachtlichen Trubel.
Auf dem Weg zum Präsidium kam er an der Bäckerei vorbei, wo er jeden Morgen sein Frühstück abholte. Der Polizeibeamte klopfte sich den Matsch vor der Tür von den Schuhen und betrat den Verkaufsraum. Das melodische Glockenspiel über der Tür hallte noch einen Moment nach. Genüsslich sog er den frischen Brötchenduft in sich auf und stellte sich an die Theke.
„Guten Morgen, Herr Kekkonen“, begrüßte ihn die ältere Verkäuferin freundlich. „Na, Sie bringen ja skandinavische Kälte mit.“ Sie zwinkerte ihm schelmisch zu.
Zerstreut schaute er auf ihr Namensschild. „Guten Morgen, Marianne“, grüßte er zurück und grinste verschmitzt. „Ich tue mein Bestes. Wäre doch schön, wenn die Kinder noch mal einen richtigen Winter erleben würden.“
„Da sagen Sie was. Eine Schinken-Käse-Seele und eine Brezel wie immer?“, fragte sie.
„Ganz genau. Sie sind doch wahrlich ein Schatz", schmunzelte er. Während sie seine Bestellung eintütete, holte Hanno schon das Geld aus seiner voluminösen Brieftasche heraus. Er bezahlte, nahm die Brötchentüte in die Hand und verließ mit einem fröhlichen „Bis Montag!“ den Laden.
Während dem kurzen Restfußweg zum Präsidium hing er in Gedanken bei der Nikolausparty, die ihm einen gewaltigen Kater beschert hatte. Der junge Mann hatte den gestrigen Abend gemeinsam mit seiner Familie und seiner Cousine Ronja verbracht.
Sie sahen sich nicht allzu oft. Seit sechzehn Jahren wohnten Ronja und Hanno mit ihren Familien in Deutschland. Hier hatte er seine Ausbildung gemacht, ebenso wie seine Cousine. Ronja wohnte berufsbedingt in Freiburg, und nur hin und wieder kam sie nach Hause.
Hanno überquerte den Zebrastreifen und grüßte Jana Abendroth, die ihm auf der anderen Straßenseite vom Geldautomaten entgegenkam. Ihre Wange war noch immer geschwollen, und sie trug eine Sonnenbrille.
Während sie ein paar Worte wechselten, versuchte er vergeblich, nicht allzu deutlich zu starren. Er vermutete stark, dass sich hinter der Brille ein Veilchen verbarg.
'Wieder einmal eine Frau, die sich gern mal an Türen stößt und regelmäßig die Treppe herunterfällt', mutmaßte er innerlich und hatte die gestrige Situation auf dem Parkplatz wieder vor Augen.
Jana war - wie er wusste - die beste Freundin von Ronja. Er hatte die junge Frau am Nikolausabend in der Alten Linde kennengelernt, doch auf die Bekanntschaft mit deren Freund hätte er lieber verzichtet. Dieser hatte allen den gesamten Abend versaut.
'Ein Frauenschläger, wie erbärmlich ist das denn?', dachte er empört, während Jana sich unter seinen Blicken wand.
"Vergessen Sie den Vorfall von gestern Abend", bat sie ihn mit gesenkter Stimme. "Es ist nichts. Aber trotzdem danke, dass Sie mir helfen wollten." Jemand hupte, und ihr Blick wurde panisch. In einer Parkbucht stand ein schwarzer BMW, und ein junger Mann winkte ihr drohend entgegen.
"Warum verlassen Sie den Kerl nicht?", wagte Hanno Kekkonen, die junge Dame zu fragen. Seine ansonsten recht fröhliche Stimme klang plötzlich bitter und ernst.
"Entschuldigen Sie, ich muss gehen. Wie gesagt, es ist nichts, machen Sie sich keine Sorgen." Jana wandte sich von ihm ab und stieg in den Wagen.
Ein bitterböser Blick aus blassblauen Augen streifte Hanno durchs Autofenster, als der Fahrer ohne Rücksicht auf Verluste mitten auf der Hauptstraße wendete. Ein weiteres, langgezogenes Hupen eines genervten Verkehrsteilnehmers folgte auf dessen halsbrecherische Aktion.
Hanno hielt die Luft an und erwartete ein blechernes Krachen, doch der BMW fuhr unbehelligt davon. Aus dem halb geöffneten Wagenfenster ragte eine Hand mit ausgestrecktem Mittelfinger heraus.
"Was für ein Flegel!", rief Hanno aus; war versucht, sich die Nummer zu merken und dachte dann, dass er sie anderweitig herauskriegen würde, wenn es drauf ankäme.
"Jesses!", stieß er nach einem Zufallsblick auf die Turmuhr aus, wandte sich ab und eilte davon.
Seine Schritte knirschten über die schmutziggraue Eisdecke, während er versuchte, sich mental auf seine Arbeit vorzubereiten. Doch er bekam die junge Frau nicht mehr aus dem Kopf.
Es war der Abschluss eines bis dahin recht vergnüglichen Abends gewesen. Einem der typischen Familienabende voll Harmonie, an dem sich Erwachsene benahmen wie kleine Kinder und sich sogar über den Nikolaus freuten.
Es war faszinierend: An solchen Tagen gab es ihn wirklich, und jeder tat so, als ob man an ihn glaubte. Statt Schokoweihnachtsmännern hatte es Kleiner Feigling für alle gegeben, in verkleideten Fläschchen, und jeder hatte sich drüber gefreut. Apfel, Nuss und Mandelkern hatten auch nicht gefehlt, ebensowenig wie Mandarinen. Sein Onkel war der Nikolaus gewesen und hatte alles verteilt. Dessen Tochter Ronja bekam unter allgemeinem Gelächter die Rute, indem sie von ihm - Hanno - übers Knie gelegt wurde.
Der einzige Wermutstropfen war das junge Pärchen gewesen, Jana und Stephan. Letzterer hatte sie kaum aus den Augen gelassen, und bei jedem Versuch, sich mit ihr zu unterhalten, hatte dieser geblockt. Vor Allem Hanno hatte er ganz offenbar auf dem Kieker gehabt und ihn ein paar Mal dumm angemacht.
Gegen 23:00 Uhr hatte er gemeinsam mit ihnen die Wirtschaft verlassen, eher durch Zufall. Der junge Polizist wollte über den Parkplatz nach Hause, da hatte er ein Klatschen vernommen. Wenig später war die junge Frau weinend hinter einem Baum hervor gekommen.
Hanno wollte ihr helfen, doch sie hatte ihn abgewehrt und war davon gerannt. Kurz darauf war ihr Freund zu ihm gekommen und hatte ihn angezischt: "Misch dich nicht ein!"
Kurz vor Mitternacht noch hatte er von zuhause aus Ronja angerufen und sie nach Jana gefragt. Es hatte ihm keine Ruhe gelassen. Seine Cousine hatte ihm bereitwillig von ihr erzählt, und meinte noch: "Der ihr Freund ist ein echtes Ekelpaket, aber sie ist meine beste Freundin und liebt ihn."
Kurze Zeit später stand Hanno vor dem Präsidiumsgebäude und versuchte, den Gedanken an die junge Frau beiseite zu wischen. "Eigentlich geht es mich auch gar nichts an", murmelte er.
Der Polizist gab an einer Schalttafel seinen Identifizierungs-Code ein und wartete auf das Bestätigungssignal. Nach einem kurzen Summen des Türöffners trat er ein und wurde von einer wohligen Wärme empfangen.
„Morgen!“, nickte Hanno seinem diensthabenden Kollegen durchs Bullauge entgegen, bevor er die Zwischentür zur Wachstube querte. Er begab sich in den Umkleideraum.
"Morgen ist Sonntag", rief ihm Polizeimeister Neumann spöttisch nach, was ihm nur ein müdes Lächeln entlockte.
Kurz darauf setzte sich Hanno an seinen Platz, fuhr den Rechner hoch und sah die Unterlagen auf seinem Schreibtisch durch. 'Nichts Dramatisches', dachte er, 'nur der übliche Kleinkram.'
Zwischenzeitlich verschwand Peter Neumann im Duschraum und kehrte eine halbe Stunde später frisch geduscht und in Privatkleidung zurück.
"Du stinkst wie ein ganzer Puff", höhnte Hanno, als ihm dessen After Shave penetrant in die Nase stieg.
Sein Kollege grinste ihn nur schief an, schnappte sich seine dicke Bomberjacke vom Haken und öffnete schwungvoll die Tresenklappe. Als Antwort klingelte er triumphierend mit den Autoschlüsseln, flötete "Schönes Wochenende" und marschierte gut gelaunt in Richtung Tür. Bevor er diese hinter sich schloss, streckte er ihm den gestreckten Hintern entgegen und schwenkte ihn demonstrativ hin und her.
Hanno Kekkonen prustete los. Es wirkte urkomisch, wenn dieser Kleiderschrank von Mann auf Tunte machte. Er wusste jedoch: Keiner war mehr Macho als Peter Neumann. Dessen Freundin Sabine - seine Nachbarin - konnte ein Lied davon singen. Doch wenigstens schlug der keine Frauen.
Er streckte sich gähnend auf seinem Stuhl und drehte sich gemächlich im Kreis. Kaffeeduft stieg ihm verlockend in die Nase. "Später", murmelte er und gähnte erneut.
Währenddessen stieg ein junger Mann, fast noch ein Junge, die Treppe hinauf und drückte dort auf den Klingelknopf neben dem breiten Eingangsportal. Frierend schlug er seine beiden Arme gegeneinander und wünschte sich, doch lieber seine gefütterte Lederjacke angezogen zu haben. Er fluchte und stapfte mit den Füßen, um den Matsch von den Schuhen abzustreifen.
Hanno drehte den Drehsessel noch einmal im Kreis und rollte gelangweilt zum Bullauge. Dort erhob er sich und trat auf die Schutzscheibe zu. "Ja, bitte?", fragte er ins Mikrophon. Auf dem schmalen Marmorsims lagen mehrere Prospekte.
"Ich möchte eine Körperverletzung anzeigen", plärrte es ihm nach einem kurzen Rauschen entgegen.
"Nennen Sie mir bitte Namen und Kennwort", antwortete Hanno und grinste.
"Hääähhh?", kam es langgezogen aus der Sprechanlage im Außenbereich.
"Ach ja, und das Logging", antwortete Hanno und verkniff sich ein Kichern.
"Mach keinen Quatsch, Mann, und öffne die Tür!", antwortete die Stimme des jungen Mannes erbost.
"Buchstabieren Sie 'Quatsch'. Ist das Ihr Name?", fragte Hanno ins Mikrophon und rieb sich feixend die Hände.
"Nein, mein Name ist Schwartz. Maik Schwartz", antwortete der Mann.
Hanno ließ sich schließlich erweichen und betätigte den elektronischen Türöffner.
Ein dumpfes Summen erklang. Maik Schwartz drückte gegen die Tür und betrat den gekachelten Vorraum. Rechts stand eine Wartebank. Neugierig betrachtete er die Steckbriefe an der dahinter liegenden Wand und zuckte zusammen, als er den Steckbrief seines Onkels entdeckte.
Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, stellte sich vors das Bullauge und wiederholte: "Ich möchte Anzeige stellen." Dabei deutete er auf seine zugepflasterte Nase.
Hanno nickte zur Bestätigung, dass er den Jungen verstanden hatte. "Ham Sie 'nen Perso?"
"Häh?"
"Reisepass? Führerschein?"
"Häh, nein!"
"Können Sie sich irgendwie ausweisen?" Hochkonzentriert starrte Hanno ihn durch das geschlossene Bullauge an.
"Bin ich Ausländer, oder was?", fragte Maik sichtlich genervt.
"Also ohne irgendeine Identifizierung kommen Sie hier nicht herein. Entweder wollen Sie ein Problem loswerden, oder Sie lassen es bleiben", antwortete der blondgelockte Polizeibeamte ungerührt.
"Sagen Sie das doch gleich!", resümierte der junge Mann und blies wichtigtuerisch seinen Brustkorb auf. Er griff in seine Manteltasche und zog unter den argwöhnischen Blicken des Beamten eine abgeschabte Riesenbörse - ähnlich einem Bedienungs-Geldbeutel - hervor.
"Wo haben Sie das Monstrum denn her?", fragte Hanno neugierig, während Maik seinen Ausweis herauskramte und auf die Drehscheibe legte. Er zuckte die Schultern. "Von Tante Emma, die ist Bedienung. Ist nur nix drin."
Der Beamte drehte an der Kurbel und nahm den Ausweis aus dem Ausgabefach. Ohne weitere Worte musterte er ihn lange, notierte sich die Identifizierungsdaten und nickte. Schließlich betätigte er einen weiteren Knopf und ließ den jungen Mann in den Innenraum.
Maik trat an den Tresen und sah sich abwartend um. Im Hintergrund hörte er das Rascheln von Dokumenten. Während er wartete, fiel sein Blick gegen ein Plakat an der Wand. Es zeigte ihm ein Gesicht, das ihm bekannt vorkam. Flüchtig überlegte er, ob das sein konnte. Es handelte sich um ein Infoplakat zu einem Seminar in irgendeiner Schule, wie er flüchtig überlas. Aber das Gesicht ...
Schließlich kam Hanno aus einer Ecke hervor. "Setzen Sie sich doch bitte." Hanno deutete auf den Besucherstuhl an seinem Schreibtisch. "Möchten Sie auch eine Tasse Kaffee?"
Maik grinste auf die Frage und verneinte. Bier wäre ihm eigentlich lieber, aber das konnte er schlecht bringen. Er nahm auf dem Schwingsessel Platz und versuchte, nicht so flegelhaft wie gewohnt zu posieren. Abwartend sah er Hanno Kekkonnen an.
Dieser lächelte freundlich. "Also, dann schießen Sie mal los. Wie heißen Sie? Wo wohnen Sie?"
"So gefällt mir das!", grinste Maik frech und musste aufpassen, dass ihm dabei nicht seine vielen Pflaster auf der Nase verrutschten. Das Lachen verging dem Skinhead aber schnell bei dem stechenden Schmerz, den er verspürte.
"Autsch!!!", entfuhr es ihm. Hanno versuchte, seine Schadenfreude vor ihm zu verbergen. "Das sieht aber wirklich übel aus."
"Da sagen Sie was", antwortete Maik und war richtig stolz auf seine Schauspielkunst. "Ich fürchte, der da ...", dabei zeigte er auf das Plakat an der Wand, "war das gewesen."
"Der da?", hakte Hanno nach und kniff die Augen zusammen.
Maik bekräftigte mit aufgeregtem Gestikulieren die eingeworfene Frage. "Ja, genau der. Und eine Knarre hatte er auch." Die Ungläubigkeit auf dem Gesicht seines Gegenübers entging ihm nicht.
"Einen Moment bitte." Hanno wählte über die Kurzwahl das Diensthandy von Frank Mittnacht an.
"Was machen Sie da?", fragte Maik alarmiert. Sein Kopf fuhr wachsam nach oben, und mit scharfem Blick sah er den jungen Polizisten an.
"Was abklären", antwortete Hanno kurz angebunden. In dem Moment nahm Frank Mittnacht am anderen Ende der Leitung ab.
Mit einer Geste bedeutete er seinem Gegenüber, zu schweigen und sprach in die Muschel: "Hanno Kekkonen hier. Entschuldigen Sie die Störung an Ihrem freien Tag. ... Gut. Ich hoffe, es geht schnell. ... Ja. ... Hier sitzt ein junger Bursche, Maik Schwartz. Sagt Ihnen der Name was? ... Nein? ... Gut. ... Nun ja, er behauptet Sie hätten ihm eins auf die Nase gegeben. ... Nein, kann ich nicht. ... Ja, das wäre super. ... Okay, bis gleich."
Er legte auf und wandte sich Maik wieder zu. "Erzählen Sie mal bitte, wie das genau passiert ist, Herr Schwartz."
Dieser verzog genervt das Gesicht. "Keine Ahnung, was da passiert ist. Ich kam mit ein paar Jungs aus der Kneipe und wollte nach Hause. Da stellte sich dieser Irre ...", dabei zeigte er mehrmals auf das Plakat, "mitten in den Weg und verbot uns, über den Parkplatz hinter dem Rathaus zu laufen. Als wir trotzdem durch wollten, hatte er ausgeholt."
"Einfach so?" Hanno zog erstaunt eine Augenbraue hoch. "Aus welchem Grund sollte er Ihnen das verbieten? Oder waren Sie auf Randale aus?" Er beobachtete den jungen Skin genau und überschlug im Geiste die Zeit, die der Kommissar bis zur Wache brauchen würde. Hoffentlich war dieser nicht sauer, dass er ihm den freien Tag vermieste.
"Sehe ich aus, als würde ich randalieren?", fragte Maik und versuchte ein Unschuldslämmchen-Gesicht. "Bin nur ein kleiner Student und will niemandem was tun."
Hanno schüttelte leicht den Kopf. Was sollte er darauf jetzt auch erwidern? Er durfte es auf keinen Fall riskieren, dass der Bursche ausrastete. "Haben Sie denn außer Ihrer Nase noch etwas abgekriegt?", versuchte er, das Thema wieder in weniger riskante Gefilde zu lenken. Er musterte den Jungen von oben bis unten und dachte sich seinen Teil. Ordentlich angezogen war er, doch wirkte dies eher wie eine Verkleidung. Hanno konnte sich gut vorstellen, dass Maik Schwartz normalerweise einen anderen Kleidungsstil hatte. Ganz abgesehen davon glaubte er ihm kein Wort.
'Wer weiß, woher der seine gebrochene Nase her hat.' Dann fiel ihm was ein: "Waren Sie schon bei einem Arzt? Ohne Attest dürfte es schwierig werden, einen Strafantrag gegen den Täter zu stellen. Wer auch immer das war."
"Wer auch immer das war", fuhr der Mann auf. "Ich habe Ihnen doch gesagt, wer das war." Dabei deutete er noch einmal auf Frank Mittnachts Foto. "Ich weiß ja nicht, wer das ist, aber ich erkenne sein Gesicht. Und wenn Sie mir nicht helfen, finde ich ihn."
'Sieh an, sieh an', dachte Hanno. 'Das Unschuldslamm kommt aus sich heraus.' Fest sah er Maik Schwartz in die Augen: "Wenn dies nun eine Drohung gegen Kommissar Mittnacht sein soll, lernen Sie mich ganz schnell kennen. Wir können auch anders, und zur Not haben wir auch eine hübsche Zelle für Sie unten im Keller."
Vorsichtshalber erhob er sich und legte demonstrativ eine Hand auf den Schlagstock in seinem Hüfthalfter. Zugleich bereitete er sich darauf vor, seine Kollegen auf Streife zu Hilfe zu rufen. Er griff zu seinem Funkgerät, wartete jedoch auf Kommissar Mittnacht. Dieser würde die Situation bestimmt richtig einschätzen können.
"Ein Kommissar?" Maik wurde rot. Dann brüllte er: "Feine Methoden habt Ihr ja bei der Polizei. Unbescholtene Bürger werden des Weges verwiesen, Sie drohen mir mit einem Schlagstock ..."
"Nun reißen Sie sich mal ein bisschen zusammen." Hanno fiel ihm wütend ins Wort. "Kommissar Mittnacht kommt gleich, dann sagen Sie ihm das mal persönlich."
Unruhig sah er aus dem Fenster und hoffte, dass dieser bald käme. Er querte mit großen Schritten die Wachstube bis zur nächsten Wand, drehte sich um und kam wieder zurück. Schließlich hörte er, wie ein Auto vorfuhr.
Kurz darauf stand Kommissar Mittnacht im Raum. Franks Blick fiel auf den jungen Mann, den er trotz der gepflegten Kleidung sofort erkannte. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und fragte in bemüht beiläufigem Tonfall: "Was gibt es denn?"
Kaum, dass Maik seiner ansichtig wurde, sprang er schon auf. Er flezte sich provokativ über den Durchgangstresen und grinste dem Kommissar ins Gesicht. "Zeigste mir noch mal deine Knarre?", fragte er ihn. "Warst ganz schön mutig."
"Ich weiß nicht, von was du da redest", antwortete Frank mit ungerührter Miene. "Du verwechselst mich!"
"Nee, Herr Kommissar, ganz bestimmt nicht. So Hackfressen vergesse ich nie." Der Skin zeigte nun sein wahres Gesicht. "Schade, dass deine Nase nicht auch gebrochen ist. Aber das lässt sich ja nachholen." Blitzartig zog er seinen Arm nach oben und zielte mit geballter Faust auf Mittnachts Gesicht.
Hanno eilte Frank mit erhobenem Schlagstock zu Hilfe, doch dieser hatte den Schlag mit ebenso blitzschneller Reaktion bereits verhindert und hielt dessen Schlaghand schraubstockartig umschlungen. Nach einem kurzen Kräftemessen schleuderte er sie mit angeekeltem Gesicht von sich weg, so dass Maik Schwarz seine demolierte Nase beinahe noch einmal traf. "Für so Würstchen wie dich brauche ich bestimmt keine Knarre", knurrte Frank hämisch. "Dich vernasch' ich zum Frühstück."
Währenddessen hatte der junge Polizeibeamte schon einen Funkspruch abgesetzt und seine zwei Kollegen auf Streife zu Hilfe gerufen. Ein paar Minuten später hörte er auch schon die Sirene.
Der junge Randalierer versuchte, zu fliehen. Kommissar Mittnacht vereitelte seine Flucht und drehte ihm beide Arme nach hinten. Der zeternde Skinhead lag mit dem Oberkörper halb über dem Tresen, und Hanno legte ihm Handschellen an. "Was machen wir mit ihm?", fragte er Frank.
"Vorläufig sperren wir ihn erst einmal in den Keller. Dort kann er sich mit den Ratten unterhalten." Er grinste. Die Situation machte ihm fast schon Spaß, Kommissar Mittnacht hatte schon lange nicht mehr selbst mit Hand anlegen müssen. Doch offenbar hatte er es noch nicht verlernt!
Hanno Kekkonen betrachtete Frank schräg von der Seite. 'Der Mann ist noch immer gefährlich', dachte er. Die Geschichte des Kommissars kannte er nur vom Hörensagen, und er war froh, dass er damals nicht dabei gewesen war. Peter Neumann war Augenzeuge gewesen, und er war auch derjenige, der ihn gemeinsam mit zwei Sanitätern und drei weiteren Polizisten festgesetzt hatte. So hatte sein Kollege es ihm zumindest erzählt. 'Dass der Mann noch im Amt ist ...'
Die Tür klappte, und zwei Streifenpolizisten betraten den Raum. "Was ist hier los?", fragte der Ältere der beiden. "Dich kann man keine Minute allein lassen, so wie es aussieht." Der Mann grinste spöttisch.
Währenddessen hatte Steffen Eisenstein - der jüngere Polizist - die Situation erfasst. Er fragte Kommissar Mittnacht: "Was ist mit dem Kerl?"
Dabei deutete er auf den zappelnden Maik. Dieser brüllte: "Ich will hier raus, und nehmt mal lieber euren Kollegen da fest." Dabei schleuderte er den Kopf nach hinten, in Franks Richtung. "Gestern haut er mir eins auf die Nase, will mich erschießen, und jetzt bricht er mir auch noch den Arm. Was seid Ihr für ein radikaler Haufen."
Klaus Sankt trat hinzu und übernahm den jungen Mann. "Vorläufig sind Sie verhaftet, wegen Gewalt gegen einen Vollzugsbeamten. Wir nehmen Sie in Gewahrsam, bis wir abklären können, was mit Ihnen geschieht." Er wandte sich an Frank: "Wollen Sie Strafantrag stellen?"
"Das könnt Ihr nicht machen!", schimpfte Maik weiter. "Ich wollte doch nur jemanden anzeigen."
"Ja, und dabei sind Sie ausfallend geworden", entgegnete Hanno. "Wir sind hier nicht im Wilden Westen."
Kommissar Mittnacht wandte sich an seine Kollegen: "Er hat mich nicht getroffen. Es ist nichts passiert. Lasst den Jungen laufen."
"Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst?", fragte Steffen. "Er wollte Sie schlagen, so wie Hanno uns dies über Funk mitgeteilt hatte."
"Doch, das ist mein Ernst. Lasst ihn zischen, der Kerl ist harmlos."
Triumphierend richtete sich Maik auf. "Ihr habt es gehört. Ist das euer Boss?" Dann sah er Frank noch einmal an. "Du hast was bei mir gut, aber das Ding von gestern ist noch nicht gegessen. Wir sehen uns noch!"
Wenige Minuten später war es vorbei, und der kleine Zwischenfall am Samstagmorgen, dem siebten Dezember, löste sich bis auf Weiteres in Wohlgefallen auf. Der junge Skinhead wurde entlassen, doch drei Polizisten wunderten sich einmal mehr über ihren Dienstgruppenleiter.
Die Worte, die zwischen dem Jungen und Frank Mittnacht gefallen waren, setzten sich in jedem Einzelnen von ihnen fest wie ein Stachel. Doch noch schöpfte niemand Verdacht!
***
Tom war auf dem Weg in Richtung Kirche. Warm eingepackt schlitterte er - mehr als dass er ging - über den gefrorenen Boden. In seinem Rücken holperte ein Leiterwagen, den er mit zwei alten Decken beladen hatte. Sein Plan war, den erschlagenen Hund zu sich nach Hause zu holen und dann den Täter zu suchen.
Sein Zielort war nicht mal schnell um die Ecke, und eine geschlagene halbe Stunde musste er laufen, bevor er dort, wo er hin wollte, angelangt war.
Es war nicht einfach gewesen, sein Gefährt heimlich aus dem Abstellraum neben der Garage zu holen, doch sein Vater hatte es nicht bemerkt. Der Junge war darüber erleichtert, es hatte ihm überflüssige Erklärungen erspart.
An der Kirche angekommen, begab er sich mit klopfendem Herzen an die Stelle, wo der Hund gestern nacht noch gelegen hatte. Er war noch da! Tom hievte unter äußerster Kraftaufwendung den schweren Kadaver in den Leiterwagen und deckte ihn zu. Der Junge hoffte, dass es niemandem auffallen würde, wie er mit einem toten Schäferhund durch die Straßen zog.
Ein wenig mulmig war ihm ja schon bei seinem ausgetüftelten Plan. Doch andererseits: "Wenn die Polizei schon nichts unternimmt, dann eben ich", grummelte er in sich hinein und zog den holpernden Leiterwagen hinter sich her über den Marktplatz. 'Mein Vater soll mir dabei helfen', sagte er sich, 'schließlich ist er ein Bulle!'
Es schneite. Früher hatte er mit seiner Schwester immer viel Freude gehabt, miteinander im Schnee rumzutoben, Schneeballschlachten zu machen, gemeinsam mit den Eltern durch die weihnachtlichen Straßen zu ziehen. Doch nun war alles anders. Lina war tot, seine Mutter war tot, und sein Vater hatte sich sehr verändert.
Bedrückt wandelte er mit seinem Leiterwagen über den Marktplatz. Familien mit ihren Kindern waren zahlreich in der Geschäftszone von Großdummsdorf zugegen und hofften, den ehemaligen Weihnachtszauber zwischen den Buden, die seit dem ersten Dezember die Gassen um den Platz herum belebten, wiederzufinden. Tom hingegen hatte den Glauben an den Weihnachtsmann schon lange verloren. 'Und wenn es ihn gäbe', dachte er traurig, 'dann würde er keine Hunde umbringen und vor einer Kirche ablegen.'
Der Schneefall wurde allmählich stärker und nahm ihm die Sicht. Auf seinem Heimweg passierte er eine kleine Allee. die kahlen Äste der Bäume wirkten auf den Jungen nur noch bedrohlich.
Fest klammerte er seine behandschuhten Fäuste um den Griff des Wagens, dessen Räder auf dem mittlerweile eisharten Boden zu knirschen begannen.
Ihm war unheimlich zumute! Wieder und wieder warf er einen Blick über die Schulter zurück, in der Erwartung, dass ihm jemand folgte. Halb fürchtete er, der Kadaver würde zwischen den Decken wieder zum Leben erwachen und sich in seinem Nacken verbeißen.
Der Weg nach Hause kam ihm ewig vor. Auf dem Hinweg war die Zeit so schnell verflogen, doch nun - mit der Angst als heimlichen Begleiter zur Seite - zogen sich Minuten zu Stunden. Er fröstelte, als ihn ein Reifschauer von oben traf.
Seine Freunde - früher hätten sie so etwas gemeinsam gemacht. Doch sie hatten Tammy verstoßen, und er stand zu ihr. Dennoch fragte Tom sich, was seine Gothic-Clique wohl gerade machte, einen Tag nach dem letzten Streit.
Endlich war er an der langen Straße angelangt, die ihn zum Stadtrand brachte. Die Strecke, die sein Vater jeden Tag in ein paar Minuten mit dem Auto zurücklegte, um zur Arbeit zu kommen, schaffte er als Fußgänger nur mit gutem Willen und viel Spucke in minimal zwanzig Minuten. Nun fühlte er sich, als hätte er in derselben Zeit den Weg zum Mond zu Fuß bewältigt.
Mit einem Ruck verfrachtete er den Leiterwagen über den Bordstein und querte zügig die vielbefahrene Hauptverkehrsstraße, um auf die andere Seite gelangen zu können.
'Diese Straße', dachte er grimmig, 'diese Fuck-Straße hat Papa und mir alles genommen. Wie hält er das aus? Jeden Tag darauf zu fahren, um zu seiner Arbeit zu kommen, das Haus, in dem Mama und Lina mit uns beiden lebten ...'
Ein Hupen riss ihn aus seinen Gedanken. Frustriert zeigte Tom dem gestikulierenden Fahrer den Stinkefinger und zog dann seinen toten Hund weiter auf die andere Seite. Plötzlich musste er lachen. Einfach nur so. "Der Tote Hund", kicherte er laut. "Toter Hund! Eigentlich wäre das ein guter Titel für einen Krimi. Schade nur: Ich kann nicht schreiben!"
Weitere fünf Minuten später war Tom daheim angelangt. Er stellte den Leiterwagen mitsamt Inhalt in dem kleinen Abstellraum neben der Garage ab. Dann betrat er das Haus und ging in die Küche, um sich etwas zu essen zu machen. Sein Vater war nicht zuhause, so wie es aussah. Er hoffte, dass er bald käme, um ihn vor vollendete Tatsachen stellen zu können.
Allein zu sein, machte Tom in der Regel nichts aus. Als typisches Schlüsselkind hatte er schon lange gelernt, sich selbst zu verpflegen und die Verantwortung für jegliche seiner Handlungen zu übernehmen. Hin und wieder kam Else Thorwart - eine ältere Frau aus der Nachbarschaft - vorbei und verdiente sich im Haushalt Mittnacht ein kleines Zubrot.
***
Als Frank etwas später zu Hause eintraf, stand das Essen schon fertig auf dem Tisch. Er setzte sich mit einem leichten Schmunzeln um die Mundwinkel zu Tom, einfach nur, weil er stolz auf ihn war. Kommissar Mittnacht hatte keinerlei Bedenken, dass sein Sohn in seinem weiteren Leben die richtigen Abbiegungen fände.
Er wünschte sich nur, von sich selbst dasselbe behaupten zu können. Davon war er jedoch etliche Lichtjahre entfernt, wie ihm schien.
In stillschweigender Eintracht vertilgten die beiden ihr einfaches Mahl. Tom wirkte noch immer bedrückt.
Nach dem Essen blickte Frank seinem Sohn fragend ins Gesicht. „ Wo drückt der Schuh, Sohn?“, fragte er ihn.
"Ach Paps", antwortete Tom. "Es lässt mich nicht los. Der tote Hund."
Frank versuchte, tröstend etwas einzuwerfen, da hob sein Sohn abwehrend die Hand und bat, ihn ausreden zu lassen. "Ich habe da eine vielleicht etwas verrückte Idee, und ich brauche dazu deine Hilfe."
"Oh-Oh!", entgegnete Frank trocken und fügte hinzu: "Wenn du von verrückten Ideen redest, dann geh ich davon aus, dass diese ausgeführt werden müssen."
Tom ließ sich nicht irritieren, griff in seine Hosentasche und zog etwas heraus. Dann legte er die geballte Hand vor seinem Vater auf den Tisch und sagte: "Ich habe da etwas für dich. Damit du siehst, wie ernst es mir ist."
Als er sie öffnete und wegzog, lag eine Hundemarke vor Frank. Fragend sah er Tom an: "Was soll ich damit?"
"Nun ja, Papa. Ich fürchte, was ich dir jetzt sage, wird dir nicht zwingend gefallen. Ich habe etwas angestellt. Und zwar habe ich die Hundeleiche nach Hause geholt."
"Wie ... nach Hause! Wohin ... nach Hause!" Fassungslos sah Frank seinen Sohn an. "Doch nicht zu uns?"
"Doch, Paps! Ich fürchte, schon. Er liegt im Leiterwagen im Schopf." Tom grinste verlegen und senkte den Blick.
"Du musst wohl doch übergeschnappt sein", schnauzte Frank seinen Sohn an. "Was willst du damit? Ihn hinten im Garten begraben? Meinst du, davon wird er wieder lebendig? Das ist doch nicht der Friedhof für Kuscheltiere. Sonst hätte ich längst auch schon etwas Ähnliches gemacht. Du weißt, was ich meine!"
"Nichts dergleichen, Papa. Hör auf, zu schimpfen. In erster Linie will ich wissen, wer ihn umgebracht hat und wem er gehörte. Und den Rest sage ich dir, wenn ich weiß, ob du mir hilfst." Tom sah seinen Vater hoffnungsvoll an, mit einem treuherzigen Blick aus seinen dunklen Augen, von dem er hoffte, dass er nicht nur bei Mädchen zog.
Und richtig: Sein Plan ging tatsächlich auf! "Aber nur, weil ich neugierig bin, was du vorhast!", schwächte Frank ab. "Also erzähl, was du dir vorgestellt hast."
Tom traute sich noch nicht ganz, die Karten vollständig offenzulegen und druckste noch ein bisschen herum. Doch dann nahm er sich ein Herz. „Du kommst doch bestimmt über die Hundemarke an die Adresse des Besitzers dran. Vielleicht hat er ihn ja selbst umgebracht. Und wir bringen demjenigen seinen Hund zurück. Was meinst du, wie der dumm aus der Wäsche guckt, wenn sein Hund plötzlich wieder da ist." Sein lausbubenhaftes Grinsen wirkte wie das Lächeln eines blutrünstigen Hais.
Sein Vater hingegen schüttelte den Kopf. „Das können wir doch nicht machen. Herausfinden, wem er gehört, okay. Aber ihm den toten Hund vor die Tür legen?“
„Ach komm, Papa. Du ärgerst dich doch sonst auch, wenn die Leute einfach weggucken. Was, wenn der Besitzer einfach nicht auf seinen Hund aufgepasst oder ihn wirklich selbst umgebracht hat? Das kann doch nicht Sinn und Zweck sein, dass der Hund vor der Kirche oder jetzt bei uns im Garten vergammelt.“
Frank lachte heimlich und voller Stolz in sich hinein. 'Das ist mein Sohn! Er hat noch das Herz am rechten Fleck!'
Er ließ ihn noch einen Moment zappeln und meinte dann: „Okay, wir machen das.“
„Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann, Papa. Du bist echt der Beste!“
Zehn Minuten später hing Frank an der Strippe im Flur. Nach dem zehnten Getute hörte er Joes etwas angesäuerte Stimme: "Ja, Frank, was gibt es? Ich war grade kurz vorm Leveln. Du störst!"
Frank lachte. "Du und deine Spiele. Bin nur froh, dass du Tom nicht vollkommen angesteckt hast. Er ist glücklicherweise dieser Scheinwelt entflohen und geht nach draußen."
"Ja, und da treibt er sich mit seinen Freunden auf Friedhöfen herum. Da bleibe ich doch lieber daheim", argumentierte Josef Neureuth und fragte sich insgeheim, was Frank wirklich von ihm wollte. Einfach nur so rief dieser bestimmt nicht an. "Und was gibt es so?", fragte er prompt.
Kommissar Mittnacht betrachtete die Hundemarke in seiner Hand von allen Seiten und ließ sie anschließend fingerfertig über seine Knöchel wandern. Dann rückte er entschlossen mit der Sprache heraus: "Nun Joe, ich habe eine Bitte an dich. Ich brauche die Adresse eines Hundehalters."
"Was hast du seit Neuestem mit Hunden zu schaffen? Willst du Polizeihunde trainieren?"
"Ach Quatsch! Ich wurde nur von einem gebissen, und nun will ich wissen, wem der gehörte."
"Woher soll ich das wissen?"
"Ich dachte, du zapfst mal deine Datenbank an. Ist ja schließlich nicht das erste Mal, dass du mir hilfst", antwortete Frank kryptisch.
"Hast du irgendwas, womit ich etwas anfangen kann?", fragte Joe.
"Na klar, sonst würde ich ja nicht fragen. Ich habe die Daten der Hundemarke", erklärte ihm Frank ungeduldig.
"Hilf Himmel! Wie bist du denn an diese gekommen?", fragte Neureuth entsetzt. Vor seinem inneren Auge tat sich ein Kampf mit einem bissigen Rottweiler auf Leben und Tod auf, mit seinem Freund und Kollegen in der Hauptrolle, blutüberströmt, und wie er diesem mit letzter Kraft die Hundemarke von einem dornenübersäten Halsband entriss.
Frank hörte die Sorge aus seiner Stimme heraus. "Alles nicht so tragisch, Josef. Mir ist nichts passiert. Ich möchte dem Herrn oder der Dame nur beibringen, künftig besser auf ihren Vierbeiner aufzupassen."
Zumindest in dieser Hinsicht hatte er nicht gelogen. Im Falle wenn er jemals auffliegen würde - was er bestimmt nicht vorhatte - wollte er wenigstens verhindern, dass Andere da mit hineingezogen würden. 'Na ja, dann hättest du gar nicht erst anrufen sollen', meldete sich flüchtig sein schlechtes Gewissen. Er wischte seine innere Stimme jedoch beiseite und hakte nach: "Nun, Joe? Alles klar?"
"Ja! Lass hören!"
Kommissar Mittnacht gab die aufgeprägten Daten der Marke durch, die aus dem Stadtwappen, dem Registrierungsjahr und einer Nummer bestanden. Josef Neureuth bat ihn, auf seinen Rückruf zu warten und versprach, sich gleich darum zu kümmern.
Tom war in der Zwischenzeit hinter seinen Vater getreten und verfolgte gespannt das Gespräch. "Gehen wir solange in die Küche", forderte Frank seinen Sohn auf. "Räumen wir den Tisch in der Zwischenzeit ab und machen Ordnung. Es geht nicht schneller, wenn wir hier zu zweit herumstehen."
Schweigend taten sie ihre Arbeit. Im Haus hatte sich seit Barbaras und Linas Tod nicht viel verändert. Nur der Spielzeugtraktor im Garten war schon lange im Keller verschwunden, und der Geist seiner Frau beschränkte sich auf den Wintergarten und die Rosenstöcke vorm Haus. Diese wurden von Else Thorwart gepflegt, nur in den Wintergarten: Da ließ Frank niemanden hinein, weil dort Barbaras preisgekrönte Rosen untergebracht waren. Und diese pflegte er selbst, so gut, dass sie weiter gediehen.
Schließlich klingelte das Telefon. Tom konnte es gar nicht abwarten und stürzte hinaus in den Flur. Frank konnte gerade noch verhindern, dass er den Hörer abhob und hieß ihn mit einer Geste, zu schweigen.
Hippelig stand er hinter der Schulter seines Vaters und versuchte, jedes Wort zu verstehen.
Das Gespräch war schnell beendet. Frank hatte sich Name und Adresse des Hundebesitzers notiert und rieb sich die Hände. "So, Sohnemann! Von mir aus kann's losgehen. Aber schnell noch eine Lagebesprechung, damit wir uns nicht die Finger verbrennen."
Er klopfte Tom enthusiastisch auf seine Schulter und hatte ein listiges Glitzern in den Augen. Der Junge freute sich nun auf die gemeinsame Ausführung des Plans. "Komm, Papa, labern wir nicht lange rum, legen wir endlich los!"
"Immer mit der Ruhe, Tom. Willst du etwa einfach dahin spazieren, klingeln, einen schönen Abend wünschen, und dann sagen, wir haben Ihnen hier ein Geschenk? Der würde sofort meine Kollegen anrufen. Oder gleich in der Klapse." Frank legte die Hand auf den Arm seines Sohns, um ihn zu bremsen. "Wir brauchen zwei Eddings, in Schwarz. Oder Kohle. Irgendetwas, womit wir die Kennzeichen verstecken können."
"Warte, Paps. Ich habe da was." Tom sprang auf und rannte hinauf in sein Zimmer. Kurz darauf stürmte er in die Küche und warf triumphierend zwei riesige, leere Schlampermäppchen vor ihm auf den Tisch. "Hier, Paps", giggelte er etwas frech, "das kannste überstülpen."
"Wie ... überstülpen! Wo ... überstülpen!", fragte sein Vater ihn etwas verwirrt.
"Na, über die Kennzeichen, oder was dachtest du denn? Sind doch keine Pariser!", antwortete Tom spöttisch.
Frank lachte auf. Doch plötzlich griff er sich an die Stirn und stöhnte.
"Papa, ist alles in Ordnung mit dir?", hörte Frank wie aus weiter Ferne Toms Stimme.
Schatten tanzten um ihn herum, und verzweifelt versuchte er, sie durch Kopfschütteln zu bannen. Ein stechender Schmerz bohrte sich in seine Stirn.
'Barbara, bitte hilf mir!', schrie er innerlich auf. Da war es vorbei! Erleichtert sog er Luft in seine Lungen und wandte sich dann wieder an seinen Sohn: "Es ist schon okay, Tom. Mir ist nur gerade etwas schwindlig geworden. Vielleicht sollte ich weniger arbeiten. Oder mehr an die frische Luft, keine Ahnung."
"Mehr an der frischen Luft wie du kann man doch gar nicht sein, Paps. Du bist ja bald mehr draußen als drinnen. Bist du sicher, dass alles okay ist? Sonst lassen wir das Ganze für heute und verschieben es auf morgen."
Tom machte sich Sorgen um seinen Vater. Erst der Nervenzusammenbruch nach dem Tod seiner Mutter und seiner Schwester, dann war er ewig lang in einer Klinik gewesen, und zu sich selbst zurück gefunden hatte dieser auch nach dem Verlassen der Nervenheilanstalt scheinbar noch immer nicht. Der Junge wünschte sich seine alte Familie zurück, das Lachen der Schwester, die manchmal verrückten Ideen seines Vaters, die Herzensmelodie seiner Mutter, die stets tanzte und sang, ihre Kinder regelmäßig in ihre Arme genommen und das ganze Haus mit Licht erfüllt hatte.
Barbara Mittnacht war so voller Licht gewesen, dass Tom seine düstere Jugendkultur gebraucht hatte, um nicht zu erblinden. Aber er war ein glücklicher Junge gewesen.
Nun sah er, wie sein Vater abwehrend verneinte. Er umrundete den Tisch und schlang seine jugendlichen Arme um Franks Hals. Verzweifelt vergrub er sein Gesicht in seinem Nacken und bat ihn eindringlich: "Papa, wir schaffen das schon. Ich liebe dich, und bitte verlass mich nicht auch noch du. Pass auf dich auf, das bist du mir schuldig."
Tränen stiegen Frank in die Augen, und er bemühte sich, sie nicht einfach laufen zu lassen. Er legte beide Hände auf die seines Sohnes, die sich auf seiner Brust überkreuzten. "Ist schon gut, Tom. Ich liebe dich mehr als mein Leben, und du wirst mich nicht verlieren."
Ja, sein Junge war erwachsen geworden, sagte er sich. Sein Fleisch und Blut, stets einig mit ihm, sich selbst und der Welt, die Tom sich formte, wie er sie für sich brauchte. Flüchtig fragte sich Frank, ob er nicht von ihm lernen müsste.
Entschlossen blickte er auf: "Machen wir weiter!"
Das erleichterte Lachen des Jungen klang an seine Ohren, und nun war Tom wieder ganz kleiner Lausbub. Frank ließ sich anstecken, von dem Enthusiasmus der Jugend, und er sprang auf. "Du hast deins beigesteuert, und nun kommt mein Anteil. Pass auf, was ich für uns habe."
Er verließ den Raum und summte beim Erklimmen der Treppe das Kommissar-Lied von Falco. Und er war glücklich. Als er aus seinem Schlafzimmer zurückkehrte, trug er eine kleine Kiste mit sich und stellte sie vor seinem Sohn auf den Tisch. Erstaunt sah Tom ihn an: "Was ist da drin?"
"Unsere Tarnung", grinste Kommissar Mittnacht ihn an. "Wer gelernt hat, wie Verbrecher so ticken, der kennt auch ihre Tricks."
Unvermittelt lachte er auf, und Tom zuckte zusammen. "Papa, du machst mir Angst. Ist wirklich alles in Ordnung?" Unwillkürlich wich er einen Schritt zurück.
Irritiert sah Frank ihn an. "Was ist los, Junge? Vor was fürchtest du dich? Ich versuche doch nur, dich zu unterstützen, und dazu müssen wir uns ja schließlich verkleiden."
"Was ist in der Kiste?", fragte Tom argwöhnisch.
"Mach sie auf und schau hinein", antwortete Frank. Mit spitzen Fingern lupfte der junge Mittnacht den Deckel, nur einen winzigen Spalt. Halb erwartete er einen gruseligen Streich, so hinterlistig, wie Frank Mittnacht grinste.
Die Augen seines Vaters glitzerten voller Vorfreude auf das zu erwartende Abenteuer. Womöglich fühlte er sich in die eigene Jugend versetzt, und Tom kannte auch die Geschichten aus dessen Kindheit. Wie zum Beispiel die mit dem Blinden. Problem nur: Er fand diese nicht wirklich witzig!
***
Sie ließen sich Zeit bis in die Nacht. Um 23:00 Uhr schlichen zwei recht skurrile Gestalten über den Mittnacht'schen Vorhof. Es war der siebte Dezember, ein Samstag, an dem der Winter bereits dazu angesetzt hatte, die Stadt mit einem dünnen, weißen Teppich zu überziehen. Der Größere der beiden trug eine schwarze Afro-Perücke, einen gefütterten, schwarzen Ski-Anzug und moderne Turnstiefel von Puma, wie es sie irgendwann mal in jedem Laden gegeben hatte.
Sein Gesicht hatte Frank mit einer riesigen, verspiegelten Sonnenbrille getarnt. Blinzelnd tastete er sich an der Hauswand entlang und winkte seinem Sohn zu, der fast identisch gekleidet war. Für Tom hatte er eine alte Skimaske aus seiner Kindheit hervorgekramt. Sie verdeckte bis auf die Augen, die er ebenfalls hinter einer Sonnenbrille verbarg, dessen gesamtes Gesicht.
Hintereinander schlichen sie an der Wand der Garage entlang und kicherten beide, als sie zusammenstießen. "Huuuuhhh, ist das dunkel!", bemerkte Kommissar Mittnacht.
"In der Tat, Paps!", antwortete Tom.
Schließlich passierten sie das breite Garagentor und kamen zur Schopftür. Frank bückte sich und zog hinter einem Steintopf einen riesigen, halb verrosteten Schlüssel hervor. Prompt stieß er seinen Schädel am Türrahmen an. Fluchend erhob er sich wieder und rieb sich den Kopf.
"Papa, alles okay?"
"Pssst, Tom!", zischte er. "Sei leise, der Nachbar." Frank vermeinte, ein verächtliches Schnauben zu hören, reagierte aber nicht darauf. Er schloss die Tür auf und winkte seinem Sohn. Gemeinsam betraten sie den kleinen Bretterverschlag, und Tom leuchtete seinem Vater mit einer Taschenlampe die Richtung.
"Hmmmm!" Frank rieb sich das Kinn, als er das tote Tier sah. "Sieht schwer und groß aus."
"Das sieht nicht nur so aus, ist der Hund auch." Tom war stolz darauf, den Hund ganz allein in den Leiterwagen gehoben und ihn nach Hause gefahren zu haben.
"Weiß jemand über die Sache Bescheid?", fragte Frank.
"Nein, Paps. Nur wir beide."
"Okay. Fass mal mit an." Frank zog einen großen Sack hinter einem Holzstapel hervor und sah Toms Blick. "Was ist?"
"So ein Sack war das auch!"
"Spinnst du? Meinst du, ich war das?"
"Natürlich nicht. Wollte es nur sagen."
"Säcke sehen alle gleich aus."
"Weiß ich, Paps!"
"Vielleicht sollten wir mal zu quatschen aufhören und anfangen."
"Ja, Paps."
Mit vereinten Kräften und leisem Gefluche bugsierten sie den mittlerweile steifen Körper in den Sack. Als dies erledigt war, versuchte Frank, diesen über seine Schulter zu werfen, ging leicht in die Knie und fiel fast hintüber. "Also tragen können wir den Hund jedenfalls nicht, und wir fahren nicht bis vor die Haustür", argumentierte Frank. "Wie transportieren wir ihn?"
Tom kicherte, sah sich um und erwiderte: "Der Leiterwagen passt nicht in dein Auto."
Auf einem Hängeboden entdeckte er seinen alten Bob, den er schon lange nicht mehr benützt hatte. "Papa, ich habs. Meinen Bob können wir auf den Rücksitz werfen, er ist nicht so groß. Und ein bisschen Schnee hat es auch."
Frank klopfte seinem Sohn auf die Schulter. "So machen wir's!" Er warf den Sack auf den Boden und holte den Schlittenbob von oben herunter.
Tom nahm ihn ab und zog ihn nach draußen, während der tote Hund von seinem Vater nachgeliefert wurde. "Hat dein Hund eigentlich einen Namen?", fragte Frank spöttisch.
Sein Sohn lachte leise. "Ja. Toter Hund."
Um 23:20 Uhr saßen sie endlich im Auto und befanden sich auf der Straße zur Stadt.
Der anhand der Hundemarke ermittelte Besitzer des Hundes wohnte am anderen Ende, in der Nähe des Großen Tunnels. Laut Josef Neureuths Informationen hatte Emil Kieselwurf eine Frau und zwei Töchter und war knapp über vierzig. Auf den Knaben waren alle beide gespannt.
Ungefähr zehn Minuten später befanden sie sich am Memminger Ring. Dort in der Nähe befand sich ein baumreicher Park und eine Verbindungsstraße zum Großen Tunnel, die Ortlieb-Straße. Letztere hatte keinerlei Wohnfunktion und war nur als Zufahrtsstraße gedacht.
Frank Mittnacht parkte seinen Wagen etwas abseits der Straße, auf einem Kiesweg, der von der Ausgangsseite der Ortlieb-Straße linkerhand am Park vorbei führte. Zwischen den alten Bäumen war er gut versteckt, und der dunkle Corsa war kaum zu sehen.
Emil Kieselwurf wohnte laut den Notizen, die sich Frank gemacht hatte, in der Liebfrauen-Straße, zwei Abbiegungen von der Eingangsseite der vorliegenden Verbindungsstraße entfernt. Sie würden einen halben Ring laufen müssen.
Während Kommissar Mittnacht den prall gefüllten Sack aus dem Kofferraum holte, bereitete der junge Mittnacht den Schlittenbob vor. Frank warf "Toter Hund" schwungvoll drauf, und sie zogen los.
Es schneite noch immer ein bisschen. 'Eigentlich dachte ich immer, man kauft die Katze im Sack', grübelte Frank in sich hinein. 'Stattdessen führe ich einen Hundekadaver spazieren. Wie bin ich da nur hinein geraten?'
Mittlerweile schweigend stapften die beiden dunklen Silhouetten über den gefrorenen Boden, ein schleifendes Geräusch in ihrem Rücken. Einzelne Schneeflocken nahmen Platz auf der schwarzen Afro-Perücke des Vaters und hafteten an den runden Gläsern in Nickelbrillen-Optik.
"Warum haben Brillen eigentlich keine Scheibenwischer?", fragte Tom in die Stille hinein.
Frank schnaubte nur. Sie gelangten an den Anfang des Weges und mussten die Ortlieb-Straße queren, um zu den benötigten Nebenstraßen zu kommen. Kommissar Mittnacht blickte nach links und rechts, zog genervt seine Brille ab und warf sie hinein in den Park. "Die brauche ich sowieso nicht!", sprach er mit Bitterkeit in seiner Stimme. "Mit meinem Allerweltsgesicht könnte ich ohnehin jedermann sein."
"Aber Papa, das stimmt doch gar nicht!", antwortete Tom vorwurfsvoll. "Weshalb sagst du das nur immer wieder? Das hatte schon Mama geärgert. Und die Sonnenbrille? Wenn die jemand findet?"
"Keine Angst, Tom, solche Brillen haben viele. Und Fingerabdrücke sind keine drauf." Demonstrativ zeigte er seine behandschuhten Hände.
Sein Sohn tat es ihm schließlich nach und warf die eigene ebenfalls weg. "Sind auch keine drauf", grinste er.
Etwas widerwillig lächelte Frank zurück. Gemeinsam querten sie mit "Toter Hund" im Nacken die Straße, orientierten sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite nach rechts und gingen zügig Richtung Eingangsseite der Ortlieb-Straße zurück. Zwischen zwei Hecken linkerhand bogen die beiden Fußgänger in die Martha-Wirsch-Straße ein, passierten drei Blöcke und wandten sich schließlich nach rechts. Sie befanden sich in der Liebfrauen-Straße!
Toms Herz begann, stürmisch zu klopfen. Frank zog aus seinem wattierten Anzug den Notizzettel hervor und studierte unter dem fahlgelben Licht einer Straßenlaterne die Adresse. Die Stirn hatte er in Falten gelegt.
"Nummer 34", murmelte er gedankenverloren. "Das ist am anderen Ende. Komm, Tom."
Seine Stirn entspannte sich wieder. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er auf beiden Seiten die Häuser, in der Hoffnung, die Nummernsortierung in logisch erscheinendem Aufbau erkennen zu können. Ihre Schritte knirschten im Takt durch die Nacht.
"Papa, mir ist ein bisschen mulmig", flüsterte Tom.
Frank blieb ruckartig stehen. "Wenn uns der Berger wegfahren sah, sind wir gearscht."
"Was sind wir?"
Frank grinste schelmisch: "Gearscht!"
"Papa!"
"Was denn? Ist doch so!"
"Trotzdem!"
"Was du nicht sagst!"
"Paps, das ist mein Ernst."
"Meiner auch! Wir waren beim Rodeln, mit Toter Hund. Was hältst du davon?"
Tom röchelte. Frank hielt die hohle Hand an sein Ohr und streckte den Kopf in Toms Richtung: "Was hast du gesagt?"
"Hmmmpffff ... Hör endlich auf!" Toms Lachen klang silberhell durch die Dunkelheit. Was auch immer geschehen würde: Diesen Tag mit seinem Vater würde er niemals vergessen.
Gemeinsam gingen sie weiter, beide die Hand am Zugseil des Bobs. Die grausige Last, die er trug, strichen sie zeitweilig komplett aus ihren Gedanken und genossen nur das Beieinandersein. In den Fenstern schimmerten Lichterketten und Pyramiden, die Luft roch nach Schnee und Vorweihnachtszeit.
Schließlich standen sie im benachbarten Hofeingang von der Adresse, wohin sie eigentlich wollten. "Papa", flüsterte Tom. "Wenn es geht, bringen wir Toter Hund aber ins Haus."
"Bist du verrückt?", zischte Frank ihm leise entgegen. "Das wäre Einbruch. Wir bewegen uns so schon hart an der Grenze wegen Hausfriedensbruchs."
"Aber nur, wenn uns jemand erwischt."
"Klar, wenn uns jemand erwischt. Ich bin Polizist."
"Das wäre mir jetzt glatt entgangen", frotzelte Tom. "Ach komm schon, Paps. Bei dem da drüben" - er zeigte zum Nachbarhaus - "ist alles dunkel. Uns wird schon niemand erwischen, und wenn, dann erkennt man uns nicht."
'Das hat man davon, wenn man seinem Jungen was bieten will', grübelte Frank. 'So war das eigentlich nicht gedacht, doch andererseits: Ich will, dass er glücklich ist. Und wenn es ihn glücklich macht ...'
"Also gut, Tom!", sagte er laut. "Schauen wir, was sich machen lässt. Dann komm!"
Frank packte den Ziehgurt des Schlittenbobs und winkte auffordernd mit dem Kopf in die Richtung des Nachbarhauses. In seiner Hosentasche klimperte ein Satz Dietriche, von dem er nicht wirklich vorgehabt hatte, ihn zu benutzen.
Er war noch immer entschlossen, dies zu umgehen, doch sein fester Wille geriet beträchtlich ins Wanken. Zumal er wirklich neugierig war, wie es dazu hatte kommen können, Toter Hund vor einer Kirche zu finden, noch dazu von einem Nikolaus niedergelegt.
Fiesitäten mochte er nicht. Tierquälerei mochte er nicht. Er quälte indessen gern Menschen, die es verdienten! Wenn auch nur in Gedanken. Jedenfalls sollte dieser Kieselwurf die Überraschung seines erbärmlichen Lebens erleben.
In der Nacht des siebten Dezembers - es war das Jahr 2013 - verknüpfen sich unglückliche Ereignisse zu einem Gesamten. Eine Nacht, die der Beginn einer Reise in Höllen ist, von denen sich niemand vorstellen kann, dass es sie gibt. Unglückliche Menschen werden weiter unglücklich sein, glückliche Menschen ins Unglück gestürzt.
Der Eine oder Andere wird sein Leben verlieren, wie eben das Leben so spielt. Und möglicherweise hält nicht nur der Tod die Fäden in seinen Händen, hat nicht die alleinige Macht, Schicksal zu spielen, ohne Rücksicht darauf, dass es zweieinhalb Wochen vor Weihnachten ist.
Vielleicht wird er sich sogar personifizieren, seine grauenvolle Gestalt hinter dem unschuldigen Gesicht eines Nachbarn verbergen, oder hinter der hübschen Larve von einer jungen, jedoch unglücklichen Frau.
Vielleicht zerstört gerade ein Mann das Leben einer ganzen Familie, indem ihm die Hand ausrutscht, er seine Kinder ertränkt, die Frau erwürgt, und anschließend hängt er sich auf. Er wird da hängen, an einem Balken oder an einem Baum, mit aufgequollenen Augen, verpinkelten Hosen, und er streckt seinem letzten bisschen Welt die Zunge heraus.
Das ist dann sein Abgang! Niemand hat die Schreie seiner Familie gehört, weil es normal ist, dass in dieser Wohnung geschrien wird. Niemand hat die Verzweiflung vorher gespürt, nicht seine Trunksucht, weil er es nicht mehr packte. Lange vorher schon verlor er seinen Job, und die liebe ARGE machte ihm auch einen Strich nach dem Andern durch seine Rechnung.
Die Frau: Oh ja, die Frau. Sie begann, ihn zu betrügen, die Kinder waren schlecht in der Schule, brüllten von morgens bis abends, hatten keinen Respekt mehr vor ihrem Vater. Und eines Tages dann sagt die Frau, dass sie ihn verlässt. Sein letztes bisschen Welt: Er hat alles verloren!
Vielleicht bekommt aber auch irgendwo in einer verschneiten Ecke eine obdachlose Frau gerade ein Baby und weiß nicht, was sie damit anfangen soll.
Sie zerbeißt die Nabelschnur, drückt es an sich mit einem traurigen Blick, blutend und wissend, dass sie ihm nichts bieten kann, und Tränen rollen ihr übers Gesicht.
Dann nimmt sie sich zusammen - und sie nimmt ihre Jacke. Sie legt diese dem Kind aufs Gesicht und setzt sich drauf. Ein leises Japsen wird unter dieser Jacke erklingen, dumpf, ein kurzer Schrei, kurz, sehr kurz, weil ein neugeborenes Baby dem Tod nicht sehr viel entgegenzusetzen hat.
Dann ist es still. Ein kleiner Körper liegt da auf dem eiskalten Boden, die Jacke auf dem Gesicht, und noch dazu den fetten Arsch der betrunkenen Mutter. Vielleicht ist der Arsch auch gar nicht so fett, weil ja die Mutter selbst nicht allzu viel zu essen bekam.
Ihr wird klar, was sie getan hat: Verzweifelt reißt sie die Jacke von dem Gesicht des Babys herunter, versucht, es zu beatmen. Lautlos weint sie dabei. Doch es ist zu spät!
***
Vielleicht aber auch beginnt alles ganz harmlos: Mit einem Streich, den irgend jemand einem Anderen spielt. Mit zwei jungen Menschen, die glücklich sind. Mit einem Auto, das durch die Nacht fährt. Mit einer Frau und zwei Kindern, die sich veranlasst sahen, vor dem gewalttätigen Ehemann und Vater zur Mutter respektive der Oma zu flüchten.
So ähnlich muss es gewesen sein:
Soeben erst war das trommelnde Stakkato seiner Fäuste verklungen. Marthas Fantasie suggerierte ihr das Splittern der dicken Holztür, welche das Eindringen ihres Peinigers in die Wohnung verhinderte. Ihre beiden Töchter klammerten sich verängstigt im Wohnzimmer aneinander, während Elisabeth Weigert - Martha Kieselwurfs Mutter - telefonierte. Mit gebanntem Blick starrte die verzweifelte Frau auf die Eingangstür, jederzeit gewärtig, dass sie sich öffnet.
Stattdessen vernahm sie das Aufbrummen eines Automotors, welches sich kurz darauf in der Ferne verlor. Er hatte Lunte gerochen!
Erleichtert bewegte sich Martha von der Tür weg, die sie noch kurz zuvor wie magisch angezogen hatte. Hätte ihr Ehemann es geschafft, sie einzuschlagen, wäre sie ein leichtes Opfer gewesen. Zu was er fähig sein konnte, hatte er am selben Tag noch - kurz vor ihrer Flucht in ihr Elternhaus - in plastischer Weise demonstriert.
Als sie in den Garderobenspiegel schaute, blinkte ihr ein fettes blaues Auge entgegen, begleitet von geschwollenen Lippen und verkrustetem Blut unter der Nase. Entschlossen ging sie ins Bad, und kurz darauf rauschte Wasser.
Zwischenzeitlich legte ihre Mutter den Hörer auf und rief durch die Wohnung: "Die Polizei ist schon unterwegs!"
Martha hörte allerdings nichts. Die Tür war geschlossen, und sie war damit beschäftigt, die Spuren des Gewalt-Exzesses ihres Mannes vom Körper zu waschen.
'Glücklicherweise hat er die Finger von den Kindern gelassen!', dachte sie schaudernd. 'Nicht auszudenken, wenn die beiden Mädchen zwischen die Fronten geraten wären.'
Der Schmerz, den Emil den gemeinsamen Töchtern jedoch zugefügt hatte, war nicht weniger grausam. Er hatte ihnen dies genommen, was sie über alles geliebt hatten, und es Martha, Karolina und Julia auch noch hämisch beim Abendessen unter die Nase gerieben.
In einem Rückblick gedachte sie der bis dato schwärzesten Tage in ihrem Leben: Vor zwei Tagen war Arco spurlos verschwunden. Angeblich hatte er sich von der Leine gerissen, als Emil Kieselwurf - Marthas Angetrauter - mit ihm spazieren gegangen war. Martha war zwar skeptisch, befand es aber für besser, sich keine Zweifel anmerken zu lassen. Sie kannte ihn schließlich!
Kurz vor dem Zubettgehen bemerkte sie die beiden blau angelaufenen Hundebisse an Emils Körper. Auf ihre besorgte Nachfrage hin wiegelte er sie kurzerhand ab und behauptete, in einen Kampf zwischen zwei Hunden geraten zu sein. Dabei sei Arco entflohen.
Am nächsten Tag begab sich Martha gemeinsam mit ihren beiden Töchtern Karolina und Julia auf die Suche nach ihrem Hund. Sie telefonierte sämtliche Tierheime ab, und als dies ergebnislos blieb, verteilte sie Flyer und Plakate mit seinem Bild in der Umgebung.
Vergeblich! Ihr Familienhund - ein reinrassiger Deutscher Schäferhund - war wie vom Erdboden verschluckt.
Verzweifelt setzte sich die 45-jährige Frau auf den Badewannenrand und verzog schmerzerfüllt das Gesicht. Es gab kein einziges Körperteil, das ihr nicht wehtat, doch wenigstens lebte sie noch. Diesmal würde es keine Rückkehr mehr geben, sie war fest entschlossen.
Es hatte lange gedauert, bis sie begriffen hatte, wie gefährlich er war. Der Vorfall mit Arco hatte ihr das bewiesen, und sie war sich sicher, dass auch sie mitsamt ihren beiden Mädchen irgendwann mit ihrer aller Leben bezahlte.
Dies wurde ihr jedoch erst jetzt - in der Wohnung ihrer Mutter in Kisslegg - so richtig bewusst. Der gestrige Tag - es war der sechste Dezember gewesen - hatte ihr die erste Vorahnung beschert, als ihr Mann etwas von einem Nebenjob nuschelte und anschließend im Nikolauskostüm die Wohnung verließ.
Martha hörte ihn kurz darauf hinter dem Haus herumstapfen, ein Rascheln, zweimal Türengeklappe. Kurz darauf war er mit unbekanntem Ziel davon gefahren, und niemals hätte sie vermutet, was er spazieren fuhr.
Erst der heutige Tag hatte ihr die endgültige Erkenntnis beschert - und die letzte grausige Bestätigung, wer und vor Allem was Emil Kieselwurf - ihr angetrautes Ehegespons - wirklich war. Am Ende des Abends hatte er ihr seine fast tödliche Wahrheit persönlich auf den Körper geschrieben.
Es wäre besser gewesen, sie hätte geschwiegen und hätte sich wortlos mit ihren beiden Töchtern vom Acker gemacht. Doch all dieses Blut unten im Keller, es hatte sie rasend gemacht. Sofort wusste sie: Arco war tot!
Die Wut ließ sie jede Vorsicht vergessen, und so stellte sie Emil nach seiner Rückkehr zur Rede. Das Abendbrot stand noch auf dem Tisch, mit Nudelsalat und Baguette, die obligatorische Flasche Bier für ihren Gemahl. Sie hatten auf ihn gewartet. So wie er es wollte, und wehe, sie hätten früher begonnen.
Als die Haustür lautstark klappte, begannen die beiden Mädchen zu zittern. Ängstlich richteten sich die Blicke von Karolina und Julia zur Küchentür, in der er kurz darauf stand, groß und bedrohlich, und noch in Arbeitskleidung. Sein Gesicht wirkte finster, die Augen glasig, die Hände waren zu Fäusten geballt.
Martha war für all diese Vorzeichen blind. In ihren Adern kochte Adrenalin, und auch nach all den Jahren, die sie ihn kannte, war sie ungebrochen. Sooft sie gewarnt worden war: Bisher hatte sie immer gedacht, sie würde fertig mit ihm, zur Not stäche sie ihn kurzerhand ab.
Also erhob sie sich vom Küchentisch und schritt auf ihn zu, bemüht, sich ihren inneren Aufruhr nicht anmerken zu lassen. "Wo ist Arco?", fragte sie ihn. "Und lüg' mich nicht an."
Sie war zu mutig gewesen! Martha hatte kaum ausgesprochen gehabt, da hatte sie schon das erste Mal seine Faust im Gesicht. Mit seinem bulligen Körper drängte er sie von der Tür weg in das Innere der Küche hinein und warf sie rücklings über den Esstisch.
Teller und Besteck fielen klappernd zu Boden. Die zwölfjährige Julia sprang auf und klammerte sich von hinten an ihren Vater, während die jüngere Karolina zu weinen begann. "Papa, Papa", schrien sie unisono voller Entsetzen.
"Was denn, Papa!" Mit einem Ruck befreite er sich von seiner Tochter und gröhlte mit irrem Blick: "Euer Papa hat endlich eure dumme Töle um die Ecke gebracht, und nun treibt er es schnell mit eurer Mutter."
Mit diesen Worten hatte er Marthas Bluse zerrissen, legte sich auf sie und bog ihre Arme nach hinten. Sie strampelte mit den Beinen und versuchte, ihn von sich zu stoßen.
"Lass sie los, du brutales Arschloch", hatte Julia mit dem Mut der Verzweiflung geschrien, und Martha begann bei der Erinnerung daran wieder zu zittern. Schluchzend brach sie auf dem Badezimmerboden zusammen.
Wieder spürte sie seine groben Finger im Schritt, im Versuch, vor den Augen ihrer beiden Mädchen in sie einzudringen. "Hau lieber ab", hatte er leise zischend zu der Jüngsten gesagt, die starr vor Angst am anderen Ende des Tischs saß. "Sonst mache ich mit dir die gleichen schönen Dinge wie mit deiner Mutter." Die Vorstellung daran hatte Martha die Kraft einer Löwin verliehen.
"Lauft weg, solang Ihr noch könnt!", hatte sie nur noch geschrien. Mit ihren Fingernägeln fuhr sie in Emils Gesicht. "Bringt euch in Sicherheit, klingelt bei irgendjemandem in der Nachbarschaft. Ich komme dann nach."
Ihr Mann hatte ihr alle weiteren Worte zurück in den Rachen gestopft und ihr mit einem weiteren Fausthieb die Nase zertrümmert.
Die beiden Mädchen waren völlig lethargisch in eine Ecke gekrochen und weinten beinahe lautlos vor sich hin. Mit letzter Kraft zog Martha sich unter Emils schwerem Körper hervor und schrie zu ihnen hinüber: "Lauft!!! Schnell!!!"
Schließlich war sie mit ihm allein gewesen. Er war wie ein Tier, schlug ihr noch einmal die Faust ins Gesicht, wobei ihre Lippe aufsprang. Danach wich er zurück, zog den Gürtel aus seiner Hose und schlug ihr quer damit über den nackten Bauch. Ohne dass sie es mitbekommen hatte, war sein Hosenladen geöffnet, und sein Ding hatte ihr in Übergröße entgegengeragt.
Martha war vor Ekel und Angst wie erstarrt, und dieses Gefühl spiegelte sich auch jetzt in ihr wider. Sie erhob sich vom Boden und hob abwechselnd ihre vollen Brüste an, um sie zu betrachten. Blau unterlaufene Bissspuren zogen sich rund um die Warzen. Er hatte sie mehrmals gebissen, und ein Nippel fehlte fast völlig.
Sie hob die Hand und kniff aufschreiend in die Wunde hinein, um den Schmerz nie zu vergessen. Sie hatte so vieles versäumt, und Martha fühlte sich schuldig.
Schuld, weil sie ausgeharrt hatte an seiner Seite, Schuld, weil sie ihre Kinder nicht vor ihm geschützt hatte. Dass sie es mit ansehen mussten, und dass sie mit einem Monster verheiratet war.
Die spätere Fahrt nach Kisslegg erschien ihr wie ein surrealistischer Traum. Irgendwann war ihr Mann blutend und bewusstlos am Boden gelegen, eine Ladung Nudelsalat und Steingut-Scherben um seinen Kopf.
Hastig und notdürftig richtete sie ihre Kleidung und stieg mit rasendem Herzen über ihn drüber, jederzeit gewärtig, dass eine Hand hervor schnellen würde, um sie am Gehen zu hindern. Doch schließlich war sie ihm entkommen. Sie hatte die beiden Mädchen in der Garage gefunden, hinter einem Reifenstapel zusammengekauert. Martha lud sie sacht und leise in ihren kleinen Stadtflitzer, darauf hoffend, dass ihr die Zeit noch blieb, um mit ihnen zu flüchten.
Kurz danach hatte sie sich auf der Landstraße nach Kisslegg befunden - und zugleich in einer anderen Welt. Auf dem Rücksitz saßen Karolina und Julia, schweigend, die Stille im Wagen wurde nur hin und wieder von einem Aufschluchzen unterbrochen. Durch die Seitenscheiben huschte die Nacht an ihr vorbei, Büsche und Bäume am Straßenrand hatten auf sie wie gierige Totenfinger gewirkt. Die Scheinwerfer des Gegenverkehrs nahm sie kaum wahr.
Die ganze Zeit über hatten ihre Hände gezittert und sich an das Lenkrad ihres Wagens wie an einen Rettungsanker geklammert. Hin und wieder tropfte Blut aus ihrer Nase auf ihre Jacke, doch Schmerzen spürte sie keine. Alles, was Martha noch fühlte, war Angst und ein Grauen in ihrem Herzen, wie sie es noch niemals zuvor erlebt hatte.
Endlich am Ziel angekommen, hatte sie sich kraftlos mit dem ganzen Körper auf die Klingel ihres Elternhauses gelehnt, die beiden Mädchen schützend zwischen den Armen, den Blick die ganze Zeit auf die Straße gerichtet.
Als ihre verwitwete Mutter schließlich die Tür öffnete, war sie ihr nur noch weinend in die Arme gefallen. Elisabeth Weigert hatte blitzschnell reagiert, zog sie und die Mädchen in den Innenbereich und verriegelte die Wohnungstür.
Es war nicht das erste Mal, dass sie ihrer Tochter Obdach gewährte - doch sie hoffte, es würde das letzte Mal sein.
***
Dem Leid einer zerrütteten Ehe und einer Nacht voller Gewalt steht ein Leben voller Glück gegenüber. Es ist das Glück eines jungen Paars, das in jener Nacht seinem Schicksal begegnet.
Maja Berger und Marco Meier schlenderten Hand in Hand über den Weihnachtsmarkt von Großdummsdorf und genossen das vorweihnachtlich besinnliche Treiben.
Weihnachtliche Girlanden zogen sich über ihren Köpfen von Haus zu Haus, Advents-Gestecke mit elektrischen Kerzen blinkten in den Fenstern der Läden, und hie und da winkte ihnen einer von diesen kitschig-künstlichen Nikoläusen in Übergröße aus einem Hauseck entgegen.
Es roch nach Glühwein und Zimt, Tannenzweigen und Weihrauch. Weihnachtslieder drangen aus den Lautsprechern der Büdchen.
Das junge Paar - sie zwanzig, er dreiundzwanzig - bewegte sich weiträumig über den Markt, traf sich mit Freunden, trank den einen oder anderen Becher Glühwein mit ihnen und zog dann weiter. Sie durchwanderten die verwinkelten Gässchen zwischen den Fachwerk-Häusern, welche das Kernstück von Großdummsdorf - den Marktplatz - umringten. Schneeflocken fielen vom Himmel, und Marco lachte, als seine Freundin die Zunge herausstreckte, um sie zu fangen. Um 00:30 Uhr beschlossen sie, nach Hause zu gehen.
Ungefähr um die gleiche Zeit schlitterte ein schwarzer Porsche wie ein Geisterblitz durch die Nacht. Der Fahrer des Wagens kehrte gerade von seiner Schwiegermutter zurück. Voller Wut trat er das Gaspedal durch.
Noch eine halbe Stunde, dann befände er sich am Zielort, doch dummerweise kehrte er mit leeren Händen zurück. Sie hatten ihn abblitzen lassen.
Derweil verließ auch Kommissar Mittnacht noch einmal das Haus. Nach erfolgreich ausgeführter Mission hatte er seinen Sohn nach Hause gebracht und kehrte noch einmal zum Schauplatz des Geschehens zurück, um nach den weggeworfenen Sonnenbrillen zu suchen. Das Risiko war ihm einfach zu groß!
Frank stellte den Wagen wieder an derselben Stelle ab, schnappte sich seine Taschenlampe aus dem Handschuhfach und begab sich auf die Suche. Es war dreiviertel eins in der Nacht des siebten Dezembers, und noch war er allein.
***
Nur unwesentlich später - allerhöchstens ein bis zwei Minuten, nachdem Frank Mittnacht in Höhe Straßenmitte angelangt war - hallte das Lachen der Jugend durch die Eiseskälte des Winters und ließ Herzen schmelzen. Auf seine Lippen zauberte sich automatisch ein wehmütiges Lächeln.
Maja Berger und Marco Meier hatten sich für den Umweg durch die Ortlieb-Straße entschieden, aufgrund der schlechten Beleuchtung im Park. Ihr Fußweg führte sie in Richtung Memminger Ring, in dessen Nähe sie wohnten.
Von Weitem glänzten Majas langen glatten Haare wie flüssiges Mondlicht, und Frank gefiel, was er sah. Er wich etwas weiter in das Innere des Parkgeländes hinein und bewegte sich vorsichtig im Schatten der Straßenlaternen. Der Strahl seiner Taschenlampe zeichnete diffuse Lichtkreise in den Schnee, während er nach dem Verlorenen suchte.
Die Nacht war ruhig und harmonisch, mit wenig Verkehr. Es war die Zeit für die Romantik und Jungfräulichkeit der ersten Winter-Idylle, mit einer Stille, die selbst den Fall von Schneeflocken mit Geräuschen versah. Es war, als ob diese leise auf den Gesichtern jener drei Menschen verzischten.
Plötzlich horchte Frank auf. Ein röhrendes Geräusch durchbrach den Frieden der Nacht, gefolgt von quietschenden Reifen.
Auch das Pärchen schien aufmerksam geworden zu sein, denn sie blieben stehen und lauschten.
"Was für ein Idiot", hörte er die frische Stimme des jungen Mannes. Sie klang verächtlich.
'In der Tat.' Frank nickte bestätigend, doch weder Marco Meier noch Maja Berger sahen seinen Schatten am Wegesrand stehen. Er wich noch ein Stück weiter zurück und verschmolz mit der Lichtlosigkeit einer Neumondnacht. Mit seiner behandschuhten Hand schirmte er den Strahl seiner Taschenlampe ab - und so blieb er stehen. Sein Blick war unverwandt auf die beiden jungen Leute gerichtet, und seine Gedanken weilten bei Alexa und Basti.
Er hatte den Verlauf des gestrigen Abends noch nicht vergessen, würde er vermutlich bis ans Ende seines Lebens nicht mehr. Vor Allem sie ...
"Das kam aus dem Tunnel", rief Maja ihrem Freund zu. "War bestimmt einer mit großem Auto und winzigem Schwanz." Erneutes Gelächter schallte zu Frank herüber.
Das Röhren des Automotors kam näher und wandelte sich von dumpfem Tunnel-Echo in helleres Heulen. Ein Keilriemen pfiff.
Entrüstet schüttelte Marco den Kopf. "Der Typ ist irre." Vorsorglich zog er seine Freundin etwas weiter auf den verschneiten Wiesenrand, und Hand in Hand gingen sie weiter.
Mittlerweile befanden sie sich ungefähr auf halbem Weg, als ungefähr hundert Schritte weiter zwei Laternen zu flackern begannen. Die Nacht war plötzlich voller bedrohlicher Schatten.
Am Ende der Straße glühten zwei Scheinwerfer auf und blendeten sie. Maja vermeinte, vorher noch einen weiteren Fußgänger auf ihrer Seite gesehen zu haben, doch sicher war sie sich nicht. In solchen Nächten waren Imagination und Realität oft so dicht beieinander, so dass sich schon auch mal die Konturen der Welten vermischten.
Das Motorengeräusch des Wagens wurde zu Donner. Ein dunkles Geschoss schlitterte die Straße entlang. Majas Herz begann, ängstlich zu rasen, und sie sah sich schon unter den Rädern.
Marco stieß seine Freundin in das Innere des Parks. "Sicherheitshalber ...", erklärte er. "Der Typ ist besoffen."
"Da vorn ist ...", wollte Maja ihn auf den dritten Fußgänger aufmerksam machen. Da war es schon zu spät!
Ohne jegliche Vorwarnung klang ein Schrei durch die Nacht, gepaart mit einem dumpfen Knall.
Beide sahen gerade noch einen fliegenden Schatten, und dann kam nur wenige Meter vor ihnen ein schwarzer Sportwagen zum Stillstand.
Die Welt hörte auf, sich zu drehen.
Wie gebannt starrte Maja auf das schwache Glühen einer Zigarette im dunklen Innern des Wagens. Sie fühlte die Augen des Fahrers auf sich gerichtet, hörte das Säuseln des Windes und das Fallen des Schnees.
Ihr wurde bewusst, dass sie von irgendwo her Marcos Stimme vernahm, doch was er zu ihr sagte, verstand sie nicht. Es wurde übertönt von lautem Tuckern, und plötzlich begann die Welt, sich wieder zu drehen. Der Wagen fuhr aufröhrend an, langsam, bedrohlich, ein Höllengefährt. Es kam näher und näher, wurde schneller.
Ganz offensichtlich war sie das Ziel. Das Auto kam schräg auf sie zu. Gummi traf knirschend auf Schnee, Eisklumpen und Rasenbrocken flogen von beiden Seiten der Räder bis zurück auf die Straße.
Ein irres Männerlachen klang dumpf durch die geschlossenen Scheiben. Maja spürte einen Zug an ihrer Hand und machte sich steif. Wie in Zeitlupe schüttelte sie ihren Kopf. "Lass mich", flüsterte sie, den Blick nach wie vor auf den schwarzen Porsche gerichtet.
"Maja!!!", schrie Marco entsetzt auf und stellte sich schützend vor sie. Er konnte nicht glauben, was sich soeben vor seinen Augen abspielte.
Krampfhaft versuchte er, seinen Verstand zusammenzuhalten, um seine Freundin vor diesem Verrückten zu retten.
Sie beide waren nur noch durch einen kleinen Graben vor dem Wagen geschützt, und in dessen Inneren saß definitiv ein Psychopath.
Dieser spielte ein grausames Spielchen, hielt die beiden jungen Menschen mit seinem Wagen in Schach und machte sich einen Heidenspaß daraus, sie in Angst zu versetzen.
Er tobte sich aus, um sein Mütchen zu kühlen. Zwei bis drei Mal setzte er sein Fahrzeug zurück, gab Gas und steuerte erneut auf sie zu, sich amüsierend, dass sie wie verängstigte Hasen über die Wiese huschten.
Grinsend starrte er in das bleiche Mädchengesicht und spürte, wie sein Glied sich versteifte. Er fuhr das letzte Mal auf die Fahrbahn zurück, steuerte den Wagen rückwärts und blieb noch einmal stehen. Mit einem Aufblenden sandte er dem jungen Paar einen Abschiedsgruß und fuhr davon.
***
Maja saß auf dem eiskalten Boden und versuchte krampfhaft, aus dem soeben erlebten Albtraum zu erwachen. Geschockt barg sie ihr Gesicht zwischen den Händen und schüttelte wieder und wieder den Kopf. Schluchzer erschütterten ihren Körper.
Das alles war so rasend schnell gegangen, dass sie sich fühlte, als hätte man sie durch eine Zentrifuge gedreht.
Währenddessen zog Marco sein Handy aus der Jackentasche heraus und versuchte, sich auf die Buchstaben-Zahlen-Kombination zu konzentrieren.
Als ehemaliger Feuerwehrmann hatte er sich das Kennzeichen fast automatisch gemerkt, doch nun war er sich nicht mehr sicher, ob seine Eingabe auch die Richtige war.
Nachdem er die Autonummer in seinen Notizen abgelegt hatte, wählte er mit zitternden Händen den Notruf und meldete den Unfall - oder was auch immer das war. Marco verhaspelte sich ein paar Mal beim Sprechen und spürte, wie die Panik ihn noch mehr erfasste.
"Ortlieb-Straße ... beim Park", antwortete er mit bebender Stimme auf die Frage des Beamten, was geschehen war. "Es wurde jemand überfahren, bitte kommen Sie schnell."
Nach dem kurzen Gespräch fasste er sich und kniete sich vor Maja. Zart zog er ihre Hände vom Gesicht weg und sah sie an. "Alles ist gut", flüsterte er. "Aber wir müssen zum Unfallort. Komm."
Die junge Frau blickte auf und schüttelte ihren Kopf. "Nein, ich kann das nicht. Nie wieder!" Sie brüllte ihren Schwur hinaus in die Nacht.
Marco zog sie entschlossen hoch. "Ich kann dich verstehen. Aber wir müssen da hin. Es ist meine Pflicht, zumindest zu schauen, was da genau passiert ist. Und allein lassen werde ich dich nicht. Also bitte komm mit."
Widerstrebend ließ sie sich mitziehen. Kälte und Angst ergriff Körper und Seele. "Vielleicht war das nur ein Tier", wisperte sie hoffnungsvoll.
Ihr Freund schüttelte traurig den Kopf. "Ich habe etwas fliegen sehen. Und das war für einen Tierkörper einfach zu groß. Das war ein Mensch. Von einem anderen gewissenlosen Menschen auf die Haube genommen, und so wie es aussieht, auch noch mit Absicht."
Während das Paar durch die nur schwach durchleuchtete Finsternis stapfte, fielen auch weiterhin Flocken vom Himmel und ließen sich ungestört nieder. Wie ein Hoffnungsschimmer leuchtete ein Licht in Bodennähe vor ihren Augen.
Aus der Ferne erklangen Sirenen.
"Sie kommen", sprach Marco und orientierte sich an dem seltsamen Lichtstrahl. Am Zielort angekommen, bot sich den beiden jungen Menschen ein erschütterndes Bild.
***
"Nie wieder!", schrillte ein heller Schrei durch den Park. Frank Mittnacht schreckte auf und blickte mit fast irre scheinendem Blick um sich. Eine Faust krampfte sich um sein rasendes Herz und schien ihn zermalmen zu wollen.
Er kauerte vor dem leblosen Körper einer jungen Frau und versuchte wider besseres Wissen, ihr noch zu helfen. Sie war wie Fallobst vor ihm zu Boden gefallen.
Rings um ihren Kopf tränkte eine riesige Blutlache den Schnee, und nie wieder vergäße er dieses knacksende Geräusch. Die Schädeldecke des ihm unbekannten Unfallopfers war wie eine überdimensionale Nussschale aufgeplatzt.
Marco ließ Maja los und trat auf den Mann zu. Er wunderte sich nur kurz über sein seltsames Outfit. Im Schein einer am Boden liegenden Taschenlampe brannte sich ihm der blutige Anblick des Opfers ein.
Frank blickte mit Tränen in den Augen zu dem jungen Mann auf und bat ihn fast flehentlich: "Bitte helfen Sie meiner Frau."
Ihm war, als befände er sich an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit, in einer Vergangenheit, die ihn für immer gefangen hielt. Es war ihm kaum bewusst, was er da sagte.
Fröstelnd beugte sich Marco zu dem weiblichen Unfallopfer hinab und starrte ihr kurz in die toten Augen. Ihr Anblick sagte ihm, dass ihr nicht mehr zu helfen war.
Vielerlei Fragen gingen ihm durch den Kopf, und verzweifelt versuchte er, die notwendigen Schritte zu koordinieren.
Abschätzend wanderte sein Blick zu dem unter Schock stehenden Mann des Unfallopfers, wie er sich dachte, und traf eine Entscheidung. Behutsam legte er ihm eine Hand auf die Schulter: "Kommen Sie, die Rettungskräfte sind schon unterwegs. Wir können hier nichts mehr tun."
Frank Mittnacht saß in der Hocke und starrte verloren ins Leere. Auch er hatte die Wahrheit erkannt. Er hatte die Hände zwischen seinen Beinen gefaltet und versuchte verzweifelt, zwischen Realität und Wahnsinn zu unterscheiden.
Wie aus einer anderen Welt vernahm er die Stimme des jungen Mannes, er hörte das auf- und abschwellende Geheul eines Martinshorns, und verstand doch nichts von dem, was um ihn herum geschah.
"Kommen Sie!" Marcos Stimme wurde eindringlicher.
Frank Mittnachts Körper durchlief ein Ruck wie ein elektrischer Strom. Roboterhaft erhob er sich und schwankte leicht gegen sein Gegenüber.
Marco versuchte automatisch, den Mann zu stützen. Sein vordringlichstes Ziel war, den Schockpatienten vor dem weiteren Anblick des Todesopfers zu schützen und ihn zur Seite zu schaffen.
Franks Knie sackten ein, und sein Retter schlang einen Arm um seine Taille. Währenddessen kamen vier Rettungsfahrzeuge mit Blaulicht lautlos die Straße entlang - und fuhren an der Unfallstelle vorbei.
Angstschweiß trat auf die Stirn des jungen Helfers. 'Sie finden uns nicht', schrie es in ihm. 'Es ist zu dunkel.'
Marcos Blick irrte zu der leuchtenden Lampe am Boden. Vage fomte sich eine Idee in seinem Kopf.
Vorsichtig versuchte er, den verwirrten Mann zur Seite zu führen. "Maja!", rief er. "Komm her und hilf mir!"
Sie zuckte zusammen. 'Nein, nur das nicht ...', wimmerte eine winzige Stimme in ihrem Herzen. 'Ich kann das nicht.' Maja Berger wusste nicht, ob sie die Worte sprach oder nur dachte. Panisch schüttelte sie ihren Kopf und wich nach hinten zurück, während Marco mit Frank Mittnacht im Schlepptau auf die junge Frau zusteuerte.
Plötzlich ging es nicht mehr weiter! Ihr war, als würde sie von knorrigen Armen umschlungen. Wie hypnotisiert starrte sie den beiden Männern entgegen. In ihrer Fantasie wuchsen sie zu Übergröße heran und ...
"Maja!" Marcos Stimme klang mahnend. "Du musst nicht viel tun. Da vorn liegt eine Taschenlampe, nimm sie und geh mit ihr zur Straße. Die Sanis finden uns nicht!"
Sie wünschte sich, mit dem Baum zu verschmelzen. Das Wimmern brach aus ihr heraus und ging über in ein leises Summen. Sie fühlte die Augen des fremden Mannes finster glitzernd auf sich gerichtet.
"Marco ...", ihr Herz raste. "Ich kann das nicht. Was, wenn er zurückkommt? Er bringt uns um." Die junge Frau schaute stur geradeaus und mied Kommissar Mittnachts Blick.
Linkerhand erklangen Motorengeräusche aus mittlerer Ferne. Marco war kurzfristig abgelenkt und drehte sich um. Der Memminger Ring lag vor seinen Augen.
Er sah, wie ein Fahrzeug nach dem Anderen wendete und wieder Richtung Ortlieb-Straße zurück fuhr. Jemand musste zur Straße, und zur Not ginge er selbst. "Kann ich Sie kurz allein lassen? Passen Sie solange auf meine Freundin auf", fragte er Frank. Dieser nickte abwesend und musterte Maja von oben bis unten.
"Gehen Sie nur", antwortete er rau.
Majas Augen weiteten sich voller Angst, während Marco sich von den beiden entfernte, um die Taschenlampe zu holen. Sie kannte die Stimme. Ihre Gedanken rasten wirr durch ihren Kopf. Sie hatte diese Stimme schon schreien gehört ...
Dunkel erinnerte sie sich an den Tag vor zwei Jahren, als sie in ihrer damaligen Dummheit sich dazu hinreißen ließ, sich von der Masse mitziehen zu lassen.
Es hatte sich bitter gerächt, und ein Jahr später waren ihre Eltern ums Leben gekommen. Es war, als wäre dies ihre Strafe gewesen, für die Oberflächlichkeit, die sie sich vorwerfen musste.
Daraufhin war sie ganz schnell erwachsen geworden; und die Trauer wurde zu ihrem steten Begleiter. Nur durch Marco schien für sie ab und zu wieder die Sonne, so wie es heute war - bis zum finalen Glockenschlag am Ende der Nacht. Der Albtraum ihres Lebens hatte sie wieder im Griff!
***
Nach einer gefühlten Ewigkeit führte Marco Polizei und Rettungsdienst zum Unfallort. Zwei Beamte leuchteten den Schauplatz mit Scheinwerfern aus, und das schmale Park-Areal am Straßenrand begann sich zu füllen. Frank hatte sein Heil in der Flucht gesucht und beobachtete das Geschehen aus sicherer Entfernung.
Er stand zwischen zwei dicht nebeneinander stehenden Bäumen versteckt, nah genug, um das Meiste zu erkennen und akustisch verstehen zu können. Seine dunkle Verkleidung half ihm dabei, mit den Schatten der Nacht zu verschmelzen und sich seine eigenen Gedanken zu machen.
Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, zu den Beamten und Sanitätern zu stoßen und sich als Zeuge zur Verfügung zu stellen. Es würde jedoch Fragen aufwerfen, was er hier täte, und er geriete in echte Erklärungsnot. Er fühlte sich wie ein Verbrecher.
Der Anblick der toten Frau war regelrecht in sein Gehirn eingebrannt. Zugleich war sein Geist noch immer in einem riesigen Zeitloch gefangen.
Seine Frau und seine Tochter waren nun seit zwei Jahren tot, in einer ähnlichen Situation ums Leben gekommen. Das Nirgendwo hatte ihn heute wieder ereilt und ihm seine eigene Schuld erneut vor Augen geführt.
Unverwandt starrte er auf den mittlerweile abgesperrten Schauplatz und ließ ihn auf sich wirken. Maja Berger stand verloren inmitten der Menge und ließ sich von Schneeflocken berieseln. Seine Hände ballten sich in seinen Hosentaschen zu Fäusten, ohne dass Kommissar Mittnacht sich dessen bewusst war. Sie weckte negative Gefühle in ihm. Weshalb dies so war, bekam er nicht richtig zu fassen, doch in ihm kochte bei ihrem Anblick die Wut.
Schmerzerfüllt dachte er an den Tag X in seinem Leben zurück. Möglicherweise war ein anderer Mann heute Nacht Witwer geworden, vielleicht hinterließ die Verstorbene ebenfalls Kinder. Dies, was ihn allerdings am meisten erboste: Diese Frau hatte keine Chance mehr gehabt. Barbara und Lina hätten diese jedoch noch haben können. Sie war ihnen genommen worden, von Menschen, die nur darauf aus waren, ihren tristen Alltag mit blutigen Sensationen zu füllen.
Ein lautes Weinen riss ihn aus seinen Gedanken. Er hatte Maja Berger im Fokus und sah, wie sie zu Boden sank. Zwei Sanitäter bemühten sich um sie und versuchten, sie auf eine Bahre zu legen. Die junge Frau schlug jedoch um sich und wehrte sich vehement gegen jegliche Unterstützung.
Er wandte sich ab und verschwand im Schatten der Bäume. Frank wollte diesem Ort nur noch entfliehen.
Das Dunkel der Nacht wurde nur sporadisch von gelblichem Licht aus Gaslaternen erhellt. Niemand sah den schwarz gekleideten Mann, der auf zugeschneiten Parkwegen schritt, die Hände in den Taschen vergraben, die Schultern fröstelnd nach oben gezogen. An seinem ehemaligen Standort lag ein schwarzes Etwas wie eine mutierte Tausendfüßler-Spinne am Boden, doch er sah nicht zurück. Nur wenige Meter entfernt starrten brennende Augen darauf, kreisten lauernd umher und blieben auf Kommissar Mittnachts Rückansicht haften.
Der, zu dem sie gehörten, löste sich aus seinem Versteck und folgte Frank auf dem Fuß, bemüht, sich lautlos schleichend durch den Schnee zu bewegen. Der Unbekannte ging ihm nach bis zum seinem Wagen.
Kommissar Mittnacht verließ den Parkweg und zündete sich eine Zigarette an. Nachdenklich blies er den Rauch in die Luft und starrte den Kringeln hinterher. Ein leichtes Kribbeln im Nacken verriet ihm eine unbekannte Gefahr, doch er tat es als Hirngespinst ab.
Flüchtig griff er sich mit der freien Hand an den Kopf und vermisste seine Perücke. Müde winkte er ab und begab sich zu seinem Auto. "Was für eine Nacht", sprach er laut in die Dunkelheit. "Ein toter Hund, ein durchgeknallter Amokfahrer, und ein noch verrückterer Bulle, der sich auf die Hirngespinste eines Teenies einlässt. Nun haben wir den Salat!"
Angeekelt schnippte er die halbe Zigarette von sich weg. Sie erlosch zischend im Schnee. Ein Minimal-Leuchten erhellte kurz die Finsternis, und mit einem leisen Schnappen entriegelte er die Zentralverriegelung seines Corsas. Frustriert stemmte er sich hinters Steuer, ließ den Motor aufheulen und rollte den Feldweg Richtung Ortlieb-Straße entlang. Seine dunklen Augen verengten sich angestrengt zu schmalen Schlitzen, als er im Rückspiegel einen großen Schatten erblickte.
Der Unbekannte starrte Kommissar Mittnachts Rücklichtern nach. Als er den Kopf abwandte, sah er eine weiße Visitenkarte mit einer abgebildeten roten Rose am Boden ...
***
Marco Meier stand mittlerweile etwas verloren in der Menge herum. Diese bestand aus vier Sanis des DRK, vier Polizisten und drei Feuerwehrmännern. Letzere waren zur Putzete herbestellt worden.
Ein paar Zivile hatten sich derweil auch eingefunden, vermutlich die Presse. Diese tummelten sich zwischen rot-weiß-blauem Uniformengemisch, verschiedenartigsten Aufräumgeräten und weiß bemützten Bäumen herum.
Maja Berger hatte sich aus den Fängen der Sanitäter befreit und ward seitdem nicht mehr gesehen. Suchend sah Marco sich um. 'Wo ist sie geblieben?', fragte er sich.
Soeben war er im Begriff, sie zu suchen, da legte sich eine schwere Hand auf seine Schulter. "Dreh dich nicht um", flüsterte ihm eine bedrohlich klingende Männerstimme ins Ohr. Marco erstarrte, wagte es jedoch nicht, nach hinten zu sehen. "Was soll das?" Der junge Mann versuchte, Schärfe in seine Stimme zu legen.
"Suchst du dein Mädchen?" Der Fremde lachte. "Ich weiß, wo sie ist. Und wenn du tust, was ich dir sage, dann siehst du sie auch bald wieder."
Marco wurde flau im Magen vor Angst. Er hätte besser auf Maja aufpassen sollen! War sie nun in der Hand eines Verbrechers? Er konnte sich fast denken ...
"Du wirst keinem Menschen etwas von dem erzählen, was du heute gesehen hast! Ist das klar?", zischte der Mann. "Deine Freundin hat das schon begriffen. Aber erst, wenn du es auch kapierst, lass' ich sie gehen."
Der junge Mann zuckte zusammen. 'Der Amokfahrer ...' Marco machte eine rührlöffelartige Abwehrbewegung und fühlte unwillkürlich Ekel vor dem sich schwammig anfühlenden Stück Fleisch auf seiner Schulter. "Was haben Sie mit Maja gemacht?", fragte er mit Panik in der Stimme.
"Gibt es irgendwelche Probleme?" Ein Polizeibeamter trat auf die beiden Männer zu. Marco erkannte ihn als jenen, der sich als Polizeihauptmeister Sankt ausgewiesen hatte.
Der Druck auf seiner Schulter verstärkte sich drohend. "Nein, keine Probleme", antwortete der unbekannte Mann hinter ihm. "Ich bin von der Presse und habe mich nur mit dem jungen Mann hier ein bisschen unterhalten." Er ließ Marco los, griff in die Innentasche seines Parkas und zückte einen Presseausweis. Demonstrativ hielt er ihn dem Polizisten in mittlerem Alter unter die Nase.
Klaus Sankt nahm ihm das folierte Kärtchen ab, hielt seine Taschenlampe darauf und musterte es lange. Hin und wieder warf er dem Mann einen prüfenden Blick zu.
Ein Gefühl sagte ihm, dass mit dem Mann etwas nicht stimmte. "Sie arbeiten für die "IM BILD"?, fragte er mit ungläubigem Unterton.
Sein Gegenüber zögerte mit der Antwort, riss dem Polizisten das Kärtchen aus der Hand und heftete es sich an seinen Reißverschluss, nicht ohne selbst einen Blick darauf zu werfen. "Wie Sie sehen können, ja!", erwiderte er.
Der angebliche Journalist schlug Marco kumpelhaft auf die Schulter. "Wir sehen uns noch, und dann reden wir weiter. Dagegen kann doch niemand was haben, oder?" Er warf Polizeiobermeister Sankt einen provokativen Blick zu.
Dieser musterte das bedrückte Gesicht des jungen Mannes, mit dem er vor einer Viertelstunde noch zu tun gehabt hatte. Marco wich seinem Blick aus. "Es ist alles in Ordnung, Herr Polizeiobermeister", sagte er aufs Geratewohl. Aus den Augenwinkeln sah er, dass die Leiche abgeholt wurde.
"Wenn Sie das sagen ..." Klaus Sankt setzte eine zweifelnde Miene auf, doch er ließ es gut sein. Mit einem abschließenden argwöhnischen Blick bückte er sich unter dem rotweiß-gestreiften Absperrband durch und ging zurück zu seinen Kollegen.
"Braver Junge!", spöttelte der Besitzer des schwarzen Porsches. "Das solltest du nur nie vergessen, was ich dir gesagt habe. Sei dir von nun an in keiner Sekunde mehr sicher. Ich hab' dich und deine Freundin im Fokus."
Marco Meier würde diese dumpfe Stimme nie mehr in seinem Leben vergessen. Ein innerliches Frösteln überlief seine Seele, als hätte ihn ein Hauch aus einer Welt, die er lieber nicht kennenlernen wollte, gestreift.
Erst, als er knirschende Schritte im Schnee vernahm, wagte er es, sich umzudrehen. Voller Angst sah er dem Mann hinterher und hoffte, dass er nur geblufft hatte. Der Unheimliche verschwand zwischen den Bäumen.
Marco erwachte aus seiner Starre und folgte ihm in einigem Abstand. Instinktiv prägte er sich dessen Aussehen ein. Er hatte zwar dessen Gesicht nicht gesehen, doch seine Gestalt war massig genug, um aufzufallen.
'Grobschlächtig', würde der junge Mann sagen, wenn ihn jemand fragte. 'Schwarze, gegelte Haare, glatt anliegend wie ein Helm. Kein Mensch, der sympathisch sein würde!'
Automatisch stellte sich Marco eine kantige, gemeine Hackfresse vor, mit buschigen Brauen und schmalen Lippen, die nur zu grausamem Lächeln fähig sein würden. Vermutlich wäre der junge Mann sehr überrascht, sähe er dessen blassblauen Augen und ein etwas fülliges Durchschnittsgesicht, mit leicht geröteten Nikolaus-Bäckchen.
Nur der Blick: Der verriet ihn. Keine Freude, die er je brachte, und auch keine Freude, die er jemals empfand.
Falten hatte er keine, denn diese würden bedeuten, ein Leben zu haben. Zu fühlen, nachzuempfinden, Schönheit von innen nach außen zu tragen.
All dies war jenem Mann fremd. Er war nur ein Roboter seines eigenen Ichs, ein solch Geringes, dass es nicht nennenswert war.
Langeweile und Neid, ja, das war etwas, was er auch kannte. Er fühlte sehr wohl, dass er etwas entbehrte, was andere hatten. Er wollte besitzen, also besaß er eine Familie. Sie lebten sein Leben für ihn. Wenn sie dies nicht nach seinen Vorstellungen taten, dann quälte er sie.
Von all diesen Dingen wusste Marco Meier allerdings nichts, als er ihm nachging. Für ihn war es ein Fremder, der sein Leben bedrohte - und Maja gehörte dazu.
Der junge Mann war nicht derjenige, der das auf sich sitzen lassen wollte. Also ignorierte er jegliche innere Warnung und tat, was seiner Meinung nach getan werden musste. Als er die Stelle passierte, wo Kommissar Mittnacht gestanden hatte, sah er die schwarze Perücke am Boden. Er hob sie auf und steckte sie ein.
Dann ging er weiter, folgte dem Fremden dieselben Wege, die dieser vor ein paar Augenblicken schon einmal gegangen war, selbst nur ein Schatten eines Mannes, den der Unheimliche als Bedrohung ansah. Der Porschefahrer hatte sich zwar keinen Reim machen können, als er Frank Mittnachts Selbstgespräch hörte - außer, dass dieser ein Bulle war und von ihm wusste.
Und Marco Meier würde eines Tages die Schnittstelle sein. Er geriet in Panik, als er den Verfolgten aus den Augen verlor. Dieser war einfach mit den Bäumen verschmolzen, so wie es ihm schien.
Angestrengt starrte er in die Nacht und versuchte, inmitten der wirbelnden Flocken etwas zu erkennen.
Marco tat ein paar Schritte, hin in das schwache Licht einer Laterne, da wurde ihm schwarz vor den Augen. Er sank bewusstlos zu Boden, noch mit einem seltsam stechenden Geruch in seiner Nase.
Eine gefühlte Ewigkeit später wurde er von Stimmen und rührigen Händen geweckt. Der Mann war verschwunden. Stattdessen wurde er von zwei Polizisten und einem Sanitäter umringt. Sie redeten auf ihn ein, doch er verstand nichts von dem, was sie sagten. Dumpf hallten ihre Worte in seinem Kopf, der sich wie Watte anfühlte. Allmählich wurde ihm bewusst, dass sie wissen wollten, was passiert sei.
"Mir ist schwarz vor Augen geworden", murmelte er und behielt die Wahrheit für sich. "Habt Ihr meine Freundin gesehen?" Aufstöhnend griff er sich an den Kopf und sah sich um. Er lag in einem Schneehaufen.
"Ihre Freundin? Ist das Maja Berger?" Klaus Sankt war einer der beiden Polizisten und war ganz offensichtlich im Bilde. "Eigentlich haben wir sie schon länger nicht mehr gesehen und dachten, dass Sie vielleicht etwas wüssten."
Marco wurde es siedend heiß. Also hatte der Mann doch nicht geblufft. Er versuchte, sich seine Beunruhigung nicht anmerken zu lassen. "Sie ist bestimmt schon nach Hause gegangen." Er stand auf. "Ich werde mich darum kümmern."
Sofort merkte er, dass das keine gute Idee war. Seine Knie sackten unter im weg, und er ließ sich wieder zurück fallen. Tausend Sterne kreisten um seinen Kopf.
Der Sanitäter hatte einen Erste-Hilfe-Koffer dabei. Er öffnete ihn und zog eine kleine Flasche sowie eine Spritze heraus. "Ich gebe Ihnen ein Aufbau-Präparat, und dann dürften Sie sich gleich wieder besser fühlen. Aber sicherer und lieber wäre mir, wir könnten Sie in eine Klinik bringen."
"Es war ein aufregender Tag heute", versuchte Marco mit schwerfälliger Zunge zu erklären. "Der Unfall, und ich habe heute noch nicht viel gegessen. Das ist alles. Kein Grund, mich in eine Klinik zu bringen."
Widerstandslos ließ er sich die Jacke ausziehen. Der Sanitäter setzte ihm die vorangekündigte Spritze in den Oberarm und packte seine Utensilien weg. Abwartend blieb der ältere Mann bei ihm stehen.
"Wenn die hysterische junge Dame auch so kooperativ gewesen wäre", lobte er ihn, "müssten Sie Ihre Freundin nun nicht suchen."
Marco zuckte die Schultern und füllte seine Hände mit Schnee. Er griff zu einer uralten Überlebens-Taktik und rieb seine entblößten Unterarme und sein Gesicht damit ein, um den Kreislauf zu stabilisieren.
Allmählich kehrten seine Lebensgeister wieder zurück. 'Wenn sie nur gingen', dachte er. 'Ich muss Maja suchen.' Verzweifelt überlegte er, wie er seine Helfer loswerden könnte.
Der Zufall kam ihm zu Hilfe. Gerade, als der Sanitäter ihm seine Jacke reichte, röhrte ein Motor durch die Nacht. Es kam von links, und gleißende Scheinwerfer brachen sich durch die Bäume.
"Was zum Teufel ...", fluchte Polizeihauptmeister Sankt. "Komm, Steffen", sprach er zu seinem Kollegen. "Den Kerl schnappen wir uns." Eilig hasteten die beiden Beamten von dannen, und Marco blieb mit dem Sanitäter allein. Ein verlegenes Schweigen hing zwischen den beiden Männern.
"Gehen Sie nur", ergriff Marco Meier die Initiative und erhob sich. "Mir geht es gut, und ich möchte nur noch nach Hause." Hastig schlüpfte er in seine Jacke, verzweifelt bemüht, sich seine Ungeduld nicht anmerken zu lassen. Er hatte den Klang des Motors erkannt, und ihm schwante Böses.
Skeptisch sah der DRK-ler ihn an. "Sind Sie sich sicher, dass es Ihnen gut geht?"
"Todsicher!", antwortete er. "Es ist alles in Butter." Er wandte sich nach links, ließ ihn stehen und folgte den beiden Beamten. Plötzlich überlegte er es sich anders und drehte noch einmal um. Er eilte dem Mann hinterher und rief: "Warten Sie!"
Irikus Mermank wandte sich um und blieb stehen. "Ja?", fragte er.
Marco bat ihn: "Kommen Sie mit! Ich habe das dumpfe Gefühl, dass es da noch jemanden gibt, der Sie braucht." Mit dem verwunderten Sanitäter im Schlepptau rannte er durch den Park. Als die beiden Männer am Ende des Weges angelangt waren, dachten beide, ihr Herz bliebe stehen ...
***
Dunkelheit hielt sie umfangen. Neben sich fühlte sie einen gedrungenen Leib und Fesseln, die sie Tentakeln gleich umfangen hielten.
Stoßweise und keuchend kam ihr Atem hinter einer gummiartigen Masse hervor. Sie bekam keine Luft. Die junge Frau erinnerte sich an einen stechenden Geruch, der ihr das Bewusstsein genommen hatte.
Eiseskälte und Nässe ließ ihren Körper erbeben. Schutzsuchend kuschelte sie sich an die Wärmequelle neben sich und versuchte, die Augen zu öffnen. Voller Panik stellte sie fest, dass es ihr nicht gelang. Die Finsternis wollte nicht von ihr weichen.
Ein dumpfes Ächzen neben ihr bestätigte ihre Vermutung, dass sie nicht allein war. War Marco bei ihr? Wer hatte sie beide gefesselt?
Vage erinnerte sie sich an eine Stimme, die ihr geraten hatte, gut auf sich aufzupassen, und vor Allem auf dies, was sie sagen würde. Sie war voller Häme gewesen!
Probeweise versuchte sie, ihre Hände zwischen ihren Fesseln aus elastischem Klebeband zu drehen und sich zu befreien. Es glückte ihr nicht. Der Irre hatte sie verschnürt wie ein Paket.
Aus weiter Ferne drangen Stimmen an ihr Ohr, und etwas, was sich wie Federn anfühlte, fiel auf ihr Gesicht.
Entsetzt riss sie die Augen auf - und sah immer noch nichts. Maja zitterte und spürte ein ungleich stärkeres Beben links von sich. Da war ein Mann, doch Marco konnte das niemals sein. Der Unbekannte war muskulöser.
Er begann, sich zu bewegen. Sie griff - so gut es ging - neben sich und ertastete dieselben Klebebänder wie an ihren eigenen Händen.
Rennende Schritte kamen von rechts. Kurz darauf hörte sie die aufgeregte Stimme von Marco und ein klatschendes Tätscheln in ihrem Gesicht: "Maja? Alles okay? Hab' keine Angst, ich bin bei dir. Was ist passiert?"
Abwehrend wandte sie ihren Kopf zur Seite und stieß dumpfe Laute hinter ihrem Knebel hervor.
Kurze Zeit später waren die beiden Opfer befreit und standen sich das erste Mal von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Den Mann kannte sie nicht, und der Blick, den er ihr zuwarf, riet ihr, dass sie auch keinen Wert darauf legte, ihn kennenzulernen. Zigtausend Fragen stürmten ihr Herz.
Der Andere beschloss, keine Mördergrube aus demselben zu machen. "Was war denn das für ein Ding?", blaffte er die junge Frau an, die an seiner erlittenen Misere komplett unschuldig war.
Polizeihauptmeister Sankt räusperte sich. "Das würde uns auch interessieren. Und vor Allem, wem wir dieses hübsche Weihnachtspaket zu verdanken haben." Ritterlich reichte er der vor Kälte zitternden Maja seine Uniformjacke, doch diese wehrte ab. Hilfesuchend lehnte sie sich an Marco.
Der andere Polizist wandte sich einstweilen an das männliche Opfer. "Könnten Sie mir vielleicht sagen, wie es sein kann, dass wir hier zwei Menschen, die einander offenbar nicht einmal kennen, aneinander gefesselt finden? Und wer sind Sie überhaupt?"
Der Mann tastete suchend an seinem Körper entlang. "Ich bin von der Presse." Er setzte ein ratloses Gesicht auf. "Offenbar habe ich meinen Ausweis verloren."
Klaus Sankt horchte auf. "Arbeiten Sie zufällig für die "IM BILD"?
"Ja, woher wissen Sie das?"
"Weil mir heute schon einer Ihrer Kollegen über den Weg lief." Fragend sah der Beamte in sein Gesicht. "Haben Sie auch einen Namen?"
"Stephan Wagner", bellte er knapp und ballte die Fäuste. "Und einen Kollegen hatte ich nicht. Ich war allein. Und meine Kamera wurde auch noch gestohlen."
Irikus Mermank hatte sich bisher im Hintergrund gehalten, doch nun bückte er sich und trat hervor. "Könnte das diese da sein? Übrigens sind Sie verletzt. Sie bluten am Kopf." Hilfsbereit reichte er dem Journalisten das Gerät.
Schnee rieselte von einem Baum, direkt in den Kragen von Stephan. Genervt griff er sich ins Genick und schüttelte sich wie ein nasser Hund. Mit der anderen Hand nahm er dem Sanitäter die Kamera ab und würgte ein knappes "Danke" hervor.
"Ich gehe jetzt nach Hause", beschied er den verbliebenen Männern. Mit einem anzüglichen Grinsen musterte er Maja von oben bis unten. "Schon lange keine Fesselspielchen mehr gespielt. Was meinst du, machen wir weiter? Meine Freundin schaut gern dabei zu."
Angeekelt schaute Maja Berger ihn an. "Du musst es ja ganz schön nötig haben", erwiderte Marco an ihrer Stelle. "Würde dir notfalls eine hübsche Gummipuppe empfehlen."
"Oh hoppla", antwortete der Journalist lapidar. "Zu viert macht es noch mehr Spaß."
Eigentlich war Stephan nicht gerade zu solchen Scherzen zumute, doch er würde den Teufel tun und sich dies anmerken lassen.
Es waren pure Ablenkungsmanöver, denn wenn die Polizei begann, Fragen zu stellen, wurde es unangenehm. Er hatte einen eindeutigen Auftrag mitsamt sehr deutlicher Ansage bekommen. Also machte er auch weiter auf cool.
'Eigentlich schade', dachte er in sich hinein. 'Der heutige Tag würde sich gut als Schlagzeile machen. Ein Unfall mit Fahrerflucht, zwei halbgewalkte Entführungen, zwei aneinander gefesselte Menschen, mein Chef wäre begeistert. Aber ich hänge am Leben. Hoffentlich kommt mir noch was Adäquates in die Quere, das ich ihm anbieten kann.'
Eiligst versuchte er, sich von dannen zu schleichen, doch weder für ihn noch für Maja war die Sache gegessen - zumindest nicht vonseiten der beiden Beamten. "Nicht so hastig, junger Mann!" Klaus Sankt folgte ihm und stellte sich ihm in den Weg. "Wir hätten da schon noch ein paar Fragen. Immerhin sind Sie ganz offensichtlich Opfer eines Gewaltverbrechens geworden, so wie es aussieht."
"Ich habe Ihnen rein gar nichts zu sagen. Da hat sich jemand offenbar einen Scherz erlaubt, und ich habe auch gar nichts gesehen." Stephan rieselte es eiskalt den Rücken hinunter, als er an die bizarre Situation zurück dachte, in die er ganz unverhofft geraten war. Er hielt sich selbst für einen eiskalten Hund, doch dies ...
Dabei war es nicht einmal gelogen: Er hatte den Kerl nicht gesehen. Der junge Journalist wollte nur mal kurz seinem Pullermännchen die große weite Welt zeigen und war später an eine Frau, die er nicht kannte, gefesselt gewesen. Alles dazwischen war irgendwo verloren gegangen.
"Möchten Sie nicht wenigstens Ihre Kopfwunde versorgen lassen?", riet Klaus Sankt und winkte den Sanitäter - Irikus Mermank, der seinen Namen der griechisch-schwedischen Abstammung zu verdanken hatte - herbei. Dieser machte sich mit Tupfer und Sonstigem an seiner Stirn zu schaffen, doch Stephan stieß ihn kurzerhand weg.
"Das ist nur ein Kratzer!", bellte er. Und Sie ...", damit wandte er sich an den Beamten, "lassen mich jetzt gefälligst gehen. Es gibt nichts zu wissen. Fragen Sie doch einfach das Mädchen, vielleicht weiß die mehr."
"Kommen Sie bitte am Montag aufs Präsidium. Überlegen Sie sich, ob Sie Strafanzeige machen wollen. Ihre Personalien hätte ich auch noch gern, komplett mit Name, Adresse und Ausweis."
"Wozu soll das gut sein? Ich möchte niemanden anzeigen, nur noch nach Hause. Ich habe eine Arbeit zu erledigen." Ungehalten drängte Stephan den Beamten beiseite und war im Begriff, den Feldweg beim Park zu verlassen.
So einfach kam er dem Polizisten jedoch nicht davon. "Ihre Personalien", forderte er unerbittlich. "Und dann können Sie gehen."
Nach einer geschlagenen Viertelstunde hatte er dies, was er gewollt hatte und ließ den jungen Mann ziehen. 'Was für eine Horror-Nacht', dachte Klaus erschüttert und ging zu Marco Meier und Maja Berger zurück. Die beiden durchliefen dasselbe Prozedere durch seinen Kollegen.
Ein Blick in das Gesicht von Polizeimeister Eisenstein genügte ihm, um zu wissen, dass dieser ebenso wenig weiter gekommen war. Maja Berger stand der Schock noch immer ins Gesicht geschrieben, doch sie weigerte sich vehement, irgendwelche Statements zur Situation abzugeben. Es war wie verhext!
Als er ihr wildes Kopfschütteln sah, platzte ihm endgültig der Kragen. Polizeiobermeister Sankt wandte sich gezielt an Marco: "Sie werden bewusstlos aufgefunden, Ihre Freundin gefesselt an einen anderen Mann, den sie nicht kennt. Und Ihr wollt mir alle drei erzählen, da war nichts dabei, und jemand hätte sich einen Scherz erlaubt. Halloween ist eigentlich schon lange vorbei. Was also war los?"
"Also gut!" Marcos Blick wurde entschlossen. "Ich wurde betäubt und bin nicht von selbst in Ohnmacht gefallen. Und wahrscheinlich war das derselbe Typ, der Maja an den komischen Journalisten gefesselt hatte. Und derjenige, der die Frau totgefahren hat."
"Marco!" Maja sah ihn entsetzt an. "Der bringt uns um!"
"Er wird keine Gelegenheit dazu bekommen", versuchte Polizeimeister Eisenstein, sie zu beruhigen. "Wir haben den Fahrzeug-Typ, das Kennzeichen ..."
Steffen sah, wie die junge Frau erbleichte und brach den Satz ab. "Stimmt was nicht?", fragte er sie leicht irritiert.
"Schon gut", murmelte sie und warf Marco vorwurfsvolle Blicke zu. 'Warum?', stand in ihren Augen. 'Warum hast du nicht einfach geschwiegen?'
Ein ungutes Gefühl hielt sie ummantelt. Sie hatte die Bösartigkeit desjenigen zu spüren bekommen, der nur darauf aus war, seine Tat zu vertuschen. Die Polizei ging von einem normalen Unfall mit Fahrerflucht aus; Maja Berger kannte die Wahrheit. Es war, als hätte sie einen Blick in die Hölle getan, und nicht in das Gesicht eines Menschen.
In der zweiten Stunde nach Mitternacht schließlich erloschen sämtliche Lichter und hinterließen die Schauplätze der Stadt wieder im Dunkel. Auch am Unfallort gingen die Scheinwerfer aus, und ein Fahrzeug nach dem Anderen verschwand in der Nacht.
Vergossenes Blut vermischte sich mit dem Reinweiß des Winters, und bald schon war es ganz überdeckt. Fast schien es, als wäre alles nur ein böser Traum!
Dem jungen Paar hingegen würde diese Nacht noch lange in Erinnerung bleiben. Dunkle Schatten legten sich über das Herz von Maja Berger und sollten sie bis an das Ende eines Menschenlebens verfolgen. Sie hoffte, es wäre vorbei. Doch das Rad des Schicksals begann sich soeben zu drehen!
***
In den frühen Morgenstunden erwartete Emil Kieselwurf sein eigener Albtraum. Er war todmüde, und an die Geschehnisse des vergangenen Tages verschwendete er kaum einen Gedanken. Stundenlang war er durch die Gegend gefahren, ohne noch zu wissen, wo er überall gewesen war.
Er schloss die Tür auf, betrat das Innere des Hauses und horchte hinein in die Stille. Ein leises Rattern drang an seine Ohren. Er folgte dem Geräusch die Treppe hinauf.
Oben angekommen machte er Licht, stand stocksteif in der Schlafzimmertür und rieb sich verwundert die Augen. Noch begriff er nicht, was er da sah, doch ihm dämmerte, dass er sich nicht einfach in sein Bett hinein legen konnte.
Dummerweise war dieses ganz offensichtlich belegt.
Sein Drucker spuckte im Sekundentakt grausige Fotos aus. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf seine Seite in dem alten Doppelbett - und dann wurde er schlagartig wach.
Er nahm alles gleichzeitig wahr: Eine Hundeschnauze, die zu grinsen schien.
Einen Körper, gewandet in ein offensichtlich darauf zugeschnittenes Nikolauskostüm.
Ein Hundekörper, und er begriff: Es musste sein eigenes Kostüm sein, denn er entdeckte unter dem Hals des Hundes eine Stelle, an der einmal SEIN Knopf gehaftet hatte.
Dann schaute er noch einmal mit ungläubigem Blick: Das war Arko, die Töle, der er vor zwei Tagen den Schädel eingeschlagen hatte. Da war die Wunde über der Stirn, die er ihm mit einem Wagenheber zugefügt hatte, nur etwas verdeckt von der Kapuze seines Kostüms.
Nun wusste er auch: Es war kein Grinsen, sondern eine im Todeskampf verzogene Schnauze, und plötzlich hörte er die grausig fiependen Schreie dazu.
Arkos Augen waren gnädigerweise mit Tannenzweigen bedeckt, aber er wusste auch so: Bevor er starb, waren sie weit aufgerissen gewesen.
Sie hatten ihn angeschaut, flehend, ungläubig, und schließlich brachen sie und wurden starr. Auf der Brust von Arko lag ein Plakat. Darauf stand in blutroter Schrift:
Mein Name ist
Toter Hund!
Kennst du mich noch?
***
*****
***
Nachdem Frank Mittnacht in der Unfallnacht wieder daheim angelangt war, trieb es ihn auf der Suche nach seinen Erinnerungen lange durchs Haus.
Die einzelnen Anlaufstationen könnte er für sich selbst im Nachhinein bestimmt nicht benennen. Doch an eines erinnerte er sich genau: Wie er am Bettchen von Lina saß und versuchte, ihre Kindheit wieder zurück zu erlangen.
Das Zimmer war noch immer so wie zu der Zeit, als seine Tochter noch lebte. Es war ein richtiges kleines Prinzessinnen-Reich. Genau so, wie es sich Lina damals vorgestellt hatte, bevor sie den Fußstapfen der Kindheit allmählich entwuchs.
Sämtliche helleren Rottöne waren Linas Lieblingsfarben gewesen, und dies spiegelte sich in ihrem Reich wieder. Der Raum war in einem ganz zarten Pastellrosa gestrichen, ihr Bett hatte einen Organza-Himmel in einem etwas kräftigeren Pink. Dieselbe Farbe wiederholte sich an den Fenstern in Form von luftigen Schals und in der Bettwäsche in einem etwas kräftigerem Ton.
Die Farben wirkten zwar mittlerweile etwas verblasst, doch Frank hatte es noch gut in Erinnerung, wie sich seine Tochter gefreut hatte, als ihr Zimmer pünktlich zur Einschulung fertig geworden war. Gedankenverloren streichelten seine Hände über die Bettdecke, zärtlich, selbstvergessen, verzweifelt. Wie es ihm schien, stundenlang.
Sein kleines Sonnenscheinchen, der Mutter so ähnlich, und gleichzeitig ihm. Auch sie war blond gewesen, ein lockiges Wuschelköpfchen. Das war Lina gewesen.
Im Gegensatz zu Barbara, die als Kind Zöpfe getragen hatte, waren die Haare seines kleinen Mädchens fast nicht zu bändigen gewesen. Charakterlich hatte sie viel von ihm gehabt und war zu einer kleinen Leseratte geworden.
Nachdenklich erhob er sich und trat an ihren Bücherschrank aus heller Eiche. Er nahm ein noch eingeschweißtes Buch zur Hand und kämpfte gegen die Wut an, die in ihm aufsteigen wollte, wenn er es sah. Dies war eines der wenigen originalgetreuen Übersetzungen des englischen Buchtitels "St. Clare's", der Vorlage für "Hanni und Nanni".
Sie hatte alle sechs Original-Übersetzungen zu ihrem Geburtstag bekommen, doch nur fünf standen noch in ihrem Regal. Der sechste Enid-Blyton-Band war nicht mehr da!
Plötzlich flog das Buch durchs Zimmer und prallte gegen die Wand. Ihm folgte ein lauter Schrei. Von ganz tief unten, kehlig, voll Wut, voller Schmerz, voller unbeschreiblicher Emotionen. Ohne dass Frank wusste, was er da tat, riss er einige der Bücher vom Regalboden herunter und wütete wie ein Hurrikan durch das Zimmer. Seine Fäuste trommelten gegen den Kleiderschrank, schreiend trat er gegen Linas Kinderschreibtisch. Der Schmerz saß so tief, und er wünschte sich so sehr, vergessen zu können. Doch ganz offenbar war bei ihm das Sprichwort "Zeit heilt alle Wunden" nicht möglich, eher wurden diese um ein Vielfaches größer.
Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete sich die Kinderzimmertür einen Spalt weit, und ein blonder Jungenschopf schob sich um die Ecke.
"Papa?", hörte Frank die panisch klingende Stimme seines einzigen Kindes, das noch am Leben war.
Wie aus einem Traum erwachend schreckte er auf und sah Tom mit verschleiert wirkendem Blick an. Dann drehte er sich zwei Mal um die eigene Achse und betrachtete das Chaos im Zimmer.
"Papa, was tust du?" Die Stimme seines Sohnes klang ganz klein, ängstlich, fast piepsig.
Sofort packte Frank Mittnacht ob seiner Unbeherrschtheit das schlechte Gewissen. "Es ist gut, Tom", antwortete er müde. "Heute Nacht sind einige schreckliche Dinge geschehen, von denen du noch nichts weißt."
Der Junge betrat das Zimmer und setzte sich auf Linas mittlerweile zerwühltes Bett. "Papa, was ist geschehen? Weshalb bist du so durchgedreht?" Dabei zog er mit dem linken Arm einen Kreis und deutete auf die Zerstörung im Raum. Besorgt blickten seine blauen Augen zu seinem Vater.
"Ich war noch einmal fort, um unsere Sonnenbrillen zu holen. Dabei bin ich in einen Unfall geraten."
Frank bedeckte sein Gesicht, als ob er damit das Bildnis der toten Frau auslöschen wolle. Erschüttert schüttelte er seinen Kopf und fuhr fort: "Es war so schrecklich, so unwahrscheinlich viel Blut, dass ich dachte, das könne unmöglich von einer einzigen Person stammen. Es war genauso wie damals, als ich dich auf dem Feld liegen sah."
"Hast du den Unfall verursacht?" Entsetzt und mitleidsvoll sah der Junge ihn an und atmete erleichtert auf, als Frank kopfschüttelnd verneinte.
Tom stand auf und trat ihm fast auf Augenhöhe direkt gegenüber. Zögernd blieb er zwei Schritte von ihm entfernt stehen, dann fasste der Junge sich ein Herz und umarmte ihn tröstend.
Es war ein seltsames Gefühl, fast so etwas wie Rollentausch, wie er als Sohn den Vater zu beruhigen versuchte. Doch andererseits genoss Tom diese Nähe zu dem Mann, zu dem er aufsah.
Trotz all dem, was sie beide hinter sich hatten, trotz Franks Krankheit, die ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben hatte, war er dennoch für ihn dagewesen und hatte sich allein für ihn - für Tom - aus dessen Klauen befreit. Sie waren sich gegenseitig eine Stütze gewesen, und der Junge hoffte, das würde noch lange so sein.
Eine Weile hielten Vater und Sohn einander umschlungen. Dann löste sich Frank aus der Umarmung und bat seinen Sohn: "Hilfst du mir, ein bisschen Ordnung zu machen? Am Montag kommt Else, und wenn sie das hier sieht, bekommt sie die Krise. Sie würde sich sorgen, dass wir beide völlig übergeschnappt seien."
Es war bereits viertel nach drei in den frühen Morgenstunden, als das Tohuwabohu einigermaßen beseitigt war. Lange nachdem Tom bereits schlafen gegangen war, starrte Kommissar Mittnacht in seinem Bett gegen die Decke und ließ den Tag auf sich wirken.
Er hoffte, dass der verantwortungslose Amokfahrer gefunden werden konnte und seine gerechte Strafe erhielt.
Im Anbetracht der Geschehnisse danach erschien ihm der Tod eines Hundes banal, aber dennoch hoffte er, dass Emil Kieselwurf einen gehörigen Schrecken bekommen hatte, als er sich in sein Bett legen wollte.
Bei der Fantasie daran grinste Frank Mittnacht leicht, doch seine kurzfristige Erheiterung hielt nicht lange an. Zuviel war geschehen, und eigentlich war er todtraurig.
Er wusste selbst nicht so genau, was da in ihm tobte, doch er fühlte sich, als hätte er einen dunklen Tornado in seiner Seele. 'Die Objektivität ...', fragte er sich, 'die ich als Polizist haben müsste: Wann habe ich die verloren? Was wächst da in mir?'
Angst bemächtigte sich seiner. Angst davor, noch mehr Fehler zu machen, die Kontrolle wieder über sich selbst zu verlieren, so wie es schon einmal geschehen war.
***
Es war spät in der Nacht, als Maja Berger und Marco Meier nach den Schreckensereignissen in der Ortliebstraße ihre gemeinsame Wohnung betraten. Beiden standen die Strapazen ins Gesicht geschrieben.
An Schlaf würde vorläufig vermutlich eher nicht zu denken sein. Maja wirkte apathisch und leer, wie Marco besorgt bemerkte. Er kannte diese Phase sehr gut und hoffte, dass sie bald wieder zu sich selbst zurückfinden würde.
Er versuchte, sich seine eigene Erschütterung nicht allzusehr anmerken zu lassen. Wie es schon immer gewesen war, wollte er stark sein für sie. Fürsorglich zog er ihr im Flur ihre Steppjacke aus und hängte sie an die Garderobe.
Mit leichtem Druck schob er Maja ins Wohnzimmer. „Setz du dich schon mal hin. Ich mach uns noch einen Glühwein in der Mikrowelle heiß“, sagte Marco, während er Maja sanft eine blonde Strähne aus dem Gesicht strich.
Sie nickte knapp: „Okay, mach das.“
Marco verschwand in der Küche.
Maja setzte sich auf die große Rundecke unter dem Fenster und versuchte, wieder zur Ruhe zu kommen. Hier hatten sie und Marco ihr Refugium aufgebaut, ihr Kuschelnest, das ihr Geborgenheit gab. Beide liebten es, gute Bücher zu lesen, vor Allem Krimis. Oft lagen sie abends nebeneinander auf der Couch, um gemeinsam zu schmökern, oder sie schauten Arm in Arm fern.
Die bizarren Situationen, in die sie heute geraten waren, erinnerte sie an einen Thriller. Maja tat sich schwer damit, die Geschehnisse als Realität anzusehen und fühlte sich fast so, als wäre sie in einen ihrer Romane geraten.
Ihre Gedanken brachen ab und wandten sich dem Tag zu, an dem sie ihre Eltern - ebenfalls bei einem Unfall - verlor. Schmerzerfüllt blickte sie zu einer kleinen Ahorn-Vitrine. Auf dem dazu passenden Sideboard stand deren Hochzeitsbild.
Die beiden Möbelstücke hatten Marco und sie von ihren Eltern zum Einzug geschenkt bekommen. Kurz danach waren sie ums Leben gekommen.
Maja stand auf und durchquerte den Raum. Gedankenverloren und zärtlich strichen ihre Finger über das Foto und überwanderten die Schnörkeleien, mit denen die antiken Stücke versehen waren. „Mama, Papa, ihr fehlt mir so", murmelte sie mit erstickter Stimme. „Warum habt ihr mich so früh alleine gelassen?“ Eine vereinzelte Träne rann ihr silbrig über die Wange.
Marco stand derweil in der Küche und machte für sich und Maja zwei Becher Glühwein. Er würde Maja so gern helfen, sie trösten, ihr den neuen Schmerz nehmen ...
Durch die geöffnete Küchentür sah er sie vor dem Bild ihrer Eltern. Die Trauer in ihrem Gesicht schnitt ihm ins Herz. Er nahm die beiden Tassen Glühwein aus dem Mikro, ging zurück ins Wohnzimmer und stellte sie auf dem Couchtisch ab. Ohne ein Wort zu sagen, trat er hinter sie, schlang tröstend beide Arme um ihren Körper und zog sie sanft an sich. Zärtlich drückte er seine Nase in ihr duftendes Haar.
Schutzsuchend ließ Maja sich fallen und lehnte sich gegen den breiten Brustkorb des Menschen, der ihr alles bedeutete. Er war ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart, und wie sie hoffte, auch ihre Zukunft.
Marco hielt sie lange umschlungen und streichelte ihr über die Arme. „Komm, Schatz“, sagte er schließlich mit sanfter Bestimmtheit und zog sie mit sich auf die Couch.
Maja ließ es geschehen und kuschelte sich wieder an seinen Körper, kaum dass sie saßen. Die Schleusen brachen, und endlich konnte sie weinen. „Sie fehlen mir so. Und eben ... Ich krieg das alles nicht aus meinem Kopf. Was ist das für ein Mensch, der so etwas macht?" Sie schluchzte auf.
„Ich weiß es nicht, Maja. Aber er wird uns nichts tun, dafür werde ich sorgen“, erwiderte Marco beruhigend und drückte sie noch etwas fester an sich.
„Der Irre hätte uns beinahe umgebracht. Und wenn dir irgendetwas zustoßen sollte, ich weiß nicht, was ich täte.“ Ihre Stimme wurde leiser und leiser.
„Schsch, sag so was nicht. Ich bin immer für dich da. Und so einfach lass ich mich nicht unter die Erde bringen“, versuchte Marco, sie zu beruhigen. „Als er Majas zweifelnden Gesichtsausdruck sah, drückte er ihr die Tasse in die Hand und fuhr entschlossen fort: "Trink aus, und dann gehen wir schlafen. Es hilft niemandem, wenn wir uns quälen und wach bleiben. Morgen sieht alles ganz anders aus.“
Verzweifelt umklammerte Maja ihre Tasse. Ihre langen blonden Haare fielen ihr wirr ins Gesicht, und fast wild schüttelte sie ihren Kopf. Heißer Glühwein schwappte ihr auf die Hand, doch sie bemerkte es kaum. "Ich habe Angst, Marco. Als er mich gefesselt hatte, sah ich seine Augen. Sie waren eiskalt."
"Was hatte eigentlich der Journalist mit der ganzen Sache zu tun?", fragte er sie und strich ihre Haare nach hinten.
"Ich weiß es nicht, er hatte uns ja beide betäubt. Habe auch keine Ahnung, wie das alles gekommen ist." Majas Stimme klang voller Panik. "Erst noch wollten mich die Sanis behandeln, ließen mich laufen, und plötzlich lag ich gefesselt hinter einem Auto und wusste nicht, wo ich war." Ihre Hände zitterten. "Dann war ich plötzlich bewusstlos. Als ich aufwachte, schnallte ich, dass ich nicht allein war. ich erinnere mich noch daran, dass der Irre mir drohte."
"Mit was hatte er dich bedroht?" Marco nahm ihr die Tasse wieder aus der Hand und stellte sie ab. Dann drückte er Majas bebenden Körper fest an seine Brust. Ein Schluchzen klang dumpf aus ihr hervor. Sie war nicht imstande, ihm sofort eine Antwort zu geben.
Er hob ihr Kinn an und sah ihr in die Augen. "Maja, sag's mir!" Seine Stimme war eindringlich. "Wir lassen uns keine Angst einjagen!"
"Er sagte, er bringt uns beide um. Erst würde er dich kalt machen, und ich dürfte ihm dabei zusehen. Und dann würde er mir streifenweise die Haut abziehen." Maja erschauerte.
"Beenden wir es, Schatz. Denk einfach nicht mehr dran." Kurzerhand zog Marco sein Mädchen von der Couch hoch und warf sie sich über die Schulter.
Maja kreischte auf und schwankte zwischen Weinen und hysterischem Gelächter. Ohne Rücksicht auf ihr Gestrampel zu nehmen, rannte Marco mit seinen langen Beinen über den Flur und warf sie im Schlafzimmer auf ihr breites Bett. 'Hauptsache, sie bekommt ihr Lachen zurück', sagte er sich und gratulierte sich selbst, weil es ihm gelungen war.
„Na siehst du, es geht doch!“, raunte er liebevoll. Er gab ihr einen Nasenstüber und ließ sich neben sie sinken.
„Aber auch nur, weil ich dich habe.“ Sie umarmte ihn fest. „Bitte sei heute nacht ganz nah bei mir.“
Marco nickte lächelnd und flüsterte: „Ich bin immer bei dir.“ Er legte sich neben sie, zog sie an sich, und ihre Lippen fanden sich zu einem zärtlichen Kuss. Genüsslich strichen seine Finger über Majas Hals. Er ließ sich Zeit, entledigte sie Stück für Stück ihrer Kleidung und warf sie zu Boden.
Maja ließ es geschehen und revanchierte sich für jede einzelne seiner Zärtlichkeiten. Ungeduldig zerrte sie an seinem Pullover, bis er ihr half. Kurz danach fiel auch dieser in irgendeine Ecke des Zimmers.
Marco umschlang sie fester und schmiegte sein Gesicht zwischen ihre weichen Brüste. Ihre Körper verschmolzen zu einer Einheit. „Meinst du, so nah?“, murmelte er sehnsüchtig und drang sanft in sie ein.
„Ja. Genau so“, erwiderte sie flüsternd und schmiegte sich noch enger an ihn. Während er ihre Nacktheit wieder und wieder mit Küssen überzog, wiegten sie ihre Körper im Takt ihrer Herzen. Beide wünschten sich, dieser Moment möge niemals vergehen. Er fühlte Majas Körper unter seinen gleichmäßigen Bewegungen erbeben, ließ sich fallen und brach mit einem lauten Stöhnen auf ihr zusammen.
Marco wünschte sich, ihr bis ans Ende aller Tage so nahe zu sein, sie zu beschützen, mit ihr zu fliegen, ihr die Sorgen zu nehmen. Ihr die Kraft und die Geborgenheit zu geben, wie Maja es brauchte.
Anschließend lagen sie eng umschlungen nebeneinander. „Es wird alles gut“, flüsterte er ihr ins Ohr. Maja drehte sich um und schmiegte wohlig seufzend ihren Rücken unter der Bettdecke an seinen nackten Körper. "Lass mich nie wieder los", flüsterte sie. "Nie wieder, nie wieder, nie wieder."
Er lächelte zärtlich. "Nie wieder ...", bestätigte er. Schließlich merkte er, dass sie schlief. Er selbst hingegen konnte noch lange nicht schlafen. Seine Nase in ihren Nacken kuschelnd, sah er sie lange an. 'Wie sehr ich sie liebe ...'
***
Ihr habt sie umgebracht! Ihr habt sie einfach so umgebracht! Das werdet Ihr büßen!
Die drei Sätze gellten in seinen Ohren. Vor ihm lag eine aufgeschlagene Kladde, und sie erzählte ihm eine Geschichte, die er schon kannte. Verworrene Schriftzüge in Totenschwarz grinsten ihn höhnisch an und gaukelten ihm einmal mehr all die Schreckensbilder von damals vor. Menschen, überall Menschen, wohin er nur schaute. Was taten sie da? Weshalb halfen sie nicht? Aus welchem Grund versperrten sie anderen Menschen, die helfen wollten, den Weg?
Er lag auf dem Boden und starrte zu ihnen hinauf. Ein Schauder überlief seinen Rücken, als sie näher und näher kamen - um ihn zu töten?
Eine zentnerschwere Last legte sich auf seine Brust und drohte, ihm den Atem zu rauben. Entsetzt keuchte er auf und rang nach Luft. Er wollte schreien, doch kein Laut kam zwischen seinen Lippen hervor.
Stattdessen begannen diese Menschen zu lachen, höhnisch, gellend, und sie zeigten mit ihren Fingern zu Boden. Auf ihn; und auf die drei Menschen, die neben ihm lagen!
"Mörder!", schrie er. "Ihr gottverdammten Mörder!"
Franks Augäpfel bewegten sich unruhig hinter geschlossenen Lidern. Zahlreiche Bilder blitzten im Schlaf wirr durch sein Gehirn. Er befand sich wieder am Unfallort. Das Gesicht der toten Frau schob sich vor sein inneres Auge und nahm wenige Sekunden später die Züge Barbaras an, um sich kurz darauf zu einer weit aufgerissenen Hundeschnauze zu formen. Aus zigtausend Ecken hallten ihm Schreie entgegen.
Schweißgebadet schreckte er auf. Die letzte Traum-Sequenz wollte auch im wachen Zustand nicht von ihm weichen. Übergroß sah er das verschwommene Antlitz des Mädchens vom Unfallort. Ihre Augen schienen ihm so tot und so leer, so kalt wie ein Grab.
Verwirrt schüttelte er seinen Kopf und warf einen Blick auf die gespenstisch leuchtende Digital-Anzeige des Weckers. Erst halb vier in der Nacht. Er griff zu einer Flasche Wasser auf seinem Nachttisch und hoffte, dass ihn das kalte, harmlose Getränk wieder zur Besinnung brachte.
Sein Kopf sank wieder hinab auf die Kissen, und binnen weniger Sekunden war er wieder in seinem Reich der Träume angelangt. Eine Frauenhand senkte sich hinab auf seinen Körper, und er lag auf dem Boden. Er fühlte sich nackt, hilflos, doch es war nichts Erregendes an der Situation. Es war die Nacktheit, die einen Menschen nach seiner Vorstellung auf seine letzte Reise begleitet.
Neben ihm lag seine Frau, und über ihrer beider Leiber schwebten zwei Augen ohne Gesicht. Sie wirbelten vor seinem angsterfüllten Blick und changierten zu blaugrünen Seen. Plötzlich wusste er, wem diese Augen gehörten!
***
Auch die nächsten Tage wurde Maja von den Geschehnissen jener schrecklichen Dezembernacht bis in ihre Träume verfolgt. Es war nicht der erste Unfall, den sie erlebt hatte in ihrem Leben, doch sie wünschte sich, nie wieder solche Bilder sehen zu müssen. Dabei war ihre Wunde noch frisch, und nun bohrte das Schicksal wieder neu darin herum.
Majas Leben hätte so was von in Ordnung sein können. Sie war seit vier Jahren mit Marco zusammen, einem Mann, bei dem sie sich anlehnen konnte und der immer hinter ihr stand. Ein Mann, der ihr alles gab, und der sie ganz offenbar liebte. Einer, der sie beschützte und sie verstand.
Sie hatte eine gutbezahlte Arbeit in einem jungen, absolut coolen Team, das sie akzeptierte und sogar mochte - was konnte sie mehr vom Leben erwarten? Doch dann hatte sie letzten Winter durch einen Unfall ihre Eltern verloren.
"Willst du nicht aufstehen?", rief Marco Montag früh zwischen Zähneputzen und Haarekämmen aus dem Bad. Der Schaum stand ihm noch vor dem Mund, und er nuschelte.
Die Bilder des Unfalls hatten auch ihn über den Sonntag begleitet, doch mehr noch sorgte er sich um seine Freundin. Sie ließ sich gehen und hatte den ganzen letzten Tag im Bett zugebracht, das Essen verweigert und war kaum fähig gewesen, mit ihm zu sprechen. Es war, als hätte es nie Nähe zwischen ihnen gegeben, als wäre er für sie ein Fremder.
Maja hörte ihn rufen, doch sie gab keine Antwort. Verzweifelt vergrub sie ihren Kopf in den Kissen und wollte nichts mehr sehen und hören. Marco trat neben das Bett und versuchte, sie aus ihrer fedrigen Trutzburg zu befreien.
"Das geht so nicht weiter", mahnte er sie entschlossen. "Du kannst dich hier nicht vergraben und alles aufs Spiel setzen, was du dir aufgebaut hast."
Unwillig hielt sie die Bettdecke fest, drehte sich auf die andere Seite und starrte wortlos gegen die Wand. Er ließ sich nicht beirren und streichelte sie hartnäckig im Nacken. "Dann lass dich wenigstens krankschreiben und ruf' im Geschäft an", riet er ihr. "Du hast so schwer für deinen Job gekämpft, nichts ist es wert, dass du ihn aufs Spiel setzst."
Maja arbeitete in einer Werbeagentur in der Stadtmitte und fühlte sich dort eigentlich wohl. Bei ihrer Bewerbung vor zwei Jahren hätte sie niemals gedacht, sich gegen eine nicht zu unterschätzende Konkurrenz von zwanzig Mitbewerbern durchsetzen zu können. Doch heute war ihr alles egal!
Als sie nur stumm den Kopf schüttelte, fuhr er fort: "Dann rufe ich für dich an, und ich bleibe zu Hause." Ohne auf ihre Antwort zu warten, verließ er den Raum.
Als er wieder zurück kam, hatte Marco sein Vorhaben tatsächlich in die Tat umgesetzt, und nun blieb ihr gar nichts Anderes übrig, als sich am Riemen zu reißen. Mit Ach und Krach hievte Maja sich aus dem Bett und ging ins Bad, um sich fertig zu machen. Anschließend bummelte sie noch eine Weile herum und ignorierte, dass Marco sie drängte, sich zu beeilen. Mit einer Tasse Kaffee saß sie bei Tisch und starrte dumpf vor sich hin.
Es war zum Wahnsinnigwerden! "Maja!", mahnte er sie. "Wir müssen los. Du kommst da nicht drumherum."
Böse sah sie ihn an und erhob sich widerwillig. "Also gut, gehen wir halt. Wir nehmen das Auto!" Dann rauschte sie an ihm vorbei wie eine Diva. Marco konnte nicht anders und musste grinsen. Manchmal war sie einfach zu drollig!
***
Die Ermittlungen gegen den Unfallfahrer von Samstagnacht liefen auf Hochtouren. Josef Neureuth saß in seinem Büro und ließ Kennzeichen und Fahrzeug-Typ durch die Datenbank laufen. Dabei fluchte er laut vor sich hin. "Montags bleibt man besser im Bett", haderte er mit dem unschuldigen Wochentag.
Sein Kollege pflichtete ihm nur allzu gern bei. "Samstage sind aber auch nicht ganz ohne", stellte Polizeimeister Eisenstein fest. Die Schrecken seiner Wochenendbereitschaft lagen ihm noch immer im Magen. "Ich bin nur gespannt, ob die beiden Tatzeugen heute noch kommen", fuhr er fort.
Polizeiobermeister Neureuth sah zerstreut auf. "Hast du da Zweifel?" Er selbst verzweifelte daran, dass sein Computer damit beschäftigt war, ihn mit "Fehlanzeige" zu ärgern. Die Daten, die er bekommen hatte, schienen nicht ganz richtig zu sein.
"Wie hieß der noch gleich?", murmelte Joe - wie man ihn nannte - vor sich hin und raschelte dabei auf der Suche nach dem Unfallprotokoll in der Ablage. Seinen Kollegen hatte er schon wieder vergessen. "Ah, da haben wir's ja!", rief er triumphierend und hielt ein Blatt Papier in die Luft.
Polizeimeister Eisenstein wartete auf Marco Meier und Maja Berger. Die Wartezeit überbrückte er, indem er die aktuellen Strafanzeigen und Fälle durchging. "Mit dem Mädchen war am Samstag nicht viel anzufangen", erzählte er Joe. "Offenbar wurden die beiden Tatzeugen von dem Unfallfahrer bedroht, und sie ließ sich ins Bockshorn jagen."
Sein älterer Kollege warf einen Blick auf das Protokoll. "Da steht aber nichts von einer Bedrohung oder sonst einem Kontakt zwischen Täter und Zeugen", stellte er fest.
"Nun, da Maja Berger und Stephan Wagner dies nicht zur Anzeige brachten und sogar abstritten, konnten wir das nicht aufnehmen", verteidigte Eisenstein Kollege Sankt und sich selbst und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. "Die beiden waren zusammengeschnürt wie ein Paket."
Josef Neureuth zog irritiert die Augenbrauen hoch. "Wer ist Stephan Wagner?"
"Ein Journalist, zumindest behauptet er das. Der hätte eigentlich auch schon lange eintrudeln müssen. Klaus wollte ihn sich zur Brust nehmen." Steffen ignorierte Joes Kopfschütteln und wandte sich wieder seiner Ablage zu.
Das Rascheln von Papier vermischte sich mit Tastenklappern und dem Knacken der Heizung. Gedämpft klangen Verkehrsgeräusche von der naheliegenden Hauptverkehrsstraße. Kirchenglocken schlugen melodisch zur vollen Stunde.
Steffen Eisenstein seufzte auf und sah auf die Uhr. "Wo die beiden wohl bleiben?"
Joe brummte etwas Unverständliches in sich hinein und vertiefte sich wieder in seine Datenbank. In Affengeschwindigkeit scrollten die Daten vor seinen Augen vorbei. "Himmel! Mensch, Steffen", schnauzte er. "Was habt Ihr nur für Mist gebaut? Das Kennzeichen kann ..."
"Schau dir das mal an", unterbrach ihn Polizeimeister Eisenstein entrüstet und drehte ihm ein Plakat in DIN A4-Größe entgegen.
Ärgerlich raufte er sich das Haar. Eine blonde Tolle fiel ihm in die Stirn und verdeckte die Augen. Er pustete sie wieder nach oben und wartete mit den Fingern auf die Tischplatte trommelnd auf eine Reaktion seines Kollegen.
"Ja und?", zuckte dieser mit den Schultern und gab ihm das Blatt wieder zurück. "Da haben sich Kinder 'nen Scherz erlaubt."
"Kannst du nicht lesen? Mein Name ist Toter Hund! Kennst du mich noch?" Aufgebracht betonte Polizeimeister Eisenstein jedes einzelne Wort.
" Ich dachte, dein Name sei Steffen." Der ältere Polizist grinste trocken und schaute wieder auf seinen Bildschirm.
"Sehr witzig. Aber ich kann dir auch noch das Gegenstück zeigen." Steffen blätterte in einem Stapel Papier und zog ein Foto heraus. Es zeigte einen Schäferhund, fein säuberlich in einen Nikolausmantel gewandet und die Augen mit Tannenzweigen bedeckt.
"Solche Fotos gibt es auf Facebook en mas. Und?" Als PC-Crack war Josef Neureuth nicht so leicht zu erschüttern. "Toll arrangiert, fantasievoll, ein Meisterwerk."
"Du bist naiv. Das Foto ist echt und gehört zu einem Fall. Dem Geschädigten hatte jemand seinen eigenen Hund so kunstvoll drapiert ins Bett gelegt. ... Tot!" Steffen ballte die Faust. So etwas konnte er gar nicht ab. 'Und das mir', dachte er. 'Dem Arschloch könnte ich die Fresse einhauen.'
Die Tür ging auf, und kalte Luft strömte herein. Die beiden Beamten fröstelten. "Mach die Tür zu, Frank." Josef Neureuth stand auf und drehte den Thermostat etwas höher.
Kommissar Mittnacht trat ein und schloss mit einem leisen Zungenschnalzen die Tür. Sein Blick fiel auf Polizeimeister Eisensteins Schreibtisch, und er musste sich beherrschen, um sein Erschrecken vor seinen Kollegen zu verbergen.
"Was gibt es Neues?", fragte er laut in bemüht beiläufigem Ton und baute sich mit den Händen in den Hosentaschen vor den Beiden auf.
Joe setzte sich wieder hin und lehnte sich breitbeinig zurück. "Ich versuche gerade, den Halter des Unfallwagens vom Wochenende zu ermitteln. Bisher vergeblich!"
Frank hörte jedoch nur mit einem halben Ohr zu. Wie geistesabwesend drehte er das Plakat auf Eisensteins Schreibtisch im Kreis herum, stockte und nahm ihm dann das Foto von Toter Hund aus der Hand.
Angelegentlich betrachtete er es. "Was ist das denn?", fragte er scheinheilig.
"Das gehört zu einer Strafanzeige gegen Unbekannt", beschied ihm Steffen. "Der Strafantragssteller fand seinen Hund so hergerichtet in seinem Bett und fühlt sich gemobbt." Dienstbeflissen deutete der attraktive Mittdreißiger auf das Plakat. "Das war auch mit dabei", fuhr er fort.
"Wie heißt denn der Geschädigte?", schaltete sich Josef Neureuth ein. Er beugte sich wieder seinem Bildschirm und seiner Arbeit entgegen und tippte erneut das Kennzeichen des Wagens ein. Ein Warnsignal ertönte. "Fehlanzeige! Schon wieder!", maulte er vor sich hin.
Nach mehrmaligen Versuchen gab er es auf und sah Steffen vorwurfsvoll an. "Wo bleiben denn deine Zeugen? Ich habe ein Hühnchen mit ihnen zu rupfen."
Polizeimeister Eisenstein zuckte die Schultern. "Sie hätten schon vor einer Stunde eintreffen sollen." Er warf einen vorsichtigen Blick in Kommissar Mittnachts Richtung, der mittlerweile am Fenster stand.
Frank drehte sich um und sah Steffen scharf an. "Kümmern Sie sich darum, dass Ihre Zeugen gefälligst aussagen. Sonst müsste ich mir stark überlegen, ob eine Beförderung in Ihrem Fall wirklich sinnvoll ist."
Der Angesprochene schluckte die Rüge wortlos hinunter und wand sich innerlich unter Joes mitleidigem Blick. "Ein Emil Kieselwurf hat die Anzeige aufgegeben", antwortete er stattdessen auf dessen vorletzte Frage.
Kommissar Mittnachts Blick wurde lauernd, als er Joes unvermitteltes Zusammenzucken bemerkte. Er löste sich vom Fensterbrett und verließ auf leisen Sohlen den Raum.
Irritiert starrte Polizeimeister Eisenstein auf die geschlossene Tür. Ihm war das Blickwechselspiel zwischen seinem Vorgesetzten und Joe nicht entgangen. "Was hat er denn bloß?", fragte er ihn, doch dieser zuckte nur mit den Achseln.
Kurzfristig war Josef Neureuth von der Suche nach dem Halter des Porsches abgelenkt. War es Zufall, dass ausgerechnet der Hund, dessen Besitzer er für seinen Freund und Vorgesetzten am Unfalltag recherchiert hatte, nun hier zur Anzeige stand? Und dann dieser Blick ...
Konnte es sein, dass Frank etwas damit zu tun hatte? Würde er einen Hund töten? Nachdenklich lehnte sich Joe in seinem Ledersessel zurück und starrte ins Leere.
Steffen wurde es mulmig zumute. Unwillkürlich fuhr seine Hand in sein Gesicht. "Was ist los, Joe? Was glotzt du mich so an?", fragte er forsch.
Polizeiobermeister Neureuth riss sich zusammen. "Schon gut. Ich war nur gerade in Gedanken."
Ohne weitere Erklärungen vertiefte er sich wieder in seine Datenbank und recherchierte weiter. Hin und wieder murmelte er vor sich hin, doch er zeigte deutlich, dass er nicht mehr gestört werden wollte.
Gleichgültig zuckte sein jüngerer Kollege die Schultern und widmete sich wieder seiner Arbeit. Hin und wieder warf Steffen einen Blick auf die Uhr. 'Mit Marco Meier und Maja Berger ist wohl nicht mehr zu rechnen', dachte er.
Kurz vor Feierabend griff er zum Hörer und versuchte, über die im Protokoll vermerkte Telefonnummer einen der beiden zu erreichen. Nach mehrmaligem Tuten legte er auf.
Verärgert öffnete er sein Textverarbeitungsprogramm und rief die Vorladungsvorlagen auf. "Könntest du mir einen Gefallen tun?", fragte er in die Stille hinein und begann zu tippen.
Joe sah ihn an. "Ja, was denn? Wenn ich kann, immer."
"Ich mache jetzt dann Feierabend, wenn ich das hier fertig habe. Falls du noch länger machst: Könntest du diese Nummer hier anrufen und die beiden Unfallzeugen noch einmal herbitten? Ich erreiche sie nicht."
Er kritzelte Namen und Adresse auf einen Zettel und schob ihn Joe hin. Dieser nahm ihn entgegen und heftete das Post-It an seinen Monitor.
Schließlich druckte Steffen Eisenstein die Vorladung aus und fuhr seinen PC herunter. Genüsslich räkelte er sich und stand auf. Nach einem Blick zu Joe schüttelte er mahnend den Kopf. "Kennst du eigentlich auch ein Privatleben? Du mit deinen ständigen Überstunden."
Schwungvoll nahm er seine Jacke vom Haken. "Denk an Marco Meier", erinnerte er Joe noch einmal und verließ leise summend den Raum.
Polizeiobermeister Neureuth vertiefte sich wieder in seine Recherchen, doch seine Gedanken gingen immer wieder zu Frank. Sie waren nun schon so lange befreundet, und für Tom war er fast wie ein Onkel. Joe hoffte nicht, dass sein Freund, Kollege und Vorgesetzter irgendetwas getan hatte, was ihm und anderen schaden könnte. Andererseits: Vorstellen konnte er es sich ohnehin nicht.
"Wahrscheinlich ist das nur Zufall", murmelte er vor sich hin. "Vielleicht hat er irgendwie von dem Vorfall Kenntnis erhalten und wollte sich selbst schlau machen."
Das ungute Gefühl wollte dennoch nicht weichen. Soeben beschloss er, Steffens Beispiel zu folgen und nach Hause zu gehen, da klingelte das Telefon. Er sah auf die Uhr. Es war halb fünf frühabends.
Joe raufte sich die Haare und nahm den Hörer ab. "Wache Großdummsdorf, Polizeiobermeister Neureuth hier."
Kurz darauf brüllte er in die Muschel: "Waassssss? Aber das kann doch nicht sein!"
Hektisch sprang er auf und packte sein angebrochenes Vesperpaket in seine Mappe. "Ich komme gleich!", schrie er dem ominösen Anrufer entgegen.
Mit fahrigen Bewegungen streifte er seine restlichen Arbeitsutensilien vom Schreibtisch hinein in die Tasche und fluchte, als einige davon zu Boden fielen. Da fiel sein Blick auf die kleine Notiz mit Marco Meiers Adresse.
Das hätte er fast vergessen. Den linken Arm bereits in der Jacke, griff er zum Hörer des Haustelefons und wählte die Nummer von Kommissar Mittnacht. "Frank?", sprach er in den Hörer. "Ich muss weg, ich werde Vater. Könntest du ... Ah ja, danke!" Er lauschte noch einmal, ungeduldig zappelnd und auf dem Sprung. "Himmel, Frank! ... Ich muss weg! ... Könntest du Marco Meier anrufen und auf morgen bestellen? Außer uns beiden ist niemand mehr da!"
Erneut sah er auf die Uhr. "Die Nummer hängt an meinem Monitor", erklärte er Kommissar Mittnacht. Ohne weitere Erklärung knallte Joe den Hörer auf und rannte davon.
***
Der Fall "Toter Hund" war am Dienstag in aller Munde und regte die kleine Welt um Großdummsdorf herum - und darüber hinaus - fast mehr auf als die Tatsache, dass am Wochenende ein Mensch sein Leben verlor.
Arcos Foto geisterte durch Facebook, prangte auf der Titelseite des Allgäu-Kuriers, der Zeitung IM BILD, und sogar in der Redaktion des Spiegels bereitete man sich darauf vor, die Story als Leitartikel zu bringen.
Tamara Niemann hingegen - die Frau, die vier Tage zuvor ums Leben gekommen war - blieb nur eine Randnotiz in der regionalen Presse. Die Blutlache im Park, die sie ebenso hinterlassen hatte wie einen todunglücklichen Witwer, würde spätestens bei der nächsten Schneeschmelze vollends im Boden versickert sein. Der Großteil davon war schon von der Stadtreinigung entfernt worden, doch die Unfallstelle selbst - wo sie gelegen hatte - war bis auf Weiteres gesperrt. Irgendjemand - vermutlich ihr Mann - hatte ein kleines Kreuz aufgestellt, zusammen mit einem Grablicht und einem wunderschönen Gesteck, was zeigte, wie sehr Tamara geliebt worden war.
Im Büro von Kommissar Mittnacht herrschte dicke Luft. Hanno Kekkonen hörte zufällig mit, als sich sein unglücklicher Kollege in den Fängen des Präsidiumsleiters befand.
"Was haben Sie sich dabei gedacht, Eisenstein? Haben Sie Ihre Ausbildung in der Hilfsschule gemacht?" Frank war außer sich und brüllte den armen Kerl an, dass die Wände wackelten. Allmählich konnte Hanno verstehen, weshalb Mittnacht ziemlich gefürchtet war.
Er beschloss, besser noch ein bisschen mit seinem Anliegen zu warten, wandte sich von der geschlossenen Tür ab und ging zurück in die Wachstube.
Drinnen ging es jedoch munter weiter. "Chef, ich war das nicht", verteidigte sich Polizeimeister Eisenstein. "Keine Ahnung, wie das Foto nach draußen kam." Verlegen fummelte er in seinem Tyrone-Power-Schnauzbart herum.
"Ach kommen Sie schon, erzählen Sie mir hier keine Märchen", fuhr Mittnacht fort und flanierte durchs Zimmer.
Frank trat ans Fenster und schaute hinab auf die Straße. Ein Pärchen betrat soeben den Hof. 'Das müssen sie sein', dachte er und war für einen Moment abgelenkt.
Steffen nutzte die kurze Abwesenheit seines Vorgesetzten und setzte zur Flucht an. Da donnerte dessen Stimme durchs Zimmer: "Halt, halt, halt! Mit Ihnen bin ich noch nicht fertig."
Er stellte den in der Luft schwebenden Fuß wieder hinab auf den Boden und drehte sich mit zerknirschter Miene um. "Chef, ich habe noch Arbeit."
"Setzen Sie sich!" Frank wies auf den Sessel vor seinem Schreibtisch und setzte sich auf die andere Seite.
Polizeimeister Eisenstein tat, wie ihm geheißen und sah Kommissar Mittnacht pflichtschuldigst an. Dieser ließ sich hingegen Zeit, lehnte sich in seinem Sessel zurück und musterte ihn däumchendrehend von oben bis unten. Nach ein paar Sekunden dann, so abrupt, dass der Polizist zusammenzuckte, warf er in den Raum: "Und was denken Sie, wer das sonst gewesen sein könnte?"
"Also ...", Steffen schnappte nach Luft, "meiner Meinung nach war das der Geschädigte selbst. Aber das müsste doch herauszubekommen sein."
"Ach! Ist das so? Und ich wusste das nicht? Wollten Sie dies damit sagen?" Frank war noch immer geladen.
"Sorry, Chef! Klar wissen Sie das. Wollte da nichts andres behaupten!" Steffen war peinlich berührt. Wenn sein Vorgesetzter begann, den Empfindsamen zu mimen, saß derjenige, der in seiner Nähe war, auf einem Pulverfass. Polizeimeister Eisenstein war froh, noch nicht oft in den Genuss von dessen Schokoladenseite gekommen zu sein.
Blitzschnell wie eine Kobra - und ebenso angriffslustig - schoss Franks Oberkörper nach vorn. Zugleich fuhr seine Faust von oben nach unten und knallte direkt vor Steffens Gesicht hinab auf den Schreibtisch. Dieser zuckte zusammen.
"Na, dann finden Sie es heraus." Aufgeräumt lehnte sich Kommissar Mittnacht nach hinten. "Sie können gehen."
Mit einem beklommenen Schlucken stand der attraktive Polizist auf. Am Liebsten wäre Steffen Eisenstein um sein Leben gerannt.
Franks perfides Grinsen sah er allerdings nicht mehr. Nachdem die Schritte des Gemaßregelten im Flur verhallt waren, streckte er sich, stand auf und stellte sich an das Fenster zum Hof. Mit verloren wirkendem Blick beobachtete er die Menschen dort unten.
Das Pärchen von vorhin verließ soeben wieder das Haus. Frank fasste einen Entschluss und hatte es auf einmal sehr eilig. An der Garderobe nahm er seinen Ledermantel vom Haken und setzte seine gut gefütterte Fellmütze auf. Auf dem Weg hinab schaute er bei Kollege Neureuth vorbei und fragte: "Hat sich euer Problem mit den beiden erledigt?"
Dieser schüttelte nur stumm mit dem Kopf und sah seinem Freund mit fragendem Blick hinterher.
Frank setzte sich auf ihre Fersen. Sie hatten ein bisschen Vorsprung, doch diesen holte er schnell auf. Noch immer verstand er Maja Bergers abwehrende Haltung in Bezug einer Zeugenaussage nicht.
Seine Schritte knirschten über das Eis, während er den beiden folgte. Die Dämmerung trat ein. Gleichzeitig flammten ringsum die Lichterketten der Kaufhäuser auf.
Um sich herum hörte er das Lachen von Kindern, die Stimmen der Eltern, das flirtende Gegurre von Liebespärchen. Sein Interesse galt jedoch nur Marco Meier und insbesondere Maja Berger.
Flüchtig dachte er an den Traum, in dem sie eine zentrale Rolle gespielt hatte. Er war sich fast sicher, dass er ihr schon einmal begegnet war.
Es war nur ein Gefühl, aufgrund dessen er sich nicht sicher sein konnte, doch die Wut auf sie machte ihm Angst.
'Was hat sie zu verbergen?', fragte er sich. Er konnte sich nicht erklären, weshalb das Paar nicht darauf bedacht war, den Amokfahrer vom Wochenende seiner gerechten Strafe zuzuführen. 'Womöglich sind sie persönlich involviert und vielleicht gar mit dem Täter verwandt', ging es ihm durch den Kopf. 'Und der Junge? Das falsche Kennzeichen.' Ob das Absicht gewesen war? Ausschließen wollte er nichts!
Mittlerweile hatte das Paar das Zentrum der Fußgängerzone erreicht und wandte sich in Richtung des Parkplatzes, wo sie ihren roten Alfa Mini abgestellt hatten. Von dem Verfolger in ihrem Nacken ahnten sie nichts.
Majas Blick fiel in das Schaufenster ihrer Lieblings-Boutique. Mitternachtsblauer Samt bildete einen herrlichen Hintergrund zu den goldenen Elektrokerzen, die wie lauter kleine Sterne funkelten. 'Der schwarze Norweger-Pulli mit weißen Borten', träumte sie vor sich hin, 'dazu diese herrliche Crinqle-Jeans ...' Weihnachten nahte, und nun wusste sie schon, was auf ihrem Wunschzettel stände.
Plötzlich umklammerte sie mit beiden Händen Marcos Arm. Ihr Herz begann zu rasen, das Adrenalin raste nur so durch ihre Adern. "Marco, bitte komm schnell ...", flüsterte sie. Ihr Blick huschte dabei suchend von links nach rechts.
Den Kopf zu wenden, traute sie sich allerdings nicht. Die Spiegelung im Schaufenster wurde kleiner und kleiner, und dann war sie verschwunden. Ihr Freund sah sie irritiert an: "Was hast du?"
"Da war er ...", antwortete sie, heiser vor Angst.
Marco zog die Augenbrauen hoch. "Wer war da?"
"Der Mann vom Unfallort ..."
"Der Porschefahrer?", vergewisserte er sich.
"Nein, der Andre. Der, wo gesagt hatte, er sei der Mann der Toten."
"Und? Er wird hier leben", versuchte er, sie zu beruhigen. "Darf er das nicht?"
Auf einmal brach es aus ihr heraus wie ein Vulkan. "Du Schaf!", schrie sie ihn an. "Er ist hinter uns her."
Besorgt runzelte Marco Meier die Stirn. Allmählich übertrieb sie es wirklich. "Maja, wer soll dir hier etwas tun?" Er zog mit seiner Hand einen weisenden Wendekreis. "Überall Leute, und ich bin bei dir."
Marco zog Maja in seine Arme und gab ihr einen Kuss auf die Nase. Schutzsuchend kuschelte sie sich an ihn.
"Du hast ja recht, mein edler Ritter", raunte sie. "Aber gehen wir trotzdem?" Um ihren Wunsch zu unterstreichen, rieb sie ihren Oberkörper zärtlich an seiner Brust.
"Dann komm!" Marco nahm sie bei der Hand, gab ihr noch einen Kuss, und sie schlenderten weiter.
Zwei Minuten später waren sie auf dem Parkplatz angekommen. Während sie im Begriff waren, ins Auto zu steigen, ging ein Mann im Ledermantel an ihnen vorbei.
Als Marco sich umdrehte, lupfte Kommissar Mittnacht seine Fellmütze an und murmelte einen halblauten Gruß.
Angelegentlich blickte Maja ihren Freund an. "Siehst du? Das war er." Ihr Tonfall klang triumphierend.
Marco zuckte die Schultern. "Und wenn schon. Das hat nichts zu besagen." Er öffnete die Fahrertür und setzte sich hinters Steuer. "Willst du nicht einsteigen?", fragte er Maja.
***
Stunden später hob Kommissar Mittnacht seinen behandschuhten Finger und drückte auf den Klingelknopf im Haushalt Berger/Meier, Victor-Huss-Straße 17, Großdummsdorf. Im Hintergrund hörte er ein melodisches Glockenspiel und wartete auf ein magisches Summen als Sesam-Öffne-Dich.
Stattdessen stand irgendein Hausbewohner in der Tür. Das junge Gesicht verschwand fast im Lichtschatten der Nacht. Angestrengt starrte Frank ihm entgegen.
Als das Licht anging, erkannte er ihn. Beeindruckt musterte er den hochgewachsenen Körper und fühlte sich automatisch im Nachteil.
Er riss sich zusammen und stellte sich vor: "Kommissar Mittnacht! Ist Maja Berger zu sprechen?"
Marco lag es gallig bitter auf der Zunge, doch er zuckte mit keiner Wimper. Fest sah er dem Mann ins Gesicht. "Wollen Sie mir nicht erst einmal Ihren Dienstausweis zeigen?"
Angelegentlich starrte Frank auf Marcos Füße. Ihm lief eine Gänsehaut über den Rücken. "Machen Sie das eigentlich immer so?" Kommissar Mittnacht hob den Kopf und fixierte einen Punkt auf dessen Brustkorb.
"Was meinen Sie?"
Er zeigte mit dem Zeigefinger zu Boden. "Barfuß laufen im Winter. Ist nicht gut für die Prostata."
"Ihr Dienstausweis ..." Marcos Stimme bekam einen drohenden Unterton.
'Oh hoppla', dachte sich Frank und kruschtelte in seiner Brieftasche herum. "Ah, da haben wir ihn." Freundlich lächelte er sein Gegenüber an.
Marco nahm die kleine Plastikkarte entgegen und musterte sie von allen Seiten. "Ich glaube nicht, dass Maja begeistert sein wird", beschied er Frank. "Sie hat mit der Polizei nicht viel am Hut."
Kommissar Mittnacht seufzte bekümmert. "Ich fürchte, darauf können wir keine Rücksicht nehmen. Wir haben den Kerl noch nicht gefunden. Geben Sie mir bitte zumindest die Chance, mit ihr zu reden. Ich werde sie zu nichts zwingen."
"Und warum kommt der Kollege, der uns verhört hat, nicht selbst?""Chefsache, könnte man sagen", antwortete Frank wölfisch grinsend. "Da sehen Sie mal, wie wichtig Ihr seid."
Marco musterte den Mann im Ledermantel von oben bis unten. Dieser Kommissar - oder so - reichte ihm gerade mal bis unter die Nase, doch irgendetwas sagte ihm, dass man sich mit ihm besser nicht anlegen würde. Und warum hatte er sich am Tag des Unfalls vor seinen Kollegen versteckt?
'Nun denn ...' Lässig lehnte sich Marco mit dem nackten Oberkörper in den Türrahmen und schwang mit einem Bein die Haustür nach hinten. "Kommen Sie rein!", lud er Frank ein, löste sich und ging unbekümmert voran.
Während Kommissar Mittnacht seinen Mantel an der Garderobe ablegte, bat Marco ihn, ihm einen Moment Zeit zu geben, um Maja Bescheid zu sagen. "Sind Sie der Butler?", konnte sich der nicht verkneifen.
'Ein Scherzkeks ...' Marco verzog keine Miene. 'Aber warte nur, du wirst heute noch dein blaues Wunder erleben.' Laut antwortete er: "Natürlich nicht, aber wir wollen sie doch nicht gleich erschrecken, oder?"
"Ooh!!!" Franks Mund wurde rund. "Ja natürlich. Gehen Sie nur."
Marco ging ins Wohnzimmer. Maja saß auf der Couch. Er stellte sich hinter sie und flüsterte ihr ins Ohr: "Bitte erschrick nicht! Ein Kommissar Mittnacht ist da."
Sie legte den Kopf in den Nacken und sah ihm ins Gesicht. "Und? Was will ein Bulle von uns um diese Uhrzeit?"
"Er will zu dir. Falls dir irgendetwas Angst machen sollte: Das braucht es nicht. Und bitte, lass dir nichts anmerken." Marco wuschelte ihr ermutigend durch ihre lange Mähne und ging wieder zurück in den Flur.
Maja sah ihm besorgt hinterher und runzelte fragend die Stirn. Was wollte er ihr damit sagen?
Doch plötzlich bekam sie Antwort auf alle Fragen auf einen Schlag. Er stand in der Tür und sah sie nur an.
Instinktiv zog sie die Beine nach oben, rollte sich schutzsuchend in Embryo-Stellung zusammen und legte den Kopf auf ihre Knie.
In ihr tobte Angst, Wut, der Schrei nach Gerechtigkeit, alles auf einmal. Der Zorn in ihr errang schließlich die Vorherrschaft. Ihr Kopf schoss nach oben, und wütende Augenblitze zuckten Kommissar Mittnacht entgegen. Ihre Stimme klang wie die einer Eiskönigin, als sie ihn fragte: "Was wollen Sie eigentlich von uns?"
Maja ignorierte Marcos mahnenden Blick und sah dem Mann fest in die Augen. Die junge Frau hatte die Schnauze voll davon, sich von Anderen manipulieren zu lassen, und dies ließ sie ihn spüren.
"Frau Berger ...", Frank Mittnachts Stimme klang sanft, während er auf sie zukam. "Wir wollen den Todesfahrer nur finden, und Ihr Freund und Sie sind die einzigen Zeugen."
Maja zuckte zusammen. Und was war mit ihm? Er müsste doch ...
Marco stand hinter ihr und streichelte sie beruhigend im Nacken. Sie spürte, wie sein Griff fester wurde.
"Nehmen Sie Platz", forderte er Frank aus dem Hintergrund auf. Maja Berger unterstrich den Wunsch ihres Freundes mit einer einladenden Geste zum Sessel.
Frank - dem das Wechselspiel nicht entgangen war - kam nicht umhin, das Teamplay des Paars insgeheim zu bewundern. Er folgte der Einladung.
"Frau Berger ...", der Kommissar machte eine kurze Kunstpause und beugte sich vor, "denken Sie doch mal bitte scharf nach: Wollen Sie wirklich, dass eine solche Verantwortungslosigkeit ungestraft bleibt? Eine Frau kam ums Leben ..."
"Das ist mir bewusst, aber ich kann Ihnen nicht helfen." Majas Stimme klang abweisend. Ihr Gesicht war so angespannt, dass ihre Wangenknochen hervortraten.
"Ich kann mir auch nicht helfen, doch irgendetwas sagt mir, dass Sie lügen." Frank Mittnachts Ton wurde streng. Er würde es nicht länger zulassen, dass eine Zeugin die Polizei an der Nase herum führte.
Marcos mahnender Blick erinnerte ihn an sein Versprechen, nicht in Maja zu dringen, doch daran würde er sich nicht halten können. Er war indessen gewillt, ihr eine Chance zur Kooperation zu geben. Vielleicht sogar zwei!
Entrüstet fuhr Maja Berger auf: "Sie behandeln uns, als wären wir schuld. Wir waren nur ZEUGEN." Lautstark betonte sie das letzte Wort.
Frank grinste zufrieden. "Ach, Sie geben also zu, doch mehr gesehen zu haben?" Behäbig lehnte er sich im Sessel zurück und verschränkte die Arme. Sein gesamtes Gebaren wirkte plötzlich reichlich arrogant.
"Gar nichts gebe ich zu", antwortete Maja stählern. "Sie und Ihre Kollegen werden sich damit abfinden müssen, dass ich nichts zu dem Unfall beitragen kann."
Marco warf ein: "Herr Kommissar, hören Sie auf. Sie haben mir ein Versprechen gegeben, sonst hätte ich Sie niemals in die Wohnung gelassen." Er setzte sich neben Maja und legte beschützend den Arm um ihre Schulter. "Es hat seinen Grund, weshalb sie über den Unfall nicht ..."
"Marco!" Majas Stimme schoss auf den jungen Mann zu wie die Kugel aus einer Pistole. "Wenn Herr Kommisssar Mittnacht hier schon den scharfen Hund spielen will, dann soll er gefälligst selbst herausfinden, was am Samstag geschah. Du hast genug geholfen."
Sie wandte sich wieder an Frank: "Machen Sie Ihre Arbeit, aber lassen Sie uns gefälligst in Ruhe. Auch ihn!" Dabei wies sie mit dem Kopf auf ihren Freund. "Und nun gehen Sie!"
Kommissar Mittnacht erhob sich. "Gestatten Sie mir noch, Ihre Toilette zu benutzen, bevor ich gehe?"
Maja wollte es ihm am Liebsten verbieten, doch Marco kam ihr zuvor. "Im Flur rechts vor der Eingangstür, Kommissar Mittnacht. Sie finden den Weg bestimmt allein."
Bevor Frank den Raum verließ, drehte er sich an der Tür noch einmal um. "Herr Meier, weshalb haben Sie uns eigentlich ein falsches Kennzeichen geliefert?" Er schnurrte so sanft wie eine Katze.
"Das habe ich nicht, Herr Kommissar. Ich habe keine Ahnung, was da bei euch schiefläuft, aber ..." Marco stockte und sprang auf, "warten Sie, ich habe die Nummer gespeichert." Er drehte sich in Majas Richtung und fragte: "Wo hast du mein Handy?"
Sie erhob sich und ging zum Wohnzimmerschrank. Dort zog sie eine Schublade auf und holte es heraus. Widerwillig drückte sie es Marco in die Hand. Dieser schaltete es an, suchte nach seinen Notizen und wurde bleich. Weshalb hatte er auch nicht gleich dran gedacht?
"Kommissar Mittnacht, schauen Sie selbst." Marco ging auf ihn zu und gab ihm das Handy. "Ich hatte einen Buchstabendreher in meinem Gedächtnis, und das tut mir leid. Dass ich es abgespeichert hatte, hab' ich vergessen."
Frank sah ihn sonderbar an. Sein Blick ließ sich nicht deuten, schwankte zwischen Vorwurf, Verzeihen, Ärger und ... gar einer Warnung?
Marco lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, doch dann war es vorbei. Kommissar Mittnacht bat ihn um Zettel und Stift und notierte sich das Kennzeichen aus Majas Handy. Er wandte sich ab, in Richtung Tür. "Ihr seid mich gleich los." Seine Stimme klang bitter, ein bisschen heiser, und ein kleiner Hauch Hader und Zorn schwang darin mit.
Fünf Minuten später war er gegangen. Für zwei Liebende würde das Leben nie mehr so sein, wie es einmal war. Frank Mittnacht steuerte indes in seine eigene Katastrophe hinein.
Der Fall "Toter Hund" nahm dramatische Formen an und stellte diesmal Polizeiobermeister Neureuth und das Revierküken Hanno Kekkonen vor Rätsel. Die beiden Beamten teilten sich am Mittwoch Nachmittag Josefs Büro.
Steffen Eisenstein, an wessen Schreibtisch der Polizeimeister-Anwärter saß, war zum Streifendienst mit Kollege Sankt abkommandiert worden, und Hanno kümmerte sich einstweilen um die neu eingegangenen Anzeigen der letzten zwei Tage. Im Raum herrschte brütende Hitze.
Die beiden Beamten arbeiteten hochkonzentriert an ihren Fällen, und nur Hannos Tastenklappern durchbrach die im Zimmer vorherrschende Ruhe. Soeben übernahm er die Anzeigedaten eines gestohlenen Porsches aus dem Verteiler, als das leise "Pling" irgendeines Postfachs erklang.
Einige Sekunden später knallte Josef Neureuths flache Hand auf die Tischplatte hinab, gefolgt von einem Fluch.
Fragend blickte Hanno zu seinem Kollegen hinüber: "Alles in Ordnung, Joe?"
„Ach, das ist doch alles nicht mehr normal. Kriegen die Kollegen in Kisslegg jetzt nicht einmal mehr einen Vermisstenfall alleine geregelt?“ Josef fuhr sich mit der Hand durch sein schütteres Haar und blickte genervt seinen Bildschirm an. „Da hat eine Frau Weigert ihre Tochter und ihre beiden Enkelinnen vermisst gemeldet. Kisslegg fragt um Amtshilfe an.“
„Und deshalb regst du dich so auf? Leg die Vermisstenanzeige in eine Verteiler-Email und schon hast du die Sache erst einmal aus dem Kopf.“ Hanno wunderte sich, dass sein sonst ruhiger Kollege so genervt reagierte.
„Irgendwie kommen im Moment nur seltsame Fälle rein, alle ohne Zusammenhang, und doch taucht immer wieder derselbe Name auf“, murmelte Josef vor sich hin und leitete die Flyer-Mail an die anderen Reviere weiter.
Hanno widmete sich wieder seinem Bericht. 'Das kann doch nicht wahr sein! Joe hat Recht …'
„Was hattest du vorhin gesagt?“, durchbrach er die neuerliche Stille und suchte Blickkontakt mit seinem älteren Kollegen.
„Was meinst du?“ Josef klang verwundert und schob die Brille auf seiner Nase ein Stück nach oben.
„Du hast was von einem Namen gesagt, der immer wieder auftaucht ...“, erinnerte er ihn.
Joe nickte bestätigend.
„Ich glaube, du hast Recht", fuhr Hanno fort. "Der Geschädigte im Fall "Toter Hund" ist derselbe wie derjenige, der den Porsche als gestohlen gemeldet hatte. Mir kam der Name schon die ganze Zeit über bekannt vor. Nur seh ich den Zusammenhang erst jetzt.“
„Wie bitte? Du meinst, die beiden Fälle hängen zusammen? Wie hieß der Mann noch gleich?“ Blitzschnell hatte Josef die Stichworte 'Fall Toter Hund', 'gestohlener Porsche', 'Geschädigter' und 'Großdummsdorf' in die Suchmaske des Ermittlungsprogramms eingegeben.
Sekundenbruchteile später erschien ein Name auf dem Bildschirm. Josef starrte abwechselnd darauf und zu Hanno hinüber. „Das kann doch nicht wahr sein!“, rief er laut. „Da stimmt was nicht.“
„Was meinst du, Joe?“ Hanno schaute nun ebenso verwirrt wie sein Kollege nur ein paar Minuten zuvor.
„Komm mal herüber“, forderte Josef ihn auf und unterstrich die Worte mit einer einladenden Geste zu seinem Schreibtisch.
Wenn Hanno sich über die Reaktion seines Kollegen wunderte, zeigte er das nicht. Mit schnellen Schritten war er am gegenüberliegenden Schreibtisch angekommen, hatte ihn umrundet und stand nun hinter Josef.
„Das ist der, den du meintest, oder?“ Der Beamte deutete auf seinen Bildschirm und erhielt ein zustimmendes Brummen seines jungen Kollegen. „Gut. Und jetzt guck dir mal die Namen auf der Vermisstenanzeige genauer an.“ Mit einer schnellen ALT-Tab-Kombination auf seiner Tastatur wechselte Joe in das Flugblatt der Anzeige.
„Nein! Das kann doch nicht …“, rief Hanno aus und wurde von Josef mit einem lauten „Doch!“ unterbrochen.
Der junge Polizist schüttelte leicht seinen blonden Lockenkopf. „Also, das ist mir jetzt eindeutig zu viel Zufall auf einmal!“
Bestätigend nickend erhob sich Joe von seinem Platz und blickte zu Hanno auf. „Kommst du mit zu Frank? Das ist eine Sache, die er auf jeden Fall von uns persönlich erfahren sollte.“
„Mach du das mal alleine. Ich halt hier unten die Stellung, wer weiß, was noch reinkommt“, forderte Hanno ihn auf.
Ein erneutes Nicken seines Kollegen war die Antwort. Polizeiobermeister Neureuth verließ eilig den Raum.
Hanno blickte ihm noch kurz hinterher, bevor er sich mit einem leisen Seufzen wieder auf seinen Platz sinken ließ. 'Manchmal beneide ich ihn wirklich um seinen guten Draht zum Chef. Es wird nicht mehr lang gehen, da hat er bestimmt seine Beförderung sicher.'
Das Klingeln des Telefons riss ihn aus seinen Gedanken. Als er abhob und die neueste Nachricht hörte, fiel er beinahe von seinem Stuhl. "Joe und Kommissar Mittnacht müssen das sofort erfahren", murmelte er vor sich hin. "Und das mache ich nicht telefonisch."
Minuten später folgte er seinem Kollegen und stand zögerlich vor der Tür von Kommissar Mittnachts Büro am Ende des Ganges. Polizeiobermeister Neureuth und der Präsidiumsleiter befanden sich bereits in angeregtem Gespräch.
Joe kam ohne Umschweife auf den Punkt: "Erinnerst du dich an den Fall "Toter Hund?"
Frank sah seinen Freund rätselhaft an. "Was ist damit?" 'Wie könnte ich den vergessen', dachte er.
Neureuth wusste seinen Blick nicht zu deuten, doch allmählich wuchs die Sorge um ihn. Er ließ sich seine Irritation nicht anmerken und fuhr fort: "Nun, Kollege Kekkonen und mir liegen einige Fälle vor. Dabei stießen wir auf ein paar Ähnlichkeiten, die Fragen aufwerfen."
Interessiert beugte sich Kommissar Mittnacht nach vorn. "Die da wären?"
"Nun, zum Einen ist da der Fall "Toter Hund", und ein Porsche wurde gestern als gestohlen gemeldet. In beiden Fällen ist ein Emil Kieselwurf von hier der Geschädigte. Aber das ist noch nicht alles: Seine Frau und seine beiden Töchter wurden als vermisst gemeldet. Die Vermisstenanzeige wurde am Montag von deren Mutter in Kisslegg erstattet."
Frank wollte soeben zu einer Frage ansetzen, da klopfte es. Unwillig rief er: "Ich bin gerade in einem Gespräch."
"Chef, es ist dringend", klang es von draußen. "Und es hat mit dem Fall "Fahrerflucht" zu tun."
Um Verzeihung heischend, wandte er sich an Joe. "Das hat Priorität. Wir reden gleich weiter."
"Mach nur, Frank. Das ist Hanno, und er kann dir dies bestätigen, was ich dir sagte." Nervös drehte Polizeiobermeister Neureuth einen Kugelschreiber durch seine Finger.
"Kommen Sie schon rein, Hanno!", rief Frank energisch nach draußen.
Der junge Skandinavier wunderte sich, wie es möglich war, dass dieser ihn an der Stimme erkannte. Er drückte zögernd die Klinke nach unten und betrat schüchtern den Raum. Mit respektvoller Haltung trat er an den Schreibtisch und blieb abwartend stehen.
"Nun stehen Sie hier nicht herum wie ein begossener Pudel", brummte Frank und lächelte ihn aufmunternd an. Er wies auf den Sessel neben Josef Neureuth. "Setzen Sie sich und erzählen Sie mir, was da los ist. Ich beiße nicht."
Hanno ließ sich vorsichtig auf die Kante des schwarzen Schwingsessels nieder und balancierte seinen Po hin und her ruckelnd ein. Frank Mittnacht rollte die Augen. "Setzen Sie sich anständig hin. Oder haben Sie's eilig?"
"Nein, Chef. Natürlich nicht. Also ..." Hanno errötete leicht, "Kollege Neureuth hat Ihnen bestimmt schon ein bisschen erzählt. Und ich habe gerade einen Anruf von Klaus bekommen. Klaus Sankt, Polizeiobermeister."
"Ja, ich weiß, wer Klaus ist. Und?"
"Der gestohlene Porsche wurde gefunden", erklärte Hanno leicht stockend.
"Ist das alles?", hakte Frank nach. "Und deshalb stören Sie Joe und mich im Gespräch?"
"Nein, Kommissar Mittnacht, verzeihen Sie." Der junge Beamte rang verlegen seine Hände. "Der gestohlene Porsche hat dasselbe Kennzeichen wie der Wagen, der im Fall 'Fahrerflucht' involviert war. Und zwar die Nummer, die Sie selbst in die Maske eingaben." Bewundernd sah Hanno seinen Chef an.
Joe wurde bleich. Er wusste genau, wieviel Frank daran lag, den Unfallfahrer zu finden, und er verstand ihn. Er würde den Zustand seines Freundes nach dem Tod seiner Familie niemals vergessen. Doch etwas machte ihn stutzig. Dies konnte er jedoch nicht gerade vor seinem jungen Kollegen in Erfahrung bringen. Also wartete er ab und machte seinem Ärger Luft: "Das gibt es doch nicht. Frank, das bedeutet, dass Emil Kieselwurf der Halter des Unfallwagens sein muss." Er lehnte sich mit verschränkten Armen nach hinten.
Kommissar Mittnacht versuchte krampfhaft, sich die Wut in seinem Herzen nicht anmerken zu lassen. Wieder schob sich das Bild der toten Frau vor seine Augen, das Blut am Unfallort, und wieder hörte er das Knacken des Schädels - überlaut wie Donner.
Wieder sah er Barbara und Lina am Straßenrand liegen, die Sanitäter um ihr Leben bemüht, umsonst! Weil sie zu spät gekommen waren! Weil es verhindert worden war, dass sie rechtzeitig kamen! Von Menschen ohne Gehirn und Gewissen, von leblosen Hüllen, von ...
Sein Gedankensturm riss ab. Joe sah Franks geballte Fäuste und übernahm die Situation. "Danke, Hanno", wandte er sich an seinen Kollegen Kekkonen. "Lass uns bitte allein."
Der junge Polizist erhob sich und folgte der Bitte von Josef Neureuth. In der Tür hörte er noch die Stimme seines Chefs: "Holt das Schwein her!" Er fragte sich, ob Kommissar Mittnacht nicht eventuell voreilige Schlüsse zog.
"Frank", Josef Neureuths Stimme war sanft und einfühlsam, als Hanno den Raum verlassen hatte. "Es muss nichts zu sagen haben. Schließlich wurde der Wagen gestohlen gemeldet." Er zögerte kurz und fragte: "Wie bist du eigentlich an das richtige Kennzeichen gekommen?"
"Irrelevant!", wehrte Frank mit einer wütenden Geste ab. "Ich glaube, wir haben jetzt ganz andere Probleme." Insgeheim sagte er sich, dass er seinen Alleingang schlecht zugeben konnte, ohne sein Team zu kompromittieren. Und er hoffte sehr, dass sein Besuch bei Maja Berger und Marco Meier nicht ans Licht kommen würde.
Franks Hand fuhr in seine Hosentasche und erfühlte einen einzelnen Schlüssel darin. Ihn zu haben, vermittelte ihm ein gutes Gefühl. Warum, wusste er allerdings nicht!
***
Die Zeit strich dahin! Zwei Tage später hatten die Medien gleich zwei Schlagzeilen mehr zu vermelden. Es war Freitag, der 13. Dezember, und die Ereignisse, die an diesem Tag die kleine Welt der Großdummsdorfer beschäftigen sollten, würden so manchen bestätigen, dass Aberglauben manchmal doch berechtigt sein kann.
Die erste Schlagzeile betraf die Kreisstadt selbst und widmete sich erneut dem Fall "Toter Hund". Diesmal jedoch wurde auch das Schicksal von Tamara Niemann damit in Verbindung gebracht.
Auf der ersten Seite der IM BILD wurde noch einmal das Foto von Arco gezeigt. Das Layout der Titelseite war so gestaltet, dass die kleine Aufnahme des toten Schäferhunds geschrägt die linke Seite eines Plakats überschnitt, direkt neben den fett formatierten Worten "Mein Name ist ..."
An der rechten Kante dessen war ein weiteres Foto zu sehen: Dies einer Frau, blonde Haare und lachend, die Aufnahme versehen mit einem Kreuz. Links daneben standen die Worte "Toter Hund", was reichlich makaber erschien. Die etwas kleiner geschriebenen Worte "Kennst du mich noch?" eine Zeile darunter ließen den schrecklichen Unfall eine Woche zuvor endgültig als Farce erscheinen.
Eine junge Frau war gestorben, und zumindest die Redaktion der IM BILD fand das offenbar lustig. "Toter Hund in Unfall mit Todesfolge verwickelt - die Polizei steht vor Rätseln". Die Schlagzeile selbst wurde fast von der morbiden Wucht des grafischen Layouts erschlagen.
Die Tagesausgabe des Allgäu-Kuriers widmete sich einem anderen Fall: "Vermisstenanzeige mit dramatischen Folgen". Die erste Seite zeigte eine Fotoserie von einer Frau und zwei kleinen Mädchen.
Die Redaktion hatte Aufnahmen zu Lebzeiten von Martha Kieselwurf und ihren beiden Töchtern gewählt, die grausigen Details wollte man den Lesern offensichtlich ersparen.
Der Bericht dazu passte gerade mal auf eine halbe Seite, erzählte jedoch ein Drama von immensem Ausmaß. Es handelte sich um einen Vermisstenfall vom Montag, der sich mittlerweile aufgeklärt hatte. Laut der aktuellen Ausgabe des regionalen Tagesblatts waren die Leichen der drei vermissten Personen am Mittwoch in einem Waldstück bei Kisslegg gefunden worden. Der genaue Fundort wurde dem Leser verheimlicht - ebenso wie die Todesursache.
Im Präsidium Großdummsdorf war man nicht sonderlich begeistert über die neuerliche Berichterstattung der IM BILD. Nach wie vor stand die Frage im Raum, wie die Informationen nach draußen gelangten. Das war allerdings noch nicht alles: Der Todesfahrer vom Wochenende war enttarnt, doch seiner habhaft zu werden, erwies sich als Unding.
Emil Kieselwurf war offensichtlich abgetaucht, nachdem sein Wagen in einer Spedition außerhalb der Kreisstadt gefunden wurde.
Das Rauschgift-Dezernat hatte die Firma schon länger wegen Drogenhandels unter Verdacht, doch bisher war den zehn Fahrern und deren Chef nichts nachzuweisen.
Es war ein glücklicher Zufall, dass Oberstaatsanwalt Schuster für Mittwoch eine Razzia genehmigt hatte. Die Entdeckung, dass der Todesfahrer für die Spedition arbeitete, legte nahe, dass er den Porsche selbst dort abgestellt und anschließend als gestohlen gemeldet hatte.
Darüber hinaus wurde der Kisslegger Mordfall aufgrund der Querverbindungen zum Fall "Fahrerflucht" und der Tatsache, dass die drei Todesopfer in der Kreisstadt gemeldet waren, nach Großdummsdorf verlegt. Kommissar Mittnacht kam jedoch nicht in den Genuss, den Fall gemeinsam mit seinem Team aufklären zu dürfen, trotz geeigneter Qualifikation. Zeitgleich mit der Akte trafen drei auf Mord geschulte Beamte aus Ravensburg ein.
Binnen Kurzem eroberte Kriminaloberkommissar Wolfgang Mayrhöfer sein neues Revier und richtete sich gemeinsam mit seinen beiden Kollegen Guido Wiegenkind und Bertram Weishaupt drei Wohnbüros in der leerstehenden dritten Etage des Präsidiums ein.
Das Verhältnis zwischen Frank Mittnacht und dem Leiter der SOKO Kieselwurf war von Anfang an etwas gespannt.
Kommissar Mayrhöfer stand dem Mordkommissariat Ravensburg vor, und seine Versetzung nach Großdummsdorf hatte ihn nicht gerade begeistert. Zu Hause hatte er Frau und zwei Kinder, und sein Privatleben lag ohnehin brach.
Seine bisherige Karriere hatte ihm bisher nicht nur hohe Aufklärungsquoten beschert, sondern auch einen gewissen Ruf. Wer Wolfgang Mayrhöfer kennenlernte, neigte dazu, ihn zu unterschätzen.
Allerdings kam ihm dies meist ziemlich gelegen, umso überraschter waren dann seine "Opfer", wenn sein brillanter Verstand sie zu fassen bekam. Humanitäre Gefühlsregungen waren ihm in Bezug der eigenen Person fremd, doch er kannte die Menschen. Er war besser als jeder Lügendetektor.
Das erste Abschnuppern fand am Freitag während einer Teambesprechung im Präsidium statt. Im Zentrum des Meetings stand ein Datenabgleich der einzelnen Fälle, angefangen vom Fall "Toter Hund" über "Fahrerflucht" bis hin zum Kisslegger Mord.
Oberstaatsanwalt Schuster gab sich die Ehre und begrüßte die drei neuen Kollegen per Handschlag, während in dem großen Projektorraum das Stühlerücken begann.
Fröstelnd schlurfte Peter Neumann von der Bahnhofswache an den vier Männern vorbei und ließ sich in der vorletzten Reihe auf den nächstbesten Stuhl fallen. Er war überrascht, dass er an dem Meeting auch teilhaben sollte.
Kommissar Mittnacht stand am Projektor und grinste ihm verschwörerisch zu. Etwas säuerlich erwiderte Peter sein Lächeln. Erst gestern abend noch hatten Frank und Joe ihn beim Skat bluten lassen, und das nahm er ihm krumm.
In der Reihe vor ihm richtete sich Polizeihauptmeister Sankt häuslich ein und nahm Notizblock und Kugelschreiber von seinem Armpult an der Seitenlehne des Stuhls, auf dem er saß. Sein Gesicht wirkte mürrisch.
Rechts von ihm saß Steffen Eisenstein und tuschelte diesem etwas ins Ohr. Klaus zuckte die Schultern und ließ sich zu einem widerwilligen Zähneblecken herab. Peter Neumann unterdrückte ein Lachen. Die beiden waren einfach zu ulkig. Ein eingespieltes Team, wie er wusste. Er hatte sie schon bei ihren Einsätzen begleitet, und auch, als der Porsche gefunden wurde, war er mit dabei gewesen.
Mit Frank Mittnacht war er seit damals lose befreundet. Er hatte den tödlichen Unfall seiner Familie hautnah miterlebt, und als Kommissar Mittnacht durchdrehte, hatte er fast schon Verständnis gehabt.
Glücklicherweise konnte er gemeinsam mit seinen Kollegen Schlimmeres verhindern, sonst hätte es noch mehr Tote gegeben. Allerdings trug er Bilder in sich, die er nie mehr aus seinem Kopf kriegen würde.
Ein junger Mann war in der entstandenen Massenpanik zu Boden gestürzt und wurde rücksichtslos zu Tode getrampelt. Und hätte Frank seine Dienstwaffe gezückt ...
Soweit war es nicht gekommen. Gemeinsam mit vier Männern wurde er überwältigt, und der Rest war bekannt.
Von hinten bekam Peter einen Schlag auf den Rücken. Mit entrüstetem Gesichtsausdruck wandte er seinen Kopf und wollte schon aufstehen, als er Josef Neureuth erkannte. "Na, altes Haus, den Schock von gestern gut überlebt?"
"Wie du siehst", antwortete er. "Aber nächste Woche hole ich mir meine Kohle schon wieder zurück. Von allen beiden." Demonstrativ zog Peter seine Augenbrauen hoch und blickte zu Frank. Dieser tat so, als ob er nichts höre und sähe.
Vier Köpfe drehten sich nach hinten, als die Ravensburger Kollegen die Stuhlreihen passierten, mit dem Revierküken in ihrem Rücken. Hanno Kekkonen schien noch nicht ganz ausgeschlafen zu haben, oder er war über Nacht in Peking gewesen. Zumindest sah er so aus: Struwwelpeter-Frisur, zusammengekniffene Augen, Pfannkuchengesicht.
"Geht's dir nicht gut?", entfuhr es Steffen, als Hanno sich durch die Gänge quetschte und sich neben ihm in einen Stuhl fallen ließ.
Der Skandinavier antwortete mit einem Maunzen, um mit so wenig Worten wie möglich seinen Kater zu demonstrieren. Klaus und Steffen lachten schallend und verstummten sofort unter Kommissar Mittnachts strafendem Blick.
Hannos Teint wechselte in tomatenrot über. Morgens halb zehn in Deutschland, und er könnte jetzt gut sein Kiffers Frühtütchen gebrauchen.
Stattdessen griff er in seine Uniformjacke und zog ein Knoppers heraus. Selbstvergessen öffnete er es und begann, daran zu knabbern. Prompt fing er sich vom Chef dieselbe Blick-Watsch'n ein wie seine Kollegen. Er streifte sich ein paar Krümel von seinem Revers und legte die Waffel weg.
Oberstaatsanwalt Schuster stand mit verschränkten Armen im Türrahmen. Der Leiter der KTU hetzte mit einem Aktenkoffer an ihm vorbei und begab sich zur ersten Reihe.
Zum guten Schluss folgte der Gerichtsmediziner auf seinem Fuß und warf ein leises Hallo in die Runde. Schuster ließ seinen Blick abschätzend schweifen und dimmte das Licht. Sie dürften vollzählig sein.
Abwartend hafteten seine Augen auf Kommissar Mittnacht. Dieser räusperte sich, während der Projektor zu summen begann. Mit einem leisen Knacken warf er in Übergröße das grausige Foto von Toter Hund gegen die Leinwand.
Peter Neumann zuckte zusammen.
"Frank!", klang Oberstaatsanwalt Schusters Stimme halblaut, doch mit deutlicher Mahnung von hinten.
Irritiert sah Kommissar Mittnacht ihn an. "Oh hoppla", grinste er, als er sein Versehen bemerkte.
Ein Schattenfinger legte sich auf Arcos Nase. Das Foto verschwand, und kurz darauf knallte der Leitartikel des Allgäuer Kuriers auf die versammelte Mannschaft herab.
Mit kurzem Kopfnicken und einem leicht frotzelnd anmutenden Lächeln begrüßte Frank Kommissar Mayrhöfer und dessen Kollegen mit den Worten: "So wie es aussieht, bringt uns Ravensburg die richtig schweren Jungs mit."
Als die ersten Lacher erklangen, verschränkte er zufrieden die Arme. "Aber wir haben ein bisschen Vorsprung."
Kommissar Mayrhöfer lächelte müde. "Wir wurden über den schweren Jungen schon informiert. Ist wohl nix Neues!"
Peter Neumann grinste heimlich in sich hinein. 'Ein Riesenlulatsch mit Kinderstimme - ob man den ernst nehmen kann?' Er betrachtete den Mann von oben bis unten und war neugierig, wie es kam, dass ihm ein solch fulminanter Ruf vorausgeeilt war.
Wie er gehört hatte, war Mayrhöfer derjenige, der den Mord an einem dreijährigen Mädchen aufklären konnte. Die Kleine war über ein halbes Jahr lang verschwunden. Schließlich wurde die Leiche von Fußgängern in einem Waldstück gefunden, und ewig lang tappte die Kripo im Dunkeln. Anhand eines Müllsacks wurde der Täter nach einem Jahr überführt. Es war der Nachbar der Mutter!
"Setzen Sie uns über die Details Ihres Falls in Kenntnis? Haben Sie schon irgendwelche Fortschritte gemacht? Irgendwelche ersten Vermutungen bezüglich des Täters?" Oberstaatsanwalt Schuster gesellte sich an die Seite von Frank und sah Wolfgang Mayrhöfer auffordernd an.
In den folgenden zwei Stunden wurde ausgewertet, was man sich gegenseitig anbieten konnte. Teilweise wurde die Debatte recht hitzig. Dr. Tribeck, der Pathologe, wurde hinzugezogen. Er öffnete seinen Aktenkoffer und legte die Details dar, die den Medien vorenthalten worden waren.
"Die Frau wurde abgeschlachtet wie Vieh!" Kommissar Wiegenkinds Stimme klang bitter beim Anblick der Fotos.
"Bei den Mädchen ist noch einiges unklar," setzte Dr. Tribeck die Kollegen in Kenntnis. "Es wurde Kohlenstoffmonoxid in ihren Lungen gefunden. Das deutet darauf hin, dass sie in einem geschlossenen Raum mit Abgasen konfrontiert worden sind und daran erstickten."
"Könnten sie in einem Auto eingesperrt gewesen sein?" Polizeihauptmeister Sankt stellte die Frage.
"Das ist unwahrscheinlich", antwortete der Pathologe. "Sie hätten sich befreien können, es sei denn, der Täter hätte sie vorher betäubt. Wir werten gerade das Blutbild aus."
Fred Olstorff war ein Mitarbeiter der KTU und hatte Fotos des gestohlenen Porsches dabei. Bei der Konfiszierung des Wagens wurden Blutspuren gefunden, doch offensichtlich handelte es sich nicht um menschliches Blut.
"Was ist mit dem Hund?", warf Steffen Eisenstein ein. "Möglicherweise hat Emil Kieselwurf ihn selbst erschlagen und dann in sein eigenes Bett verfrachtet."
"Und dann Anzeige erstattet?" Klaus Sankt lachte auf. "Das glaubst du doch selbst nicht. Außerdem: Wozu hätte er in dem Fall ein Auto gebraucht?"
"Wir können nicht mit Sicherheit sagen, dass es Hundeblut ist", schaltete sich Dr. Tribeck ein. "Aber wir können ausschließen, dass die Blutspuren von einem Menschen abstammen. Wir brauchen den Hund für einen Abgleich!"
Kommissar Mayrhöfer hatte sich mit seinen Kollegen in die erste Reihe gesetzt und verfolgte gespannt die Debatte, doch er hatte auch seinen neuen Kollegen Kommissar Mittnacht im Blick. Dieser saß gemeinsam mit Oberstaatsanwalt Schuster an einem Tisch auf einem kleinen Podest und war der Herr des Projektors. Er wirkte abwesend.
Mayrhöfer erhob sich und trat an seine Seite. "Kommissar Mittnacht", sprach er ihn an, "klären Sie mich bitte mal auf: Was hat ein Hund mit der ganzen Sache zu tun?"
Frank fuhr sich in die Haare und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. Innerlich fluchte er und wünschte sich, er könnte es rückgängig machen. Wer hätte auch ahnen können, dass soviele Zufälle auf einmal eintreffen konnten?
Er rückte Kommissar Mayrhöfer einen Stuhl zurecht und bot ihm Platz an. "Da gibt es nicht viel zu erklären", antwortete er. "Der Hund Ihres Tatverdächtigen wurde erschlagen und anschließend vor dessen Tür gelegt - was nicht wörtlich zu nehmen sei. Genau genommen lag er in Emil Kieselwurfs Bett." Frank schob Arcos Foto über den Tisch.
Der MK-ler schüttelte sich. "Grauenvoll! Und weshalb war der Wagen überhaupt in der Fahndung?" Sein hageres Gesicht war ein einziges Fragezeichen.
Als Antwort lachte Frank auf. "Sie werden es nicht glauben: Aber das haben wir Ihrem Tatverdächtigen selbst zu verdanken. Er hatte den Wagen als gestohlen gemeldet, nachdem er damit in einen Unfall verwickelt gewesen war. Und damit kamen wir ihm erst auf die Schliche."
Oberstaatsanwalt Schuster strich sich seine grauen Haare zurecht und mischte sich ins Gespräch: "Gefunden wurde der Porsche auf dem Gelände der Spedition Kraut und Söhne, der Arbeitsstelle von Kieselwurf. Einige Angestellte werden mit Drogenschmuggel in Verbindung gebracht."
"Das wirft ein anderes Licht auf den Fall", schaltete sich nun auch Kommissar Wiegenkind ein und zündete sich eine Zigarette an. Der Rauch vernebelte Bertram Weishaupt die Sicht und reizte ihn zu einem Hustenanfall.
"Machen Sie gefälligst Ihren Glimmstängel aus." Kommissar Mittnacht stand auf und ging auf den Mann zu. "Habt Ihr in Ravensburg keine Manieren?" Auffordernd streckte er seine Hand nach der Zigarette aus.
Tausend Teufelchen tanzten in Wiegenkinds Augen. Am Liebsten würde er ihm die Kippe mit der Glut nach vorn in die Hand drücken, doch ein Blick in das Gesicht des Kollegen riet ihm, dies besser zu unterlassen. Stattdessen drückte er die soeben angezündete Zigarette auf seinem Armpult aus und legte sie in Franks geöffnete Hand.
Oberstaatsanwalt Schuster beobachtete die Szene mit wachsendem Unbehagen und hoffte, dass sich Mittnacht im Griff haben würde. Seine Sorge war jedoch unbegründet: Frank fletschte grinsend die Zähne und steckte sich den Stängel hinter das linke Ohr.
"Für später!", sprach er lakonisch und blickte Kommissar Wiegenkind an. "Fahren Sie fort mit dem, was Sie zu sagen hatten." Er begab sich wieder zurück auf sein Podest.
Eine halbe Stunde später war das Meeting vorbei. Ein Gedanke stand plötzlich im Raum: War Emil Kieselwurf womöglich selbst nur ein Opfer?
Was, wenn er in krumme Geschäfte verwickelt war und seine Familie deshalb mit dem Leben bezahlte?
War der flüchtige Unfallfahrer - das Einzige, was momentan Fakt war - möglicherweise sogar selbst in Gefahr?
Nachdem alle den Raum verlassen hatten, begab sich Frank zurück in sein Büro. Auf seinem Schreibtisch lag ein verschlossener Briefumschlag.
"Frank Mittnacht - nur persönlich zu öffnen!" stand auf der Rückseite. Er setzte sich in seinen Ledersessel, nahm ihn in die Hand und begutachtete ihn von allen Seiten.
Ein ungutes Gefühl machte sich in ihm breit. Zögernd riss er ihn auf und hatte eine kryptische Botschaft vor Augen: "Kommen Sie heute, am Freitag, dem Dreizehnten, zum Unfallort. Ich habe etwas, das Sie bestimmt interessiert. Um 21:00 Uhr warte ich unter den Bäumen. Lieben Gruß MM."
Vor seinem inneren Auge erschienen die Gesichter von Maja Berger und Marco Meier und vervielfältigten sich zu tausend Schemen, die ihn umkreisten.
Etwas Dunkles bemächtigte sich seiner Seele. Ein Portal in seine Vergangenheit tat sich in ihm auf, und er befand sich wieder am Unfallort, an jenem Tag, an dem er Babsi und Lina verlor. Wie er sie vermisste!
Das Lachen seiner Tochter vermischte sich mit den Stimmen der Menschen, die den Schauplatz umringten. Schreie drangen an seine Ohren, und er sah einen Mann, der seine Fäuste wie einen Vorschlaghammer gebrauchte.
Nur vage begriff er, wer dieser Mann war. Und dann sah er SIE, und nun wusste er auch, woher er sie kannte. Er hatte Schuld in ihren Augen gesehen, eine Schuld, die sie mit sich herumtrug wie einen Fluch.
Wie er den Rest des Tages verbrachte, war Frank Mittnacht kaum wirklich bewusst. Die Wut in ihm wuchs heran zu einem gigantischen Berg.
Irgendwann in den frühen Nachtstunden befand er sich auf den verschneiten Straßen der Stadt und fuhr seinem ominösen Treffen entgegen. In der Dunkelheit zeigte ihm die Digitalanzeige der Uhr neongrün leuchtend die Stunde an.
***
Hätte Marco Meier an jenem Freitag geahnt, was der Abend noch für ihn parat halten würde, so hätte er sicher nicht alles daran gesetzt, dass Maja ihn mit ihrer besten Freundin verbrachte. Es war 20:00 Uhr, als Alexa Winter nach seinem heimlichen Anruf zu Hilfe eilte, um sie mit einem Mädelsabend auf andere Gedanken zu bringen.
Als es klingelte, öffnete Marco ihr persönlich die Tür. Erleichtert begrüßte er Alexa mit den Worten: "Super, dass du kommst. Seit diesem Unfall letzten Samstag ist Maja nicht mehr sie selbst."
Einfühlsam legte sie ihm eine Hand auf den Arm an und antwortete: "Ich kann sie verstehen. Es muss alles wieder in ihr hochgeholt haben. Aber das krieg' ich schon wieder hin. Du weißt ja. Nicht verzagen, Alex fragen." Sie betrat die Wohnung mit einem breiten Grinsen, zog ihre warme Acryl-Jacke aus und hängte sie an die Garderobe.
Maja saß auf der Couch, als sie nichtsahnend Alexas Stimme vernahm. Nur Sekundenbruchteile später stand ihre beste Freundin vor ihr und riss ihr die Decke weg. "Hey! Was ist das denn für eine Begrüßung?" Maja lächelte etwas verkrampft und fuhr fort: "Aber schön, dass du da bist."
"Komm, du Couch-Potatoe, wir ziehen was um die Häuser!" Alexa blickte Maja auffordernd an. Diese legte ihre Stirn in Falten und erwiderte pampig: "Wer sagt das?"
"Ich sage das!", grinste Alexa und warf ihre blonde Lockenmähne keck in den Nacken. "Du kannst dich doch hier nicht ewig verkrümeln! Die einzige Medizin, die bei Kummer hilft, ist eine gute Pina Colada von Holmes und Polonese." Frech zwickte sie ihre Freundin in die Nase.
Marco, der das Ganze schmunzelnd von der Wohnzimmertür aus beobachtete, nickte zustimmend. "Alexa hat Recht. Macht euch einen schönen Mädelsabend, trinkt ein bisschen was. Morgen igelst du dich dann halt wieder ein, wenn du meinst, dass das sein muss."
"Du hast leicht reden!" Mit zusammengekniffenen Augen schaute Maja über Alexas Schulter zu ihm hinüber. "Und was machst du?"
"Ich guck gleich Fußball", erwiderte er mit einem schelmischen Grinsen auf den Lippen, wohlwissend, dass Maja diesem Sport überhaupt nichts abgewinnen konnte.
Alexa konnte sich nur mühsam ein Lachen verkneifen und zog an Majas Händen. "Na komm, lass Marco in Ruhe Fußball gucken, und wir zwei gönnen uns ein paar Cocktails in der Stadt. Und wenn du hinterher keine Lust mehr hast, dann gehen wir eben heim."
Schmollend setzte Maja sich auf. "Na gut, ihr gebt ja eh keine Ruhe." Triumphierend blickte Alexa zu Marco. "Siehst du, ich hab dir doch gesagt, dass ich sie rumkriege", lachte sie und wandte sich dann wieder an Maja: "Zieh dir was Gescheites an, und dann geht's los."
Diese stutzte und sah Marco vorwurfsvoll an: "Hast du dich hinter Alexa geklemmt? Willst du mich loshaben?"
"Ach Quatsch. Aber du sollst mal wieder auf andere Gedanken kommen, mit dir hält es kein Mensch mehr aus", gab Marco zurück. Er hoffte, dass sie nicht drauf pochen würde, dass er mitgehen würde. Dann sah er auf die Uhr: "Kommt, Mädels, ich fahre euch in die Stadt."
"Ich muss mich noch umziehen", antwortete Maja und ließ sich diesmal doch von Alexa hochziehen. Die beiden Mädels verschwanden im Schlafzimmer des Paars und kruschtelten gemeinsam in dem riesigen Kleiderschrank. Fünf bis sechs Kombinationen landeten auf dem Bett, dann endlich hatte sich Maja entschieden.
Währenddessen hatte Marco das Programm auf Fußball umgeschalten, um glaubhaft zu wirken. Er saß relaxed auf der Couch, als die beiden jungen Frauen wieder das Wohnzimmer betraten. Es war zwanzig vor neun.
"Wir können, Marco. Auf gehts!", ergriff Alexa das Wort und freute sich darauf, mit ihrer Freundin um die Häuser zu ziehen. Sie würde Maja schon auf andere Gedanken bringen.
Die beiden jungen Frauen waren in direkter Nachbarschaft miteinander aufgewachsen, und schon ihre Mütter waren seit der Schulzeit befreundet gewesen. So war es ganz selbstverständlich, dass sie sich regelmäßig trafen und viel Zeit miteinander verbrachten. Doch auch ohne die Freundschaft ihrer Mütter hätten sie sich über kurz oder lang kennen und mögen gelernt.
Auf ihre Freundin konnte Maja sich einfach verlassen! Alexa hatte nicht gezögert, Maja aus den Fängen ihrer neuerlichen Trauer zu reißen, als sie deren Freund angerufen hatte und sie darum bat, ihm zu helfen. Verschwörerisch sah sie ihn an, als er sich erhob.
Stolz betrachtete Marco einen Moment lang seine hübsche Freundin in ihren trendigen Glitzer-Jeans, die sie in ihre langschaftigen Leder-Stiefel hineingesteckt hatte. Zusammen mit einem kuscheligen Pullover in Weiß, dessen Brustmuster einen Bolero imitierte, sah sie richtig verwegen aus.
"Zieh dich warm an," riet er ihr und strich ihr zärtlich eine lange Strähne hinters Ohr. Marco begleitete die beiden Freundinnen hinaus in den Flur und nahm den Autoschlüssel vom Haken. Dabei fiel ihm auf, dass der Ersatzschlüssel für die beiden Haustüren innen und außen an einer anderen Stelle hing. 'Seltsam', dachte er, 'den verwenden wir doch normalerweise gar nicht.'
Er vergaß seine Feststellung jedoch gleich wieder. In warme Jacken gehüllt traten sie wenig später aus dem Haus und stiegen ins Auto. Während Marco den Wagen startete, machten die beiden Mädchen die vereisten Scheiben frei.
Kurze Zeit später befanden sie sich auch schon am Memminger Ring. Marco fuhr weiter zur Innenstadt, setzte die beiden Mädels an einer Bushaltestelle beim Marktplatz ab und wünschte ihnen viel Spaß. "Amüsiert euch gut und passt auf euch auf", ermahnte er die beiden und gab Maja einen Kuss auf die Nase, bevor sie ausstiegen.
Auf dem Rückweg fuhr er die Ortlieb-Straße entlang. Er stellte seinen Wagen auf dem Feldweg ab, stieg aus und holte aus dem Kofferraum eine kleine Plastiktüte hervor. Mit einem kurzen Rundum-Blick den Weg entlang stellte er fest, dass er nicht allein war. Dann verschwand er zwischen den Bäumen.
Im schwummrigen Licht der nicht weit entfernten Straßenlaternen der Ortlieb-Straße sah er ihn stehen. Er wirkte verloren, wie er fröstelnd seine Schultern hochzog und suchend in alle Richtungen spähte. Er trug denselben Mantel wie noch vor zwei Tagen, doch diesmal war sein Haupt mit einem Schlapphut bedeckt.
Automatisch dachte Marco an die alten Mafia-Filme und fragte sich flüchtig, ob er das Richtige tat. Geschmeidig bewegte er sich im Baumschatten der alten Kastanien in seine Nähe. Die fußhohe Pulverschneedecke verschluckte das Geräusch seiner Schritte. Einen Moment blieb er stehen und ließ das Bild des Mannes, der ihm so viele Rätsel aufgab, nur auf sich wirken.
Frank hörte ihn kommen und drehte sich um. "Ich habe mir gedacht, dass Sie das sind", sprach er den jungen Mann an. Seine Stimme klang heiser, bewegt, und ungestellte Fragen lauerten hinter seinen Worten. Er ließ seine Hände in den Manteltaschen verschwinden und wartete ab.
Marco Meier trat einen Schritt vor und erwiderte: "Das war mir klar. Ich habe Ihnen ein Geschenk mitgebracht." Mit diesen Worten ging er auf ihn zu und streckte ihm die Plastiktüte entgegen.
Frank sah ihn an wie ein seltenes Insekt, fast schon Abscheu spiegelte sich auf seinem Gesicht. "Was soll das sein?", fragte er scharf.
Der Junge zuckte unbehaglich mit seinen Schultern.
Kommissar Mittnacht nahm die Hände aus den Taschen und griff in die Brusttasche seines Ledermantels, ohne Anstalten zu machen, die Tüte entgegenzunehmen. Langsam zog er eine Schachtel Zigaretten heraus und zündete sich eine an, ohne Marco aus den Augen zu lassen.
"Rauchen Sie?", fragte er.
"Hin und wieder kommt das schon einmal vor", antwortete Marco, wieder Oberwasser gewinnend. Dieses seltsame Treffen zerrte an seinen Nerven, und die Art des Unheimlichen tat sein Übriges. 'Ich hätte das einfach auf sich beruhen lassen sollen', dachte er.
Franks Stimme erklang erneut durch die Stille. "Weshalb haben Sie mich hierher bestellt?" Der Rauch seiner Zigarette verhüllte seine Augenpartie. Blätterrauschen klang durch die Nacht; Reif rieselte auf seinen Kragen. Wieder zog er seine Schultern nach oben. Er streckte Marco seine Schachtel entgegen, doch der wehrte ab.
Stattdessen trat er zwei Schritte näher und hob noch einmal demonstrativ die Plastiktüte vor Kommissar Mittnachts Gesicht. "Mir kann es egal sein, ob Sie dies annehmen oder nicht. Für Sie müsste es wichtig genug sein, um mir zu vertrauen. Ich habe darin keine Bombe versteckt."
Seine Stimme klang angriffslustig, die Worte schwebten auf - und abschwellend durch die Nacht. Frank ließ sich davon nicht beirren. "Dann öffnen Sie die Tasche und zeigen Sie mir den Inhalt. Meine Kollegen hatten Ihnen vertraut. Und Sie hatten uns daraufhin belogen."
In seinem Gesicht arbeitete es, seine Mundwinkel verzogen sich unwillig nach innen. Nur mühsam konnte er seinen Zorn noch unterdrücken.
"Das war nie meine Absicht", fuhr Marco ihn heftig an. "Das hatte ich Ihnen schon erklärt. Es war ein Versehen."
"Das sagen Sie!", brauste Frank auf. "Aber gut, noch einmal: Weshalb bin ich hier?"
"Na schön, Kommissar Mittnacht! Sie haben das hier am Unfallort verloren. Und ich wollte es Ihnen geben, weil ich dachte, dass dies von Interesse für Sie sein könnte."
Mit wütenden Bewegungen öffnete Marco die Tüte und warf eine Perücke und eine Taschenlampe zu Boden. Das ehemalige Behältnis der Gegenstände flatterte raschelnd gleich hinterher, und er wandte sich ab, um zu gehen.
Die Stimme des Mannes stoppte ihn. "Warten Sie!", rief er.
Marco drehte sich wieder um und sah ihn an.
"Wie kommen Sie auf die Idee, dass dies mir gehört?", fragte Frank und versuchte, sein Erschrecken vor dem jungen Mann zu verbergen. Er warf seine ausgerauchte Zigarette zu Boden, die zischend im Schnee erlosch.
"Die lächerliche Faschingsperücke, die Sie trugen, konnte mich vielleicht am Unfalltag täuschen", antwortete Marco. "Doch spätestens, als Sie zu uns nach Hause kamen, hatte ich Sie wieder erkannt."
"Warum helfen Sie mir?", Franks Stimme klang plötzlich sanft. "Und warum heute, und weshalb hier?"
"Es gab eine Zeit, da hatte ich es gewusst", antwortete Marco leise und sah nachdenklich zu Boden. "Warum heute? Ich weiß es nicht. Weshalb hier? Weil ich nicht will, dass Sie uns noch einmal besuchen. Sie sind im Begriff, Majas Leben komplett zu zerstören. Lassen Sie uns in Ruhe!"
Kommissar Mittnacht wandte sein Haupt und sah zu der Stelle, die ihm Albträume bescherte, und vieles mehr. 'Du hast gar keine Ahnung, mein Junge', sinnierte er, 'wie sehr deine Freundin erst einmal mein Leben zerstört.'
Laut antwortete er: "Vier Menschen sind tot." Seine Wut explodierte wie ein Vulkan, und er spie die Worte Marco entgegen. "Drei davon würden noch leben, hätten Sie und Ihre Freundin uns geholfen, den Unfallfahrer zu fassen." Sein Zeigefinger wies anklagend in Marcos Richtung.
Der Junge stieß einen erschrockenen Laut aus und hakte nach: "Wie das?"
Ruhiger werdend, erklärte Frank: "Er hat seine Familie getötet." Verzweifelt schlug er beide Hände vor sein Gesicht und murmelte dumpf zwischen seinen Fingern hindurch: "Hören Sie? Eine Frau und zwei Mädchen."
Marco schwieg lange. Tausend Gedanken sausten ihm durch den Kopf. Er steckte die Hände in seine gefütterte Jacke und blickte ihn an. Dann gab er seinen Gedanken, die sein Innerstes durchtosten, Raum und fragte: "Sie sind Polizist, ein höher gestellter sogar, wenn ich nicht irre. Weshalb nimmt Sie das so mit? Müssten Menschen in diesem Beruf nicht damit umgehen können? Habt Ihr nicht regelmäßig mit Toten zu tun?" Bei seiner letzten Frage klang sein Tonfall leicht aggressiv.
Kommissar Mittnachts Antlitz wurde verschlossen. Mit einem Fuß scharrte er ein Loch in den Schnee. "Darüber will ich nicht reden. Es ist, wie es ist!" Dann forderte er Marco auf: "Kommen Sie, begleiten Sie mich zum Auto. Gehen wir nach Hause."
Er hob die Utensilien auf, die der junge Mann zu Boden geworfen hatte, und packte sie wieder zurück in die Tüte. "Ich danke Ihnen dafür, dass Sie mir das gebracht haben." Dann ging er voran.
Nach ein paar Schritten folgte Marco seiner Aufforderung und schloss zu ihm auf. Schweigend schlenderten die beiden ungleichen Männer nebeneinander her.
Auf dem Feldweg angekommen, wandten sie sich in Richtung Auto. Frank steckte noch eine Zigarette in Brand und zog genüsslich daran. Diesmal bot er Marco keine an und tat die Schachtel zurück in den Mantel.
Ein paar Meter vom Auto entfernt bat der junge Mann: "Geben Sie mir auch eine, bitte!"
Frank holte die Schachtel wieder hervor und klopfte eine Zigarette heraus. Marco nahm sie entgegen, während Frank ihm mit einem silbernen Sturmfeuerzeug Feuer anbot. Ohne weitere Worte legten Marco und Kommissar Mittnacht den Rest des Weges rauchend zurück. Hin und wieder flitzten fragende, neugierige Blicke von Einem zum Andern. Die rote Plastiktüte raschelte in Franks Hand.
Schließlich waren sie bei Marcos Wagen angelangt. Der Junge drehte sich noch einmal zu ihm um und sprach in verabschiedendem Tonfall: "Das alles tut mir so unsagbar leid. Ich wollte wirklich niemanden an der Nase herumführen. Es war ein Versehen, dass ich euch das falsche Kennzeichen gab. Und Maja? Sie kann euch nicht helfen, aber sie hat mir verboten, Ihnen zu sagen, warum. Nichts ist so, wie es aussieht." Marco warf seine halb ausgerauchte Zigarette zu Boden und streckte Frank die Hand entgegen. "Machen Sie es gut, Kommissar Mittnacht."
Frank nahm die Hand an, und Marco stieg in den Wagen. Als er losfuhr, warf er einen Blick in den Rückspiegel und sah den Mann noch einen Moment lang stehen.
Er drückte vorsichtig aufs Gaspedal und begab sich auf die Ortlieb-Straße zurück. Der junge Mann bog nach links ab, Richtung Memminger Ring. Im Rondell angekommen, verschob sich plötzlich sein Sichtfeld.
Die Winterwelt drehte sich vor seinen Augen, fast so, als hätte er Drogen genommen. Mit Ach und Krach fand er die Abbiegung nach Hause und fuhr in die Victor-Huss-Straße ein. Ruckelnd und aufheulend bewegte er das kleine Mini-Cabrio bis vors Haus, würgte den Motor ab und stieg mühsam aus, ohne die Wagentür zu schließen.
Ächzend schleppte Marco sich vor seine Haustür und kramte den Hausschlüssel heraus. Im Dunst seines Unterbewusstseins spürte er, wie jemand neben ihm stand, ihm den Schlüssel abnahm und in die Wohnung half.
Er würgte qualvoll. Eine Tür klappte, und er dachte verschwommen, sein Helfer habe die Wohnung verlassen. Die Wände der Räume kamen übergroß auf ihn zu und wichen wieder zurück.
Marco spürte einen stützenden Arm um seine Hüfte und verlor jegliche Willenskontrolle. Wie eine Marionette folgte er dem Druck und fand sich im Schlafzimmer wieder. Nebulös erblickte er seine vertraute Umgebung und war sich einer unbekannten Bedrohung bewusst. Sich dagegen zu wehren, vermochte er nicht.
Mit unerbittlichem Kraftaufwand drückte ihn der Unbekannte aufs Bett. Ein Lederduft stieg ihm in die Nase. Marco versuchte, sich zu erinnern, woher er ihn kannte. "Was haben Sie mit mir vor?", fragte er schleppend. "Warum bin ich so müde?" Er bekam keine Antwort.
Bevor er einschlief, sah er einen grauen, riesigen Schatten über seinem Gesicht und hörte eine flüsternde Stimme: "Es tut mir so leid, aber auch du hast Fehler gemacht. Nun hat sie auch dein Leben zerstört. Doch im Gegensatz zu dir kann sie jetzt zeigen, wie sehr sie dich liebt."
Was ansonsten noch mit ihm geschah, bekam er nur noch am Rande mit, in seinem Unterbewusstsein. Ein Morgen würde es für den jungen Mann nicht mehr geben ...
Nachdem Marco die beiden Mädchen an der Bushaltestelle abgesetzt hatte, schlitterten sie lachend über die plattgetrampelte Schneedecke auf dem Marktplatz.
Eigentlich war Maja gar nicht zum Lachen zumute, doch ihre Freundin war so prickelnd lebendig, so mitreißend, sie konnte gar nicht anders als sich von ihren liebevollen Bonmots, ihrem Esprit, mitreißen zu lassen. Alexa Winter erzählte von ihrem Freund Basti, wie sie die letzten Tage verbracht hatten, und was sie alles erlebten.
Maja wiederum redete nicht über dies, was sie bedrückte. Heute war ihr Tag, und den wollte sie nur genießen. Gemeinsam überlegten sie, wo sie absteigen konnten und entschieden sich für die Coconut, eine kleine Cocktailbar gegenüber vom Rathaus. Zielstrebig steuerten sie darauf zu.
Als sie die Bar betraten, drehte sich eine Dreiergruppe junger Männer bewundernd nach ihnen um und ließen leise Pfiffe ertönen.
Die zwei ließen die Jungs einfach links liegen und suchten sich einen Platz in einer gemütlichen Ecke der Bar. Alexa schlug die Cocktailkarte auf und legte sie Maja vor. "Was hältst du davon?" Sie deutete auf die Abbildung eines Caipirinha-Cocktails und blickte ihre Freundin aufmunternd an. "Zwei, drei davon und du bist wieder die alte", munterte sie Maja auf.
Zögerlich stimmte sie zu. "Ich möchte aber nicht so viel trinken", beugte sie vor.
Alexa zwinkerte ihr nur schelmisch zu, murmelte "Na klar" und hob die Hand, um zu bestellen.
Maja warf Alexa einen kleinen Seitenblick zu. Sie war gern mit ihr zusammen, doch in den letzten Wochen war ihre Freundschaft ein bisschen vernachlässigt worden. Sie hatte sich einfach nicht dazu aufraffen können, wusste jedoch, dass ihre Freundin ihr das nicht übel nahm.
"Erde an Maja ..." Alexa wedelte leicht mit ihrer Hand vor Majas Augen und lachte. "Komm schon! Die Cocktailgläser stehen bereits auf dem Tisch und warten darauf, geleert zu werden."
"Sorry", murmelte Maja etwas lahm und kehrte widerwillig zurück in die Realität.
Alexa winkte abwehrend ab. "Schon okay, Süße. Aber jetzt weg mit den trüben Gedanken." Sie drückte Maja das Cocktail-Glas in die Hand und stieß auffordernd mit ihr an. "Na siehst du", sprach sie aufmunternd und boxte sie leicht auf den Arm, als Alexa ein Lächeln auf dem Gesicht ihrer Freundin erkannte. "Heute wird ein bisschen gefeiert."
Nach dem zweiten Caipirinha fühlte Maja sich besser. Nun konnte sie die Bar-Atmosphäre, das Stimmengewirr um sie herum und die heitere Rumba-Musik sogar genießen. Als Alexa den dritten Cocktail bestellte, ließ sie sich dies ohne Widerrede gefallen und fühlte, wie sie immer lockerer wurde. "Weißt du, mich hat ein Bulle auf dem Kieker", erzählte sie ihrer Freundin und drehte ihr Glas in ihren Händen herum. Ihre Zunge wurde allmählich schwerer.
"Du hast Ärger mit der Polizei?", fragte Alexa erschrocken.
"Ärger nicht gerade. Er will mir was am Kittel flicken, wegen dem Unfall. Weil ich nicht ausgesagt habe."
"Ooch, vergiss den Typ. Wir haben am Nikolausabend so 'nen Irren gesehen, der hat vor unseren Augen einem Skinny eines auf die Nase gegeben. Die wollten irgendwas von uns. Habe nur nicht alles gesehen, aber Basti sagte, der hätte sogar eine Knarre gehabt." Alexa schüttelte lachend ihre Mähne. "Hätte ich dem Knacker gar nicht zugetraut, doch irgendwo war der richtig unheimlich."
"Hey ihr beiden, die machen gleich den Laden dicht. Habt ihr Lust, mit uns noch ins B6 zu gehen?", unterbrach ein junger Mann ihr Gespräch. Es war einer der drei von der Theke, die ihnen nachgepfiffen hatten, als sie gekommen waren.
Mittlerweile hatten die Jungs einen der Tische direkt neben ihnen in Beschlag genommen, doch bisher hatten die beiden Mädchen sämtliche Annäherungsversuche abgeblockt und sie ignoriert. Nun wandten sie sich den Dreien zu.
Maja wollte schon eine ablehnende Floskel fallen lassen, als Alexa ihr zuvor kam: "So lang es euch nicht stört, dass mit uns nix läuft. Bisschen tanzen ist okay, aber mehr nicht. Wir sind vergeben."
Schelmisch zwinkerte sie Maja zu und signalisierte ihr lautlos mit den Lippen: 'Komm schon, Maja, gib' dir nen Ruck.' Diese verdrehte die Augen. "Na gut, warum nicht", stimmte Maja widerwillig zu und brachte sogar ein Lächeln zustande. "Aber dafür bezahlt Ihr uns noch 'nen Caipi."
Alexa kicherte.
Der Dunkelhaarige, der sie angesprochen hatte, ging zur Theke und kam mit zwei Cocktails wieder zurück. "Ich bin der Daniel." Er stellte den beiden Mädels die Gläser hin und fragte: "Und Ihr?"
"Ich heiße Josef, wie meine Mutter!", antwortete Alexa keck. "Und das ist Maria. In elf Tagen wird uns das Christkind geboren, wusstest du das?"
"Ach, ist das so?", fragte ein Anderer von den Dreien und sah sie dabei an. "Und du bist der Vater? Ach nee, ich glaube, der Josef war's nicht, oder täusche ich mich?"
"Keine Ahnung, ich bin nicht sonderlich bibelfest", antwortete das Mädchen und warf dabei ihre blonden Locken nach hinten. "Also gut, wir sind Hanni und Nanni. Glaubt Ihr mir das wenigstens?" Sie nippte an ihrem Caipirinha und warf Maja verschwörerische Blicke zu. "Nicht wahr, Nanni?"
"Ja, genau." Diese stieg auf das Spiel ein und nickte heftig. "Und nachher steigen wir auf unsere Ponies und reiten nach Hause zu Ernie und Bert."
Alexa lachte lauthals auf, als sie die dummen Gesichter von Daniel und seinen Kumpels sah. "Ihr seid zwei so Marken", antwortete einer. "Und, geht Ihr jetzt mit oder nicht?"
"Nee, wir reiten mit, draußen stehen unsre Pferde", führte Maja das Spiel fort und trank auf einen Zug ihren Cocktail leer. Alexa beobachtete sie aus den Augenwinkeln und lachte zufrieden.
Kurz vor Mitternacht warf Maja einen Blick auf ihr Handy. Enttäuscht stellte sie fest, dass sie keine Nachricht von Marco erhalten hatte. Sie überlegte einen Moment und gab dann schnell eine SMS an ihren Freund ein: "Huhu Schatz :) Bist du gut zuhause angekommen? Wir ziehen jetzt von der Coconut-Bar ins B6 weiter. Vermiss dich! Komm doch bitte nach :* ILD"
Das musste reichen!
Plötzlich stupfte Alexa sie in die Seite: "Du, schau mal, Maja, da an der Theke steht der Typ, von dem ich dir erzählt hatte. Der Irre. Was will der in seinem Alter in einer Bar?"
Maja wurde bleich. "Alexa, das ist der Bulle, der bei uns war. Himmel, kommt der jetzt auch noch hierher?"
"Das ist ein Bulle?", Majas Freundin sah sie ungläubig an. "Der ist aber auch nicht ganz echt. Und jetzt?"
"Komm, lass uns abhauen. Ich will nach Hause. Nur, wie? Es ist schon ein Stückchen zu laufen."
"Ach was, komm schon, Maja. Du wirst dir doch jetzt nicht den Abend versauen lassen. Fahren wir mit den Jungs ins B6, und die fahren uns dann bestimmt auch heim."
Alexa wandte sich an Daniel: "Nicht wahr?"
"Ich weiß zwar nicht, von was du da redest, aber nun gut. Klar fahren wir euch heim", antwortete der.
Kurze Zeit später verließen die fünf jungen Leute die Bar und flanierten plaudernd auf den Parkplatz der Bar. Den Schatten, der ihnen auf den Fuß folgte, sahen sie nicht.
***
Erst gegen vier Uhr früh kam Maja zu Hause an. Wider Erwarten hatten sie einen amüsanten Abend gehabt, und die drei Burschen, die sie und Alexa nach Hause gebracht hatten, waren okay. Das war direkt einmal ein positiver Aspekt der letzten sechs Tage gewesen.
Der Junge, der sie als erstes angesprochen hatte, hieß Daniel Böhm und arbeitete bei K.P. Schmitt, dem Einkaufszentrum der Stadt, und somit ganz in der Nähe von Majas Werbeagentur. Wo er wohnte, wusste sie allerdings nicht, und das hatte auch weder sie noch Alexa groß interessiert. Sie hatten ein bisschen Spaß haben wollen, ein bisschen tanzen, ein bisschen trinken - und all dies hatten sie auch bekommen. Allerdings war sie jetzt so was von breit!
Ihre Freundin brachte sie noch kichernd - worauf Maja immer wieder "Pschschtt!" säuselte - bis zur Haustür. Dort drehten sie sich noch einmal winkend zu den Jungs um, und dann wankte Alexa nach Hause, und sie in ihre Wohnung. Flüchtig bekam sie noch mit, dass der Fernseher lief, doch das Wohnzimmer war dunkel und leer.
Schwerfällig torkelte sie ins Schlafzimmer, sah, dass Marco im Bett lag und ließ sich mitsamt Klamotten neben ihn fallen. Sie schaffte es gerade noch, sich ihre warme Decke über die Ohren zu ziehen - und schon war sie weg.
***
"Sie tanzt auf den Gräbern der Toten ..."
Es war eine Nacht voller Leben, und voller Tod. Das Grauen verfolgte sie bis in ihre volltrunkenen Träume. Über ihr an der Wand standen in blutroten Lettern Worte, die sie nicht lesen konnte. Das Blut lief in Schlieren herab und tropfte dort überlaut hallend zu Boden. *Tropf ... Pause ... Tropf, Tropf ... Pause*
Vor ihrem Inneren Auge formte sich ein gigantischer Wasserhahn, und aus diesem floss Blut. Es platschte direkt auf ihren nackten Körper. Das übergroße Objekt pulsierte im Takt ihres Herzens und war mit Rost versetzt. Mit jedem Pulsschlag traf sie ein Strom ihres schwindenden Lebens.
Schreiend wälzte sie sich in ihrem Bett und versuchte, sich aus den Fängen der Nacht zu befreien. Über ihrem Gesicht schwebte die Gestalt eines Mannes, den sie sofort erkannte - und doch wieder nicht. Eine seltsam heisere Stimme schleuderte ihr verächtlich Vorwürfe entgegen.
In seiner Hand hielt er ein Messer, und er zischte: "So eine wie du verdient es nicht, zu überleben. Du hast getötet!"
Sein Gesicht wurde größer und größer, und schwarze Nachtseen schienen sie verschlingen zu wollen. Sie versuchte, noch einmal zu schreien, aus ihrem Mund drang jedoch nur ein dumpfes Ächzen. Dann legte sich eine große Hand auf ihren Mund, und sein Messer senkte sich erneut auf ihren Körper herab.
Wieder erschien der gigantische Wasserhahn und übergoss sie mit Blut. Ihr Herzschlag wurde langsamer und langsamer mit jedem Strahl. Nach einer Ewigkeit im Schwebezustand fiel sie zurück in die dunkle Welt des Vergessens!
Etliche Stunden später blinzelte eine mittägliche Wintersonne durch die Lamellen der Jalousie und kitzelte Maja an ihrer Nase. Verschlafen blinzelte sie und fühlte sich ein bisschen verkatert.
Es war ruhig; sehr ruhig. Nicht nur im Zimmer, sondern im Allgemeinen. Es fehlten Marcos Schritte, die in der Regel durch die Wohnung klangen, wenn er ihr die Hausarbeit abnahm, um sie schlafen zu lassen.
Es fehlte das Geräusch der Kaffeemaschine, die normalerweise laut genug blubberte, um Tote zu wecken. Im Gegensatz zu ihr stand Marco gern früher auf, wenn sie beide zuhause waren, und bereitete für sie alles vor.
Verwirrt sah sie sich um, sie schwitzte unter der Bettdecke und fühlte sich seltsamerweise eingeengt. Verzweifelt versuchte sie, sich zu erinnern, was gestern passiert war. Sie war tanzen - daran erinnerte sie sich.
Sie hatte getrunken, viel; sehr viel.
Ihre rechte Hand tastete zu Marcos blinkenden Handy auf der durchgehenden Konsole über dem Bett. Da war die SMS, die sie an ihn geschrieben hatte - noch ungelesen?
Maja erschrak. Wo war er? Wer er deshalb nicht ins B6 gekommen? Sie hatte ihn doch extra gebeten ...
Neben dem Handy lag eine Zeitung. Hatte Marco diese liegen gelassen? Sie wunderte sich zwar, doch ihre Gedanken tanzten weiter im Zimmer herum, wankten von einer Ecke zur Anderen, während Majas Augen versuchten, ihnen zu folgen. Ihr Blick fiel nach links, auf Marcos Seite ihres großen Doppelbetts.
Maja atmete auf: Da war er! Sie machte sich Sorgen, und er lag neben ihr und schlief seelenruhig. Ein irrationales Lachen stieg in ihr auf.
Die Angst wollte dennoch nicht von ihr weichen, wenn sie auch nicht noch nicht wusste, warum!
Maja drehte sich zu ihm um und streichelte zart sein Gesicht. Als sie bemerkte, dass sie noch immer bekleidet war, sprang sie aus dem Bett, zog sich aus und kuschelte sich wieder unter die Decke, eng an seinen Körper geschmiegt. "Marco, ich liebe dich", flüsterte sie. Ihre Hand fuhr dabei unter das Federbett auf seiner Seite, wobei sie feststellte ...
"Weshalb bist du noch nicht ausgezogen?", fragte sie ihn. Eine Antwort bekam sie allerdings nicht. Wieder fuhr Majas Hand zu seinem Gesicht. "Du bist so kalt, was ist mit dir los?" Das Grauen fiel sie an wie ein übellauniges Tier.
Etwas in ihrem Unterbewusstsein hatte die Erklärung schon lang. Sie weigerte sich, ihrer inneren Stimme zu glauben. Maja setzte sich im Bett auf und riss ihm die Bettdecke weg. Ihr Gesicht war von roten, hektischen Flecken bedeckt, und sie atmete schwer. Mit weit aufgerissenen Augen versuchte sie, zu checken, was los mit ihm war. Wütend rief sie seinen Namen und stieß ihn an. Er rührte sich nicht.
Maja sprang hoch und rannte zum Fenster. Panisch riss sie die Jalousien hoch und ließ das Tageslicht herein, um die Dämmerung im Zimmer zu vertreiben. Dann blieb sie nackt auf der anderen Seite des Bettes stehen und starrte auf den leblosen Körper herab.
Marco lag auf dem Rücken, die Augen geschlossen. Noch einmal rief sie seinen Namen und rüttelte ihn. "Wach auf, Marco, bitte ..." Ihre Stimme klang flehend.
Sie beugte sich über ihn und erstarrte. Sein Gesicht war so bleich, sein Mund schien zu schreien. Es war so ein krasser Kontrast: Die geschlossenen Lider, die dem oberen Part seines gequälten Gesichts einen beinahe friedlichen Eindruck verliehen, und die blau angelaufenen Lippen, geformt zu einem kreisrunden O.
Ein langgezogenes Wimmern stieg bis zur Zimmerdecke hinauf, gefolgt von Majas verzweifeltem Schluchzen. Weinend brach sie auf seinem Körper zusammen. "Marco ..." stammelte sie. "Du kannst nicht tot sein."
Ihre Hände fassten ihn an den Schultern und schüttelten ihn wieder und wieder. Es konnte nicht wahr sein! Er durfte sie nicht verlassen, sie brauchte ihn doch! Nur langsam realisierte sie, dass Marco nicht mehr aufwachen würde.
Maja wusste nicht, wie lange sie da stand und ihn fassungslos anstarrte. Irgendwann begriff sie, dass sie gezwungen war, zu handeln und jemanden zu informieren. Sie suchte ihr Handy und wählte auf Verdacht eine Nummer aus ihrer Favoritenliste.
Das Klingeln des Telefons riss Alexa Winter gegen 12 Uhr aus den Vorbereitungen für das Mittagessen. Sie legte das Messer, mit dem sie gerade Kartoffeln schnitt, zur Seite und lief hinaus in den Flur. Bevor sie abhob, erkannte sie im Display die Nummer von Maja und meldete sich fröhlich: „Hey Süße, hast du ...?“
Ein herzzerreißendes Schluchzen vom anderen Ende der Leitung antwortete ihr. Sie unterbrach den Satz und fragte verdattert: "Maja? Was ist los?“
Es dauerte einen Moment, bis sie zwischen Stammeln und Schluchzen einige Wortfetzen verstand. Alexa dachte, sie hätte sich soeben verhört. „Marco ist ... waaaas?, schrie sie entsetzt in den Hörer. Wieder vernahm sie ein beinahe schreiendes Schluchzen.
"Maja, hörst du?", sprach sie eindringlich und nestelte nervös an ihren Haaren. "Ich komme sofort zu dir. Bin in zwei Minuten da!“ Dann legte sie auf.
In Windeseile riss sie ihre Jacke vom Haken, zog sie über und schlüpfte in ihre Turnschuhe. Kurz überlegte sie, Basti einen Zettel hinzulegen, doch das würde zu lange dauern. Maja brauchte sie jetzt!
Rutschend und schlitternd lief Alexa schnell zur Wohnung ihrer Freundin. „Scheiß Winter! Immer und überall glatt!“, fluchte sie vor sich hin. Kurz darauf stand sie auch schon vor dem Haus ihrer Freunde und war froh, die untere Eingangstür offen zu sehen. Sie rannte die fünf Stufen bis zu Majas und Marcos Wohnung hoch und ...
Alexa hatte noch nicht einmal geklingelt, da wurde auch schon die Tür aufgerissen. Erschrocken umfing sie eine in Tränen aufgelöste, stammelnde und schluchzende Maja, die ihr nackt, wie Gott sie schuf, entgegen stürzte.
Schnell verfrachtete sie ihre Freundin zurück in die Wohnung. „Süße, was ist denn passiert?“
Maja barg ihr Gesicht in Alexas blonder Mähne und schluchzte: "Marco ... er ... er liegt tot ... im Bett!"
Beruhigend strich sie dem verzweifelten Mädchen über den nackten Rücken. "Aber Maja, das kann doch nicht sein."
Sie konnte es einfach nicht glauben.
Maja nickte nur wild mit dem Kopf und betonte: "Doch ... doch, doch!"
Alexa schob ihre Freundin ins Wohnzimmer und bugsierte sie auf die Couch. Dann warf sie einen Blick in das gemeinsame Schlafzimmer ihrer Freunde, um sich zu vergewissern.
Tatsächlich! Tränen schossen ihr in die Augen. Doch sie fasste sich schnell, ging zurück ins Wohnzimmer und setzte sich neben Maja. „Hast du die Polizei schon verständigt?“ Tapfer versuchte sie, die Panik in ihr zu unterdrücken.
Maja schüttelte als Antwort den Kopf und warf sich laut aufweinend zur Seite.
„Okay, dann mach ich das jetzt zuerst. Und dann musst du dir was anziehen.“
„Ich geh da nicht mehr rein … ich kann das nicht … NEIN!“, schrie Maja und warf ihre zerzausten Haare wild von einer Seite zur Andern. Sie setzte sich wieder auf, schlang die Arme um ihre Knie und begann, sich mit gekrümmtem Rücken zu wiegen. Ihr Schluchzen ebbte allmählich ab, wurde leiser und leiser, bis es schließlich vollends verstummte.
Monoton fuhr ihr bebender Körper vor und zurück, wieder und wieder. Hin und wieder stockte sie kurz und erbebte, dann begann sie wieder von vorn.
Alexa nahm das schnurlose Telefon vom Tisch auf und wählte die 110. Dabei ließ sie ihre Freundin nicht aus den Augen. Es war ein erschütterndes Bild, das sich bis ans Ende ihres Lebens in ihr Herz einbrennen würde.
Bereits nach dem zweiten Klingeln ging jemand dran. „Alexa Winter, guten Tag", meldete sie sich. "Der Freund meiner Freundin liegt tot im Bett … ja, sind wir … Maja Berger und Marco Meier … Bitte schicken Sie schnell jemanden her … Viktor-Huss-Straße 17 in Großdummsdorf!“ Die Stimme am anderen Ende bestätigte ihr, dass innerhalb weniger Minuten jemand da sein würde.
Alexa legte auf und ging ins Schlafzimmer zurück. Mit einer Gänsehaut auf den Armen versuchte sie, den Blick zum Bett zu vermeiden. Dennoch stach ihr der Schriftzug an der Wand ins Auge. 'Sie tanzt auf den Gräbern der Toten' stand da in Lettern, die aussahen wie triefendes Blut.
Entsetzt starrte Alexa darauf und wagte es kaum, sich vorzustellen, was sie bedeuten. Doch dann fasste sie sich. In hektischem Eiltempo warf sie ein x-beliebiges T-Shirt in Flieder und einen schwarzen Wollpullover zu Boden und kramte frische Unterwäsche und Jeans aus dem riesigen Kleiderschrank. Mit klopfendem Herzen raffte sie alles zusammen und verließ eilends den Raum.
In ihr wuchs der Entschluss, Maja mit zu sich nach Hause zu nehmen. Hier bleiben konnte sie jedenfalls nicht!
Im Wohnzimmer zog sie Maja mit den Worten "Zieh dir was an!" von der Couch. Bestimmend schob Alexa ihre schluchzende Freundin ins Badezimmer.
Als sie sich sicher war, dass Maja sich anzog, nahm sie ihr Handy und rief zuhause an. Schockiert vernahm Basti vom Tod seines Freundes. "Aber das kann doch nicht sein, Alexa", antwortete er. "Bestimmt schläft er nur." Wie sehr würde sie sich wünschen, dass er Recht hätte ...
"Er wurde ermordet, Basti", schluchzte sie trocken auf. "Ich kann es auch gar nicht glauben. Wer tut so etwas?"
Ein fassungsloses Aufatmen erklang vom anderen Ende der Leitung. "Was genau ist passiert?"
"Ich kann es dir jetzt nicht erklären, die Polizei wird gleich kommen." Alexa strich sich durch ihre blonde Löwenmähne. "Ich bringe Maja mit zu uns nach Hause. Hier kann sie nicht bleiben."
"Ja okay, mach das!", erklärte Basti sich einverstanden. "Was soll ich tun?"
"Richte einfach nur das dritte Zimmer für sie her", bat Alexa ihn. "Sie muss ja irgendwo schlafen."
Schließlich klingelte es. "Die Polizei kommt!" Hastig verabschiedete sie sich und legte auf. Mit verweintem Gesicht öffnete Maja die Badezimmertür einen Spaltweit und bat ihre Freundin: "Machst du das? Ich kann nicht."
Alexa nickte. Als sie die Haustür öffnete, standen zwei Beamte des Präsidiums Großdummsdorf vor ihr. Der Älteste von ihnen zeigte ihr seinen Ausweis. "Sind wir hier richtig bei Berger? Sie haben uns angerufen!"
"Gehen Sie durch", forderte sie die beiden Polizisten auf und wies ihnen den Weg. "Marco liegt im Schlafzimmer."
"Was ist denn genau passiert?", fragte Polizeihauptmeister Sankt. Während Alexa ihn und seinen Kollegen durch den Flur geleitete, hörte er Schluchzen hinter einer verschlossenen Tür. "Ist mit Frau Berger alles in Ordnung?" fügte er seiner Frage hinzu.
"Wie man es nimmt. Sie weint, wie Sie hören", antwortete Alexa ein bisschen trocken. Sie blieb in der Schlafzimmertür stehen und ließ den Beamten den Vortritt.
"Heilige Scheiße", fluchte Klaus Sankt, als er die Leiche auf dem Bett liegen sah. "Das ist ein Fall für unsre MK-ler."
Er zog sein Diensthandy aus der Innentasche seines Jacketts und wählte die Nummer. "Kommissar Mayrhöfer, wir haben hier einen Mord", sprach er nach ein paar Sekunden Wartezeit in die Muschel und lauschte. "Okay, ist gut! ... Ja, habe verstanden ... Das Opfer ist männlich." Polizeihauptmeister Sankt gab die Adresse durch und legte auf. Dann wandte er sich an Alexa. "Kümmern Sie sich bitte um Ihre Freundin. Wir brauchen Sie beide als Zeugen."
Er sah seinen Kollegen auffordernd an: "Hanno, kümmre du dich um die beiden Damen. Wir sollen warten, bis die Mordkommission da ist."
Hanno Kekkonen nickte und legte mitfühlend eine Hand auf Alexas Arm. Wo können wir hin?", fragte er. "Und holen Sie bitte Ihre Freundin zu uns." Seine Blicke wanderten wie von unsichtbaren Fäden gezogen durch die geöffnete Tür des Raumes, der zu einem Tatort geworden war.
Als Alexa sich entfernte, um Maja zu holen, tat er ein paar Schritte hinein und versuchte, sich ein genaueres Bild vom Geschehen zu machen. Seine romantische Seele erzählte dem jungen Beamten beim Betrachten des Raumes eine tragische Geschichte, angefangen von dem jungen Mann, der ganz offenbar keines natürlichen Todes gestorben war.
Hanno Kekkonens Blicke glitten über die Schriftzüge an der Wand hinter dem Bett, und ihn überlief ein Schaudern. 'Entweder hatten die beiden jungen Leute einen seltsamen Geschmack, oder ...' Seine Gedanken verliefen sich schließlich ins Nichts.
Ein Pfiff in seinem Rücken veranlasste ihn, sich umzudrehen. Klaus stand an der Tür und hielt noch immer sein Handy in der Hand. "Nichts anfassen, Hanno. Ich hoffe, dass du das weißt", ermahnte der ihn. Er nickte stumm und führte seine Betrachtungen, vor dem Bett auf- und abschreitend, fort. Die Leiche noch einmal anzuschauen, wagte er nicht.
Neben dem Bett lag ein großes, zerknülltes Kissen. Er rief Polizeihauptmeister Sankt an seine Seite und zeigte darauf: "Was meinst du, ob das eventuell eine Rolle spielt?"
Klaus Sankt zuckte nur mit den Schultern. "Das herauszufinden, ist mittlerweile Sache der Mordkommission."
"Neugierig bin ich trotzdem", antwortete Hanno und trat an ein kleines Tischchen neben dem Bett. Sein Blick fiel auf die Zeitung mit dem gestrigen Datum. 'Freitag, der 13.', dachte Hanno und fühlte sich unbehaglich. "Klaus, schau mal da", wandte er sich noch einmal an seinen Kollegen.
Dieser folgte leicht widerwillig seiner Bitte und trat zu ihm. Dann lachte er bitter auf. "Toter Hund in Unfall mit Todesfolge verwickelt - die Polizei steht vor Rätseln", las er laut vor. "Ich kann's nicht mehr hören. Aber dieser junge Mann hier" - damit wies er zum Bett - "muss ja echt ein Seelchen gewesen sein, wenn er seiner Freundin stiellose Rosen schenkt, noch dazu mit einer solchen Verpackung."
"Jetzt, wo du es sagst ...", Hanno hatte die blutrote Rosenknospe glatt übersehen. Sie lag auf der Zeitung, direkt unter dem Bild der jungen Frau, die am siebten Dezember ums Leben gekommen war. Er wies zur Wand und fragte Klaus: "Hast du das auch gesehen? Es passt alles ins Bild."
"Ein Graffiti-Spruch, ja, und was für einer. Und in rot. Alles sehr seltsam."
"Sie tanzt auf den Gräbern der Toten ...", zitierte Hanno und machte sich weiter Gedanken. "Wer sprüht so etwas auf seine Wand? Ich verstehe das nicht, wie Gothics, aber ..."
Als sich die Badezimmertür öffnete, verließ er den Raum und kümmerte sich um die beiden jungen Frauen. Mitleidig sah er Maja Berger an: "Es tut mir sehr leid, was da passiert ist." Sie schluchzte auf und flüchtete sich ins Wohnzimmer. Schutzsuchend kuschelte sie sich in ihre Lieblingsecke auf der Sofarundecke ein.
'Marco ...', dachte sie, 'wer hat uns beiden das angetan?'
Bald darauf klingelte es erneut.
"Das ist die Mordkommission", kündigte Polizeihauptmeister Sankt an und öffnete den Kollegen die Tür. Plötzlich war die kleine Drei-Zimmer-Wohnung voll Menschen. Die Stimmen um sie herum hallten wie lauter kleine Echos in ihren Ohren. Maja zuckte zusammen und spähte durch die offene Tür hinaus in den Flur. Männer in weißen Plastikanzügen huschten am Wohnzimmer vorbei und folgten den Anweisungen eines Mannes, den sie nicht sah.
Alexa setzte sich neben ihre verzweifelte Freundin und umschlang sie mit beiden Armen. Sanft streichelte sie ihr über den Rücken, fuhr ihr beruhigend durch ihr offenes Haar und flüsterte ihr leise Worte ins Ohr.
Sie wusste nicht, wie lange sie da so saßen, während aus dem Nebenraum Stimmengewirr und Gerumpel klang. Für sie fühlte es sich an wie eine Ewigkeit, um wieviel mehr und schmerzhafter musste es sich für Maja anfühlen?
Alexa spürte, wie den wie starr wirkenden Körper in ihren Armen ein neuerliches Beben durchfuhr, mit einem lauten, unartikulierten Aufweinen verbunden. "Wein' dich ruhig aus", flüsterte sie auf Maja ein. "Ich bin für dich da."
Aus der Nachbarwohnung erklang leise Musik. Eine Ballade, so wie Alexa es einordnen konnte. Ihre Gedanken wanderten zurück in die Zeit, als er noch da war. Marco und Maja, Alex und Basti, das war schon immer das Synonym für die große Liebe gewesen. Zwischen die Nähe der beiden Paare passte kein Blatt Papier. Sie waren wie ein vierblättriges Kleeblatt gewesen. Sie waren unbesiegbar gewesen!
Eine einzelne Träne fiel auf Majas Haar. Richtig zu weinen, wagte sie nicht, um den Schmerz ihrer Freundin nicht zu verstärken. Doch in ihrem Magen bildete sich ein Kloß ungeweinter Tränen, so groß wie ein Berg. Es erschien Alexa wie ein böses Omen, dass eines der vier Kleeblätter zerdrückt worden war - als wär' er nichts wert.
Sie umschlang die Freundin noch etwas fester, und sie fuhren mit ihrer tatenlosen Tätigkeit fort: Warten, bis der schreckliche Albtraum vorbei war!
Eine gefühlte Ewigkeit später gesellten sich zwei Beamte zu den beiden jungen Frauen und wiesen sich als Ermittler der Mordkommission aus. "Wir hätten an Sie ein paar Fragen", eröffnete ein dicklicher, älterer Herr das Gespräch.
Maja schaute die beiden Beamten mit einem tränenumflorten Blick an und überließ ihrer Freundin das Reden. Alexa berichtete vom Kennenlernen der drei Jungs, schüttelte jedoch ratlos den Kopf, als Kommissar Weishaupt, wie sich der Gesprächsführer ausgewiesen hatte, nach den Namen fragte. Sie wüsste sie nicht, antwortete sie nach bestem Wissen und Gewissen.
"Sie brachten Ihre Freundin zur Tür", fragte Kommissar Weishaupt weiter. "Wieviel Uhr war es da, und wie ging es dann weiter?"
"Es war ziemlich spät, wir waren bis zum Schluss in der Disco. So gegen vier Uhr morgens müsste es gewesen sein. Ich verabschiedete mich vor der oberen Haustür von Maja, und dann ging ich nach Hause."
Die beiden Ermittler standen wie Scharfrichter vor den beiden jungen Frauen und sahen diese abwartend an. Der eine, der jüngere, kritzelte immer wieder in ein Notizbuch, seufzte dabei oder murmelte unverständliche Worte, ließ seine Blicke rundum schweifen, beobachtete, murmelte ...
Kommissar Weishaupt war unzufrieden. Einiges ging ihm durch den Kopf: Maja Berger war die letzte, die das Opfer lebend gesehen hatte, so wie er das einschätzen konnte.
Nachdenklich richtete sich sein Blick auf die lethargisch wirkende Frau. 'Sieht so eine Täterin aus?', fragte er sich.
Rein intuitiv würde er die Frage verneinen, doch wissen konnte man nie. Ein heimlicher Blick streifte seinen Kollegen. Kommissar Mayrhöfer - sein Vorgesetzter - war noch immer im Nebenzimmer und ging den KTU-lern im Weg herum. Dabei könnte er ihn hier gerade gut brauchen.
Polizeihauptmeister Sankt betrat den Raum. "Wie geht es nun weiter? Können wir abfahren oder brauchen Sie uns beide noch? Müssen wir jemanden mitnehmen?"
Maja zuckte erschrocken zusammen.
"Nein, warten Sie noch!", wies Guido Wiegenkind - der Andere - an. "Wir machen das hier an Ort und Stelle, und dann werden wir sehen." Kommissar Murmler - wie er seinen Spitznamen von Alexa schon weggekriegt hatte - griff das erste Mal aktiv ins Verhör ein. "Frau Berger, wir brauchen auch Ihre Zeugenaussage. So geht das nicht!"
Hilflos blickte Maja ihn an. "Ich habe keinerlei Erinnerung an den gestrigen Abend. Was soll ich Ihnen sagen?"
"Wenn Sie nicht kooperieren, nehmen wir Sie mit aufs Revier. Immerhin geht es hier um einen Mord, da haben wir keine Zeit für Kinkerlitzchen." Der Ton des großen Mannes klang scharf, und mit seinem militärischen Bürstenhaarschnitt wirkte er, als würde er keinen Spaß verstehen.
"Frau Berger", griff Kommissar Weishaupt begütigend ein und warf seinem Kollegen einen vorwurfsvollen Blick zu. "Sie sind sich dem Ernst Ihrer Lage offenbar nicht ganz bewusst. Sie sind unsere Tatverdächtige Nummero eins."
Während Maja entsetzt in Tränen ausbrach, schnappte Alexa Winter nach Luft. "Na hören Sie mal, das ist doch wohl nicht Ihr Ernst. Erstens waren die beiden ein glückliches Paar. Und zweitens ..."
"Was, zweitens?", fiel ihr Kommissar Wiegenkind barsch ins Wort. "Ihre Freundin war die Letzte, die das Opfer sah. Wir haben noch keinen Todeszeitpunkt, und sie hat ganz offensichtlich nur bis zu einem gewissen Zeitpunkt ein Alibi. Der Tote wurde in ihrer Wohnung ermordet, es sind keinerlei Einbruchspuren vorhanden. Wer also sollte es Ihrer Meinung nach sonst gewesen sein?"
"Sie hätten mich ruhig ausreden lassen können", fuhr Alexa ihn an. Maja warf sich schluchzend aufs Sofa und rollte sich schützend in Embryo-Stellung zusammen.
Alexa betrachtete hilflos den gekrümmten Körper und streichelte ihr unbeholfen über den Rücken. Dann sah sie den Mann noch einmal an. "Schauen Sie: Selbst wenn etwas vorgefallen wäre, war Maja gestern viel zu blau, um auch nur annähernd zu irgendeiner Handlung fähig zu sein. Als ich sie heimbrachte, war sie so am Ende, dass sie mit Sicherheit nur noch ins Bett fiel und schlief. Außerdem ..."
Vorsichtig spähte sie auf Maja herunter. Diese zuckte zusammen. Das blieb beiden Kommissaren nicht verborgen. Kommissar Weishaupt hakte behutsam nach: "Außerdem?"
"Maja, komm zu dir!" Alexa rüttelte ihre Freundin und sprach in resolutem Ton auf sie ein. "Erzähl' ihnen vom Samstag."
Ihre Freundin gehorchte und setzte sich auf. Maja wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und antwortete: "Ich war das nicht. Aber wir werden seit ein paar Tagen bedroht."
"Wie das?" Bertram Weishaupt richtete seine Aufmerksamkeit auf die junge Frau. Beim Anblick des bleichen Gesichts zog sich sein Herz mitleidig zusammen.
Im Gegensatz zu seinem Kollegen war er von ihrer Unschuld überzeugt. 'Sie hat ein Gesicht wie ein Engel', dachte er sich. 'Wie ein Engel mit gebrochenen Flügeln.'
"Marco und ich ...", flüsterte sie. Ihre Seele schrie bei der Erwähnung seines Namens. Als sie den strengen Blick von Kommissar Wiegenkind sah, schluckte Maja trocken und fuhr fort: "Wir waren Zeugen bei einem Unfall. Der Fahrer hatte uns erst mit dem Wagen verfolgt, und ..." Bei der Erinnerung an die Unfallnacht versagte ihr die Stimme.
"Was, und?" Kommissar Weishaupt setzte sich an Majas Seite und legte beruhigend eine Hand auf ihren Arm. "Was macht Ihnen Angst? Es steht viel für Sie auf dem Spiel. Wir brauchen die Wahrheit."
"Ich sage die Wahrheit", wisperte Maja mit brechender Stimme und blickte dem älteren Mann in die Augen. "Der Mann hat uns beiden gedroht, dass er uns umbringt, wenn wir ihn verraten. Fragen Sie Ihre Kollegen, wie und wo sie mich fanden."
Polizeihauptmeister Sankt stand abwartend im Türrahmen und verfolgte gespannt das Gespräch. Als Maja auf die Nacht des siebten Dezembers zu sprechen kam, schaltete er sich ein und bestätigte: "Wir hatten sie an einen jungen Journalisten gefesselt auf einem Feldweg gefunden." Vorwurfsvoll wandte er sich an die junge Frau: "Warum haben Sie uns an dem Tag nicht gleich die Wahrheit gesagt?"
"Ich kenne den Mann ja nicht einmal und hatte ihn im Dunkeln auch nicht gesehen", verteidigte sie sich vehement. "Ich weiß nur, dass ich auf einmal ohnmächtig war. Als ich aufwachte, lag dieser andere Mann neben mir."
Abwehrend strich sie die Hand von Kommissar Weishaupt von ihrem Arm, erhob sich vom Sofa und durchquerte mit aufgewühlter Miene den Raum.
Abwesend blieb sie vor einem Sideboard stehen und nahm ein Foto von Marco und sich in die Hand. Selbstvergessen streichelten ihre Finger das zarte Abbild ihres vergangenen Glücks. "Ich habe Marco geliebt", flüsterte sie. "Warum hätte ich ihn umbringen sollen?"
Die Tragweite des Geschehens wurde Maja mehr und mehr bewusst und brach wie eine Naturgewalt über sie ein. Ihr ganzes Leben war ein Desaster: Die Eltern verloren, und nun war ihr noch das Einzige, was an Liebe geblieben war, genommen worden. Und sie stand unter Mordverdacht.
Als hätte Kommissar Wiegenkind ihre Gedanken gelesen, platzte er in ihre Trauerwelt. "Wir nehmen sie mit aufs Präsidium." Er wandte sich mit diesen Worten an seinen Kollegen. "So viel Unklarheiten, wie es da gibt ..."
Alexa Winter fuhr wie ein Springteufel von der Couch auf und trat vor ihn hin. Wütend funkelten ihre grünen Augen ihn an. "Sie können uns nicht dazu zwingen. Wir sind nur Zeugen, und ich lasse nicht zu, dass Sie so mit meiner Freundin umspringen."
Ihre Stimme kippte, und sie unterdrückte die Tränen, die in ihr hochsteigen wollten. Sie war voller Zorn über diese Ungerechtigkeit. Solidarisch zu ihrer Freundin fühlte sie sich wie auf einem Schafott. „Geben Sie ihr Zeit, nur bis Montag", forderte sie selbstbewusst und stellte sich schützend vor Maja.
"Ganz wie Sie wünschen." Kommissar Weishaupt schaltete sich ins Gespräch ein und sah seinen Kollegen strafend an. "Sie haben ganz Recht. Wir können Sie nicht dazu zwingen. Kommissar Wiegenkind schießt gern mal ein bisschen übers Ziel hinaus. Er ist noch jung und ehrgeizig." Um Verzeihung heischend grinste der Ältere in dessen Richtung.
"Na hören Sie mal ...", murmelte Guido Wiegenkind empört und sah ihn böse an.
Bertram Weishaupt winkte nur ab. "Keine Zeit für persönliche Befindlichkeiten, Kollege." Er trat auf die beiden jungen Frauen zu und legte begütigend eine Hand auf Majas Schulter. „Aber hier in der Wohnung können Sie nicht bleiben, Frau Berger. Haben Sie jemanden, bei dem Sie unterkommen können? Wir müssen den Tatort versiegeln."
Im Wesentlichen hatte Maja das Geschehen so sehr in Anspruch genommen, dass sie sich die meiste Zeit wie unter einer Glasglocke gefangen fühlte. Alles war so weit weg, der Raum bestand nur noch aus Alexa und ihr. Das Ticken einer alten Standuhr kam ihr überlaut vor.
Ihre Freundin antwortete für sie auf Kommissar Weishaupts Frage: "Frau Berger wird bei meinem Freund und mir unterkommen."
Mit einem stummen Blick verständigten sich die beiden Beamten untereinander. Kommissar Wiegenkind kritzelte wieder etwas in sein Notizbuch und legte es dann beiseite.
Schließlich forderte er die beiden Frauen auf, die Wohnung zu verlassen. Maja schüttelte jedoch wild mit dem Kopf. "Ich bleibe hier, bis er nicht mehr da ist."
Und wenn es ihr Herz in tausend Stücke zerrisse: Sie bliebe! Diesen letzten Liebesbeweis war sie ihm schuldig!
Später nahm Maja Bergers Albtraum Konturen an. Als Marco abgeholt wurde, läutete eine Kirchenglocke ganz in der Nähe der Viktor-Huss-Straße die zweite Stunde des Samstagnachmittags ein. Der Wohnblock spuckte eine vermummte Gestalt nach der Anderen aus.
Im Hof bildeten die fünf Männer der KTU einen Ring und integrierten sich fast nahtlos in die weiße Reifwelt des Winters. Stumm und wie gebannt starrten sie auf die Tür, während die drei Beamten der Mordkommission das Haus verließen und sich zu ihnen gesellten.
Einige Passanten begaben sich auf die andere Straßenseite und beobachteten neugierig das Geschehen. Dumpf gemurmeltes Stimmengewirr erhob sich, als zwei dezent gekleidete Männer mit einer Bahre den Vorhof des Hauses in der Victor-Huss-Straße betraten.
Eine männliche Gestalt mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze löste sich aus einem Baumschatten heraus und ging davon, ohne dass es irgendjemand bemerkte.
Zwei einsame Frauengestalten standen am Wohnzimmerfenster und blickten verloren hinaus. Die kleine Welt um sie herum deuchte Alexa Winter und Maja Berger wie ein riesiges Leichentuch. Die Menschen darin sahen sie nicht bewusst, sie wirkten fast wie ein Stilbruch. Die Glasglocke, in der sich die beiden befanden, war noch enger geworden.
Die beiden Bestatter drängten sich mit halblauten Entschuldigungen und Bitten durch die Menschenmenge. Wie Kegelmännchen, die kurz vor dem Umfallen waren, wich die Gruppe der KTU vor ihnen zurück und zerstreute sich mit betretenen Blicken auf mehrere Seiten. Wolfgang Mayrhöfer stand am Eingang und wies ihnen den Weg.
Am Tag nach seinem Tod verließ Marco Meier in Begleitung das Haus. Viele Augenpaare folgten ihm auf der letzten Etappe in seinem Leben. Maja klammerte sich verzweifelt an ihrer Freundin fest. Auch Alexa hielt es nicht mehr, und gemeinsam weinten die beiden Frauen um ein verlorenes, junges Leben.
Nach ewig lang scheinender Zeit war ihre Quelle der Tränen versiegt. Leer und ausgebrannt starrten sie noch immer hinaus. Die Kutsche des Todes war jedoch schon lange um die Ecke verschwunden. Erst ein Räuspern riss sie brutal aus ihrer Glasglocke heraus. "Frau Winter, Frau Berger, Sie müssen die Wohnung verlassen", bat sie Kommissar Weishaupt.
Fünf Minuten später befanden sie sich gemeinsam auf dem Weg zu Alexas Wohnung, die sie gemeinsam mit ihrem Freund Sebastian Tränkle bewohnte. "Basti weiß schon Bescheid", sagte sie zu Maja, die nickte.
Ein düsterer Schatten befand sich auf ihren Spuren. Sie sahen ihn nicht. So wurden beide eiskalt erwischt, als ein Mann, den sie nicht kannten, kurz vor Alexas Haustür auf Maja zutrat und ihr halblaut drohte: "Halt bloß die Klappe, Mädchen, sonst bist du Mus." Dann zog er die Kapuze seines Parkas noch etwas tiefer in sein Gesicht, wandte sich ab und ging zügig davon.
Maja wurde bleich wie ein Laken, krampfte beide Hände um Alexas Arm und zitterte unkontrolliert.
"Wer war das?", fragte Alexa erschrocken.
„Ich … ich weiß nicht ...", Maja verstummte und spürte, wie ihre Knie absackten. „Hat er Marco umgebracht?“, hauchte sie noch und klappte in Alexas Armen zusammen.
***
Am Abend des 14. Dezembers saß Kommissar Mittnacht in seinem Büro. Normalerweise hätte er dienstfrei gehabt, doch Oberstaatsanwalt Schuster hatte ihn ins Präsidium bestellt. Marco Meier war tot!
Vor zwei Stunden war das Meeting beendet gewesen. Einmal mehr waren er und sein Team zur Zusammenarbeit mit den drei Ravensburger Kollegen angemahnt worden.
Es ging ihm gegen den Strich!
Solange seine Familie noch vollständig war, hatte er große Pläne gehabt. Für die Kreisstadt wäre längst schon ein eigenes Mordkommissariat fällig, und er wäre gern derjenige gewesen, der dafür verantwortlich war. Doch dann war der Unfall passiert, seine Frau und seine Tochter kamen ums Leben. Damals hätte er Tom fast auch noch verloren, und nun war sein Sohn alles, was ihm noch blieb.
Gedankenverloren richtete Frank seinen Blick in Richtung Fenster. Es war bereits dunkel, und seine Kollegen waren bereits bei ihren Familien zu Hause. Er war geblieben, in der Sicherheit seines Büros. Noch war er nicht fähig, seinem Sohn gegenüberzutreten.
Frank hatte die Nacht in einer Waldhütte verbracht. Wie er dorthin gekommen war, wusste er nicht, doch er erinnerte sich sehr wohl daran, in welchem Zustand er sich befunden hatte. Und er war nicht allein gewesen.
Irgendjemand hatte ihn gefesselt in eine Ecke geworfen und dort bewusstlos liegengelassen. Alles, was er wusste: Es war ein Mann. Gesehen hatte er ihn, als dieser ihn das erste Mal weckte.
Es war ein unsanftes Erwachen gewesen. Ein brennender Schmerz im gesamten Gesicht ließ ihn aus dem Loch der Ohnmacht auftauchen und nach Luft schnappen, als wäre er kurz vor dem Ertrinken gewesen.
Ein lautes Poltern über ihm schreckte ihn auf. Verwirrt richteten sich seine Augen zur Decke. Er griff sich mit schmerzerfüllter Miene an den Kopf und richtete seinen starren Blick wieder in Richtung Fenster. Seiner alten Gewohnheit folgend, begann er, sich in seinem Drehsessel zu wiegen. Verzweifelt versuchte er, sich zu erinnern, doch es waren nur blasse Erinnerungsfetzen, die sich ihm zeigten. Alles, was zwischen dem Treffen mit Marco Meier und dem ersten Aufwachen in seinem Gefängnis geschehen war, bildete ein schwarzes Loch in seinem Gehirn.
Frank hob seine Hände vor seine Augen und betrachtete diese minutenlang. War er zum Mörder geworden?
"Du hast mir gute Dienste geleistet", hatte sein Peiniger genuschelt, als er einigermaßen bei Sinnen gewesen war. "Und du wirst noch mehr für mich tun. Solche Memmen wie du sind perfekte Opfer ... und Täter."
Daraufhin hatte er schallend gelacht. Dessen brüllendes Gelächter hallte noch jetzt in seinen Ohren.
Doch irgendwie hatte er sich selbst in diesem Mann wiedererkannt. Und das machte Frank am meisten Angst!
In gleichmäßigem Rhythmus drehte er seinen Ledersessel von links nach rechts, vor und zurück und im Kreis. Die Geräusche im Haus wichen zurück. Während draußen die Schneeflocken fielen, befand er sich wieder vor Ort.
"Was willst du von mir?", hatte Frank ihn stöhnend gefragt.
"Das wird sich weisen", war dessen Antwort gewesen. Daraufhin hatte der Unbekannte ihm eine Zigarette angeboten. Voll Schrecken hatte Frank sich geweigert, sie anzunehmen. Er wusste sehr wohl, was ihm blühte, wenn er ...
Plötzlich hatte er einen schraubstockartigen Würgegriff an seiner Kehle gespürt. "Du hast die Wahl", zischte die Stimme. "Entweder du nimmst sie, oder du stirbst."
Frank hatte es bevorzugt, weiterzuleben. Bevor er wieder in seinen Albtraumwelten versunken war, hörte er noch, wie der Andere sagte: "Morgen früh lass ich dich laufen."
Ein mehrmaliges Klinken an der Tür zog ihn wieder zurück in die Gegenwart. Sein unermüdliches Lederkarussell stockte, und sein Atem gleich mit. Starr verharrte er in seiner Position, mit dem Antlitz zur Tür gewandt. Er hatte sie hinter sich abgeschlossen, und er hoffte, dass sich der Störer wieder verzog. Als klackende Schritte im Flur verhallten, setzte er die Rundfahrt in seine eigene Hölle fort. Von links nach rechts, vor und zurück und im Kreis herum ...
Sein zweites Erwachen in seinem seltsamen Gefängnis war ohne fremdes Zutun gewesen. Er hatte die Augen geöffnet und ringsum Holzbohlen an den Wänden gesehen. Dies ließ ihn vermuten, dass er sich in einer Blockhütte befunden hatte, doch sicher war er sich nicht.
Auf einem Tisch hatte eine Öllampe geflackert, und er war allein, noch immer gefesselt. Mit einem elastischen Klebeband, um Hände und Fußknöchel gewickelt. Er erinnerte sich an die Spannung auf seiner Haut ... und irrerweise hatte er dieselbe Spannung an anderer Stelle gespürt.
So, als hätte er Viagra verabreicht bekommen. Und wären seine Hände nicht gefesselt gewesen ...
Plötzlich befand er sich an einem anderen Ort. Er stand am Fuß eines goldenen Sockels, und er war nackt.
Auf dem Sockel ein Paar ... stehend und spähend in eine Ferne, die sie nicht mit ihm teilten. Sie standen wie Adam und Eva mit dem Rücken zu ihm, beide ebenso schön, als wären sie dem Schoß der jungfräulichen Erde entstiegen.
Die langen Haare des Jungen wehten im Wind, während die des Mädchens ihren nackten Körper wie ein goldener Mantel umhüllten. Am Horizont erwachte eine rotgoldene Sonne, begleitet von wehmütigem Panflötengesang. Der Boden um den Sockel herum war über und über mit roten Rosenblüten bedeckt. Wohlig räkelte Frank seine Zehen.
Ein lautes, doch nicht unangenehmes Rauschen über seinem Kopf ließ ihn nach oben schauen. Er erblickte eine himmellose Welt voller Farben, und eine große weiße Feder schwebte herab. Über den Köpfen des Paars segelte majestätisch ein riesiger Schwan und zog hinaus in die Ferne.
Der Junge fing die Feder auf und wandte sich seiner Partnerin zu. Langsam und genüsslich fuhr er ihr damit über den nackten Körper. Sie sank wehrlos zu Boden und richtete den Blick auf den Mann, der unter ihr stand. "Komm ... komm, spiel mit uns", flüsterte das Mädchen Frank lockend zu. Auch die strahlend blauen Augen des Jungen sahen ihn einladend an, und unablässig tanzte und streichelte die Schwanenfeder über die alabasterfarbene Haut des blonden Engels.
Genüsslich sah er eine Weile lang zu, sog den Anblick in sich auf, wie sie sich unter den kitzelnden Berührungen wand. Ihre Augen begannen, sich zu verschleiern. Wieder flüsterte sie: "Komm ..."
Frank wollte gehorchen! Er begann, den goldenen Sockel zu erklimmen, doch dieser wurde zum Berg. Ein Sturm kam auf, die zartbunte Welt verdüsterte sich. Der Schwan kehrte zurück, doch plötzlich war er nicht mehr weiß, sondern schwarz. Der große Vogel stürzte sich in Franks Richtung.
Der Blick ... sein Blick ... er schien ihn in sich aufsaugen zu wollen ... Und plötzlich sah sich Frank in diesen kalt glitzernden Vogelaugen ertrinken.
Eine Toilettenspülung rauschte irgendwo im Haus über ihm. Er schreckte auf. Verwirrt blickte er vor sich auf den Schreibtisch. Ein Blatt Papier lag vor ihm. Frank zog es zu sich, um die Worte zu lesen.
"Alexa Winter und Maja Berger ...", der Füller zitterte in seiner Hand. "Ich wusste nicht, dass sie sich kennen."
Schließlich klingelte das Telefon und brachte ihn endgültig und unwiderruflich zurück. Verstört fuhr Frank durch sein volles Haar.
Zögernd griff er zum Hörer, ließ seine Hand jedoch noch einige Sekunden schweben. Er war noch nicht bereit. Zuviele Fragen tobten wie ein Sturm in seinem Innersten, die er erst für sich selbst beantwortet haben wollte.
Kommissar Mittnacht dachte an Tom: Was würde er unternommen haben, als er entdeckt hatte, dass sein Vater nicht zu Hause gewesen war? Und überhaupt: Wie hatte sein Sohn den gestrigen Abend verbracht?
Das unaufhörliche und durchdringende Schrillen gemahnte ihn, zu reagieren. Es bohrte sich in seine Gedanken, unwiderstehlich und rufend, wurde lauter und lauter.
Im selben Moment, als ein Knacken ankündigte, dass der Anrufbeantworter im Begriff war, den Anruf entgegenzunehmen, fuhr seine Hand wie ein scharfes Fallbeil nach unten, und er riss den Hörer entnervt von der Gabel. "Ja?, bellte er mit sich überschlagender Stimme in die Sprachmuschel, um sich gleich anschließend trocken zu räuspern.
"Kommissar Mittnacht?", drang ihm eine verunsicherte Frauenstimme entgegen.
Automatisch richtete er sich in seinem Stuhl auf und setzte sich anständig hin. "Ja bitte?", antwortete Frank bemüht höflich. Kurz darauf war er froh, dass er saß, denn er bekam weiche Knie. "Hier spricht Alexa Winter, und ich muss mit Ihnen reden." Ausgerechnet sie ...
Plötzlich standen ihm die Bilder seines Tagtraums wieder vor Augen, und er musste sich beherrschen, um nicht anzufangen, zu stottern. "Ich bin nicht im Dienst", entgegnete er und versuchte, Souveränität in seine Stimme zu legen. "Woher haben Sie meine Durchwahl?"
"Sie haben meiner Freundin Maja Berger Ihre Visitenkarte gegeben, erinnern Sie sich? Ich habe sie von ihr."
Die glockenhelle, junge Stimme trieb ihm das Blut in die Lenden. Seine Hand fuhr zu seinem Hemdkragen, um ihn zu lockern. Dann räusperte er sich erneut und fragte: "Und weshalb rufen Sie an? Was ist so dringend?"
"Haben Sie Zeit, sich mit mir zu treffen? Es geht um Marco, und es ist etwas passiert. Ich möchte aber nicht am Telefon mit Ihnen reden, weil Maja nichts davon weiß, was ich Ihnen zu sagen habe. Sie soll es nicht wissen."
"Frau Winter, eigentlich habe ich einen Sohn, der mich erwartet. Können Sie es mir nicht jetzt am Telefon sagen?" Alles in ihm drängte danach, ihrer Bitte nachzugeben, doch Frank hatte Angst.
Angst davor, ihrer Anziehungskraft zu erliegen und etwas zu tun, was er bereuen würde. Sie war noch so jung ...
Alexas Stimme wurde flehend. "Maja wurde heute von einem Unbekannten bedroht." Im Hintergrund hörte Frank das Rufen einer Frauenstimme. Seine Telefonpartnerin fuhr hastig fort: "Ich muss aufhören, ich bin gerade bei meiner Nachbarin. Basti und Maja wissen nicht, dass ich Sie angerufen habe. Treffen wir uns in zwei Stunden in der Alten Linde? Dort haben wir es ruhiger als in der Coconut-Bar."
"Also gut, Frau Winter. Ich warte auf Sie an der Theke, die rechte Seite. Sie erkennen mich an einer Zeitung, die ich in der Hand halten werde." Das erste Blind Date seines Lebens ...
Zumindest dachte er so, war dann aber sehr überrascht, als er ihre amüsierte Antwort vernahm: "Ich weiß, wie Sie aussehen." Er stellte sich vor, wie sie ihre blonde Mähne nach hinten warf und keck dabei lachte.
"Na dann ...", brummte er etwas verlegen und fühlte sich fast wie ein verliebter Primaner. Die Zeit, in der er sich auf die Spuren von Alexa Winter und Sebastian Tränkle gesetzt und dabei reichlich intime Situationen erlebt hatte, stand ihm deutlich vor Augen und machte ihm gewaltig zu schaffen. Er würde gern einmal den Mumm haben und so frei leben wollen, wie sie es taten. Oder ...
Er wäre gern an Sebastians Stelle, doch sich dies einzugestehen, fiel ihm unendlich schwer. Frank riss sich zusammen. "Wiederhören, Frau Winter", beendete er abrupt das Gespräch und ließ den Hörer fallen wie glühende Kohle. Dann hatte er es plötzlich sehr eilig. Vor sich hin summend erhob er sich, holte seinen langen, schwarzen Ledermantel vom Haken und warf ihn sich über.
Mit enthusiastischem Schwung stülpte er sich einen breitrandigen Hut auf sein Haupt und zog ihn fast schon verwegen halb ins Gesicht. Ihm war nach Abenteuer zumute, doch erst musste er nach Hause zu Tom. Sein Sohn würde sich bestimmt sorgen.
Glücklich schloss er die Tür auf und verließ pfeifend den Raum - hoffend, dass niemand ihn aufhalten würde ...
***
Am anderen Ende der Leitung legte Alexa Winter den Hörer ebenfalls auf und wandte sich an Melissa Hindenbusch, ihre Nachbarin, bei der sie sich hin und wieder aufhielt. Sie halfen sich manchmal gegenseitig aus, wenn Not am Mann war - so wie heute. "Sag ihm, dass ich gleich komme", antwortete sie auf die Ankündigung der 35-jährigen Frau, dass Basti vor der Tür stehen würde. "Darf ich noch einmal? Ich muss meine Mutter anrufen."
"Soll ich ihn reinlassen?", fragte Melissa und hatte die Hand schon an der Klinke, um den kleinen Raum, in dem ihr Telefon stand, zu verlassen. Sie hatte sich hier häuslich mit ihrem PC niedergelassen, weil ihr Mann darauf bestanden hatte, ihn damit zu verschonen. Abwartend sah sie Alexa an. Sie taten ihr leid, die junge Nachbarin und deren Freundin. Auch an ihr war der Tag nicht spurlos vorüber gegangen, wenn sie auch die Hintergründe nicht genau kannte. Nur, dass einer von Alexas Freunden verstorben war.
"Nein, warte, Melissa. Schick ihn fort, Maja sollte nicht so lange allein sein." Die junge Frau sah die mütterlich besorgt wirkende Nachbarin an.
Alles an ihr war mollig und warm, deren Ausstrahlung, der Charakter - die ganze Frau. Alexa mochte Frau Hindenbusch sehr und war froh, hin und wieder bei ihr Zuflucht zu finden, wenn Basti beim Arbeiten war. Das war zwar nicht oft, aber wenn, dann meistens abends bis tief in die Nacht. Sebastian Tränkle war freiberuflicher DJ und tingelte auf Abruf durch die Discotheken im Umkreis.
"Wie du willst", antwortete Melissa und verließ den Raum. Alexa hörte Basti und sie an der Eingangstür murmeln und schloss leise die Tür. Sie wartete noch einen Moment, bis sie seine Schritte im Treppenhaus hörte, und wählte dann die Nummer ihrer Eltern.
"Mama?" Sie unterdrückte ein Schluchzen, als sie die Stimme ihrer Mutter vernahm. "Mama, du musst mir helfen. Marco ist umgebracht worden." Ein entsetzter Aufschrei antwortete ihr. "Nein, Mama, hör mir erst zu, bitte!" Alexa lauschte erneut und hörte sie weinen. "Bitte, Mama, hör auf, ich brauche dich und deinen klaren Kopf. ... Ja, Mama, Maja ist jetzt bei uns. Aber ich muss ...", sie stöhnte auf. "Ich rufe heimlich an, Mama. Ich bin bei Melissa. ... Was? ... Nein, Maja darf das nicht hören. Sie ist am Ende."
Ein leises Schnüffeln am anderen Ende zeigte Alexa an, dass ihre Mutter allmählich ihre Fassung zurückgewann. Es musste klappen! Sie brauchte ein Alibi, um verschwinden zu können, ohne Basti und Maja von ihrem Treffen mit Frank Mittnacht wissen zu lassen.
Maja würde durchdrehen, da war sie sich sicher. Sie konnte sich zwar nicht erklären, weshalb sich ihre Freundin vor dem Mann fürchtete, obwohl er ihr auch unheimlich gewesen war, als sie noch nicht wusste ...
Die Frage ihrer Mutter unterbrach ihre Gedanken. "Was kann ich tun?"
"Mama, hör zu, ich muss unbedingt von zu Hause fort, um mich mit Kommissar Mittnacht zu treffen. ... Ja, das ist der Polizist, der den Fall hat."
Sie war sich zwar nicht sicher, ob das überhaupt stimmte, doch etwas - oder jemand - Anderes fiel ihr gerade nicht ein. "Das geht nicht, Mama", erklärte sie auf den Einwurf ihrer Mutter, ob das nicht Zeit hätte bis Montag. "Maja wurde außerdem von einem Fremden bedroht, und er sollte das wissen. Bitte hör mir einfach kurz zu, und mach dir keine Sorgen um mich. Ich weiß schon, was ich tue." Alexa versuchte, den aufsteigenden Ärger in ihr zu unterdrücken und wickelte nervös die Telefonschnur um ihren kleinen Finger.
Als sie endlich wieder zu Wort kam, gab sie endgültig Gas und bat ihre Mutter darum, bis in einer Viertelstunde bei ihr anzurufen und sie unter einem Vorwand aus der Wohnung zu locken. "Ich lasse extra Basti ans Telefon. Lass dir was einfallen, was wichtig genug sein könnte, damit ich verschwinden kann."
Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie nicht mehr viel Zeit haben würde und hoffte, dass sie wenigstens Bastis Auto bekäme. Oder dass er nicht auf die Idee kommen würde, sie begleiten zu wollen. Aber das wüsste sie dann schon zu verhindern.
Wohl war Alexa nicht so ganz dabei, hinter seinem Rücken zu handeln, doch sie würde es ihm bei ihrer Rückkehr nach Hause erzählen. Er würde das ganz bestimmt verstehen, dass sie dies heimlich getan hatte, um ihre Freundin vor weiterem Kummer zu schützen.
Abschließend machte sie dies auch ihrer Mutter begreiflich, die sich daraufhin einverstanden erklärte. "Ich kann dir sowieso nichts abschlagen, Kleines", hörte sie deren Antwort und badete sich in der Wärme der mütterlichen Stimme. "Aber du wirst bestimmt verstehen, dass ich niemanden umbringen werde, damit du ein Alibi hast."
Die Doppelsinnigkeit der gedankenlosen Bemerkung wurde beiden gleichzeitig bewusst, und es entstand eine kleine Peinlichkeitspause.
"Nein, Mama, das brauchst du auch nicht", antwortete Alexa nach ein paar Schweigesekunden und schluckte beklommen. "Aber vielleicht ... wenigstens ins Krankenhaus schicken. Und wenn es nur Wolfram, der Familienhund ist."
***
Um halb acht Uhr abends saß Frank Mittnacht bereits an der Bar in der Wirtschaft, die zur Historie von Großdummsdorf gehörte und in einem der letzten denkmalgeschützten Fachwerkhäuser am Marktplatz untergebracht war. Der Baum, welcher als Namensgeber herhalten hatte dürfen, stand direkt gegenüber und war ein beliebter Kuschelplatz für verliebte Pärchen bei Nacht.
Ein malerisch kitschiger Amor in Putten-Manier zielte von der Giebelfassade herab direkt auf die alte Linde, und der Legende nach soll schon mancher Pfeil von ihm verschossen worden und erfolgreich gelandet sein. Zahlreiche Herzen waren in den Stamm geritzt und zeugten von deren Wahrheitsgehalt. Momentan durchlebte Großdummsdorf jedoch eher eine tragische Zeit.
Das Interieur der Wirtschaft war nostalgisch-gemütlich und hatte einer jungen Frau, wie Alexa Winter es war, eher wenig Reizvolles zu bieten. In der Mitte des großen Raums mit kleineren Zweier-Tisch-Nischen stand ein kreisrunder, großer Stammtisch aus naturbelassenem Holz und einer Bimmel, die von der Decke herab hing.
Wer zu den Stammtisch-Gästen stieß und sich an den Tisch setzen wollte, ohne zu deren Begrüßung zu bimmeln, wurde traditionell zur nächsten Saufrunde verdonnert. Normalerweise saß Kommissar Mittnacht mit zwei seiner Kollegen auch eher dort drüben.
Am Samstag, dem 14. Dezember 2013 des abends blieb der Tisch jedoch leer. Wie verabredet hatte Frank sich an den rechten Schenkel der Theke gesetzt und sah ungeduldig zur Tür. Seine Beine hatte er locker in den Streben seines Barhockers verschränkt, während er sein Gesicht hinter einer Zeitung versteckte.
Bezeichnenderweise hatte er sein Ärgernis der letzten Tage als Schlagzeile, die er mittlerweile auswendig kannte, vor Augen. Dennoch war ihm das Schundblatt als Schutzschild willkommen, und er würde das Schwein schon noch kriegen. Mittlerweile hatte er ohnehin den Verdacht, dass dieser ganz von selbst zu ihm käme.
"Willst du ein Bier, Frank?", hörte er hinter sich die Frage von Rosi und schüttelte nur abwehrend den Kopf. Die Frau im mittleren Alter war kugelrund mit rosigen Bäckchen, und man sah ihr an, dass sie gern lachte. Sie und ihr Mann führten schon seit dreißig Jahren das Lokal, und die ältere Generation kehrte gern bei ihnen ein.
Wo sie mit ihrer Fülle und ihrem Lachen für Aufmerksamkeit sorgte, war Wunibald so knorrig wie ein Wurzelmännchen. Meistens hielt er sich an einem der vier Bierzapfhähne fest und bemühte sich, ausgetrocknete Kehlen befeuchtet zu halten.
Die Wirtin der Alten Linde kannte Frank Mittnacht nicht anders und wechselte einen angelegentlichen Blick mit ihrem Mann. Dessen braungebranntes, zerfurchtes Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. Er zuckte lapidar mit den Schultern.
Die Eingangstür öffnete sich mit einem melodischen Klingeln. Ein leises Raunen ging durch die paar anwesenden Gäste, als ein Windstoß Schneeflocken hereintrieb. Inmitten der wirbelnden Wolke betrat ein blonder Engel den Raum. Ihre Lockenmähne wallte unter einer blauen Strickmütze hervor, und ihre Wangen waren von der Winterkälte gerötet.
Frank linste über den Zeitungsrand und beobachtete, wie Alexa Winter zielstrebig auf ihn zusteuerte. "Da bin ich", raunte sie leise und blieb vor ihm stehen.
Heimlich wanderte sein genüsslicher Blick über ihren wohlgeformten Körper und blieb sekundenlang auf ihren überkniehohen Schaftstiefeln haften, bevor er die Zeitung weg legte, um ihren Gruß zu erwidern. Sie wirkte genauso keck und koboldhaft, wie er sie in Erinnerung hatte."Kommen Sie", forderte er sie ohne Umschweife auf, erhob sich und nahm die junge Frau bei der Hand. "Jetzt kannst du mir ein Bier bringen, Rosi", warf er der Wirtin über die Schulter zu und sah Alexa fragend an: "Und Sie?"
"Sex on the Beach", lachte sie frech. "Und am Liebsten mit einem Caipirinha. Aber ich fürchte, beides ist hier nicht möglich. Wenn Sie also haben, einen Baccardi."
Sie ließ sich von Frank mitziehen, die Stimme der Wirtin im Ohr: "Mit oder ohne?"
"Mit Eis, doch ohne O-Saft", antwortete sie. "Halbe Sachen liegen mir nicht."
Kurz darauf saß sie ihrem Retter vom Nikolaus-Tag direkt gegenüber. Frank hatte sie in eine Zweier-Tisch-Nische gelotst und ihr ritterlich den Stuhl zurecht gerückt.
Alexa versuchte, ernsthaft zu sein, was ihr in seinem Beisein relativ schwer fiel. Er hatte so etwas Seltsames an sich, teils unbeholfen und schüchtern, und dennoch dominant. Keinesfalls jedoch fand sie ihn zum Fürchten und fragte sich automatisch, was Maja mit ihm verband.
Frank hatte sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt und die Arme vor der Brust ineinander verschränkt. Minutenlang sah er sie an, abwartend und fragend, und auch besorgt darüber, ob ihm gefiele, was er zu hören bekäme. Er fürchtete 'Nein', und je länger das Schweigen von ihrer Seite aus dauerte, umso mehr klammerte sich dich Angst an ihm fest.
Alexa musterte ihn abschätzend und versuchte, sich ein genaueres Bild von ihm zu machen. Ihre Wege hatten sich in der Vergangenheit ein paar Mal gekreuzt, jedoch hatte sie ihn nie bewusst wahrgenommen.
Hätte Maja ihr nicht gesagt, wer er sei: Von selbst hätte sie dies niemals vermutet. Für sie war er einfach ein Mann, der ihr und Basti geholfen hatte, und wenn sie sich gegenüber ehrlich sein wollte: Bisher hatten sie ihn eher belächelt, ohne jemals ein Wort mit ihm gewechselt zu haben.
Die Wirtin trat an den Tisch und brachte ihre Getränke. Mit einem freundlichen Lächeln zündete Rosi zwei Kerzen an dem Adventsgesteck in der Tischmitte an, zwitscherte ihnen ein paar höfliche Floskeln entgegen und ließ die beiden wieder allein. Die kleinen Flammen glühten warm im Halbdunkel des Raums und warfen geheimnisvolle Schatten auf Kommisssar Mittnachts Gesicht. Überrascht entdeckte Alexa, dass er nicht unattraktiv war und fragte sich automatisch, wie alt er sein konnte.
Schließlich ergriff er das Wort und machte es ihr somit etwas einfacher, den Anfang zu finden. "Eines interessiert mich noch immer, Frau Winter", fragte er sie. "Woher kennen Sie mich?" Seine leicht heisere Stimme ging ihr durch Mark und Bein und erinnerte sie an Joe Cocker.
"Als ob Sie das nicht wüssten", schnaubte Alexa mit leichtem Spott in der Stimme. "Vielleicht sollte ich Sie ja dasselbe fragen. Oder besser: Was wollten Sie von Basti und mir?"
Frank schoss das Blut in den Kopf. Er wusste sofort, von was sie sprach, doch er tat unschuldig: "Ich weiß nicht, was Sie meinen."
"Ach kommen Sie, Herr Kommissar. Wie oft habe ich Sie irgendwo herumlungern sehen, und seltsamerweise waren Sie auffällig oft dort, wo wir uns mit unseren Freunden trafen. Und dann letzte Woche, da hatten Sie ein paar Jungs ganz schön in die Bredouille gebracht."
"Es ist mein Beruf", lächelte er. "Ich bin Polizist."
"Ach ja?" Energisch blitzten ihre Katzenaugen ihn an. "Und zücken Sie immer gleich Ihre Dienstwaffe, wenn Ihnen eine Nase nicht passt? Zumindest hatte das Basti behauptet."
"Ach, das!" Angelegentlich betrachtete er seine Armbanduhr. "Sie war nicht geladen, und wenn ich nicht dazwischen gegangen wäre, dann wäre es böse ausgegangen."
"Und die anderen Male? War das vielleicht Zufall?" Alexa versuchte, ihn in die Enge zu treiben. Es war nicht so, dass er irgendetwas versucht hatte, doch allmählich wurde ihr mehr und mehr bewusst, dass er immer irgendwie da gewesen war, und das bereits seit mehreren Wochen. Es war nicht nur einmal gewesen, nein, nicht einmal zwei Mal, und Basti war es auch aufgefallen.
Plötzlich verstand sie Maja. Oder ... Ihr kam ein neuer Gedanke: War Basti vielleicht in Schwierigkeiten geraten, ohne dass sie davon wusste? Hatte er sie deshalb verfolgt?
"Es gibt keinen Zufall, sollte man meinen", antwortete Kommissar Mittnacht. "Aber wissen Sie: Menschen begegnen sich, gehen ein Stück weit gemeinsame Wege, und dann vergessen sie wieder, sich jemals begegnet zu sein. Ich bin öfter in Ihrer Nähe, als Ihnen bewusst ist. Dummerweise lässt sich das nicht vermeiden, weil dort, wo Sie und Ihr Freund regelmäßig sind, nun mal mein Arbeitsweg ist. Doch hätte ich niemals gedacht, dass Sie sich an mich erinnern."
Frank beugte sich ihr entgegen und brachte sein Gesicht ganz nah an ihres. "Aber nun sagen Sie mir, was so dringend war, dass Sie mich hierher bestellt haben." Ihre Blicke duellierten sich, und die Luft war plötzlich wie elektrisch geladen. Alexa spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten und konnte nicht verstehen, was da gerade geschah.
Mit klopfendem Herzen entrückte sie ihm und lehnte sich errötend zurück, doch ihr Blick ließ ihn nicht los. Verlegen spielten ihre Finger mit einer Strähne, die im Kerzenlicht wie Sonnenfeuer aufflammte. Die gedämpften Stimmen der anderen Gäste verhallten in einer anderen Zeit.
Franks Augen verklärten sich zu braunem Samt. Das erste Mal bekam sein Nirgendwo wieder Konturen und erwuchs zu seinem ganz persönlichen Irgendwo, das er mit ihr teilte.
"Maja ...", setzte sie an, sich erinnernd, weshalb sie überhaupt da war.
Er zuckte zusammen und fühlte sich wie Adam, des Paradieses verwiesen. Kommissar Mittnachts Blick verdunkelte sich zu tiefschwarzer Nacht. Es wäre zu schön gewesen ...
Er richtete seinen Körper wieder auf und fragte gefasst: "Was ist geschehen?"
"Sie wissen ja bestimmt, dass Marco Meier tot ist, oder?", fragte sie ihn.
Frank lächelte wehmütig und schüttelte den Kopf. Mit einem tiefen Seufzer gestand er: "Ja, ich habe davon gehört. Es ist der Fall meiner Kollegen der Mordkommission."
"Kannten Sie ihn?" Alexas Stimme schoss auf ihn zu.
"Nicht persönlich, Frau Winter. Aber selbstverständlich ist mir die Geschichte vertraut." Er wirkte ruhig und souverän.
"Sie waren doch bei ihm zuhause, wurde mir von Maja gesagt. Meine Freundin ist komplett von der Rolle deshalb", warf sie ihm vor. "Und nun kommt noch das obendrauf."
Frank griff sich an die Stirn und rieb über die sich bildende Schmerzfalte. Dabei verzog er sein Gesicht zu einer Grimasse und starrte auf einen Punkt an der Wand.
"Ist Ihnen nicht gut?", fragte Alexa besorgt.
"Migräne ...", murmelte er dumpf vor sich hin. "Was hatten Sie soeben gesagt?"
"Unwichtig", antwortete sie. "Was jedoch wichtig ist: Meine Freundin wurde vor meiner Haustür von einem Fremden bedroht."
Frank Mittnacht wandte sich ihr wieder zu und konzentrierte sich auf das Gespräch. "Waren Sie dabei?"
"Ja. Ich hatte sie gerade zu mir nach Hause gebracht, nachdem Marco abgeholt worden war. Der Typ war total schmuddlig und schmierig, und er trug einen alten Parka."
Er nickte verstehend. 'Aha, hatte ich es mir doch gedacht.' Selbstverständlich sagte Frank das nicht laut.
Somit war ihm auch klar, wer in der Mordnacht ihm gegenüber so gastfreundlich gewesen war und ihn verschleppt hatte. Wie dies jedoch geschehen hatte können, war ihm noch immer ein Rätsel. Er hatte einen gigantischen Filmriss.
"Sie nicken?" Alexa ging auf die Palme. "Was wissen Sie darüber? Oder waren das Sie?"
"Frau Winter!", vorwurfsvoll sah er sie an. "Sehe ich vielleicht so aus, wie Sie diesen Menschen beschrieben haben?"
"Nein, natürlich nicht, aber man kann sich ja auch verkleiden. Wer weiß, zu welchen Methoden Sie bevorzugt greifen." Ihre Stimme klang eiskalt und scharf. "Ihre Kollegen wissen bestimmt nichts davon, dass Sie bei Maja und Marco zuhause waren. Und ich frage mich, weshalb überhaupt."
"Ach, hatte Frau Berger Ihnen das gar nicht gesagt? Das ist typisch für sie." Mit angeekelter Miene nippte er an seinem Bier.
"Was soll das heißen?", Alexas Miene war ein einziges Ausrufezeichen. "Was haben Sie mit meiner Freundin am Hut? Kennen Sie diese so gut, dass Sie sich anmaßen können, sich ein Urteil zu bilden?"
"Für mich zählen nur Fakten, Frau Winter. Und Fakt ist, dass Maja Berger uns etwas verschwiegen hat. Und dieses Verschweigen hatte unter Umständen für Marco Meier drastische Folgen."
Seine stetig schwelende Wut hatte ihn wieder im Griff. Und fast sofort stand er erneut vor Selbstzweifeln, fühlte sich wie Jekyll und Hyde, als ein Mann mit zwei Gesichtern.
Franks schmerzverzerrtes Antlitz brachte Alexa Winter wieder zu sich. "Verzeihen Sie, Kommissar Mittnacht. Ich wollte Ihnen nichts unterstellen, doch da ist so viel geschehen, Sie verstehen bestimmt, dass ich durcheinander bin. Maja ist wie eine Schwester für mich, und wenn sie in Gefahr ist, werd' ich zum Elch."
Irritiert sah sie ihn an, als er aus heiterem Himmel auflachte. "Zu ... was?"
"Was meinen Sie?"
"Zu was werden Sie?"
Sie überlegte, was sie gerade Lächerliches gesagt haben könnte. Dann fiel es ihr ein. "Zum Elch werde ich."
Alexa sagte es im Brustton der Überzeugung, und Frank grinste verschmitzt. Lachfältchen bildeten sich in seinen Augenwinkeln und verliehen ihm den Charme eines Lausbubs.
Fast augenblicklich begann ihr Herz wieder zu rasen. 'Meine Güte, hat der Mann viele Gesichter.' Doch irgendwie fand sie ihn faszinierend und fürchtete plötzlich das Schlimmste. Oder das Beste, je nachdem wie man's sah!
Sein Antlitz wurde schnell wieder ernst. "Können Sie mir sagen, was der Mann von Ihrer Freundin wollte? Hatte er was gesagt? Hatte er eine Waffe?"
Frank war sich mittlerweile totensicher, dass dies Emil Kieselwurf gewesen war. Er fragte sich, was noch alles geschehen würde, und: Wie passte er selbst in das Bild? Weshalb hatte der Mann ihn gecasht und doch wieder laufen gelassen? Was hatte er mit ihm vor? Was WUSSTE dieser gar über ihn?
Die Wirtin der Alten Linde trat an den Tisch und fragte nach, ob sie noch etwas bringen sollte. Fragend sah Frank Alexa an. Kaum merklich schüttelte sie mit dem Kopf, woraufhin auch er dankend ablehnte.
Rosi klopfte ihm auf den Arm und verschwand. Schmunzelnd sah Frank ihr nach und fragte dann sein Gegenüber: "Und nun? Da sind noch ein paar Fragen offen."
"Ortswechsel", antwortete Alexa knapp. "Sie hatten Kopfschmerzen, gehen wir ein bisschen spazieren. Dann erzähle ich Ihnen den Rest, und Sie können mir hoffentlich auch noch ein bisschen mehr Klarheit verschaffen."
Wieder versank er in ihren Augen, vielfältigste Gedanken im Kopf. Nicht alle davon waren jugendfrei.
Wenn er sich selbst gegenüber ehrlich sein wollte: Frank Mittnacht hätte ihr viel lieber etwas ganz Andres verschafft.
***
Kurze Zeit später hatten sie die Alte Linde verlassen und schlenderten über den Weihnachtsmarkt. Zwischen ihnen herrschte ein behagliches Schweigen, und er hätte sich am Liebsten darin wie in einen Kokon eingesponnen. Es gäbe zwar noch so vieles zu sagen, zu fragen, zu wissen, doch Frank hatte plötzlich keine Zeit mehr für Fragen.
Nie zuvor hatte er sich selbst als so zeitlos empfunden wie eben, neben ihr, sein Herzschlag im Gleichtakt mit dem fallenden Schnee, der einen weißen Rand auf seinem Hut hinterließ.
Er hatte das Gefühl, ewig zu sein, mit ihr ganz allein auf der Welt, um sich herum die warmen Weihnachtslichter der Schaufenster.
Lebkuchenduft hing noch immer in der Luft, vermischt mit Zimt und Schneegeruch.
'Barbara hätte diesen Abend genossen', dachte er und warf einen Blick zu der jungen Frau an seiner Seite. Sie war ihr so ähnlich, wie er es bisher abschätzen konnte. Zwischen Schutzbedürftigkeit und Mut, Keckheit und Lebenslust, herrlich unbeschwert und doch vernünftig, wenn es notwendig war. Dies hatte er zumindest heute abend gelernt. Die junge Frau hatte ihm gehörig Paroli geboten, und das gefiel ihm.
Fröstelnd schlang Alexa ihre Arme um ihren zierlichen Körper und prallte gegen Franks linke Seite, als sie auf einer Eisplatte ausrutschte. Instinktiv hielt er sie fest.
Alexa genoss den kurzen Moment, bis sie ihre Balance wieder gewann, und fühlte sich das erste Mal so richtig geborgen. Mit Basti war es ganz anders, wild und ungezügelt, immer am Limit des Lebens. Ihm fielen im Sekundentakt Verrücktheiten ein, weil er dachte, er müsste ihr stets das Besondere bieten.
Als sie wieder auf festem Boden stand, löste sie sich aus Franks leichter Umarmung und bedankte sich knapp. Gemeinsam führten sie ihre abendliche Wanderung fort.
"Sie hatten mich vorher gefragt wegen dem Mann", nahm Alexa den Gesprächsfaden wieder auf. "Eine Waffe hatte er nicht, aber er hatte Maja einen solchen Schrecken eingejagt, dass sie zusammengeklappt ist. Er hatte irgendwas von "Klappe halten" gemurmelt. Können Sie mir weiterhelfen, was das zu bedeuten hatte? Sie erzählt mir rein gar nichts, was da gewesen war. Maja hatte nur gesagt, dass sie Ärger mit der Polizei und vor Allem mit Ihnen hatte."
Kommissar Mittnacht steckte seine Hände in seine Manteltaschen und ging mit nachdenklich gesenktem Kopf neben ihr her. Seine Schritte knarzten laut zwischen den bereits geschlossenen Buden über das schneebedeckte Pflaster. Er überlegte, wie er ihr das Verhalten ihrer Freundin beibringen konnte, ohne sich dabei selbst zu verraten. Schließlich hob Frank entschlossen das Haupt und blieb stehen.
Alexa drehte sich zu ihm um und sah ihn fragend an. 'Er wirkt so verloren', schoss es ihr durch den Kopf. Sie fühlte seinen Blick auf sich gerichtet, ernst und dunkel. Sein langer Ledermantel raschelte im Winterwind, der große, dicke Schneeflocken um sie herumwirbelte. Sie waren die einzigen Geschöpfe der Nacht, zumindest schien es ihr so. Die Menschen in ihrem Leben waren plötzlich weit fort ...
"Sie haben bestimmt von dem Unfall in der Ortlieb-Straße gehört", klang ihr seine Stimme entgegen und riss sie aus ihrer Traumwelt. "Ihre beiden Freunde waren die einzigen Zeugen des Geschehens, wobei Maja Berger nicht imstande war, uns Informationen zu geben. Meine Kollegen und ich sind davon überzeugt, dass sie den Unfallfahrer gesehen haben muss, denn er hätte die beiden fast überfahren."
"Hmmmm ..." Alexa blieb ebenfalls stehen und rieb sich das Kinn. "Sind Sie deshalb so böse auf sie? Zumindest behauptet sie das."
"Tut sie das?" Frank lachte amüsiert auf, setzte sich wieder in Bewegung und trat auf sie zu. Mit zärtlicher Geste nahm er der jungen Frau eine dicke Schneeflocke von der Nase und pustete sie in den Wind. "Ich mache nur meine Arbeit, Frau Winter."
"Dabei gehen Sie aber nicht gerade zimperlich vor, Kommissar Mittnacht", antwortete Alexa und sah ihn herausfordernd an. Ein leichtes Lächeln umspielte ihre vollen Lippen.
'Sie ist so bezaubernd', dachte er und genoss den Moment des Glücks, was in seiner Seele aufwallte. "Kommen Sie, gehen wir weiter", schnurrte er ihr entgegen und nahm sie bei der Hand. Sie ließ es zu, ohne zu wissen, warum.
***
Maja Berger saß derweil im Wohnzimmer von Alexa und Basti. Vor einer halben Stunde hatte sie Sebastian Tränkle, dem Freund von Alexa, geholfen, den Tisch abzuräumen und das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine zu räumen. Es hatte ihr geholfen, den Kopf freizukriegen.
Als sie vor dem Haus zusammengeklappt war, hatte Basti sie höchstpersönlich in die Wohnung getragen. So zumindest hatte ihr dies Alexa gesagt, nachdem Maja wieder einigermaßen bei sich gewesen war.
Danach war sie plötzlich verschwunden gewesen. Auf ihre Frage, wo Alexa hin sei, hatte Basti nur hilflos mit den Schultern gezuckt und sie mitleidsvoll angesehen.
Zwanzig Minuten später war sie wieder vor ihr gestanden, hatte ihr einen seltsamen Blick zugeworfen und sich dann wortlos daran gemacht, in der Küche etwas zu essen machen. Eigentlich hatte Maja gar keinen Hunger gehabt, aber ihre beiden Freunde hatten übereinstimmend darauf bestanden, dass sie eine Kleinigkeit zu sich nahm. Mittlerweile war sie darüber froh, etwas mehr bei Kräften zu sein.
Vor einer Stunde etwa war Alexa noch einmal fortgegangen, nachdem sie telefonisch durch Frau Winter - ihre Mutter - von Wolframs Unfall erfahren hatte. Sie hatte Basti um seinen VW-Käfer gebeten und war zu ihren Eltern gefahren. Seitdem war Maja mit Basti allein.
Sie konnte immer noch nicht fassen, dass Marco nun nie wieder lachen oder sie in den Arm nehmen würde. Und jetzt saß sie hier, neben dem Freund ihrer besten Freundin auf der Couch. Es war ein seltsames Gefühl.
Basti räusperte sich leise. „Kann ich noch irgendwas für dich tun?“ Nur zögernd kamen diese Worte über seine Lippen. Er selbst stand noch vollkommen unter Schock, wie musste es dann erst in Maja aussehen?
„Nein, danke. Ich bin einfach nur froh, jetzt nicht alleine zu sein“, erwiderte Maja und kämpfte gegen die erneut aufsteigenden Tränen an.
„Das ist doch selbstverständlich.“ Vorsichtig legte der junge Mann seine Hand um Majas Schultern. Er drückte sie tröstend an sich. „Dafür sind Freunde da. Sag mal, hast du schon was von Marcos Eltern gehört?“
Maja blickte ihn erschrocken an. „Oh Gott, nein! Wie soll ich … ich kann ihnen das nicht sagen …“
Mit verzweifeltem Blick zog sie ihre Beine hoch und kauerte sich in ihre gewohnte Schutzstellung zusammen. Tränen schossen ihr in die Augen, ihre Schultern bebten, und sie schluchzte auf. 'Mist, warum kann ich meine Klappe nicht halten?' Besorgt rückte Basti ein Stück näher an Maja, nahm sie in den Arm und sprach beruhigend auf sie ein. Für einen Moment kam ihm der Gedanke, was Alexa wohl denken würde ...
Er schob diesen sofort wieder zur Seite. Alexa würde garantiert nichts Schlechtes denken!
Er spürte, wie sie sich Maja allmählich in seinen Armen entspannte. Basti sah auf sie herab und strich eine blonde Strähne aus ihrem Gesicht. 'Sie ist so anschmiegsam', dachte er und fühlte ein warmes Gefühl in seinem Herzen.
Verwirrung spiegelte sich in Majas Blick. Kurz hatte sie gedacht, wieder in Marcos Armen zu liegen. Sie brauchte einen Moment, um zu realisieren wo sie in Wirklichkeit war.
Irgendwie schaffte sie es, ein leichtes Lächeln zustande zu bringen. „Danke, dass du für mich da bist“, murmelte sie leise.
„Kein Problem.“ Basti erwiderte ihr Lächeln und nahm seinen Arm behutsam von ihrer Schulter.
„Hoffentlich ist das mit Alexas Hund nicht so schlimm. Sie ist ja doch schon eine ganze Weile weg.“ Maja wurde allmählich unruhig und sah auf die Uhr. 'Dass Alexa aber auch ausgerechnet heute weg musste ...' Den Gedanken wischte sie jedoch sofort wieder beiseite und schalt mit sich selbst. Schließlich wusste sie genau, wie sehr Alexa an Wolfram hing, und es war verständlich, dass sie sich sorgte.
Basti folgte ihrem Blick und nickte bestätigend. „Hmm, ja. Hast Recht. Vielleicht ist sie noch länger bei ihren Eltern. Der Tag heute war für sie auch nicht einfach."
Verlegen auf ihrer Unterlippe knabbernd überlegte Maja, bevor sie antwortete: „Ja, … aber ich wusste nicht, wen ich sonst anrufen sollte …“
Erschrocken wandte Basti den Blick wieder Maja zu. „Das wollte ich damit nicht sagen. Sorry, wenn es blöd rüber gekommen ist. Ich denke, Alexa hätte auch als erstes dich angerufen, wenn …“
Er ließ den Satz bewusst unvollständig, doch Maja wusste auch so, was er meinte. Unsicher legte sie ihre Hand auf seine und drückte sie kurz. „Ich weiß."
Trocken schluchzte sie auf. "Es ist nur alles … so unrealistisch. Ich kann noch gar nicht fassen, dass ich nie wieder sein Lachen hören, seine Nähe spüren werde. So was wünsche ich niemandem. Außer vielleicht dem gruseligen Typ heute Nachmittag ...“ Majas Stimme stockte. Noch einmal ließ sie die Stationen der letzten Stunden und der Nacht vor sich vorüberziehen. Wie ein Hauch, unhörbar fast, kam es über ihre Lippen: "Marcos Mörder wünsche ich ... alles!"
Basti fühlte sich unbehaglich, doch ein verständnisvolles Lächeln legte sich auf seine Lippen. „Stimmt." Kurz überlegte er, wie er sie ablenken konnte. Dann fuhr er fort: "Okay. Zu was hast du denn Lust? Sollen wir ne DVD reinlegen? Oder lieber nur so rumsitzen?“
„DVD klingt gut. Aber bitte nichts Romantisches. Lieber Action, oder wegen mir auch Horror.“ Maja senkte verlegen den Blick. Wie sehr wünschte sie sich, mit Marco Arm in Arm zu Hause zu sitzen, oder wie gewohnt den Kopf auf seinem Schoß. Die Sehnsucht nahm überhand.
„Horror? Du?“ Basti lachte leise auf. Vor seinem inneren Auge sah er, wie Maja sich immer an Marco geklammert hatte, wenn es bei einem Film mal brutaler zuging. „Was hältst du von 'nem James Bond Film?“
„Such du was aus.“ Maja griff nach der Fleecedecke, die am Fußende der Couch lag und kuschelte sich in diese eingerollt auf die Seite. Gerührt dachte sie daran, dass dies ihre eigene war. Alexa hatte sie kurzerhand geschnappt und in eine der Taschen geworfen, bevor sie endgültig die nun versiegelte Wohnung verlassen hatten.
Wenige Minuten später klang die Titelmelodie von Skyfall durch den Raum. Ungefähr zur Hälfte des Films warf Basti einen vorsichtigen Blick zu Maja, die schon länger nichts mehr gesagt hatte. Sie war eingeschlafen und hatte den Kopf halb auf seiner Schulter. Gerührt lächelte er, obwohl er nicht so recht wusste, wie er mit der Situation umgehen sollte. Unbeholfen entzog er sich ihr und bettete ihr Haupt auf die Rücklehne der Couch.
Seine Gedanken gingen zu seinem Freund, mit dem er viele Jahre seiner Kindheit geteilt hatte, durch die Freundschaft der beiden Mädchen mit ihm verbunden. Die beiden waren so ganz anders gewesen ...
„Mensch, Marco, warum? Warum du?“, murmelte er leise, darauf bedacht, Maja nicht zu wecken. Es war nicht einfach gewesen, sie wieder einigermaßen auf die Beine zu kriegen, und eigentlich hätte sie in eine Klinik gehört. Sie hatte sich jedoch strikt geweigert, sich in die Hände fremder Menschen zu begeben. Er konnte sie gut verstehen, dass sie sich in der Geborgenheit einer vertrauten Umgebung sicherer fühlte.
Vorsichtig erhob er sich von der Couch und ging, sein Handy in der Hand, in den Flur. Noch immer keine Nachricht von Alex. Basti begann allmählich, sich ernsthaft Sorgen zu machen und rief auf ihrem Handy an. „Nur die Mailbox, verdammte Kacke …“, fluchte er leise und tippte schnell eine Nachricht: 'Hey, Maus! Ist alles okay??? Machen uns Sorgen! Bitte melde dich!!! Basti ;-*'
Anschließend ging er zurück ins Wohnzimmer, konnte sich aber überhaupt nicht mehr auf den Film konzentrieren und schaltete schließlich den Fernseher aus. Maja schlief tief und fest, noch immer in derselben unbequemen Position wie vor einer halben Stunde. Vorsichtig zog er ihr die Fleecedecke weg und bettete sie auf seine Arme. Sie war leicht wie eine Feder.
Einen kurzen Moment ruhte sein Blick nachdenklich auf ihrem Gesicht, dann trug er sie ins Gästezimmer und legte sie behutsam ins Bett. Sie erwachte für einen Moment und schlug die Augen auf. Ihre langen Wimpern warfen im Schein der Nachttischlampe zarte Schatten auf ihre Wangen. Verwirrt wisperte sie: "Marco?"
"Schlaf, Prinzessin", antwortete Sebastian leise und deckte sie fürsorglich zu. Mit einem wohligen Seufzen kuschelte sie sich in die Kissen und kehrte in ihr Reich der Träume zurück, der einzige Ort, der ihrer verwundeten Seele Linderung verschaffen konnte. Wenn der Alb sie verschonte ...
Er ging ins Schlafzimmer, legte sich auf sein Bett und starrte gegen die Decke. Stationen aus seinem Leben zogen an ihm vorüber, und die Trauer um seinen Freund legte sich mit jeder Sequenz schwerer auf sein bis dato unbeschwertes Gemüt. Fünf Minuten später piepte sein Handy. Eine SMS von Alexa! 'Wolfram hat's ganz schön erwischt. Bin mit ihm und Mama in der Tierklinik, kann sein, dass wir ihn einschläfern lassen. Sei nicht böse, komme sobald ich kann ;-*'
Die Wahrheit würde Basti bestimmt nicht gefallen! Es war Alexa nicht wohl dabei, ihn anlügen zu müssen, doch was hätte sie ihm sagen sollen?
'Hei Schatz, ich weiß, meiner Freundin geht es beschissen, aber ich gehe gerade Hand in Hand mit dem Mann, vor dem sie Angst hat, ein bisschen spazieren?'
Alexa war froh, dass sie die Mailbox programmiert hatte. Er hätte an ihrer Stimme bestimmt die Wahrheit gespürt. Hoffentlich kam er nicht auf die Idee, die Nummer ihrer Eltern zu wählen, sie war sich nicht sicher, ob diese auf Dauer dicht halten könnten.
Der Zauber des Moments war verflogen, und sie wusste nicht, ob sie darüber froh war oder ...
Nein, eigentlich war sie verärgert über die Störung, wenn sie sich auch nicht erklären konnte, was sie dazu verleitet hatte, ihn - ausgerechnet ihn - so nah an sich herankommen zu lassen. Irgendwie tat der Mann ihr jedoch leid!
Zumindest redete sie sich das ein, als sie seinen Blick auf sich gerichtet fühlte.
"Ärger im Paradies?", fragte er sie und ließ ihre Hand los. Frank fühlte sich wie in eiskaltes Wasser getaucht, doch der Teufel sollte ihn holen, wenn er sich dies anmerken ließe.
Schließlich wusste er über die beiden Bescheid, und insofern: Er wäre der Letzte, der ihr Universum der Liebe zerstören würde. Hätte jemand dies bei ihm und Babsi versucht, nun: Er hätte sich schon zu wehren gewusst. Außerdem war sie zu jung.
Eisern versuchte er, den bunten Traum in sich zum Zerbersten zu bringen, der nicht viel mehr als ein Luftschloss war. Sein Herz jedoch schmerzte vor Zorn, und sie schien die Eifersucht in ihm zu spüren.
"Was ist los, Herr Kommissar, sind Sie nun auch böse auf mich?" Alexas Stimme hatte einen ironischen Unterton, der ihm nicht gefiel. Seine Augen bekamen ein gefährliches Funkeln, und ein Schauer lief ihr über den Rücken.
Sie befanden sich auf der Höhe der Kirche. Im Versuch, ihr zu entkommen, wandte er sich von Alexa ab und starrte über den Platz. Franks Blick fiel auf die lichtergeschmückte Linde weit vor sich. Sein Ort der Geborgenheit ...
Ein Schrein der Liebe war es gewesen, zu der Zeit, als Barbara noch neu in der Stadt war und im Begriff, sich mit ihm zusammen ein Zuhause zu schaffen. Voller Trauer rief seine Seele nach ihr, sie möge ihn nicht endgültig verlassen. Ihr Bild in ihm war immer blasser geworden, und mittlerweile wurde es mehr und mehr durch das Antlitz von Alexa Winter verdrängt. Seit er sie das erste Mal sah ...
Frank Mittnacht vergaß alles um sich herum, auch, dass sie da war. Gedankenverloren strebte er über den Marktplatz und suchte nach Barbaras Wärme. Wie vom Donner gerührt sah Alexa ihm nach. Weshalb ließ er sie stehen?
Als sie sah, wie er fiel, gab sie sich einen Ruck und eilte ihm hinterher. Alexa beugte sich besorgt über Frank, der reglos in einem Schneehaufen lag, wollte schon fragen, ob alles okay sei, da sah sie, dass ...
Erbost ging sie davon und ließ ihn liegen, sein Gelächter im Ohr. "Sie Kindskopf!", schrie sie ihm zu.
Er rappelte sich auf, klopfte sich den Schnee von der Kleidung und zog sich seinen großen Hut verwegen tief ins Gesicht. Dann steckte er seine Hände in die Taschen und schlenderte machohaft pfeifend hinter ihr her.
Eine paar Jugendliche standen vor einem Schaufenster und sahen ihm hinterher. Frank hörte ein Lachen, und schließlich löste sich einer von ihnen aus der Gruppe und ging ihm nach, sein Pfeifen nachäffend. Er drehte sich um.
"Sag mal, Paps, was machst du hier eigentlich?" Einige Minuten später trat Franks Sohn zu ihm und sah ihn amüsiert an. "Hast du eine Freundin?"
"Und du?", antwortete Kommissar Mittnacht mit einer Gegenfrage und sah auf seine Armbanduhr. "Hast meine Abwesenheit weidlich ausgenützt und treibst dich herum."
"Ach jeeee. So spät ist es doch noch gar nicht, und seit wann spielst du den strengen Vater?"
"Tu ich nicht, das war nur eine Feststellung."
Alexa trat neugierig wieder zu ihnen und sah Frank fragend an. "Wer ist das?", wollte sie wissen und musterte Tom von oben bis unten. Beim Anblick seiner am Knie durchlöcherten Jeans schob sie hinterher: "Ist dir nicht kalt?"
Der Dreizehnjährige blickte sie an und antwortete: "Eigentlich nicht, ich habe das heiße Blut meines Vaters."
Sie nickte weisend zu Frank und hakte nach: "Ist das er?"
"Gut kombiniert", schaltete sich Kommissar Mittnacht wieder in das Gespräch. "Aber nun würde ich trotzdem gern wissen, was du um die Uhrzeit noch treibst."
"Tammy, komm mal rüber", brüllte Tom statt einer Antwort zu seinen Freunden hinüber. Ein etwas älteres Mädchen mit sehr kurzen Haaren trat aus der Gruppe heraus und schlenderte lässig zu ihnen hin. "Paps, ich bin mit meinen Freunden unterwegs." Er zog sie an sich heran und legte besitzergreifend den Arm um ihre Schultern. "Das ist Tamara. Und wer ist das?" Dabei nickte er fragend zu Alexa hin.
"Eine Freundin", antwortete Frank knapp. "Ich habe sie zufällig getroffen."
Während sie sprachen, gingen die beiden Paare ein paar Schritte über den Platz. Er musterte die Jugendliche heimlich von der Seite und hatte sofort erkannt, dass sie etwas suchte. Von Tom wusste er, dass sie zu einer Skin-Gang gehörte und dachte dabei automatisch an den jungen Mann, den er erst letzte Woche am Wickel gehabt hatte, an jenem Tag, als sich sein Nirgendwo auch ihr offenbarte. Wie hieß er noch gleich?
'Maik Schwartz', erinnerte er sich, 'ob sie ihn kennt?'
Alexa durchbrach die kurzfristige Stille und sagte: "Ich glaube, allmählich sollte ich nach Hause. Es ist schon fast elf, und ich bin schon seit drei Stunden weg, ohne dass jemand weiß, wo ich bin."
"Papa, ich will euch beide nicht weiter stören. Ich bleibe noch ein Weilchen draußen", kündigte Tom an.
Frank versuchte, seinem Sohn seine Besorgnis vor dessen Freundin nicht allzusehr zu zeigen. "Tom ...", setzte er an und sah ihn bittend an. "Mach nicht mehr so lang. Es fällt auf mich zurück, wenn dir etwas passiert."
Der Junge lachte auf. "Was sollte mir schon passieren?" Er schnappte seine Freundin bei der Hand und schlitterte mit ihr über den Platz. Das Lachen der Jugend hallte frisch durch die Nacht und vermischte sich mit der Musik in Franks Seele, die in ihm klang, als er erkannte, dass Alexa noch bei ihm war. Minuten später war er wieder mit ihr allein.
Fast gleichzeitig drehten sich Frank und Alexa um und sahen dem jungen Paar hinterher. "So ist es mit Basti", flüsterte sie verhalten. "Immer aufregend, ein ewiges Abenteuer. Er hält seine und meine Welt immer in Schwung."
"Und das gefällt Ihnen?", fragte er und sah ihr ins Gesicht.
"Manchmal macht er mich atemlos, Frank. Ich bin mir nicht sicher, ob mir das gefällt." Sie hatte ihn beim Vornamen genannt, ohne sich etwas dabei zu denken.
"Kommen Sie, ich zeige Ihnen etwas."
Er nahm sie bei der Hand und zog sie ein paar Schritte weiter, bis sie an dem geschmückten Lindenbaum angelangt waren. Dort ließ er sie los und deutete auf ein paar Herzen, die in den Stamm eingeschnitzt waren. "Die Jugend des Lebens ist unbeschwert, frech, manchmal wild, und die Herzen scheinen zu taumeln, zu tanzen. Liebe ist wie ein bunter Schmetterling."
Seine Hand legte sich über ein Herz in der Mitte des breiten Stamms. Gedankenverloren strich er mit dem Daumen darüber und lächelte in der Erinnerung an seine Frau. "F. und B." war darin eingeschnitzt, und nur er wusste, was es bedeutet.
Alexa trat zu ihm und legte ihre Hand neben seine. "Ist B. Ihre Frau?" Eifersucht klang in ihrer Stimme mit.
Frank unterdrückte ein Grinsen. "Ja", antwortete er schlicht. Tausend Teufelchen tanzten in seinen Augen, als er sie wieder ansah.
Die Weihnachtsbeleutung zeichnete ein warmes Leuchten in Alexas Gesicht. "Sehen Sie hier?" Dabei deutete sie auf das Herz neben seinem. "Bastis und meines steht direkt daneben, von mir geschnitzt."
"Die Rituale der Liebe sind so alt wie die Menschheit, Alexa. Viele der Herzen in diesem Stamm sind bestimmt schon vor Jahrzehnten angebracht worden."
"Wo ist Ihre Frau heute abend?", wollte sie wissen und entfernte sich ein paar Schritte von ihm.
Schmerzerfüllt lehnte er den Kopf gegen den Baum. "Sie ist vor zwei Jahren ums Leben gekommen", murmelte er dumpf.
Kurz darauf spürte er eine Hand auf seiner Schulter. "Das tut mir leid", raunte Alexa betroffen. Alles in ihr drängte danach, bei ihm zu bleiben und alles um sich herum zu vergessen. Sie war selbst schon mit dem Tod in Berührung gekommen, und auch mit dem Schmerz des Verlustes. Den ganzen Tag lang hatte sie die Starke markiert, war in Sachen Maja losgezogen und hatte sich mit IHM getroffen, um ihr zu helfen. Fragte ihre Freundin danach, wie es ihr dabei ging?
Ein entschlossener Ruck ging durch Alexas Körper. Sie griff in ihre Jackentasche, zog ihr Handy heraus und tippte ein: 'Ich bleibe heut nacht bei meinen Eltern. Wolfram ist tot. :-('
Sie sandte die SMS an Bastis Mobilnummer, drückte den Ausknopf und schleuderte das Gerät weit von sich weg. An einer Schaufensterscheibe prallte es ab, hinterließ einen spinnenförmigen Riss und fiel zersplittert zu Boden. Die Konsequenzen, die sie nicht abschätzen konnte und auch nicht wollte, waren Alexa Winter just in time völlig egal.
***
Gelächter hallte durch die Stille der Nacht. Schneeflocken fielen, und leise brauste der Wind durch die Bäume. Auf einem Parkplatz hinter dem Rathaus sah er Basti und Alex im gedämpften Licht der Straßenlaternen. Sie sahen glücklich aus.
Ihr Lächeln war getränkt von billigem Wein und der Euphorie der Nacht, die Frank so sehr fehlte.
Hand in Hand schlitterten sie auf zugefrorenen Pfützen herum, jagten einander im Kreis, kicherten, flüsterten verschwörerisch, brüllten. Energiegeladen feierten sie ihre Liebe und ihre Jugend.
Einsamkeit hatte an jenem Abend sein Herz ummantelt, und er hatte sich im Reich der Toten befunden. Sein einziges Glück war gewesen, ihr Universum der Liebe im Spiegel seiner Seele zu sehen, um die Erinnerung an Barbara lebendig zu halten.
Frank Mittnacht schüttelte die Imagination ab und trat aus dem Baumschatten heraus. Mit gemessenem Schritt schlenderte er in die Mitte der Eisplatte, wo Alexa ihm wartend entgegen sah.
Als er bei ihr war, umrundete sie ihn schlitternd und raunte geheimnisvoll: "Das ist unsere Märchenwelt. Sie haben diese ja schon kennengelernt. Ich lade Sie ein, sie mit mir zu teilen."
Alexa schleuderte ihre Strickmütze weg. Selbstvergessen hob sie die Arme gen Himmel und ließ die Schneeflocken über sich rieseln. Ihre langen Haare fielen im Sternenlicht funkelnd nach hinten und glänzten wie altes Gold.
Kleine, glitzernde Kristalle fingen sich in ihrer Mähne. Langsam drehte sie sich im Kreis und lachte.
Frank genoss es, an Bastis Stelle zu sein. Nur für eine Nacht fühlte er das Feuer der Jugend. Den Zauber des Lebens, die Magie der Vorweihnachtszeit. Und doch wollte er die Realität nicht aus den Augen verlieren. "Was hat Sie geritten, als Sie Ihr Handy wegwarfen?", fragte er sie.
"Kann ich nicht sagen, ich weiß es nicht. Mir war danach. Doch ist das wichtig? Es ist alles weit weg, ich will nur genießen." Alexa ging zu ihm und nahm seine Hand.
"Deshalb sind Sie aber nicht zu mir gekommen", antwortete er.
"Wie Sie selbst sagten: Menschen begegnen sich, gehen ein Stück weit gemeinsame Wege und vergessen dann wieder, sich jemals begegnet zu sein. Doch manchmal sind Begegnungen auch Schicksal", sagte sie leise.
Frank dachte an Marco Meier und unterdrückte ein bitteres Lachen. Auch ihn hatte sein Schicksal ereilt; er bezweifelte indes, dass dies gut für ihn war. Er sagte es ihr: "Schicksal ist unberechenbar und bringt nicht nur Gutes. Es verleitet Menschen auch oft zu Taten, die sie irgendwann mal bereuen. Und es nimmt Eigenverantwortung von der Seele."
"Was hat Sie nur so bitter gemacht?", fragte Alexa und hob die Hand an seine Wange. Ihre Augen glitzerten warm.
Er war versucht, sein Gesicht in diese schützende Höhle zu schmiegen und sich in ihr zu verkriechen, doch er ließ es nicht zu. "Erzählen Sie mir noch ein bisschen von Maja Berger", forderte er, ohne sich ihr jedoch zu entziehen.
"Maja ...", verletzt drehte sie ihm den Rücken zu und fühlte sich schmerzhaft in die Welt zurückgeworfen, der sie entrinnen wollte. Dann überlegte sie, was sie erzählen konnte, um ihr zu helfen. Majas Konflikt stand ihr wieder klar vor Augen. "Es gibt in der Tat viel über sie zu erzählen, zumindest, wenn man sie verstehen will", setzte Alexa an. "Sie ist ein offener Mensch, sehr sensibel, verletzlich, und sie war glücklich mit Marco. Die beiden haben sich super ergänzt. Meine Eltern sind eine Art Ersatzeltern für sie geworden."
"Was ist mit ihren Eltern?", Frank fing den Ball auf.
"Sie sind letztes Jahr bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Seitdem ist Maja traumatisiert."
Verstehen zeichnete sich auf seinem Gesicht ab - und Betroffenheit. Franks Herz raste. Wieder stand er vor der Frage, ob er schuld daran war. Was war seit dem Zeitpunkt, als er das Haus verlassen hatte, um sich mit Marco zu treffen, passiert?
Der altbekannte Schmerz schoss ihm hinter die Stirn, so stark, dass er ein Aufstöhnen nicht mehr unterdrücken konnte. Betroffen sah Alexa ihn an und erkannte sein schmerzverzerrtes Gesicht. "Was ist mit Ihnen?"
Mit letzter Kraft hielt er sich auf den Beinen.
Sie stürzte zu ihm und versuchte, ihn zu halten. "Ich glaube, Sie sollten ins Krankenhaus." Dann fiel ihr ein, dass ihr Handy zerschmettert ein paar hundert Meter entfernt am Boden lag. "Geben Sie mir Ihr Handy, und ich rufe die Ambulanz."
Frank schüttelte verneinend den Kopf und schrie gleichzeitig auf. Er setzte sich auf den gefrorenen Boden.
"Wie geht es jetzt weiter?" Alexa fühlte sich so hilflos wie niemals zuvor. Es war ein solch schöner Abend gewesen, mit einem Mann, der ihr das erste Mal das Gefühl gegeben hatte, erwachsen zu sein. Ihr bisheriges Leben war ein einziges Tändeln gewesen, ein Tanzen, eine einzige Party.
"Gehen Sie nach Hause, Frau Winter", hörte sie seine Stimme. "Der Schmerz geht vorbei, so ist es immer."
Sie starrte auf ihn hinab. "Aber das kann ich nicht machen. Ich lasse Sie auf gar keinen Fall allein."
Frank griff in seine Manteltasche und holte ein Röhrchen Schmerztabletten hervor. "Sie brauchen nicht für mich die Heldin zu spielen. Sehen Sie, ich bin auf alles vorbereitet."
Er nahm eine Pille heraus und schob sie sich in den Mund. Um das Schlucken zu erleichtern, nahm er eine Handvoll Schnee und stopfte ihn hinterher. Dann stand er auf.
Alexa spürte die Schutzmauer, die er wieder um sich herum aufgebaut hatte, doch sie ließ sich davon nicht beirren. Sie hatte eine Entscheidung getroffen. "Ich habe mein Auto auf dem Parkplatz neben der Fußgängerzone. Kommen Sie, ich fahre Sie nach Hause."
"Ich habe mein eigenes Auto."
"Mein Gott, sind Sie schwierig. So können Sie doch nicht fahren." Sie hätte ihn am Liebsten geohrfeigt.
Frank verschränkte die Arme vor seiner Brust und antwortete provozierend langsam: "Und ob ich das kann. Wahrscheinlich besser als Sie."
Ihre Augen blitzten ihn an. "Pffffftttt", zischte sie. "Das alte Macho-Klischee. Frauen können nicht einparken, nicht fahren, gehören nur in die Küche, und überhaupt ..."
"Stop!" Er beugte sich leicht zu ihr herab und raunte: "Das habe ich nicht gesagt ..."
Alexa sah seine schwarzen Augen auf sich gerichtet und blickte ihm wie gebannt entgegen, doch er zog sich zurück. Mit einem wehmütigen Lächeln strich er ihr ein paar kleine Schneeflocken aus ihren Haaren, die Botschaft in glänzenden Augen ignorierend. Wenn er nicht aufpasste, würde er in diesen grün schimmernden Ozeanen versinken ...
Sie fühlte sich wie eine Maus in den Krallen einer verspielten Katze. Alles in ihr schrie danach, ihm nahe zu sein, seine vollen Lippen auf ihren zu fühlen, seine unrasierte Haut auf ihrem Gesicht ...
Gleichzeitig wollte sie fliehen. Schließlich ergriff sie die Initiative und schlang die Arme um seinen Hals. Als er zurückweichen wollte, verschränkte sie ihre Hände ineinander und zog den Klammergriff fester um ihn.
"Willst du oder kannst du nicht verstehen?", fragte Alexa mit leiser Verlockung. Schneeflocken hüllten das Paar in einen schützenden Mantel und verbargen sie vor der Welt.
Kronzeugen-Mord: Tappt die Kripo Großdummsdorf auch im Fall Rosenrot weiter im Dunkeln?
von Stephan Wagner
Großdummsdorf – In der Nacht von Freitag auf Samstag wurde der 23-jährige Marco M. in seiner eigenen Wohnung ermordet. Der einzige Kronzeuge im Fall „Fahrerflucht“ (wir berichteten) war für die Ermittlungen der Großdummsdorfer Polizei von enormer Bedeutung.
Mittlerweile wurde den Beamten um Kriminalkommissar Frank Mittnacht herum ein geschultes Team des Mordkommissariats Ravensburg zur Seite gestellt.
Wie ein Pressesprecher der Polizei mitteilte, trat Marco M.s Tod in der Stunde vor Mitternacht ein. Seine Freundin Maja B. (20 Jahre) stellte dies jedoch erst am nächsten Morgen fest – sie war, wie mehrere Augenzeugen bestätigt hatten, zur Tatzeit mit ihrer Freundin Alexa W. unterwegs.
Bisher ist noch unklar, wie der Täter in die Wohnung des jungen Paares gekommen ist. Sicher ist nur, dass keine Einbruchsspuren vorhanden sind. Laut Angaben der Polizei wurde der junge Mann zuerst betäubt und anschließend in seinem Bett liegend mit einem Kissen erstickt. Doch wer steckt hinter der grausamen Tat?
Besteht auch hier ein Zusammenhang mit den Fällen „Fahrerflucht“ und „Toter Hund“ oder war Marco M. ein Zufallsopfer?
Mysteriös ist auch, dass am Tatort eine rote Rosenknospe zurückgelassen wurde. Die Polizei ging zunächst davon aus, dass Marco M. diese seiner Freundin geschenkt haben könnte. Da Maja B. sich die Herkunft der Rose jedoch nicht erklären konnte, scheint diese vom Täter drapiert worden zu sein.
dpa/Montag, 16. Dezember 2013
***
Die Kreisstadt Großdummsdorf rückte mehr und mehr in den Fokus der Medien. In ganz Deutschland fand die als Schundblatt verrufene Tageszeitung IM BILD in sämtlichen Kiosken, Discountern und Tabakläden rasenden Absatz, mehr als in den Jahren davor. Plötzlich interessierte sich die deutsche Leserschaft wieder dafür, was in Hinterpfuiteufel, Großkotzhausen oder Hottentottstadt geschah.
Achim Wendelsau, der Chefredakteur, war hochzufrieden; er hatte einen echten Schnelldenker in einem Sumpf voller stumpfsinniger Schreibroboter gefunden. Der Ehrgeiz des jungen Freiberuflers, der seiner Redaktion eine Schlagzeile nach der anderen brachte, könnte diesen weit bringen.
Sein Name war Stephan Wagner, und er war immer einen Tick schneller als die Konkurrenz. Er wohnte mit seiner Lebensgefährtin Jana Abendroth zusammen in der Innenstadt von Großdummsdorf und arbeitete im Wesentlichen von zuhause aus.
Sein Augenmerk ruhte seit den Vorfällen des siebten Dezembers auf dem Fall "Toter Hund" und Allem, was seiner Meinung nach damit zusammenhing. Und der Erfolg gab ihm Recht, wenn er seinem Chef glauben konnte. Laut Wendelsau konnte er bald damit rechnen, fest zum Team der IM BILD - Redaktion zu gehören.
"Jetzt nur nicht nachlassen", murmelte er am Dienstagabend vor sich hin und starrte hochkonzentriert auf seinen teuren Flachbildschirm. Er hatte zwar fast schon viereckige Augen, doch das war ihm derzeit egal.
'Berufsrisiko', sagte er sich.
Ein dunkles Lachen stieg in ihm hoch bei der Vorstellung, was wohl heute im Präsidium los gewesen sein musste. Ob der Pressesprecher seinen Job wohl noch hatte?
Ein Griff nach rechts zur Kaffeetasse versprach erst einmal Linderung seiner Müdigkeit. Stephan warf einen verstohlenen Blick auf die Uhr: 23:30 Uhr. Jana war schon seit über einer Stunde im Bett. Nun konnte er sich in Ruhe seinen Recherchen widmen.
Er hatte sich vorgenommen, bis Mittwoch ein weiteres Update zu den aktuellen Fällen zu liefern und freute sich diebisch, so einfachen Zugang zum Server der Bullen bekommen zu haben. Schadenfroh lachte er auf. 'Wenn die wüssten …'
Er wechselte in sein Menü, und mit einem Klick war er wieder mit dem Hauptserver verbunden. Perfide grinsend gab er die benötigten Schlüsselworte ein und hatte sogleich die Datenbank der Kripo vor Augen.
„Dann wollen wir mal.“ Er überflog die vorliegenden Informationen und stieß auf Sebastian Tränkles Vermissten-Anzeige. "Moment, Alexa Winter wird schon seit Samstagabend vermisst?" Vor lauter Enthusiasmus führte er Selbstgespräche. „War das nicht der Todestag von Marco Maier? Na, wenn das mal kein Grund für einen neuen Aufhänger ist. Mit etwas Glück schaffe ich es in die morgige Ausgabe.“
Er surfte noch etwas weiter durch die Maske, um eventuelle Zusammenhänge mit den bisherigen Recherchen zusammenzutragen - und stockte.
"Gestohlener Porsche gefunden - upps, das ging aber schnell!" Schemenhaft schob sich ein bedrohliches Männergesicht vor sein inneres Auge, und ihm wurde mulmig. Hoffentlich zog er sich keinen Schuh an, der ihm zu groß war, doch er schob den Gedanken unwirsch beiseite. Er ließe sich nicht so ohne Weiteres erpressen, soweit käme es noch.
Schnell machte er eine Notiz, ging noch ein bisschen weiter zurück und ärgerte sich grün und blau. Er hatte sich zu sehr auf die Fälle "Toter Hund" und "Fahrerflucht" eingeschossen - und den Kisslegger Fall bewusst links liegen gelassen. Die Story war ihm denn doch ein bisschen zu gefährlich gewesen, er hatte am Samstag eine klare Ansage bekommen: 'Finger weg von meiner Familie.'
Angestrengt starrte er auf den Bildschirm. "Kieselwurf?", las er den Eintrag in der Datenbank. "Haben sie ihn jetzt doch noch erwischt?"
Plötzlich schlug er sich an die Stirn. "Ich bin ein Idiot. Nicht mit mir, Emil!" Aufgeregt notierte er sich die Namen der drei Opfer, knüllte den Notizzettel zusammen und warf ihn in den Papierkorb. "Warum denn umständlich, wenn es auch einfach geht?"
Sekundenbruchteile später zerschnitt ein gleichmäßiges Rattern die Stille, und der Drucker spuckte eine Seite nach der anderen aus. Nach fünf Minuten hatte er einen ansehnlichen Stapel neben sich liegen und kicherte zufrieden: "Das ist schon einmal die halbe Miete. Jetzt kommt die Kür."
Ein Piepsen zeigte ihm an, dass es Zeit war, sich vom Acker zu machen, wobei er hämisch grinsend bemerkte, dass denen ihre Sicherheitssperre einfach ein Witz war. Da half auch der Späher nicht weiter.
Er loggte sich aus der Datenbank aus, schloss seinen McBeth und öffnete sein eigenes Schreibprogramm. Er hatte seine Finger schon in Angriffsstellung, da wurde er glatt durch das Surren seines Redaktions-Handies aus seinen Gedanken gerissen.
Fluchend sah er auf das Display - und schluckte. "Der Chef", flüsterte er betroffen, als könne dieser es hören. "Um die Zeit?" Hastig drückte er auf den Annahmeknopf und lauschte fast ängstlich.
"Wendelsau hier ... Mensch, Wagner, haben Sie das von Leutkirch gehört?" Die Stimme seines Auftragsgebers klang so klar aus den kleinen Lautsprechern, als stünde er direkt neben ihm.
" Ähhhm ... nein, Chef", stotterte er, "Was denn?"
"Na dann schauen Sie mal ganz schnell im Internet, unter Leutkirch. Diesmal war der Allgäu-Kurier ein bisschen schneller als Sie. Schon das zweite Mal!" Der Vorwurf in seiner Stimme war nicht zu überhören.
Mit knallrotem Gesicht öffnete Stephan seinen Browser und hatte die Google-Suchmaschine vor Augen. Er gab "Leutkirch" ein - und schluckte sein schlechtes Gewissen schlichterhand herunter. "Chef, Moment mal. Sie meinen das mit dem toten Mädchen in Bojanows Eis-Theater?"
"Ja, genau!"
"Well, Chef, ich hatte mich da ganz bewusst zurückgehalten", log er frech in die Freisprechanlage.
"Waasss? Sind Sie verrückt? Soll ich mir einen anderen Reporter suchen, oder wie stellen Sie sich Ihre Zukunft bei uns vor?"
Stephan kratzte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht im rechten Ohr und stellte seinen Lautsprecher um einen Tick leiser. Hoffentlich kam er da heil wieder raus!
"Ich wollte Ihnen das Komplettpaket liefern ...", er machte eine Kunstpause und wartete ab. Der Köder war ausgelegt, und sein Fisch biss glatt an. "Erklären Sie mir das!", forderte Achim Wendelsau.
"Der Allgäu-Kurier weiß nicht, was ICH weiß", argumentierte Stephan im Brustton der Überzeugung. "Im Gegensatz zu meinem Kollegen kenne ich nämlich zufällig die Tote."
"Weiter!", trieb sein Chefredakteur an. "Wer ist sie, und woher kennen Sie das Opfer? Woher kommen Ihre Infos?"
"Bis in einer Stunde haben Sie den kompletten Artikel, Chef", wehrte Wagner seine Forderung ab. Das hätte ihm noch gefehlt, dass er sich selbst entlarven würde, aber er würde seiner Redaktion einen echten Hammer servieren. Mit knappen Worten verabschiedete er sich von Achim Wendelsau, versprach ihm, den fertigen Artikel über den Mailing-Server zu senden, öffnete noch einmal seinen McBeth und machte sich an die Arbeit.
Bald hatte er alles, was er noch brauchte, kritzelte sich ein paar Stichpunkte auf seinen Notizblock und legte los: "Dramatische Wendung im Fall Rosenrot?"
"Hmmmm ..." Nachdenklich kaute er an seiner Lippe. Ob er dies als Schlagzeile so stehen lassen konnte?
Vor seinen Augen hatte er die beiden Fotos der vermisst gemeldeten Person und der Toten von Leutkirch. Er wechselte zur Suchmaschine zurück und schaute noch einmal auf den bereits geschriebenen Artikel der Konkurrenz. Dann dachte er: 'Das können wir doch noch toppen.'
"Alexa W. ebenfalls Opfer des Rosenkillers geworden?"
Die Buchstaben huschten nur so über den Bildschirm.
„Treibt das schlechte Gewissen Alexa W. in die Flucht oder ist auch sie ein Opfer des Rosenkillers geworden? So war die Frage noch, als Sebastian T. am Montagabend eine Vermisstenanzeige nach seiner Geliebten aufgab.
Wenige Stunden später war es schließlich amtlich: Alexa W. wurde umgebracht. Der Intendant des Leutkircher Eistheaters, Boris Bojanow, fand die Tote in einer Kabine, die Schlittschuhe noch an ihren Füßen, in der Kleidung, die sie am Tag ihres Verschwindens trug. Ersten Informationen zufolge wurde das Opfer mit der eigenen Steppjacke erstickt. Diese lag noch am Tatort, drapiert mit einer blutroten Rose.
Hat der Rosenkiller wieder zugeschlagen? Die Ähnlichkeiten zum Fall Rosenrot sind jedenfalls frappierend."
Stephan überlas das bisherig Geschriebene und war noch nicht ganz zufrieden. Da ihm nichts mehr einfiel, machte er sich an den nächsten Arbeitsschritt und öffnete sein Bildbearbeitungsprogramm.
Er war gerade im Begriff, die beiden Fotos aus der Maske zu kopieren und abzulegen, da spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Vor Schreck löschte er seine Zwischenablage, zuckte zusammen und sah über die Schulter.
"Was willst du denn hier?", entfuhr es ihm, als seine Freundin in lila Spitzen-Dessous vor ihm stand. Ihre dunklen Haare fielen in sanften Locken bis auf ihre Schultern, ihre braunen Augen funkelten warm.
Ohne sich von ihrem sexy Aufzug beeindrucken zu lassen, musterte er Jana vorwurfsvoll von oben bis unten und wandte sich gleich wieder ab.
"Ich konnte nicht schlafen", erklärte sie mit leicht quengliger Stimme und rieb sich in fast kindlicher Geste die Augen. Anschließend beugte sie sich lasziv über ihn und hauchte: „Na, Schatz, bist du noch fleißig? Es ist schon spät." Sehnsucht klang aus ihren Worten.
Seit der Nikolaus-Party mit ihrer Freundin Ronja war die Stimmung im Haus ziemlich frostig, und sie wusste immer noch nicht so genau, weshalb ihm an diesem Tag die Hand ausgerutscht war. Sie hatte es ihm jedoch schon lange verziehen - so wie sie es immer tat. Wenn Stephan jedoch mit seinen obligatorischen Verzeihensgeschenken ankam und sie mit seinen riesigen Kuhaugen ansah, konnte sie ihrem breitschultrigen Kuschelbär nicht widerstehen.
Diesmal war seine großzügige Gabe ein Dutzend Baccara-Rosen gewesen, und heißer Sex. Seitdem war allerdings Flaute; irgendetwas gärte in ihm.
"Verschwinde", knurrte der Bär sie bärisch an, und kuschlig klang das kein bisschen. Er machte eine abwehrende Bewegung mit seiner Hand, und ein Stapel Papier fiel zu Boden. Stephan fluchte.
Jana bückte sich danach, um ihm beim Aufsammeln zu helfen. Dabei fiel ihr Blick auf das Polizeilogo in der oberen linken Ecke. „Was ist das?“, fragte sie erschrocken. „Ist das etwa das, wonach es aussieht?!“
„Und wenn schon! Was geht dich das an?" Mit einer wütenden Bewegung sprang er auf, riss ihr das Papier aus den Händen und knallte es auf den Schreibtisch. Die Arme in die Seiten gestützt, baute er sich turmhoch vor ihr auf und starrte patriarchisch auf sie herab. Mit einer Hand drehte er Jana mit dem Rücken zu sich, fuhr ihr mit spitzen Fingern zwischen die Backen und fragte bösartig: "Und was soll dieser billige Auftritt?“ Dabei spannte er das Poband ihres Strings an und ließ es schmerzhaft zurück schnappen.
"Das hat dich sonst auch nie gestört", flüsterte sie, mittlerweile relativ kleinlaut. Jana versuchte, sich ihm zu entziehen und wich zur Seite. Dabei prallte sie gegen den Schreibtisch, der zu wackeln begann.
"Pass doch auf", brüllte Stephan sie an und wischte ihren wesentlich kleineren Körper mit einer ruckartigen Armbewegung wie eine lästige Fliege fort.
„Es tut mir Leid.“ Schützend hob Jana einen Arm angewinkelt vor ihr Gesicht. „Aber, sag mal, ist das ... hast du dich etwa in den Polizeiserver gehackt?“
„Halt's Maul!“, brüllte er lautstark und machte eine Drohgebärde in ihre Richtung. Zornesröte stieg in sein Gesicht. „Erst tauchst du hier im billigen Nutten-Stil auf, und dann kritisierst du auch noch meine Arbeit? Ich mische mich in deine doch auch nicht ein."
"Das kannst du auch nicht", wagte sie einzuwerfen. "Unsere beiden Jobs lassen sich kaum miteinander vergleichen." Ihre Stimme klang leise, als redete sie mit sich selbst.
Er hatte sie sehr wohl verstanden. "Soll das etwa heißen, ich bin blöder als du?", seine Stimme kickte über. "So siehst du mich also."
Sein muskulöser Sport-Center-Korpus drängte sie gegen die Wand, und Stephan zog an ihren Haaren. Jana verzog schmerzerfüllt das Gesicht, griff mit beiden Händen nach der Strähne, die er festhielt, und versuchte, sich zu befreien.
„So meine ich das doch gar nicht.“ Die Angst hielt sie nicht davon ab, weiterzusprechen. Im Gegenteil: Ihre eigene Furcht machte sie zornig, und dies gab ihr Mut. "Wenn das herauskommt, was du hier tust ..."
Sie hob ihren Kopf und sah ihn von unten herauf an. Ihr Blick machte Stephan noch wütender. Grob umfasste er die Oberarme seiner Freundin und schüttelte diese.
„Halt – dich – aus – meiner – Arbeit – raus!“, zischte er und betonte dabei jedes einzelne Wort. "Und in so einem Nuttenfummel will ich dich nie wieder sehen. Dazu bist du zu fett."
Vergeblich versuchte Jana, ihn abzuschütteln. 'Jetzt nur nicht weinen', rief sie sich innerlich zur Ordnung und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an. „Lass mich los … sofort. Du bist doch gar nicht mehr du selbst.“
Der Versuch, ihre Stimme fest und entschlossen klingen zu lassen, scheiterte kläglich. Sie sah das Aufblitzen in seinen Augen und machte sich auf das Schlimmste gefasst. „Was sagst du da? Ich zeige dir schon, wer ich bin!“ Gefährlich verengt blickten Stephans Augen auf Jana herunter, und er griff noch fester nach ihr. Die ersten Druckstellen waren schon an ihren Oberarmen zu sehen.
Die junge Frau fühlte sich mehr und mehr wie ein winziger Zwerg. Sie konnte ein Aufschluchzen nicht mehr unterdrücken.
„Ich will doch nur nicht, dass du hinterher im Gefängnis landest", lenkte sie ein. Insgeheim fragte sie sich, wie es weiterginge, wenn dies geschähe. Seit einiger Zeit hatte sie so ein unbestimmtes Gefühl ...
„Wenn du deine verdammte Schnauze hältst, dann wird das nicht passieren! Und du wirst es ja wohl nicht wagen, irgendwem auch nur ein Sterbenswörtchen davon zu erzählen, oder?!“
Er fasste nach ihrem Hals und drückte leicht gegen ihre Kehle. Seine Stimme wurde leiser, aber nicht minder bedrohlich: „Ansonsten, meine Kleine, werde ich dafür sorgen, dass du in deinem Leben keinen Fuß mehr vor die Tür setzt.“
Mit großen, vor Angst geweiteten Augen starrte Jana stumm zu ihm auf. Alles in ihr schrie danach, ihm noch einiges mehr ins Gesicht zu schreien, doch ihre Lippen waren versiegelt. Das war nicht mehr der Mann, den sie liebte!
Er ließ sie los und drehte sie mit festem Griff in Richtung Tür. „Und jetzt geh zurück ins Bett!", befahl er und gab ihr einen schmerzhaften Klaps auf den nackten Po. "Bevor ich mich noch ganz vergesse!“
Mittlerweile war sie erleichtert, ihm entkommen zu können, und sie gehorchte. Diesmal war sie noch heil davon gekommen, es hätte schlimmer ausgehen können. Es hatte schon Tage gegeben, da war sie bei Regen mit Sonnenbrille zur Arbeit gegangen.
Jana verließ das Zimmer und hörte noch, wie er die Zimmertür hinter ihr zuknallte. Im Schlafzimmer angekommen, musterte sie sich selbst vor dem Spiegel. War sie etwa wirklich schon wieder etwas dicker geworden? Mit ihrer leicht molligen Figur stand sie schon länger auf Kriegsfuß, doch als fett sah sie sich wirklich nicht an.
"Mit seiner Stecken-Ex kann ich nicht mithalten, ist klar", murmelte sie halblaut. "Und ich will auch kein Steckenpferd sein." Ihre Augen funkelten wütend.
Seufzend wandte sie sich von ihrem eigenen Anblick ab und begab sich zu Bett. Vorher war kein Gedanke an Schlaf möglich gewesen, und jetzt erst recht nicht mehr.
Stunde um Stunde wälzte sie sich von einer Seite zur Andern oder starrte gegen die Decke. Verzweifelt wünschte sie sich, endlich ins Reich der Träume abdriften zu können, um am nächsten Tag nicht hundemüde vor ihren Schülern stehen zu müssen. Stattdessen jedoch lauschte sie auf jedes Geräusch, erwartete jeden Moment seine Schritte im Flur und wusste nicht, ob sie ihn überhaupt noch einmal sehen wolle. Aus dem Arbeitszimmer drang jedoch noch immer das gleichmäßige Klackern der Tastatur an ihre Ohren.
Irgendwann in den frühen Morgenstunden verklang der letzte Tastenanschlag, und sie hörte ihn kommen. Ihr Herz schlug bis zum Hals, und schnell kuschelte sie sich in Embryo-Stellung in ihre Decken ein. Kurz starrte sie noch gegen die Wand, dann schloss Jana die Augen und stellte sich schlafend.
Bald hörte sie, wie er schwer atmend im Zimmer stand. Die Angst krallte sich an ihr fest, und sie wünschte sich, sie wäre tot. Dann fühlte sie, wie sich die Matratze senkte, die Bettdecke hob.
Ihr Körper erschlaffte noch ein bisschen mehr. Die Augen hielt sie krampfhaft geschlossen, so, als wäre sie unsichtbar. Als kühle Luft ihre Beine streifte, schluckte sie trocken, und sie wähnte sich träumend.
Stephan Wagner drehte ihren nackten Leib auf den Rücken. Dann spürte sie seine Hände, diese göttlichen Hände. Sie strichen über ihre Arme, die Brust. Sein Mund folgte, und genüsslich sog er an ihren Nippeln. Gegen ihren Willen wurde sie feucht, doch nach wie vor tat sie so, als ob sie schliefe. Sie kannte das Spiel, und sie wusste, dass er es liebte. Mittlerweile war ihr dieser Aspekt ihrer Beziehung unheimlich, und ihre Emotionen schwankten zwischen Widerwillen, Ekel und Lust.
Mit eisernem Willen zog sie sich noch mehr in sich zurück und sandte ihren Geist in unendliche Sphären.
Innerlich war sie nun wie tot, dachte, nichts mehr fühlen zu können, ihm nur noch Gummipuppe zu sein, und Jana selbst weilte weit fort in anderen Welten.
Sie hoffte, er möge weichen, die Lust an seinen Demütigungsspielchen verlieren. Schwer strich sein Atem über ihr bleiches Gesicht. "Jaaaanaaaa", hörte sie seine Stimme. Sie brummte direkt in ihr linkes Ohr.
Die junge Frau rührte sich nicht. Quälend langsam fühlte sie etwas Kaltes über ihre Lippen wandern und unterdrückte den Reflex, daran zu lutschen. Es roch nach Himbeer.
Ihre Nippel zogen sich zusammen und wurden steif. Jana unterdrückte ein Stöhnen. 'Ich bin gar nicht da', dachte sie verzweifelt. 'Geh weg von mir, ich will dich nicht mehr.'
Eine große Hand legte sich auf ihre Augen. Sie versuchte, nicht automatisch zu blinzeln und unbeweglich zu bleiben.
"Och komm schon, Mädchen, du warst doch vorher so geil. Deswegen bist du doch gekommen!" Seine Stimme klang provozierend. Mit der anderen Hand tastete er Zentimeter für Zentimeter ihren Körper ab. "Ich werd' dich schon kriegen, du Nutte!", zischte er. Seine Worte standen im krassen Gegensatz zu seinen Taten.
Stephan legte den Eiswürfel auf ihre Vulva und ließ ihn schmelzen. Ihre vorgetäuschte Wehrlosigkeit machte ihn rasend, und er spürte das kochende Blut in seinen Lenden. 'Der Teufel solle mich holen, wenn ich sie ...', dachte er. 'Aber ich bring sie schon noch dahin, wo ich sie will.'
Er kniete sich vors Bett, teilte ihre Lippen und tauchte mit der Zunge in sie hinein. 'Dachte ich's mir doch!'
Unkoordiniert taumelten seine Gedanken durchs Reich seiner Lust, und er genoss seine Macht.
Jana fühlte sich wie mit dem Lasso eingefangen und aus dem Universum herunter gezogen. Noch einmal kämpfte ihr Geist gegen ihn an und wimmerte innerlich: 'Nein, nicht, ich will das nicht. Nie wieder mit ihm!'
Ihre Augäpfel begannen, hinter ihren geschlossenen Lidern zu rollen. Ihr Atem stockte, während ihr Herz wie ein Presslufthammer gegen ihre Rippen hämmerte. Das Pochen pulsierte bis hinab zwischen die Beine.
"Ja, komm, Mädchen", flüsterte er und tauchte wieder in sie hinein. Als sie spürte, wie er in ihr rotierte, erstarrte ihr Körper zu Eis. Ein Wimmern kam zwischen ihren zusammengepressten Lippen hervor: "Du Schwein, du elendes Schwein!" Dann bäumte sie sich seiner Zunge entgegen und hörte ihn schmatzen.
Ruckartig entzog sie sich ihm, sich schüttelnd vor Ekel. Wenige Minuten später fand sie sich würgend vor der Kloschüssel wieder. Doch er ließ ihr keine Ruhe!
Während sie sich erbrach, stand er hinter ihr in voller Montur. Seine Hände griffen über ihre Schultern und legten sich auf ihre nackten Brüste. Fest drückten sie zu. "Das machst du nicht noch einmal mit mir!", raunte er dumpf.
Schließlich wich er zurück und blieb am Waschbecken stehen. Ungerührt beobachtete er Jana in ihrer Qual.
Als sie sich umdrehte, öffnete er den Reißverschluss von seiner Jeans. Während sie noch am Boden kniete, ragte ihr sein Spaßmacher in prallem Zustand entgegen. "Und jetzt bist du dran, meine Süße", zischte Stephan. "Du hattest deinen Spaß, jetzt will ich meinen." Dann trat er auf sie zu und streckte ihn in ihr Gesicht. "Und lass dir nicht einfallen, mich noch einmal zu beißen. Diesmal überlebst du das nicht."
***
Am anderen Tag stand es in der Zeitung. Stephan Wagner hatte sich von seinem Vorhaben nicht abbringen lassen, und er hatte es sogar geschafft, termingerecht vor Druck der IM BILD noch zu liefern. Es sollte gut für ihn sein, einen solch engen Draht zur Chefetage zu haben und den Redaktionsschluss nicht zwingend einhalten zu müssen.
Eigentlich war sein Auftraggeber, der Chefredakteur Achim Wendelsau, bisher mit ihm zufrieden gewesen und hatte ihm versprochen, dass er bald einen festen Platz in seinem Team hätte.
Nur den Schnitzer mit dem Kisslegger Fall: Den nahm dieser ihm krumm. Aber was hätte er tun sollen? Kieselwurf hätte ihn kalt gemacht. So hatte Stephan sich lieber dessen Willen gebeugt und der IM BILD den Artikel von Toter Hund untergejubelt, was sich im Nachhinein als Glücksgriff erwiesen hatte. Er hatte Blut geleckt, und es machte Spaß, Zusammenhänge zu konstruieren, wie es ihm passte.
Im Präsidium Großdummsdorf sorgte sein Artikel über den Tod von Alexa W. ganz schön für Wirbel. Diesmal war Kommissar Mittnacht selbst dran, und Kriminaloberkommissar Mayrhöfer, der leitende Ermittler im Fall "Rosenrot", hatte ihn in der Mangel. Über die Details hatte er soeben erst Kenntnis erhalten.
"Ihnen ist ja wohl klar, was das bedeutet", hatte Frank sich anhören müssen und die aktuelle IM BILD-Ausgabe von diesem auf den Tisch geschmissen bekommen. "Irgendjemand aus Ihrem Team ist ein Plappermaul. Eine schnelle Aufklärung des aktuellen Falls können wir somit knicken."
"Für meine Leute lege ich meine Hand ins Feuer", entgegnete er scharf. "Da ja der Fall Marco Meier in eurer Hand liegt: Können Sie das von Ihren auch behaupten?"
"Wie mir zu Ohren kam, war das nicht das erste Mal, dass der Presse Informationen zugespielt wurden. Wie war das denn mit vorletzter Woche? Da wurden gleich zwei verschiedene Fälle durch die Zeitung geschmiert."
"Wenn wir schon dabei sind, uns Fehler um die Ohren zu werfen: Weshalb ist Emil Kieselwurf noch immer auf freiem Fuß? Haben Sie in Kisslegg überhaupt Ihre Hausaufgaben richtig gemacht? Es geht mich zwar dummerweise nichts an: Aber ich fürchte, euren Fall habt Ihr selbst nicht im Griff."
"Kommissar Mittnacht, hätten Ihre Leute richtig gearbeitet, wäre Ihnen nicht entgangen, dass der Mann nach wie vor in der Fahndung ist." Kommissar Mayrhöfer stand mit knallrotem Kopf mitten im Zimmer und war kurz davor, zu explodieren. Er griff in die Innentasche seines Jacketts, zog eine Schachtel HB heraus und zündete sich ungeniert im Büroraum seines Kollegen eine Zigarette an.
Mit tiefen Zügen inhalierte er und pustete den blauen Dunst in die Luft, woraufhin Frank zu husten begann. "Könnten Sie das nicht lassen?", fuhr er gereizt auf, sprang von seinem Chefsessel hoch und eilte, sich räuspernd, zur Fensterfront. Noch immer hustend, riss er beide Fenster sperrangelweit auf. Der Wind blies pfeifend ins Zimmer und trieb einen Schneewirbel herein.
"Sind Sie des Wahnsinns?", schrie Wolfgang Mayrhöfer. "Ist Ihnen entgangen, dass draußen ein Orkan tobt?" Blätter wirbelten durchs Zimmer, doch immerhin ließ er sich herab, seine Zigarette zu löschen - in Franks Mineralwasser-Glas.
Kommissar Mittnacht streckte den Kopf aus dem Fenster und nahm - noch immer hüstelnd - eine frische Brise zu sich, bevor er sich umdrehte und die Kippe in seinem Glas schwimmen sah. Sein Gesicht umwölkte sich. Geladen trat er zu seinem Kollegen und baute sich vor ihm auf, das Glas in der Hand. Demonstrativ hielt er es ihm vors Gesicht und packte ihn an seinem Hemdkragen.
"Das dürfen Sie selbst trinken", knurrte er mit bedrohlichem Unterton. Seine Miene war eisern, und sein düsterer Blick war unablässig auf sein Gegenüber gerichtet.
Kriminaloberkommissar Mayrhöfer erbleichte. Erschrocken versuchte er, sich aus Franks Griff zu befreien und stotterte: "Aber Herr Kollege, Sie werden doch nicht ..."
"Haben Sie eine Ahnung, was ich alles werde und kann. Sie haben vielleicht gerade Handlungsfreiheit von unseren werten Herrschaften bekommen, das heißt aber noch lange nicht, dass Sie mit uns Kasperle-Theater spielen können."
Er ließ ihn so abrupt los, dass der Ravensburger Kommissar gegen den Garderobenständer fiel. Plötzlich hing ihm ein roter Spitzen-BH über Augen und Nase, und ein Paar dazu gehörige Strapse fielen ihm wie Zöpfe über die Ohren.
Peinlich berührt rappelte Kommissar Mayrhöfer sich wieder auf, befreite sich mit feuerrotem Kopf von seinem unfreiwilligen Schmuck, nahm Frank die IM BILD wieder weg und stürmte - die Tür hinter sich zuknallend - davon.
In seinem Büro angekommen, ließ er sich in seinen Chefsessel fallen. Ein weiteres Mal blätterte er schockiert durch das Schundblatt des heutigen Tages. Diesmal schlug die Zeitung dem Fass den Boden aus. Nicht genug, dass wieder Insider-Informationen zur Todesart und Fundort-Details des Leutkircher Falls an die Öffentlichkeit gelangt waren, darüber hinaus wurde der Toten ein Name gegeben, der absolut aus der Luft gegriffen war.
Noch dazu ging es um seine Ehre, denn es war den Kollegen, die den Fall übernommen hatten, nicht verborgen geblieben, in welchem Zusammenhang das mit Großdummsdorf hing. Und was war das mit der Rose?
Ein kurzer Anruf bestätigte ihm, was er befürchtet hatte: Es war tatsächlich eine Rose im Spiel. Aufgewühlt erhob er sich und durchmaß den Raum mit langen Schritten. Dieser Mittnacht und dessen Team machten ihn absolut kirre!
Seine übergroße Gestalt warf im Lichtkegel der Schreibtischlampe hagere Skelettschatten gegen die Wand. Kurz entschlossen wirbelte er um die eigene Achse, kehrte zu seinem Schreibtisch zurück und platschte seinen schmalen Hintern zurück in den Sessel, wobei er ein knarzendes Geräusch hinterließ.
"Upps", entfuhr es ihm, wobei er froh war, dass es niemand hörte. Nachdenklich betrachtete er die beiden Fotos auf der Titelseite der IM BILD. Links war ein Foto von Alexa Winter - zu Lebzeiten. Das rechte zeigte die Mädchenleiche von Leutkirch.
"Hmmmm", machte er. "Die Ähnlichkeit in ist in der Tat nicht von der Hand zu weisen."
Alexa Winter war noch immer nirgendwo aufgetaucht, soviel er wusste. Doch andererseits wäre ihm dies zuviel Zufall. Nichtsdestotrotz sah er sich veranlasst, seine Kollegen über das entdeckte Detail zu informieren und griff noch einmal zum Telefon.
Nach einigen Minuten hatte er noch mehr Brain-Food erhalten, mehr als im lieb war. Offenbar spielte Kommissar Mittnacht eine nicht unerhebliche Rolle. Was hatte dieser mit Alexa Winter zu tun?
Wie ein Springteufel sprang er hoch, stellte sich vor den Spiegel neben der Tür und gelte sein Haar. Er war für alle Eventualitäten gerichtet, betrachtete sich von allen Seiten und fand, dass er wieder an Profil gewonnen hatte. Für neue Schandtaten bereit. Dem Kollegen auf den Zahn fühlen. Er wollte es wissen, und wenn es das Letzte wäre, was er erfuhr.
"Frank Mittnacht, zieh dich warm an." Voller Vorfreude rieb er sich die Hände, riss die Tür auf und stürzte trappelnd die Treppe hinab, einen Stock tiefer. Ohne anzuklopfen betrat er das Büro seines Kollegen - und wäre am Liebsten wieder gegangen. 'Was zum Teufel ...'
Frank Mittnacht drehte sich mit seinem Ledersessel der Tür entgegen, und kaum dass er Wolfgang Mayrhöfers ansichtig wurde, begann er, schallend zu lachen. Allzu deutlich stand ihm das köstliche Bild von vorher vor Augen.
Stocksteif stand der da und starrte Frank entgeistert an. "Sehr witzig, Kollege." Seine Stimme überschlug sich, er fing sich und schob spöttelnd nach: "Tragen Sie die Dinger eigentlich selbst?"
Kommissar Mittnacht brüllte noch einmal lachend auf - und stoppte sein höhnisches Gelächter, wie mit einer Schere gekappt. Sekundenlang sah er sein Gegenüber an und hatte ein lüsternes Glitzern in seinen Augen bei dem Gedanken, wo dessen unfreiwilliger Kopfschmuck zum Einsatz gekommen war. Er war nur allzu gern schwach geworden, als sie gekommen war, um ihn zu überraschen. Die Tagträume, die Frank in schönster Regelmäßigkeit gehabt hatte, waren gegen die Realität kalter Kaffee.
Er vergaß die Gegenwart seines Kollegen und driftete ab. Alexas Patchouli-Duft hing noch im Raum. Wie eine Krake hatte sie ihre Schenkel hier auf dem Schreibtisch um seine Hüfte geschlungen und ihn regelrecht in sich eingesogen. Es war der wildeste Sex seines Lebens gewesen.
Kommissar Mayrhöfer wurde plötzlich mulmig zumute. Breitbeinig saß sein Kollege ihm gegenüber, und sein Blick war starr auf ihn gerichtet. Die Erektion zwischen dessen Schenkeln war nicht zu übersehen. Er schluckte schwer, wich zurück und hatte schon die linke Hand an der Klinke ...
"Halt, Stopp", rief Frank. "Wohin wollen Sie denn?" Er schüttelte die Rückblende bedauernd von sich ab und unterdrückte das neuerliche Lachen, das in ihm aufsteigen wollte. Das Gesicht von Kollege Mayrhöfer soeben ...
Dieser blieb halb in der geöffneten Tür stehen und schwankte zwischen Bleiben und Gehen. "Was wollte ich denn?", murmelte er und fühlte die flammende Röte in seinem Gesicht. Er wagte es nicht, Frank anzuschauen. Schließlich entschied er sich, Zeit zu gewinnen und stammelte: "Muss etwas holen ... mit Ihnen reden ... Moment!" Dann verließ er mit zusammengekniffenen Pobacken den Raum.
Frank nutzte die gewonnene Zeit. Er stand auf und schloss seine Bürotür ab. Es war ihm egal, was dieser denken würde, er musste Klarheit gewinnen.
Weder Alexa noch er hatten es sich allzu einfach gemacht, doch ihre Anziehungskraft ließ ihm keine Wahl. Nie wäre es soweit gekommen, wäre er am Samstagabend nicht zusammengebrochen. Er hätte sie nach Hause geschickt, hätte sich ins Auto gesetzt und wäre davon gefahren.
Anschließend hätte er versucht, sie zu vergessen. Es sprach einfach zuviel dagegen, mit ihr zusammen zu sein.
Abgesehen davon hätte er niemals gedacht, dass sie tatsächlich IHN meinen konnte. Wer war er schon, was hatte er einer jungen Frau wie ihr schon zu bieten? Alexa war fünfzehn Jahre jünger als er, und obendrein war sie Teil eines Traumpaars gewesen.
Zwei Götter in einem Universum der Liebe, so wie er gedacht hatte, seit er Sebastian Tränkle und Alexa Winter kennengelernt hatte. Für ihn fühlte es sich an, als hätte sich eine Göttin entschieden, auf Erden menschlich zu werden. Er hatte keinen Platz in ihrem Leben!
Kommissar Mittnacht setzte sich an seinen Schreibtisch und starrte gegen die Wand. Etwas war am Freitag geschehen, und er wusste nicht genau, was. Hatte er etwas mit dem Tod von Marco Meier zu tun? Er wusste es nicht, und sein Unterbewusstsein verschloss ihm die Tür zur der Erkenntnis. "Was wäre, wenn ..."
Voller Angst malte sich Frank das Szenario aus. Zum zweiten Mal in seinem Leben überlegte er, seinen Job an den Nagel zu hängen und sich zu stellen. Für ihn hieße das, mindestens lange Zeit hinter Gitter zu wandern und sich zur Spezies "Verbrecher" zählen zu müssen.
Da war jedoch Tom! Was würde es für den Jungen bedeuten, Sohn eines Mörders zu sein? Er war dessen Vorbild!
Ein lautes, wiederholtes Rütteln an der Klinke seiner Bürotür enthob ihn der Verantwortung, sich weiter seinen Sünden zu stellen.
"Kommissar Mittnacht, machen Sie auf", hörte er die hohe Stimme seines Kollegen. Genervt rollte er mit den Augen, erhob sich dann jedoch und drehte den Schlüssel.
Die Tür platzte auf. "Was sollte denn das?", fragte Wolfgang Mayrhöfer und baute sich vor ihm auf. In der Hand hielt er die Zeitung des heutigen Tages und wedelte vor Franks Gesicht damit herum. "Darüber müssen wir reden!"
Kommissar Mittnacht drehte den Kopf zur Seite und verzog angewidert sein Gesicht. "Lassen Sie das. Und nun kommen Sie schon endlich herein und pflanzen sich hin. Was ist denn nun schon wieder?" Er schlug die Tür mit Krawall zu, ging voraus und setzte sich zurück an den Schreibtisch.
Kommissar Mayrhöfer nahm den Platz ihm gegenüber ein und knallte ihm das Blatt auf den Tisch. "Ich hätte gern eine Einschätzung von Ihnen, um es mal gelinde zu sagen." Seine Stimme zischte empört. "Wie kommt dieser Stefan Wagner zu einer Vermissten-Anzeige, die so frisch ist, dass sie noch nicht einmal bearbeitet ist? Das ist mal meine Frage zum Einen. Zum Andern: In welcher Beziehung stehen - besser gesagt: standen, wie's aussieht - Sie zu Alexa Winter?"
Frank ließ sich mit der Antwort Zeit. Zum zweiten Mal warf er einen Blick auf das Blatt, und diesmal sah er genauer hin. Er zuckte zusammen und entzog sich den fragenden Augen seines Kollegen. Nachdenklich starrte er aus dem Fenster hinaus und spielte mit seinem Füller. 'Das ist unmöglich', sagte er sich. 'Sie kann das nicht sein.'
"Kommissar Mittnacht, Ihr Schweigen sagt mir, dass Sie etwas verbergen. Was wissen Sie? Ist Ihnen nicht klar, was das für ein Licht auf Sie, auf mich, auf den gesamten Polizeistab Ihrer Stadt wirft, wenn in den Medien immer wieder etwas auftaucht, was geheim ist? Mehr noch: Als wüsste die Journaille mehr als wir selbst?"
"Was werfen Sie mir eigentlich vor? Alexa Winter ist eine Zeugin im Fall Marco Maier, die sich an mich gewandt hat. Woher wissen Sie eigentlich davon?" Frank blickte ihn an."Sie wurden zwei Mal mit ihr gesehen. Am Samstag in der Stadt in der Alten Linde, und ... ", Kommissar Mayrhöfer machte eine Kunstpause.
"Was, und?", hakte Frank nach.
"Am Montag in Leutkirch im Eistheater."
"Das ist absurd."
"Dann schalten Sie Ihren PC ein und gehen auf unseren Server. Ich kann das beweisen. Unsere Kollegen in Leutkirch haben Sie beide zufällig per Überwachungskamera entdeckt. Bei der letzten Abendaufführung." Kommissar Mayrhöfers Stimme klang ungewöhnlich sanft. Seine Bissigkeit war verschwunden, und neugierig betrachtete er seinen Kollegen.
Schmerz war in dessen Gesicht zu sehen, und etwas an seiner gesamten Haltung sagte ihm, dass da mehr war.
Frank Mittnacht stand - und da war er sich sicher - zu Alexa Winter in einer tieferen Beziehung. Doch war sie wirklich die Tote? Und was hatte dieser Journalist der IM BILD damit zu tun? Er verfolgte dessen Bericht-Erstattung nun schon etwas länger, genau genommen seit dem ersten Artikel unter der Signatur "Stephan Wagner".
Ein lautes Surren erfüllte den Raum. Gefolgt von einem lauten Piepsen bekundete das leistungsstarke Gerät Bereitschaft, den alltäglichen Dienst - etwas später als sonst - aufzunehmen. Frank erhob sich und räumte ein paar Aktenordner zurück in den Schrank. Dann wandte er sich an seinen Kollegen: "Möchten Sie auch eine Tasse Kaffee?" Er hoffte, noch etwas Zeit zu gewinnen.
Kommissar Mayrhöfer räusperte sich und fuhr sich mit zwei Fingern in den Hemdkragen, um ihn zu lockern. "Vielleicht hätten Sie mir lieber ein Glas Wasser", bat er mit sich überschlagender Stimme. "Sie haben es stickig hier drin."
Frank lachte. "Und ich dachte, Sie hätten eine Sauerstoff-Allergie." Froh darüber, noch etwas nachdenken zu können, trat er ans Fenster, öffnete es und streckte seinen Kopf dem Winter entgegen. Der Orkan hatte viel Durcheinander in der Stadt angerichtet und zugleich für weihnachtliche Stimmung gesorgt.
Allmählich flaute er ab. An den Straßenrändern häuften sich die Schneehäufen der Räumfahrzeuge. Hausdächer und Baumkronen trugen dicke, weiße Hauben und malten ein stimmungsvolles Winterbild, während Sturmböen immer wieder Schneeschleier durch die Straßen trieben.
Kommissar Mittnacht hatte kein Auge dafür. Ihm war alles Andere als vorweihnachtlich zumute, seine Stimmung schwankte zwischen Trauer, Verzweiflung und Wut.
Sein Wintermärchen hatte bereits nach zwei Tagen zwischen Träumen und Hoffnung sein Ende gefunden, und einmal mehr lag sein Leben in Scherben vor ihm. Musste er Alexa wirklich verloren geben? War sie womöglich ... tot?
Frank erinnerte sich an die Bitte seines Kollegen, trat vom Fenster zurück und durchquerte den Raum. Mit zitternden Händen schenkte er sich in einer kleinen Kochnische Kaffee ein und brachte seinem Kollegen das gewünschte Glas Wasser. Diesem blieb seine Nervosität nicht verborgen. Wolfgang Mayrhöfer bedankte sich knapp und hub an: "Setzen Sie sich, Kollege. Schauen Sie sich das Video der Überwachungskamera an, und dann sagen Sie mir, dass die Leutkircher irren. Ich behaupte: Sie irren sich nicht, und ich bin gespannt auf Ihre Erklärung."
Frank setzte sich und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Es war nicht notwendig, dem Wunsch seines Kollegen und Kontrahenten nachzukommen. Leugnen war zwecklos, und mittlerweile war er sich dessen bewusst.
Den Blick unverwandt auf Kriminaloberkommissar Mayrhöfer gerichtet, setzte er sein Lederkarussell in Bewegung.
Er entschloss sich, die Wahrheit zu sagen, die alles ausschloss, auf was er selbst keine Antworten hatte. Diese musste und wollte er erst einmal finden.
"Am Wochenende wandte sich Frau Winter aus bestimmten Gründen an mich", setzte er an. "Ihr Anliegen betraf ihre Freundin. Der Fall Fahrerflucht ist Ihnen bekannt?"
Wolfgang Mayrköfer nahm einen Schluck Wasser zu sich und nickte knapp. Mit dem Zeigefinger malte er eine Spirale und zog die Augenbrauen mahnend nach oben. Frank machte eine abwehrende Kopfbewegung und fuhr fort: "Geduld! Marco Meier und Maja Berger waren Kronzeugen am Unfallort, wie Ihnen bestimmt auch nicht entging. Frau Berger war zu keiner Aussage zu bewegen, und Frau Winter kam zu mir, um mir einen wichtigen Hintergrund darüber mitzuteilen. Wie Sie ja bestimmt wissen, ist der Unfallfahrer noch nicht gefasst."
"Ja, das ist mir klar, Kommissar Mittnacht. Aber was hat das Ganze mit Ihnen zu tun?"
"Zum Einen ist der Fall "Fahrerflucht" unser Fall, und Frau Winter wandte sich deshalb an mich."
"Herr Kollege, soweit ist das ja noch nachvollziehbar." Kommissar Mayrhöfers Stimme klang leise und drängend. "Weshalb kam sie jedoch damit nach dem Tod von Marco Meier zu Ihnen, und weshalb heimlich? Warum wandte sie sich nicht ans Präsidium?"
"Weil sie keinen anderen Ausweg mehr wusste. Frau Berger ist Gast in der Wohnung von Sebastian Tränkle und Alexa Winter, und nach der Versiegelung des Tatorts wurden die beiden Frauen bedroht. Das hatte sie mir mitgeteilt, und deshalb hatten wir uns getroffen."
"Und wie erklären Sie sich die Vermissten-Anzeige? Aufgenommen wurde sie von Josef Neureuth, wie Sie bestimmt wissen. Laut Protokoll ist sie seit Samstagabend verschwunden. War sie bei Ihnen?"
Frank wusste nicht mehr aus noch ein. Was sollte er sagen? Ihm war bewusst, dass auch Kommissar Mayrhöfer von seinem Hintergrund Kenntnis hatte. Nervös erhob er sich und trat wieder ans Fenster.
"Allmählich wird es kalt, könnten Sie es bitte schließen?", hörte er die Bitte seines Kollegen. Er war froh, dass dieser nicht mehr auf Krawall gebürstet zu sein schien, seine Nerven lagen ohnehin blank. Frank Mittnacht fühlte förmlich, wie sich die Schlinge der Schuld immer enger zog.
Eine ganze Weile lang herrschte Stille im Zimmer. Kommissar Mayrhöfer hielt die Augen unablässig auf Frank gerichtet und wartete darauf, dass dieser fortfahren würde.
Der Motor des Rechners surrte noch immer, begleitet vom Knacken der Heizung. Plötzlich durchbrach ein Hupen das Schweigen, gefolgt von einem Krachen. Kommissar Mittnacht starrte hinaus auf die Straße.
Zwei Autos hatten sich ineinander verkeilt. Mit bitterem Lächeln beobachtete er, wie die beiden Fahrer ausstiegen, knapp davor, sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen. Schimpfkanonaden drangen undeutlich zu ihm empor.
Die Bilder des siebten Dezembers stiegen noch einmal in Frank Mittnacht auf. Noch einmal fühlte er den Zorn auf Maja Berger, auf deren Ignoranz gegenüber der Toten, und nicht zuletzt auf die Starre, die sich ihrer Seele bemächtigt hatte. Durch ihr Verhalten hatte sie einen Täter gedeckt!
Plötzlich spürte er, wie Wolfgang Mayrhöfer neben ihm stand. Auch er schaute hinaus, und Franks Mienenspiel hatte ihm tausend Geschichten erzählt. "Können Sie jemals vergessen?", fragte er ihn.
Wie aus weiter Ferne kehrte Franks Blick zu ihm zurück. "Das ist etwas, was man nie vergisst", antwortete er in vollem Bewusstsein, von was sein Kollege da sprach. "Und alles, was bleibt, ist Hilflosigkeit und das Gefühl, nicht genug getan zu haben. Selbst wenn man keine Chance hatte, überhaupt etwas zu tun. Und unbändiger Zorn, der einen auffressen kann."
"Was ist mit Alexa Winter? Weshalb waren Sie mit ihr am Tatort?" Mayrhöfer versuchte, die momentane Schwäche zu nutzen, und es gelang. Frank schloss das Fenster wieder und sperrte die beiden Streithähne auf der Straße dort unten aus. Dann kehrte er zurück zu seinem Schreibtisch. Zerstreut fragte er: "Von welchem Tatort sprechen Sie?"
"Bojanows Eis-Theater, erinnern Sie sich?" Mayrhöfer legte Frank noch einmal die IM BILD-Zeitung vor und deutete auf den Artikel. "Dort ist ein Mädchen ermordet worden, und es sieht so aus, als seien Sie an jenem Tag mit der Person, von der angenommen wird, dass sie das Opfer ist, am Tatort gewesen. Sehen Sie bitte ein, dass das Fragen aufwirft."
Frank verschränkte die Arme und sah seinen Kollegen fest an. "Also gut, Herr Kriminaloberkommissar Mayrhöfer, hochgeschätzter Kollege." Das Spötteln in seiner Stimme vermittelte ihm neue Sicherheit. "Alexa Winter und ich sind uns näher gekommen, und sie war bis Montag Abend bei mir. Wenn Sie es noch genauer wissen wollen, habe ich sie hier auf dem Schreibtisch noch am Morgen vernascht."
"Sie nehmen mich auf den Arm, Kommissar Mittnacht, oder?" Mayrhöfer sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an und war äußerst entrüstet.
"Ich fürchte, nein. Möglicherweise wurde sie sogar hier im Haus von dem einen oder andern unserer Kollegen gesehen. Und Alexa Winters Strapse standen Ihnen doch ziemlich gut, finden Sie nicht?" Frank grinste den MK-ler boshaft an.
"Und wie ging es dann weiter? Hatten Sie Ihre junge Geliebte ausgeführt?" Wolfgang Mayrhöfer reagierte nicht mehr auf die kleine Spitze und war nun ganz Profi. Insgeheim hoffte er, dass Frank ihm mehr sagen könne, vielleicht sogar Tatzeuge war ...
"Ja. Am Abend fuhren wir gemeinsam nach Leutkirch. Boris Bojanow ist ein Bekannter von mir, und ich hatte Karten. Aber sie kann nicht die Tote sein. Auf gar keinen Fall!"
"Weshalb sind Sie da so sicher? Vergleichen Sie doch mal die beiden Fotos des Artikels von Stephan Wagner. Die Tote trägt die Kleidung, die Sebastian Tränkle am Montagnachmittag beschrieb, als er die Vermisstenanzeige nach seiner Freundin aufgab. Die Haare, das Alter, alles ist identisch mit seinen Angaben. Schauen Sie selbst, auch die Fotos. Wann hatten Sie Alexa Winter das letzte Mal gesehen?"
"Wir haben die Abendvorstellung auch gemeinsam verlassen, und danach brachte ich sie zu den Eltern meiner verstorbenen Frau." Frank sah keinen anderen Ausweg mehr, als mit offenen Karten zu spielen. Und weshalb sollte er es auch nicht? Der Aufbau des Artikels war ihm zwar genauso ein Rätsel wie seinem Kollegen, aber was auch immer da schief gelaufen war: Alexa MUSSTE am Leben sein.
In seinem Unterbewusstsein wuchs die Angst um sie jedoch zu einem gigantischen Berg. Als er mit ihr in der Spätvorstellung gewesen war, hatte er ein ständiges Kribbeln im Nacken gehabt. Ein sicheres Signal seines Instinkts für Gefahr, für einen unsichtbaren Verfolger. Er hatte es ignoriert und wollte nur noch genießen. Es war ein solch zauberhafter Abend gewesen, und am Ende der Nacht hatte sie für ihn getanzt. Alexa war Babsi so ähnlich ...
Kommissar Mayrhöfer war noch nicht fertig mit ihm. "Wie kam es zu der Vermissten-Anzeige von Sebastian Tränkle?" Mit hochgezogenen Augenbrauen saß er Frank gegenüber und beobachtete ihn unablässig. War er ein Täter? Oder war er nur Opfer seiner eigenen Angst; seiner Vergangenheit?
"Herr Mayrhöfer, der Freund von Alexa hatte keine Kenntnis über ihr Vorhaben, mich aufzusuchen, weder er noch Maja Berger. Sie wollte nicht mehr nach Hause, also nahm ich sie mit zu mir. Den Rest kennen Sie."
Franks Kollege stand auf und ging Richtung Tür. Dort drehte er sich noch einmal um, die Klinke schon in der Hand. "Eine Frage haben Sie noch nicht zufriedenstellend beantwortet: Wann hatten Sie Alexa das letzte Mal gesehen, sagten Sie?"
"Montagnacht, als ich sie zu den Eltern meiner Frau fuhr. Seitdem hatten wir keinen Kontakt mehr. Ich werde noch heute hinfahren und mich vergewissern, dass es nicht so ist, wie es aussieht. Und dann Gnade diesem Schmierfink von Journalisten Gott, dass ich ihn nicht in die Finger bekomme!" Franks Gesicht war versteinert vor Zorn.
"Tun Sie nichts Unüberlegtes, Kommissar Mittnacht!" Wolfgang Mayrhöfer bekam Mitleid mit dem Mann und wünschte sich, dass dessen Liaison mit Alexa Winter kein Fall für die Mordkommission sei. Mit diesem letzten Gedanken begab er sich zurück in sein Büro im oberen Stock.
***
Er war wieder da! Noch am selben Tag - dem Mittwoch-Nachmittag, 18. Dezember 2013, um genau zu sein - starrte Maja Berger schon eine ganze Zeitlang zum Fenster hinaus. Ihr Leben hatte sich zu einem Albtraum entwickelt, ein Albtraum, von dem Marcos Tod erst der Anfang gewesen war. Mittlerweile träumte sie ihn nicht mehr allein, denn auch Basti war involviert - und selbigermaßen betroffen.
Sie fühlte sich wie eine Todesfee, und das war es nicht allein: Ihre beste Freundin hatte alle Menschen dermaßen getäuscht, sich davon gemacht und dafür mit dem Leben bezahlt. Und vermutlich wäre sie nun die Nächste!
Ihr Verfolger hatte es nicht einmal mehr nötig, sich zu verstecken. Bereits seit einer Stunde stand er auf der anderen Straßenseite und stierte mit gehässig-bedrohlichem Grinsen zu ihr herüber. Sie kannte ihn nicht, hatte ihn das erste Mal gesehen, als er ihr am Samstag angeraten hatte, "die Klappe zu halten". Und dennoch war ihr irgendetwas an ihm vertraut. Wenn sie doch nur wüsste ...
Sie spürte eine Berührung an ihrer Schulter und zuckte zusammen. "Ist er noch immer da?", hörte sie Bastis leise Frage und drehte sich um. Sein Anblick war das Spiegelbild ihrer eigenen Verfassung und krampfte sich wie eine Faust um ihre Seele. Es war, als wäre eine Welt untergegangen.
Maja ließ den zarten Spitzenvorhang zurückgleiten und nickte leicht. Sekundenlang stand sie dem Freund von Alexa gegenüber und musterte sein bleiches Gesicht. Die vergangenen Tage hatten dunkle Ränder um seine einstmals strahlend blauen Augen gezeichnet, er wirkte um Jahre älter als er eigentlich war. Sämtliche jugendliche Lebensfreude und der Übermut, der alle mitriss, schienen verloren gegangen zu sein. Selbst seine normalerweise glänzend kastanienbraune Wikinger-Mähne wirkte farblos und strähnig.
Ihrer Meinung nach hatte sie noch niemals einen schöneren Menschen gesehen als ihn, und Alexa war dumm gewesen, so eine Pracht von Mann verloren zu geben. Die Trauer um deren Tod war noch nicht eingetreten, momentan überwog bei beiden noch die Wut auf ihre Leichtfertigkeit, die zumindest sie - Maja - hinter ihr nicht vermutet hätte.
Und nun war sie tot! Zart legte sie die Hand auf Bastis Arm und sah ihm ins Gesicht. Irgendwie war sie dankbar, dass sie für ihn da sein konnte. Maja sah sich in ihm wieder, schwach und hilfsbedürftig, und wieder einmal zurück ins Leben geworfen. Bisher - und erst recht - hatte sie die Kraft nicht mehr dazu gefunden, zurück zur Arbeit zu gehen.
Sebastian schob sich an ihr vorbei, trat ans Fenster und schaute den Mann an. "Was will er von dir?", fragte er halblaut. Es schwang keine Angst in seiner Stimme mit, nicht einmal Neugierde, es war einfach nur eine Frage. Vielleicht, um die Stille zu füllen.
"Ich weiß es nicht", hauchte sie und senkte unsicher den Blick. "Irgendetwas an ihm ist mir vertraut, so als hätte ich ihn schon einmal gesehen. Doch mir fällt nicht um viel ein, wo das gewesen sein soll."
Draußen setzte die Dämmerung ein, und der Mann verließ seine Wachposition. "Er geht", sagte Basti Maja Bescheid. "Willst du nicht die Polizei informieren? Immerhin kann es sein, dass du in Gefahr bist."
'Und du mit', dachte sie, doch der Gedanke daran, wieder mit einem dieser ... Kommissare zu tun zu bekommen, ließ Maja frösteln. 'Begreift er überhaupt, was hier passiert?'
Nach einem letzten Blick in die Winterdämmerung verließ sie das Fenster und zog die dicken Vorhänge zu. Basti schaltete die indirekte Beleuchtung im Wohnzimmer an und warf einen Blick in die Ecke, in der bereits ein Weihnachtsbaum stand.
Plötzlich schlug er die Hände vor sein Gesicht und sank aufstöhnend aufs Sofa. "Warum, Maja, warum?" fragte er in schmerzvollem Ton. "Warum hat sie uns beide belogen?"
Behutsam setzte sich Maja neben ihn und legte die Hand in seinen Nacken. "Ich weiß es nicht."
"Meinst du, das was in der Zeitung steht, stimmt?" Er grub seinen Kopf in ein Kissen, und Maja zuckte hilflos die Schultern. Lange Zeit hielt sie ihn fest und wünschte sich, ebenfalls jemanden zu haben, der ihr Halt geben würde. Sie wünschte, die Tür ginge auf, und Marco kehrte zurück.
"Vielleicht hatte Alexa Probleme, von denen wir beide nichts wissen", sagte sie urplötzlich in die Stille hinein. Und ich denke, dass wir es nicht aus der Zeitung erfahren würden, wäre ihr wirklich etwas passiert. Sie ist bestimmt irgendwo." Maja versuchte, Überzeugung in ihre Stimme zu legen, eine Kraft, die sie eigentlich nicht hatte.
"Das sagst du als Freundin", fuhr Basti auf. "Ließ sie dich nicht genauso im Stich, als es dir schlecht ging?"
"Alexa weiß, dass ich bei dir in guten Händen bin", antwortete Maja sachlich, stand auf und ging in die Küche. Sie brauchte Abstand, und sie brauchten etwas zu essen. Beide hatten vergessen, was es hieß, seinen Körper mit dem Notwendigsten zu versorgen. "Ich komme gleich wieder", rief sie Basti von der Tür aus zu. "Ich habe Hunger."
Mehr und mehr wurde ihr das eigene Leben an Marcos Seite bewusst, wie sehr sie es gewohnt war, dass sich jemand um sie gekümmert hatte. Er hatte alles für Maja getan, wenn sie sich wieder einmal in Trauer zurückgezogen hatte, das Essen vergaß, die Welt um sich herum ausschloss. Ohne seine stützende Hand wäre sie möglicherweise schon lange gestorben, oder sie wäre zum Zombie geworden. Er hatte ihr die Stärke zum Überleben vermittelt!
Ein Vibrieren an ihrem Po zeigte ihr das Eingehen einer SMS an. Maja zog ihr Handy aus der Hosentasche und setzte sich an den Esstisch. Sie rechnete schon damit, etwas von Marco zu lesen, bis ihr einfiel ...
'Nein, von ihm werde ich nie wieder eine liebe Botschaft erhalten', dachte sie und unterdrückte ein Schluchzen. Maja öffnete das Menü und wäre am Liebsten in Ohnmacht gefallen. "Bitte verzeih", las sie. Mehr stand nicht da, kein Absender, und die Anzeigenummer war ihr auch nicht bekannt.
Sie legte das Handy mit dem Display nach oben vor sich auf den Tisch und starrte darauf, in der Hoffnung, Antworten auf ihre Fragen zu finden. Minuten später ging eine zweite SMS ein: "Macht euch keine Sorgen um mich, mir geht es gut. Ich kann nicht zurückkommen. Alexa."
Maja setzte alles auf eine Karte und tippte ein: "Warum? Warum tust du das?" Sie drückte auf gut Glück auf Antworten und hoffte, dass ihre eigene SMS auf der anderen Seite ankommen würde. Wieder vergingen bange Sekunden.
Die Antwort kam: "ich wollte das nicht, bin verliebt in einen anderen Mann."
"Und deshalb setzt du alles aufs Spiel, sogar unsere Freundschaft? Wer ist es?" Maja war von den Socken. All ihr eigener Kummer wurde von der Sorge um ihre Freundin verdrängt, und sie war gespannt auf weitere Antworten.
Nervös knetete sie ihr Handy mit ihren schlanken Fingern, als ob es dadurch schneller ginge. Ein neues Vibrieren zeigte ihr einen weiteren SMS-Eingang an. "Bitte sag niemandem was. Wer es ist, kann ich nicht sagen. Muss aufhören. Alexa."
Maja las die SMS und sprang auf. So einfach würde sie ihre Freundin nicht davon kommen lassen. Sie schloss den Kühlschrank, dem sie gerade die Zutaten für das Essen entnehmen hatte wollen, und rief: "Basti, ich komme gleich wieder. Brauche kurz frische Luft."
Falls Sebastian Tränkle sich wundern sollte, zeigte er es jedenfalls nicht. "Ist gut", kam die gleichmütige Antwort aus dem Wohnzimmer zu ihr. "Lass dir ruhig ein bisschen Zeit."
Maja schnappte sich ihre dicke Winterjacke von der Garderobe und streifte ihre kuschligen Hausschuhe ab. Ungeduldig hüpfte sie auf einem Bein, im Versuch, ihre Moonboots so schnell wie möglich an die Füße zu kriegen. Wütend stampfte sie auf, um die letzten paar Zentimeter des zweiten Stiefels passend zu machen. Die Jacke hatte sie noch nicht einmal richtig an, da witschte sie schon aus der Tür, um kurz danach auf der Straße zu stehen.
In der kalten Winterluft fühlte Maja sich plötzlich so lebendig wie niemals zuvor. Sie überlegte, wo sie sich vor neugierigen Augen verbergen könnte, um ungestört mit Alexa zu telefonieren. Ohne dass es ihr bewusst wurde, richteten sich ihre Schritte in Richtung ihrer eigenen Wohnung, und plötzlich stand sie davor. Es war wie ein Schock, wieder an ihrer ureigensten Stätte der Trauer zu stehen. Halb rechnete sie damit, Marco aus dem Haus kommen zu sehen.
Majas Hand krampfte sich fest um ihr Mobiltelefon, als sie gegen die untere Haustür drückte, um zu sehen, ob sie verschlossen war. Der eigene Schlüssel war noch bei Basti und Alexa zu Hause ...
Die Tür schwang auf. Ihre Beine fühlten sich plötzlich bleischwer an, als sie die fünf Stufen bis zu ihrer Wohnungstür nahm. Alexa war wieder vergessen.
Oben angekommen, strich sie zart und sehnsuchtsvoll über das Holz. Die Wohnung war noch immer versiegelt.
Trocken aufschluchzend lehnte sie ihre Stirn gegen die Wohnungstür und verharrte eine ganze Weile in ihrer Trauerposition. Die Welt um sie herum versank im Meer ihrer Tränen, die ungeweint blieben.
Dunkelheit umschloss sie, als das automatisch gesteuerte Treppenhauslicht erlosch, doch Maja Berger merkte es nicht.
Erst, als die Kälte sie umfing und sie zu zittern begann, vernahm sie leise Schritte im Flur, und das Licht ging wieder an. Eine Hand legte sich auf ihre Schulter.
Maja erstarrte. Sie wagte es nicht, den Kopf zu wenden und nach hinten zu sehen, dachte: 'Jetzt ist alles vorbei!' Sie wusste nicht, ob sie Angst haben oder erleichtert sein sollte, hieße das doch, endlich wieder bei Marco zu sein.
Ergeben schmiegte sie ihr Antlitz wieder gegen das Holz, im Bestreben, mit der Tür zu verschmelzen. Sie wartete darauf, dass sich zwei Hände um ihren Hals legen würden ...
"Frau Berger?", hörte sie diese heisere Männerstimme, die sie nie mehr im Leben vergessen würde. "Wir müssen reden."
Majas Augen weiteten sich voller Entsetzen. Den Kopf noch immer gegen die Tür gelehnt, verschwamm die Maserung des Holzes vor ihren Augen. Starr wartete sie darauf, dass er weiter sprach.
Er jedoch schwieg, womöglich in der Erwartung, eine Antwort von ihr zu erhalten. Das Schweigen zerrte an ihren Nerven. Die Treppenhausbeleuchtung erlosch erneut, und sie spürte seinen Atem in ihrem Nacken.
"Was ..." krächzte Maja mit trockenem Hals und räusperte sich. "Woher wissen Sie ..." Sie schluckte und wagte einen neuen Ansatz: "Was wollen Sie von mir, und woher wissen Sie, wo ich bin?" Maja nahm ihren ganzen Mut zusammen und drehte sich um. Im Dämmerlicht, das von draußen durch die Milchglasscheibe der Haupteingangstür drang, sah sie ihn lediglich als Silhouette, nur unwesentlich größer als sie. Dennoch erschien er ihr wie ein Berg.
Eine Schattenhand langte an ihr vorbei und tastete sich an der Wand entlang. Kurz darauf wurde das Treppenhaus gleißend hell, und sie sah sein Gesicht so dicht vor sich wie noch niemals zuvor.
'Er scheint sich sehr sicher zu sein', dachte sie flüchtig, und ein Schaudern lief ihr über den Rücken. Mit gesenkten Lidern tastete ihr Blick sein Antlitz ab und nahm jede einzelne Lebensfurche darin wahr. Voller Furcht raste ihr Herz.
"Ich weiß es von Ihrem Freund", antwortete Frank Mittnacht. "Ich wollte Sie aufsuchen, und er hatte mir gesagt, sie seien frische Luft schnappen gegangen. Da dachte ich mir, dass ich Sie hier finden würde. Kommen Sie, Frau Berger, gehen wir zusammen ein kleines Stück. Ich begleite Sie."
Misstrauisch sah Maja ihn an. "Wann kann ich wieder in meine Wohnung?", wollte sie wissen.
"Das habe ich nicht in der Hand. Kriminaloberkommissar Mayrhöfer weiß das besser als ich." Er legte eine Hand auf ihren Arm und sprach: "Es tut mir außerordentlich leid."
Sie vermeinte, ein Lauern in seinen Augen zu sehen. "Warum sind Sie gekommen?", fragte Maja und versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu verleihen.
Kommissar Mittnacht seufzte. "Ich mache mir Sorgen um Sie, aber kommen Sie, gehen wir nach draußen."
Er entfernte sich von ihr und wandte sich Richtung Ausgang. Seine Schritte hallten im Treppenhaus.
Die junge Frau zögerte und sah ihm nachdenklich hinterher. Dann jedoch überwog die Neugierde, weshalb sie ihm folgte.
Frank wartete vor der Tür auf sie, die Beine wie zwei Säulen am schneebedeckten Boden verankert, die Arme ungeduldig ineinander verschränkt. Als sie das Haus verließ und sich zu ihm gesellte, setzte er sich in Bewegung und wandte sich in Richtung der Wohnung von Alexa und Basti.
Still ging sie neben ihm her. Ihre Stiefel knirschten im Schnee. Maja hatte den Blick von ihm abgewandt, und sie wartete darauf, dass Kommissar Mittnacht das Wort ergriff.
Es war ein seltsames Gefühl, in seiner Nähe zu sein. Die Szene vom Unfalltag stand noch einmal vor ihrem inneren Auge, wie er vor der toten Frau gekauert hatte. Weshalb hatte er Marco gegenüber behauptet, sie sei seine Frau?
Ob er ahnte, dass sie es wusste? Weshalb war er überhaupt so plötzlich verschwunden gewesen? Und warum verurteilte er SIE, wenn er doch selbst nicht bereit gewesen war, sich seinen Kollegen - denn das waren sie ja wohl - als Zeuge zur Verfügung zu stellen?
"Sie hätten es mir sagen sollen", eröffnete Frank das Gespräch. Sein Blick streifte sie von der Seite, fragend, abschätzend, ungewohnt vorsichtig. Er konnte sich ihre Angst vor ihm nicht erklären, doch er spürte sie fast physisch.
Maja schreckte auf. "Von was reden Sie?" Unsicher schweifte ihr Blick durch die Gegend und fiel auf die andere Straßenseite. Der blaue Corsa, der dort parkte, kam ihr bekannt vor. Zerstreut grübelte sie darüber nach, wann sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Es fiel ihr nicht ein.
"Es ist mir zu Ohren gekommen, dass Sie bedroht werden. Es wäre gut gewesen, das von Ihnen selbst erfahren zu haben. Weshalb haben Sie kein Vertrauen in die Polizei?"
Ein Ruck ging durch ihren Körper. Wie eine Viper fuhr sie herum und antwortete scharf: "Wie soll ich einem Polizisten vertrauen, der sich verkleidet, sich bei einem Unfall vor seinen Kollegen versteckt und andere jedoch vorverurteilt? Ich habe die Schnauze voll davon, mich manipulieren zu lassen, von wem auch immer. Wer sagt mir außerdem, dass nicht sogar Sie derjenige sind, der mich bedroht?"
Frank sah Maja konsterniert an. "Das ist ja wohl nicht Ihr Ernst. Erstens dürften Sie ja bestimmt selbst Augen im Kopf haben, um Vergleiche ziehen zu können. Zweitens: Weshalb sollte ich das tun?" Er dachte darüber nach, dass Alexa genau dasselbe gefragt hatte, doch das behielt er für sich. Später würde er noch zu ihr fahren müssen ...
Maja erwiderte, leicht stichelnd: "Weil ich es Ihnen zutrauen würde. Aber gut, ich gebe es zu: Sie sehen dem Angreifer nicht gerade sehr ähnlich. Der war eine ganze Ecke größer als Sie."
"Na also. Hat er Ihnen wehgetan?" Frank sah die junge Frau mitfühlend an.
Maja blieb stehen und erwiderte seinen Blick. "Nein, das nicht. Doch er hatte ganz klar gedroht, dass er mich plattmachen würde, wenn ich die Klappe nicht hielte. Das war so ziemlich sein O-Ton." Allmählich fasste sie ein bisschen Vertrauen und fühlte sich wohler. Ein Mann mit einem solch offenen Blick konnte nichts Böses wollen, und sie fragte sich, weshalb sie ihm überhaupt misstraut hatte. Dieser Kommissar hatte sogar so etwas wie Charme, wie Maja fand.
Frank lehnte sich gegen einen Baumstamm und verschränkte die Arme. Sie waren nicht mehr allzu weit von Alexas und Bastis Wohnung entfernt, und er versuchte, den Moment herauszuzögern, da sie ihn verließe. Er wollte noch einiges wissen, und in seinem Gesicht arbeitete es. Sein schwarzer, breitkrempiger Hut überschattete seine Augen, was ihm einen verletzlichen Anstrich verlieh.
Majas Blick wurde weich. Er wirkte so jung, und ihr Herz flog ihm zu. Sie trat auf ihn zu und fragte, sehr leise, sehr sacht: "Warum waren Sie an dem Tag, als der Unfall geschah, so böse auf mich?"
Kommissar Mittnacht wusste nicht, wie ihm geschah. Tränen stiegen in ihm hoch, die er versuchte, vor ihr zu verbergen. Er wandte sich ab, löste sich von seinem stützenden Halt und ging ein paar Schritte. Dann blieb er stehen.
"Ich habe viele Leichen im Keller, Frau Berger. Und an diesem Tag, als der Unfall geschah, wurde mir das bewusst, durch Sie. Durch Ihr Verhalten." Er versuchte, den versteckten Vorwurf aus seiner Stimme herauszuhalten und fuhr fort: "Meine Frau und meine Tochter starben bei einem Unfall, weil die Rettungsmannschaften nicht zu ihnen durchdringen konnten. Ich sah sie sterben, konnte ebenso wenig zu ihnen, weil Hunderte Menschen um sie herumstanden und sich an der Sensation "Tod" weideten. Deshalb war ich böse auf Sie."
Es war das allererste Mal, dass er darüber reden konnte. Mehr noch: Überhaupt darüber nachzudenken, war ihm bisher unmöglich gewesen. Er hatte noch niemandem - nicht einmal Alexa - Einblicke in sein Seelenleben gewährt, wie sollte er auch? Der Abgrund in ihm war so tief, dass er nicht einmal selbst bis hinab auf den Grund blicken konnte.
Frank spürte, wie die junge Frau hinter ihm stand und fühlte eine Hand auf seiner Schulter. Er drehte sich zu ihr um: "Und wie ist das bei Ihnen selbst?"
Maja wich seinem Blick aus und sah zu Boden. Sie erinnerte sich an seinen Besuch, als Marco noch lebte. Wie sie mit ihm umgegangen war, die Angst, die sie vor ihm gehabt hatte - und diese erbitterte Wut, weil er es gewagt hatte, zu fragen. Sie an jedermanns Bürgerpflicht zu erinnern.
Plötzlich überkam es sie wieder: "Sie hatten es sich einfach gemacht und mich verurteilt. Für das gleiche 'Vergehen', was Sie selbst begingen. Mehr noch: Sie liefen vor der Wahrheit davon. Also wagen Sie nicht, mich zu fragen, wie es war. Es war genau wie bei Ihnen, nur mit dem Unterschied, dass ich meine Eltern verlor und nicht dabei war. Doch so wie ich Sie einschätze, wissen Sie das ohnehin selbst."
Der rote Schleier des Zorns legte sich über ihren Blick. Frank Mittnacht sah ihre funkelnden Augen und wich vor ihren schneidenden Vorwürfen zurück. "Woher wissen Sie ..."
Plötzlich erinnerte er sich an seine seltsamen Träume, und er erschrak. Es waren IHRE Augen gewesen, die ihn nicht nur in seinen einsamen Nächten verfolgten, ihn in schillernde Unwässer getrieben hatten, die ihn verschlangen. Aufstöhnend schlug er beide Hände vor sein Gesicht.
'Was hab' ich getan?', dachte er entsetzt über sich selbst und war versucht, die Frage laut werden zu lassen. Es kam nicht dazu. Maja Berger hielt ihn davon ab. "Woher ich es weiß?", antwortete sie. "Es war offensichtlich. Ihre Verkleidung war albern. Was haben Sie sich dabei gedacht?"
Frank war wieder bei sich. Nun gut, er war also erkannt worden. Es war ihm nun schon das zweite Mal bestätigt worden. Doch weder Tom noch er hatten etwas verbrochen gehabt, außer ...
'Nun ja, in den Zeitungen nennen sie es "Fall Toter Hund"', grübelte er und verkniff sich ein Grinsen. Dann gab er die Antwort, die er sich mittlerweile zurecht gelegt hatte: "Sie werden es nicht glauben, Frau Berger, aber wenn ich mit meinem Sohn zum Rodeln gehe, dann laufe ich immer so herum." Ein lautes Lachen folgte auf seine Worte.
"Ach, und wo war dann Ihr Sohn? Seltsamer Ort und seltsame Uhrzeit zum Rodeln, finden Sie nicht?" Maja war es nicht zum Lachen zumute. Sie würde sich nicht abspeisen lassen, und die Wahrheit war er ihr schuldig.
Dann fiel ihr was ein. "In den Zeitungen stand, dass ganz in der Nähe vom Unfallort jemandem ein übler Streich gespielt worden sei. Kann es nicht sein, dass Sie das waren? Sie und Ihr Sohn?" Angelegentlich sah sie ihn an.
Frank antwortete nicht direkt auf ihre Frage. Er trat dicht an sie heran und sah auf sie herab. "Was werden Sie nun tun? Gut, ich war am Unfallort. Stimmt. ich gebe es zu. Warum ich nicht blieb? Wahrscheinlich aus den gleichen Gründen wie Sie, und zudem war es mir peinlich, so gesehen zu werden. Es wäre mir lieb, wenn dies unter uns bliebe."
Maja wandte sich ab und kehrte ihm abweisend den Rücken zu. "Was sollte ich auch davon haben, darüber zu reden? Dieser unselige Tag hat mich alles gekostet, alles hervor geholt, und er hat nur Unglück gebracht. Marco ist tot, und wer weiß ..."
Kommissar Mittnacht fasste sie an den Schultern. Er spürte das Beben ihres schlanken Körpers und hätte gern alles rückgängig gemacht. "Es tut mir so leid, Sie so sehen zu müssen. Wir hatten einen schlechten Start, doch bitte ..." er drehte sie mit sanfter Gewalt zu sich herum und sah ihr in die Augen, "lassen Sie sich helfen. Wenn Sie bedroht werden, dann brauchen Sie Schutz. Dafür sind wir da."
Sie nickte. Schließlich fiel ihr ein, weshalb sie eigentlich das Haus verlassen hatte und verabschiedete sich. "Ich muss noch was erledigen, Kommissar Mittnacht. Sie wissen nicht zufällig, was mit Alexa ist? Basti hatte eine Vermisstenanzeige aufgegeben, und ich habe von ihrem Tod in der Zeitung gelesen." Hoffnungsvoll sah sie ihn an und betete innerlich, dass er ihr helfen konnte, Alexa zu finden. Von der letzten SMS ihrer Freundin sagte sie ihm allerdings nichts.
Franks Blick verschleierte sich. Nachdenklich betrachtete er sie und überlegte, ob er ihr vertrauen könne. Es stand so viel zwischen ihnen, sie teilten miteinander sogar eine Vergangenheit. Maja Berger war seine Nemesis, während Alexa Winter seine Glücksfee geworden war. Dann gab er sich einen Ruck. "Warten Sie!", versuchte er, ihren Aufbruch hinauszuzögern. "Ich habe das mit Ihrer Freundin selbstverständlich gehört. Der Fall, von dem Sie sprechen, liegt allerdings in den Händen der Leutkircher Kollegen. Aber dass sie wirklich das gefundene Mädchen ist, glaube ich nicht."
Maja tat ein paar Schritte von ihm weg und murmelte: "Ja, ich weiß." Etwas lauter fragte sie ihn: "Aber wo ist sie?"
Frank steckte seine kalten Hände in seine Manteltaschen und ging ihr hinterher. "Vielleicht brauchte sie nur etwas Abstand, Frau Berger. Aber eine andere Frage: Der Mann am Unfallort; der Todesfahrer, was hat der mit Ihnen gemacht? Meine Kollegen erzählten mir, Sie seien gefesselt gewesen."
"Hat er etwas ... mit dem Verschwinden von Alexa zu tun? Wenn sie lebt, ist sie in Gefahr?"
"Nicht, solange ich es verhindern kann."
"Wie meinen Sie das?"
Er hatte beschlossen, ihr die Sorgen zu nehmen und griff zu einer Teilwahrheit. "Ich habe mich am Samstag mit ihr getroffen. Sie wollte mit mir reden ... über Sie."
"Über ... mich?" Irritiert sah sie ihn an. "Was gab es da so interessantes zu reden?"
"Nun, woher sollte ich sonst wissen, dass Sie bedroht worden sind?" Triumph funkelte dunkel in seinen Augen.
"Aaah, SIE hat Ihnen das also gesagt. Und ich dachte schon ..." Natürlich hatte nicht Basti ihm das erzählt. Wie hatte sie das jemals vermuten können? Er war viel zu beschäftigt mit seinen eigenen Problemen.
"Und wo ist sie?", bohrte sie weiter.
"Das kann ich Ihnen nicht sagen, weil ich es nicht weiß. Frau Winter sagte was von einer Freundin, die sie besuchen wolle. Daraufhin habe ich nichts mehr von ihr gehört."
Maja Berger die volle Wahrheit zu sagen, wagte er nicht. In ihm wuchs der Entschluss, Alexa wieder nach Hause zu schicken. Er war nicht gut für sie, und er liebte sie zu sehr, um ihr ein Leben mit ihm zuzumuten.
Er sah Majas zweifelnden Blick, den sie ihm von der Seite zuwarf, nachdem er sie eingeholt hatte. Sie standen vor der Haustür von Alexas Wohnung, und nun gab es keinen Grund mehr, die junge Frau an seiner Seite zu halten.
Sie stellte einen Fuß auf die Treppe und holte den Schlüssel aus ihrer Tasche. "Wenn Sie irgendetwas von Alexa hören, sagen Sie mir bitte Bescheid", bat Maja ihn. "Basti ist total von der Rolle, und ich ... Wir haben beide schon genug durchgemacht. Bitte suchen Sie meine Freundin."
Tränen schossen ihr in die Augen. "Dieser Mann ...", fuhr sie fort. "Ich glaube, er meint das alles sehr ernst. Und ich fürchte, auch Marco hat er auf dem Gewissen. Und als Nächstes bin ich dran. Wissen Sie, was das für ein Gefühl ist, gefesselt im Schnee aufzuwachen, so wie an jenem Tag? Die Augen dieses Mistkerls brannten wie Feuer, als er mich ansah. Und dann noch dieser eklige Männerkörper direkt neben mir ..." Maja begann, vor Entsetzen zu zittern.
Wie ein Wasserfall brach die Erinnerung aus ihr heraus: "Er hatte uns mit seinem Auto gejagt. Tat so, als wollte er Marco und mich überfahren. Und wer weiß, was er gemacht hätte, wären Ihre Kollegen nicht gekommen, als ich an den anderen Mann gefesselt war. Womöglich hätte er ihn und mich zu Tode geschleift. Zumindest hatte er uns beiden das angedroht, dass er das mit uns macht."
Der Hausschlüssel fiel ihr aus den Händen und klirrte zu Boden. Frank bückte sich danach und gab ihn ihr wieder. "Dieser andere Mann", fragte er sachlich, "was denken Sie, hatte der mit dem Unfallfahrer zu tun? Er ist die unbekannte Komponente in einem Rätsel, das keinen Sinn ergibt."
"Ich weiß es nicht", erwiderte Maja und setzte sich ungeachtet des Schnees auf die Eingangstreppe vorm Haus. Den nassen Hintern, den sie bekam, bemerkte sie kaum. "Ich weiß nur, er ist genauso eklig wie dieser ... Mörder. Und offenbar ist er Journalist. Soviel habe ich noch gehört."
Überrascht stellte Frank fest, dass er sie mochte. Er drehte ihr nachdenklich den Rücken zu und starrte ins Leere. Unvermittelt drehte er sich wieder zu ihr herum und blickte auf sie herab. "Ich muss gehen", sprach er. "Aber erlauben Sie mir, dass ich Sie noch einmal besuche. Ich habe so viele Fragen, auf denen nur Sie mir eine Antwort geben können."
Maja zuckte die Schultern und erhob sich. "Ich weiß nicht so recht ...", sie zögerte. "Eigentlich wollte ich Sie nie wieder sehen." Offen sah sie ihn an. "Ich dachte, Sie wären anders!"
Er lächelte sie an. "Das dachte ich auch."
Kommissar Mittnacht wandte sich ab. Nachdenklich sah Maja ihm hinterher, als er sie verließ und sich zu seinem Auto begab. Flüchtig vermeinte sie, einen großen Schatten auf dem Rücksitz des blauen Corsas zu sehen, doch als sie noch einmal hinsah, war dieser verschwunden.
Sie vergaß den Vorfall und ging hinters Haus. Nach wie vor war sie fest entschlossen, Alexa ins Gewissen zu reden. Bibbernd schlang sie ihre Arme um sich und stampfte mit ihren Beinen, um ihren Kreislauf in Schwung zu bringen und die Kälte aus ihrem Körper zu bannen.
Mittlerweile war es dunkel geworden. Blindlings tastete sie in ihrer Jackentasche herum und suchte nach ihrem Handy. Als sie das Gerät fand, schaltete sie das neonfarbene Display-Licht an und durchforstete ihre SMS, bis sie auf die ihrer Freundin stieß. Maja blätterte die letzte auf und wählte den Anruf-Button. Vor Ungeduld strampelnd, vernahm sie Lady Gagas "Alejandro" als Klingelton und grinste. Das war typisch für Alex. Ihr Musikgeschmack hatte sich offenbar nicht geändert.
Nach der dritten Refrain-Wiederholung brach das Lied ab, und stattdessen vernahm sie ein knappes "Ja?"
"Alex?", aufgeregt schnappte Maja nach Luft und fuhr fort: "Bitte bleib dran, ich bin es, Maja."
"Ach Mädchen", hörte sie die Stimme ihrer Freundin, so traurig wie noch niemals zuvor. "Du hättest nicht anrufen sollen. Es ist besser, wenn alle glauben, ich wäre tot."
"Du spinnst. Was ist passiert?" Maja konnte es nicht fassen. Was war aus ihrer fröhlichen Freundin geworden?
"Ich habe Basti verlassen, das hast du bestimmt schon gemerkt. Aber nicht dich", kam die Antwort.
"Und wo bist du jetzt? Deine Familie steht Kopf, und wie du richtig bemerkt hast, denken alle, du wärst umgebracht worden. Ich bin nun die Einzige, die weiß, dass du lebst."
"Ach Maja, ich wünschte, dass ich dich nie angesimst hätte. Ich kann es nicht ändern, und ich möchte nicht, dass man mich findet. Bitte sag es vor Allem nicht Basti. Besser, er denkt, ich sei tot, als dass er die Wahrheit kennt." Alexa seufzte.
"Hast du seit Neuestem Angst vor dem nettesten, attraktivsten Jungen der Welt? Vor dem, mit dem du schon seit deinem dreizehnten Lebensjahr gehst? Von dem du mal gesagt hattest, er sei deine große Liebe, und da käme nichts Anderes mehr? Auf einmal ist dir das nichts mehr wert?"
"Ich habe mich geirrt, Maja", kam Alexas ernsthaft klingende Antwort. "Das ganze Leben war bisher nur ein Spiel, doch nun bin ich erwachsen geworden. Ich möchte zu mir selbst stehen können."
"Meinst du, ich kenne das nicht? Wer ist der Mann, von dem du denkst, er macht dich zur Frau?"
Eine lange Pause des Schweigens folgte auf Majas Frage. Und als Alexa den Namen aussprach, der sie interessierte, dachte sie, eine Welt ginge unter. Er war es also! ER!!!
Immense Wut packte sie. Frank Mittnacht hatte sie eiskalt belogen. Ohne ihrer Freundin noch eine Antwort zu geben, klinkte sie sich aus dem Gespräch und legte auf. Suchend sah sie sich um, doch er war bereits weg.
Mit ruckartigen Bewegungen packte sie ihr Handy zurück in die Tasche und machte sich auf den kurzen Weg zurück in die Wohnung. Die letzten Schritte bis zur Haustür legte sie schlitternd und rennend zurück und wäre beinahe gefallen, doch der Zorn verlieh Maja Flügel.
Sie fegte ins Haus und die Treppen hinauf, steckte den Schlüssel ins Schloss und fluchte, als die Tür nicht gleich aufging. Mit voller Wucht trat sie dagegen und sah sich kurz darauf dem hochgewachsenen Basti gegenüber, der sie fragend ansah.
Zarte Röte überzog ihr Gesicht. "Muss ... weg", stammelte sie und drängte sich an ihm vorbei. Sein Blick bohrte sich brennend in ihren Rücken.
'Alexa ist dumm, sooo dumm ...', dachte sie. 'Für ihn, ausgerechnet für ihn, diesen ... Mittnacht.' Es fühlte sich in ihrer Seele wie ein Schimpfwort an, so als ob ihr Herz die Fähigkeit bekommen hätte, zu zischen.
Maja nahm ihren eigenen Schlüssel vom Haken und wandte sich an Basti: "Ich komme bald wieder, muss was erledigen." Dabei sah sie ihm tief in die Augen. Sie spürte ihren Herzschlag wie bisher nur einmal im Leben.
"Willst du mir nicht sagen, was du vorhast?" Sebastian Tränkles Stimme klang plötzlich besorgt. Seine Augen bekamen wieder ein bisschen mehr Glanz, und Maja frohlockte innerlich, als sie es sah. 'Heute nacht wirst du nicht allein sein, mein Lieber', nahm sie sich heimlich vor. Laut antwortete sie: "Ich muss noch einmal zu Kommissar Mittnacht, mir ist etwas eingefallen, nachdem er schon weg war."
"Seltsam ...", murmelte Basti. "Bis vor Kurzem hattest du dich vor ihm gefürchtet."
"Das war mal", erklärte sie ihm. "Die Zeiten, in denen ich vor dem eigenen Schatten Angst hatte, sind endgültig vorbei. Ich bin es Marco schuldig, stark zu sein und auf mich selbst aufpassen zu können."
Dann verließ sie die Wohnung. Alles in ihr wehrte sich zwar dagegen, Basti allein mit seinem Kummer zu lassen. Er hatte so verletzlich gewirkt, so hilflos, so unendlich traurig, fast schon lethargisch. Sie kannte dies nur allzu gut, befand sie sich doch oft genug - und erst recht jetzt - in derselben Situation, nur mit dem Unterschied: In ihrem Leben war Gevatter Tod kontinuierlich (wie es ihr schien) zu Hause, und seine Trauer basierte auf einer Lüge. Alexas Lüge!
Marcos Tod saß wie ein Stachel in ihrem Herzen, wie ein eisiger Dorn, der das Blut in ihr gefror. Kurz bevor Maja jedoch wieder aus der Tür gefegt war, hatte sie eine Flamme in Bastis Augen gesehen, und diese wärmte ihr Herz. Dennoch würde sie nichts unversucht lassen, um Alexa zu finden. Und ihre Zeit war Jetzt und Gleich, ohne zu zögern.
An ihren Alfa-Mini hatte sie schon lange keinen Gedanken mehr verschwendet, meistens hatte es Marco gefahren. Mit seinen langen Beinen hatte er sich zusammen gefaltet, und oft genug hatte sie sich gewundert, wie er es geschafft hatte, sicher zu fahren. Das letzte Mal, als er darin gesessen hatte, war er seinem Schicksal begegnet.
Es vermittelte Maja ein ungutes Gefühl, davor zu stehen und das Grauen in ihr zu überwinden. Die Farbe erinnerte sie plötzlich an Blut. Die Liebe und die Erinnerung an Marco half ihr jedoch dabei, und so saß sie bald darauf im Innern des Wagens und versuchte, zu starten.
Ein röchelndes Husten vermittelte ihr, dass Otto - sein Name - nicht viel Lust dazu hatte. "Ganz ruhig, Maja", versuchte sie, sich selbst zu beruhigen. Neben sich auf dem Beifahrersitz lag ihr Handy, wo sie die Adresse von Frank Mittnacht über das Internet herausgesucht hatte und fest gewillt war, zu ihm zu fahren. Offenbar wohnte er am anderen Ende der Stadt, und sie hoffte, Alexa bei ihm zu finden.
Nach ein paar Atemzügen machte sie einen weiteren Versuch, drückte die Kupplung und drehte den Schlüssel.
Endlich! Ottos Wintermucken hatten sich nicht geändert, doch glücklicherweise wusste sie, wie sie ihm diese austreiben konnte. Sacht drückte sie das Gaspedal und wendete im ersten Gang. Hurra, sie konnte es noch! Der Wagen fuhr.
Ein paar Minuten später verließ sie die Wohnstraße und befand sich im Rondell des Memminger Rings. Sie ließ den Großen Tunnel linkerhand liegen und bog in die Ortlieb-Straße ein. Wie der Teufel es wollte, begann das Auto, zu stottern. Maja warf einen unbehaglichen Blick in Richtung Park und hätte am Liebsten angefangen, zu weinen.
Hier war der Unfall gewesen! Der Ort ihres Versagens, der Begegnung mit ihrem Richter, selbst wenn sie sich mit ihm ausgesöhnt hatte. Die Wut auf Frank Mittnacht packte sie wieder im Nacken.
Das immer schwächer werdende Scheinwerferlicht lenkte ihre Konzentration zurück auf ihr Auto. Verunsichert ließ sie den Wagen ausrollen und hielt am rechten Straßenrand. Der Motor hustete noch ein paar Mal, dann ging er aus.
Minutenlang saß Maja da und überlegte, was nun zu tun sei. Schließlich versuchte sie, das Auto wieder zu starten, vernahm jedoch nur ein leises Klicken.
Die Heizung war auf voller Pulle gelaufen, und dies war wahrscheinlich ein Fehler gewesen. Die Batterie war ganz offensichtlich ratzebutz leer. Versuchsweise drückte sie auf die Hupe. Mööpp - mööpp, ganz leise. Mist.
Der Mut wollte Maja verlassen, und eigentlich wäre sie nun gern bis zum St. Nimmerleins-Tag sitzen geblieben, doch es war Winter, und es wurde nicht wärmer.
Überall um Maja herum schienen Schatten zu lauern. Die Straßenlaternen der Ortlieb-Straße waren recht funzelig und wirkten eher wie Totenlaternen, statt dass sie Licht spenden würden. Weit und breit war kein Auto zu sehen, es war dunkel, und sie hatte Angst. Höllisch viel Angst.
Schließlich nahm sie sich ein Herz, entriegelte von innen die Motorhaube und stieg aus. Ein überlautes Hupen begrüßte sie, und Maja zuckte zusammen. Einen Moment lang starrte sie irritiert ihren Wagen an, bis ihr auffiel, dass es aus einer anderen Richtung kam. Langgezogen hallte es durch die Nacht.
"Bitte, bitte nicht noch ein Unfall", flehte Maja zu den Sternen hinauf. Geistesgegenwärtig öffnete sie noch einmal die Wagentür, schaltete die Warnblinkanlage an und holte ihr Handy vom Beifahrersitz. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen und bewegte sich in die Richtung, aus der das enervierende Hupgeräusch klang. Es wollte nicht ums Verrecken verstummen.
Vorsichtig schlitterte sie auf der Grasnabe entlang und versuchte, dabei nicht in den Graben zu fallen. Sie bewegte sich Richtung Straßeneingang, ließ den Park knapp hinter sich und blieb dann suchend stehen. Wo war das Auto, was da wie wild in der Gegend rumhupte?
Schließlich sah sie rechterhand von sich einen Feldweg, und aus diesem drang Licht. Sie benutzte ihre Handytaschenlampe und begab sich zögernd hinein. Ihr Herz raste wie eine wildgewordene Rumba-Trommel, und doch ließ sie sich nicht beirren. Und so stand sie bald darauf ...
"Nein!", entfuhr es ihr. Undeutlich sah sie einen gedrungenen Männerkörper im Innern des Fahrzeugs. Er schien zu kauern, und der Kopf lag auf dem Lenkrad - und auf dem Hupknopf. Ihr Trommelfell wollte beinahe zerbersten.
Sie leuchtete mit ihrem Handy durch die Fensterscheibe der Fahrerseite, und nun war sie sich sicher: Es war der Wagen von Kommissar Mittnacht.
Im Licht ihres Handies schimmerte schwarzes Blut, und ihr wurde schlecht. Dann sah sie das Messer in seinem Nacken. Es tackerte seinen Hut am Hinterkopf fest, und ein weiterer, dicker Blutstrom pulsierte auf seinen Kragen.
Fieberhaft überlegte Maja, was sie von Marco im Fall einer Stichverletzung gelernt hatte. Marco ...
Er wüsste nun, was zu tun war. Doch sie war auf sich allein gestellt, und sie würde es sich niemals verzeihen, wenn sie wieder versagte. Dann fiel es ihr ein: Den Gegenstand auf keinen Fall aus der Wunde entfernen. Er war wie ein Korken, der die Wunde verschloss. Zöge man ihn heraus, würde das Opfer verbluten. ... Sofern er noch lebte.
Maja riss die Wagentür auf und tastete nach seinem Puls. 'Gottseidank, dachte sie, 'es ist noch nicht zu spät'.
Verzweifelt nahm sie sich zusammen und wählte den Notruf mit ihrem Handy. Vor Ungeduld zappelnd erwartete sie die Annahme des Anrufs, nannte dem Beamten am anderen Ende ihren Standort und hätte am Liebsten geschrien, als er sich die Zeit nahm, sie nach dem Namen zu fragen. "Bitte kommen Sie schnell", flehte sie. "Mein Name ist Maja Berger, aber schicken Sie jemanden! Der Mann verblutet."
"Bleiben Sie bitte vor Ort, und stellen Sie sich gut sichtbar an die Straße. Aber wenn es geht, lassen Sie sich nicht überfahren."
Sie verzog sarkastisch das Gesicht und hätte am Liebsten "Komiker" in die Muschel gezischt, doch sie antwortete sachlich: "Gut. Und ich hoffe, dass Ihr rechtzeitig kommt. Die Lage ist wirklich ernst."
"Und das Opfer darf sich auf keinen Fall bewegen, Frau Berger, hören Sie? Das ist wichtig."
"Gut." Dann legte sie ohne Verabschiedung auf. Ein leises Stöhnen zog ihre Aufmerksamkeit auf Frank. Sie trat zurück an den Wagen und sprach ihn an: "Kommissar Mittnacht? Sie sind verletzt. Der Krankenwagen kommt gleich."
Erschrocken bemerkte Maja, dass er versuchte, seinen Kopf auf die Seite zu drehen, offenbar, um sie anzusehen. Sofort schoss ein weiterer Blutstrahl aus der Stichverletzung im Nacken. "Bitte bewegen Sie sich nicht! Sie haben ein Messer im Nacken, und Sie sind knapp vor dem Verbluten."
Die Sekunden zogen sich zu Minuten, die Minuten zu Stunden, zur Ewigkeit, wie ihr schien. 'Oh bitte, Gott', betete sie, 'lass sie endlich kommen.'
Sein Kopf lag nun leicht auf der Seite, und übergroß sah sie ein einzelnes Auge auf sich gerichtet. Es blitzte ihr dunkel entgegen. Majas Nackenhaare stellten sich auf.
"Sie?", vermeinte sie seine Stimme zu hören, und ein heiseres Auflachen, gefolgt von einem weiteren Stöhnen.
Das Dauerhupen wurde allmählich leiser, und auch die Scheinwerfer des Wagens erloschen. Zurück blieb die Nacht - und zwei Menschen, deren Schicksale von nun an unzertrennbar miteinander verknüpft sein würden. Die junge Frau hatte das erste Mal in ihrem Leben etwas getan, um ihre Angst zu überwinden - und ausgerechnet IHM hatte sie das Leben gerettet. Der Kommissar und das Mädchen ...
Maja spürte Feuchtigkeit in ihrem Gesicht. Es begann wieder zu schneien. Die zarten Kristalle vermischten sich mit ihren Tränen.
Im Hintergrund hörte sie die Sirenen. Sie kamen!
Entschlossen beugte sie sich noch einmal dem Verletzten entgegen. "Bitte bleiben Sie so liegen, wie Sie jetzt sind. Ich habe den Weg zu Ihnen nicht gemacht, um Sie dann doch zu verlieren. Sie sind es mir schuldig, am Leben zu bleiben."
Sie wandte sich ab und ging zur Straße zurück. Ihre langbeinige Gestalt wirkte so einsam, wie sie da ging durch die Nacht, von Schneeflocken umwirbelt. Im Mondlicht schimmerten ihre langen Haare wie Gold, göttinnengleich. Das Sirenengeheul kam näher und näher und begleitete schrill die stummen, bangen Gebete in ihrem trauernden Herzen.
Am Tag danach erfüllte lähmende Stille die Räumlichkeiten des Präsidiums Großdummsdorfs. Die Nachricht von dem Mordversuch an Kommissar Mittnacht hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, und Betroffenheit hing in der Luft. Ein jeder von den diensthabenden Beamten war in Gedanken bei dem Kollegen, Vorgesetzten und Freund und bangte um dessen Leben.
Von weihnachtlicher Vorfreude konnte unter den gegebenen Umständen keine Rede mehr sein. Frank lag im Koma auf der Intensiv-Station der städtischen Klinik, und die Ärzte machten sich offenbar nicht mehr viel Hoffnung. Der Blutverlust war verheerend, und nur dem beherzten Eingreifen von Maja Berger war es zu verdanken, dass er nicht an Ort und Stelle gestorben war. Vom Täter fehlte jegliche Spur, und nur eine einzige Person erahnte dessen Identität. Doch dessen Lippen waren versiegelt.
In dem verdunkelten Raum war seine Statur nur zu erahnen, doch gespenstisch leuchtete sein blasses Gesicht inmitten der grünen Laken, die seinen Körper bedeckten. Zwei Schläuche endeten in Nase und Mund, und sein Nacken war unter einer dicken Halskrause versteckt. Franks dunkelblondes Haar klebte strähnig wie ein Helm an dessen Kopf, seine bläulich schimmernden Lider waren geschlossen.
Kaum merkbar hob und senkte sich sein breiter Brustkorb, im Takt mit den leisen Fauchgeräuschen im Hintergrund. Drei Augenpaare waren unablässig hinter einer Spiegelglasscheibe neben der Flügeltür auf ihn gerichtet.
Keiner von ihnen sprach auch nur ein Wort. Entsetzen stand noch immer auf ihren Gesichtern, gepaart mit Bangen und verzweifelter Hoffnung. Tom hatte seinen Vater immer für unsterblich gehalten, und nun musste er zusehen, wie das Leben dessen Körper verließ. Ihm war, als hinge ein Fluch über seiner Familie, mehr noch: Als hätte er diesen über sie alle gebracht. Nun auch noch sein Vater ...
Alexa und Maja hielten sich an den Händen. Das Unglück hatte die beiden Freundinnen wieder zusammengebracht. Alexa wurde mehr und mehr klar, wie sehr sie ihn liebte.
Maja durfte Alexas Altlasten tragen. Sie hatte ihr jedoch vergeben, und sie würde kämpfen. Der Blick der jungen Frau glitt lange über den leblosen Körper. Auch mit Frank Mittnacht selbst war sie ausgesöhnt. Widerwillig stellte sie fest, dass sie ihn sogar mochte. Hoffentlich fand Alexa in seinen Armen doch noch ihr Glück.
Plötzliche Hektik im Inneren der Intensiv-Station machte ihrer aller Hoffnung zunichte. Entsetzt sahen drei Augenpaare, wie sich die Lippen der beiden diensthabenden Schwestern unhörbar für sie bewegten, sie einander unheilvolle Blicke zuwarfen und ängstlich zu Franks Körper hinsahen. Ein Arzt rannte mit wehendem Mantel an ihnen vorbei und betrat hektisch den Raum. Undeutlich sahen sie einen Defibrilator in dessen Hand, sahen die Deadline am Monitor neben dem Bett, die zuckte und zuckte, langsamer, schneller, höher und höher, um dann in sich zusammenzufallen wie ein geplatzter Ballon.
Ein dreistimmiger Schrei stieg hinauf in die Luft und jagte so manchem Ohrenzeugen kalte Eissplitter über den Rücken.
***
Das neuerliche Drama um Kommissar Mittnacht begann in einer Umkleidekabine während des Schichtwechsels. Tino Machweter war so glücklich gewesen, endlich die begehrte Stelle im städtischen Krankenhaus erobert zu haben. Zwei Jahre zuvor war er noch Zivi in der Psychiatrischen Klinik von Großdummsdorf gewesen und hatte dort entdeckt, wo sein beruflicher Weg künftig hinführen solle. Es war für ihn klar gewesen, dass er im Gesundheitswesen bleiben wolle, vielleicht irgendwann mal sogar als Arzt.
Tino Machweter hatte diese Woche die Frühschicht, die für ihn um 14:00 Uhr beendet sein würde. Seine Aufgaben waren recht übersichtlich: Alles, was er zu tun hatte, war auf der Station D zu überwachen, dass die drei dortigen Koma-Patienten nicht heimlich starben.
Er trat seinen Dienst am Donnerstagmorgen in aller Herrgottsfrühe an, so wie all die Tage zuvor. Der junge Mann gehörte noch nicht lange zum Team, doch in den drei Monaten, seit er die Stelle ergattert hatte, eroberte er die Herzen im Sturm. Er war ein hübscher Kerl mit knapp 23 mittlerweile, hatte schwarze Locken, einen robusten Körper, ein bisschen Verwegenheit und riesige Augen - au weia: Da standen die jungen Schwestern in sämtlichen Stockwerken gehörig drauf. Tino Machweter hätte es leicht und könnte sich locker quer durchs Krankenhaus poppen. Was er nicht tat, zumindest nicht quer.
Er bevorzugte die gerade Linie und hatte sich seine Herzdame vor Kurzem selbst ausgesucht. Sie arbeitete in der Kantine, hieß Beatriz Barros Costa und war Halb-Brasilianerin. Ihr Vater - ein Deutscher - hatte sich vor 25 Jahren im Urlaub in ihre Mutter verliebt und sie kurzerhand mit nach Deutschland genommen.
Kurz darauf war die Hochzeit gewesen, und etwas später hatte das frisch gebackene Ehepaar den ersten Jungen bekommen. Ihr Bruder Feliz war nun 23, im selben Alter wie Tino. Beatriz war mit 19 Jahren die Jüngste von nunmehr drei Kindern. Sie hatte keine Ausbildungsstelle gefunden und hatte es bevorzugt, Geld zu verdienen. Der Kantinen-Job war ihr vor einem Jahr gerade richtig gekommen. Nach Feierabend besuchte sie das Abend-Gymnasium. Insofern hatte sie nicht viel Zeit für die Liebe, und bisher auch noch kein glückliches Händchen gehabt.
Stattdessen hatte sie sich vorgenommen, so lange wie möglich solo zu bleiben und sich auf ihr Leben zu konzentrieren. Ihre Familie war nicht gerade mit Reichtum gesegnet, und sie mussten alle sehen, wie sie am Besten zurechtkommen konnten. Doch sie liebten einander und hielten zusammen wie Pech und Schwefel.
Ihr Weg in die Zukunft stand Beatriz ganz klar vor Augen. Doch dann hatte ihr Tino ein Strich durch die Rechnung gemacht. Letzte Woche hatte sie ihn kennengelernt, und sofort war er ihr ins Auge gestochen. Zuerst war es bei einigen belanglosen Plaudereien über die Ausgabe-Theke hinweg geblieben, doch schließlich hatte es endgültig bei beiden geschnackelt. Die beiden waren ein schönes Paar ...
Tino Machweter mit seinen eisgrauen Augen, fast schon silber - was für ein Kontrast zu seiner schwarzen Kurzlockenpracht. Wenn er sie ansah, dann wackelten ihr die Knie. Somit war Beatriz das erste Mal richtig verliebt, mit Herzrasen, Schmetterlinge im Bauch und allem Drum und Dran.
Ihm ging es nicht anders! All die blonden Tussen mit ihren strahlendblauen Augen und aufgemöbelten Möpsen, die um ihn herumscharwenzelten, als wäre er der liebe Gott, die interessierten ihn nicht. Für ihn war von vornherein klar: Seine Eva war anders, und sie würden sich gegenseitig ergänzen. Als er Beatriz dann kennengelernt hatte, war es, als ob Plus und Minus sich trafen. Für beide war der Aufprall ihrer beider Herzen unausweichlich gewesen.
Bisher hatten sie sich nur bei der Arbeit getroffen, in aller Unschuld und Keuschheit. Händchen halten in ihren Pausen, ein bisschen Augen-Geflirre, und gurrende Worte. Ihr Kuscheleckchen war die Umkleidekabine der Männer im dritten Stock, weil nicht zu erwarten war, dass sie dort jemand störte. Meist war Tino allein in seiner Schicht, bis auf die Ärzte, die jedoch ihre eigenen Privaträume hatten.
An jenem tragischen Tag nach dem beinahe tödlichen Attentat auf Frank Mittnacht war es nicht anders. Ungeduldig wartete Tino auf seine Freundin.
Die große Umkleidekabine hatte mehrere Gänge zwischen den Spinds, und im letzten Gang war ihr regelmäßiger Treffpunkt. Er saß auf einer lehnenlosen Lattenbank und hatte den Rücken der Tür zugekehrt.
In seiner Hand barg er verstohlen eine qualmende Zigarette und starrte auf die schwarz-weißen Bodenkacheln.
Als er leise Schritte hinter sich hörte, dachte Tino sich nicht viel dabei. Beatriz liebte es, ihn zu überraschen. Sein Herz begann, freudig zu rasen. Jeden Moment erwartete er ihre Umarmung, ihre stürmischen Küsse in seinen Nacken, und er schloss genüsslich die Augen. "Endlich, my Lo ..."
Er kam nicht dazu, das Kosewort auszusprechen. Sein letzter Laut gipfelte erst in einem Röcheln, dann in einem Würgen. Er fühlte einen unbändigen Zug an seiner Gurgel, ein Brennen. Verzweifelt fuhren seine Hände an seinen Hals, im Versuch, den unerbittlichen Widerstand zu entfernen.
In seinem Rücken fühlte er die Hitze eines schwitzenden Körpers, heißen Atem in seinem Nacken, und er vernahm ein leises Schnaufen. In einer letzten Kraftanstrengung versuchte er, seinen Kopf nach hinten zu drehen, was ihm nicht gelang. Stattdessen flog er mit einem Ruck ins Genick.
Sein letzter Blick, bevor seine Augen sich wölbten, war in das Gesicht seines Mörders. Dann kam die Gnade der Nacht über ihn!
Beatriz würde ihre Pause allein verbringen. Vergeblich sollte sie warten, um dann traurig ihren Job in der Kantine wieder anzutreten, ohne zu wissen, was mit ihm war. Auf der Station fände sie ihn ebenso wenig.
Niemandem fiel der Mann in Tinos Kleidung auf, der mit einem Wäschewagen den Aufzug betrat und nach unten fuhr. Fröhlich pfeifend schob er das Gefährt durch die Kellergänge, um seine Last - aus mehreren Wäschesäcken bestehend - dann schwungvoll in einem Wäscheschacht zu entsorgen. Mehrere Menschen kamen ihm auf seinen mörderischen Pfaden entgegen - doch niemand würde sich an ihn erinnern. Er war nur ein Pfleger, der ebenso wie sie alle seiner Arbeit nachging.
Im flackernden Neonlicht begab er sich - Tinos leicht schlurfenden Gang imitierend - auf den Rückweg. Den leeren Wäschewagen schob er weiterhin vor sich her, um so lange wie möglich die Tarnung zu wahren.
Um Zeit zu schinden, bummelte er durch das langgezogene Keller-Labyrinth, begleitet vom Gluckern der Wasserleitungen, dem Gelächter fröhlicher Schwestern oder dem Gemurre älterer Pfleger. Mit wachsamen Augen lauerte er auf den richtigen Zeitpunkt und ließ den meisten von ihnen bei den Aufzügen den Vortritt.
Erst, als er sicher sein konnte, fast allein zu sein, stellte der große Mann sein hinderliches Gefährt in einem Seitengang ab und fuhr selbst nach oben. Im dritten Stock schob er seine grüne Hygienemaske zurecht und stieg aus.
Während er dem weiß getünchten Gang nach links folgte, sagte ihm ein Blick auf eine große Wanduhr im Bahnhofsstil, dass Eile angesagt war. Er legte Tinos Gangart ab und fiel in einen etwas schwerfälligen Gehtrab, bedingt durch seine Größe. Der Unbekannte hatte sich auf alles vorbereitet.
Sein Opfer war kein Zufallsopfer gewesen: Es hatte einfach alles gepasst. Der junge Pfleger und er hatten dieselbe Statur, er war zum richtigen Zeitpunkt am falschen Ort, und Tino Machweter hatte die idealen Voraussetzungen geboten. Nun würde er sich des Ärgernisses seit nunmehr bald zwei Wochen entledigen, und Kolleteralschäden nahm er in Kauf.
'Der Bulle ist so zäh wie altes Fleisch', dachte er mit leisem Groll auf seinem Weg. Er passierte eine Glastür und betrat den unbesuchten Wartebereich der Intensiv-Station. Es lief auch weiterhin alles nach Plan!
Einen Moment zögerte er und schaute kurz durch die große Scheibe mit Blick in den Innenbereich der Station. Am Ende des Ganges erklangen Stimmen und trieben ihn an. Mit raschen Schritten betrat er den Raum durch die benachbarte Flügeltür und übernahm Tino Machweters Dienst.
Hastig zog er drei mit je einem Chip versehene Ampullen aus seiner Tasche, brach die Spitzen ab und versah sie mit jeweils einer Kanüle. Dann machte er sich an den Patienten zu schaffen, schlug die Laken zurück und brachte sie an.
Dies alles geschah noch vor der Ankunft von Tom Mittnacht, Alexa Winter und Maja Berger. Nachdem seine schändliche Arbeit getan war, versteckte sich der Killer hinter einem Wandschirm, zog sein umfunktioniertes Handy aus der Tasche und programmierte die Chips. Die Abgabe des Gifts würde wie mit einem Zeitzünder erfolgen. Ein weiterer Blick auf die Uhr sagte ihm: Schichtwechsel!
Während er sich hinter einer Trennwand verbarg, betraten Dorothea Henschel und Margarethe Windau den Raum.
***
Tom Mittnacht befand sich soeben in einem weiteren Albtraum seines noch jungen Lebens. Eine riesige Barriere aus Panzerglas türmte sich vor ihm auf und trennte ihn von seinem Vater. Hinter der Scheibe sah er einen Mann im grünen Kittel, wie er sich über die leblose Gestalt von Frank hinabbeugte und die beiden Enden des Defibrilators ansetzte.
Zeitgleich mit dem Beben durch dessen Körper durchfuhr es auch ihn. Die Deadline zuckte noch einmal nach oben und fiel wieder in sich zusammen. Ein erneuter Versuch!
Toms Augen waren unablässig in das Innere des Raumes gerichtet. Nichts, was um ihn herum war, zählte sonst noch für ihn. Vage war er sich der Gegenwart der beiden Frauen bewusst, von der die eine seit Kurzem zu seiner Familie gehörte. Die Andere war offenbar die Retterin seines Vaters gewesen. Zorn wuchs in seinem jungen Herzen heran!
Seine beiden Hände krampften sich ineinander zusammen. In seiner Unschuld begann er verzweifelt, seinem Vater die Daumen zu drücken.
Gleichzeitig murmelte er vor sich hin: "Komm schon, Paps, du schaffst das", als gälte es, einen Marathonläufer dazu anzuspornen, die letzten Kräfte zu mobilisieren und das Endziel noch schnell zu erreichen.
Ein erneuter Ruck ging durch Frank Mittnachts Körper, doch die Linie blieb unten. Lautlos bewegten sich die Lippen des Arztes. Kurz darauf reichte ihm eine Schwester eine riesige Spritze. Hektisch wirkend senkte sich vor Toms Augen die Hand des Arztes nach unten und rammte diese in das Herz seines Vaters hinein. Nichts! Dritter Versuch!
Die Szene lief wie in Zeitlupe vor ihm ab! Ein letztes Mal wurde die Wiederbelebungsmaschine angesetzt. Wieder ging ein Ruck durch Franks Körper, doch auf dem kleinen Monitor schlängelte sich nur eine grüne Schlange durch eine Höllennacht. Flach! Tom kannte das Geräusch, das sie machte, aus Filmen - doch hier und jetzt war sie stumm.
Wie von ganz weit weg vernahm er die Außengeräusche der Klinik, den Klang von Sirenen, schleichende Schritte, das Murmeln von Menschen, und als der Arzt den Kopf schüttelte, hörte er seinen eigenen Schrei. In Extase sprang Tom gegen die Scheibe, im Versuch, sie zum Bersten zu bringen.
Als er schreiend zu Boden fiel, fühlte er starke Hände unter den Achseln. Er wehrte sich gegen deren Zug und schlug um sich. Unter Mobilisierung ungeahnter Kräfte befreite er sich von den menschlich-fleischigen Fesseln und stand kurz darauf wieder auf seinen eigenen Beinen.
Wieder griffen sie zu. Tom warf einen fast irre scheinenden Rundumblick und erkannte zwei Pfleger, die ihn daran hindern wollten, zu gehen. Er nahm seine beiden Ellenbogen zu Hilfe und rammte sie in deren Leibmitte hinein. "Lasst mich LOS!", schrie er dabei. Seine junge Stimme hallte gellend von den reinweiß getünchten Wänden zurück.
"Ruhig, Junge", hörte er wie durch Watte eine männliche Stimme. "Niemand will dir was tun."
Als sich die Griffe auf seinen Armen lockerten, machte er noch eine schüttelnde Abwehrbewegung und war befreit. Ohne lange zu zögern, öffnete er die Schwingtür der Intensivstation und raste ans Bett seines Vaters.
Wie die Schwingen eines großen Vogels streiften ihn noch einmal zwei Hände, doch er war nicht aufzuhalten und warf sich im Innenraum der Intensiv-Station über die Bahre.
"Papa, bitte komm zurück."
Seine Stimme war plötzlich so klein wie die eines Babies, das gerade zu sprechen beginnt. Wimmernd stieß er immer wieder dieselben Worte hervor, bis seine Kraft ihn verließ.
"Es ist nichts mehr zu machen", vernahm er die Stimme des Arztes, der versucht hatte, Frank Mittnachts Herz wieder zum Schlagen zu bringen. "Dein Vater ist tot."
Im Versuch, ihn zu trösten, legten sich zwei starke Arme um die bebenden, jungen Schultern. "Es tut mir so leid."
Schließlich trat auch Alexa an Franks und Toms Seite. Die junge Frau wirkte gefasst, doch in ihrem Inneren brodelte es. Wer auch immer dies zu verantworten hatte, der würde dafür bezahlen.
Ihr Gesicht war wie eine Maske. Eine einzelne Träne hing jedoch wie gefroren an ihren Wimpern, als sie die letzten Worte des Arztes vernahm.
Im Hintergrund rauften sich die zwei diensthabenden Schwestern die Haare und warfen einander ungläubige Blicke zu. So etwas hatten sie noch niemals erlebt: Drei Monitore zeigten dasselbe Bild an.
Als die Jüngere von ihnen hysterisch zu kreischen begann, zuckten vier Menschen zusammen. Dr. Schiwas drehte sich um und erkannte blitzschnell die Situation. Geschockt rannte er mit dem Defibrilator in der Hand an das nächstbeste Bett neben Franks und setzte ihn an.
Ein schrilles Pfeifen hallte durch die Station, begleitet von dem langanhaltenden Piepsen der EKGs. Der Körper des alten Mannes bäumte sich auf, und das grausame Spiel begann noch einmal von vorn. "Schnell, holen Sie Hilfe", schrie Dr. Schivas die ältere der beiden Schwestern an. Dann sah er zu Franks Bett hinüber und brüllte: "Und Sie, verschwinden Sie gefälligst. Das ist eine Intensivstation und kein ..."
Alexa und Tom zuckten zusammen.
Der Arzt verschluckte die restlichen Worte, setzte noch einmal das Gerät an und sagte zu der noch immer kreischenden Schwester: "Und Sie gehen am Besten gleich mit!"
Der Killer stand nach wie vor hinter der Trennwand und beobachtete durch einen Spalt das Geschehen im Raum. Fast schon bewundernd betrachtete er Alexa Winters ungerührt scheinendes Antlitz und erkannte den Hass und die Entschlossenheit in ihren Augen. Plötzlich richtete sich ihr Blick direkt auf sein Versteck, und er fuhr zurück.
Es wäre nicht notwendig gewesen, denn seine Anwesenheit ging in der Kakophonie des Grauens schlichtweg unter.
Geschäftig machte er sich an einigen medizinisch notwendigen Utensilien auf einem Pult hinter der Trennwand zu schaffen, um einer eventuellen Entdeckung zuvorzukommen und seine wahre Identität zu verschleiern. Nebenbei behielt er das Geschehen im Auge.
Als der Arzt versuchte, den zweiten Patienten zu reanimieren, kam dieser seinem Versteck verdächtig nahe. Das Kreischen der Schwester im Ohr; trat der Killer hinter dem Wandschirm hervor und durchquerte die Intensivstation mit gemessenen Schritten. In seinem Rücken fühlte er den misstrauischen Blick des Arztes und der älteren Schwester, doch er pfiff vor sich hin und trat durch die Tür. Tom Mittnacht und Alexa Winter folgten den Befehlen des Arztes, den Raum zu verlassen, und wandelten in seinem Schatten.
Sein kalter Blick fiel nach links. Erkennen flackerte in ihm auf, und der Unbekannte erkannte seine Chance, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Geistesabwesend stand Maja Berger vor der großen Glasscheibe und starrte voller Entsetzen auf die Geschehnisse im Innenbereich.
Mehrere grobschlächtige Gestalten in Uniform, begleitet von einem weiteren Arzt, kamen in der Mitte des Gangs auf ihn zu. Noch bevor die beiden Anderen die Intensiv-Station verlassen hatten, stand er schon hinter dem Mädchen und drückte ihr eine Pistole ins Genick. "Schön, dich wiederzusehen. Mach keinen Mucks", warnte er sie.
Ohne lange zu fackeln, folgte sein muskulöser Arm hinterher, umschlang sie von hinten und drehte sich mit ihr in seinen Fängen zu den fünf Sicherheitsleuten um.
"Ihr stellt euch mir nicht in den Weg", drohte er knurrend, "sonst ist sie tot."
Ein lautes Flappen lenkte ihn ab. Blitzschnell wirbelte er herum, ließ seine mittlerweile entsetzt kreischende Beute jedoch nicht aus seinen Händen. Er drückte seine Waffe noch ein bisschen fester gegen Majas Nacken und sah sich Tom Mittnacht und Alexa Winter gegenüber.
"Lass sie sofort los!", zischte diese. Ohne sich der Gefahr bewusst zu werden, ging sie langsam auf ihn zu, als wäre er nur ein räudiger Hund. Fest sah sie ihm in die Augen.
"Alexa, mach keinen Quatsch", kreischte Maja. "Das ist kein Spiel, der Kerl ist gefährlich. Haut ab, Ihr zwei!"
"Ganz recht", bestätigte er hämisch grinsend und beobachtete aus den Augenwinkeln die kräftigen Sicherheitsmänner vor sich. Diese bildeten mittlerweile eine Kette ein paar Schritte von ihm entfernt, während der Arzt vortrat und versuchte, zu deeskalieren: "Bitte lassen Sie mich durch! Meine Pflicht ist, den Menschen da drin zu helfen." Die dunkle Stimme des jungen Mannes zitterte etwas, doch er versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen.
Im Hintergrund sammelten sich ein paar Menschen verschiedener Altersgruppen zusammen, versuchten aber, sich den Anschein von Desinteresse zu geben. Manche setzten sich auf die Stühle im Wartebereich und nahmen sich eine Zeitung zur Hand. Die Meisten blieben auf Abstand, hatten die Situation offensichtlich noch nicht erfasst.
Der Killer antwortete dem Ansinnen des Arztes: "Sie bleiben schön da stehen, wo Sie jetzt sind." Er ließ Alexa und Tom aus den Augen und wandte sich wieder den Securities vor ihm zu. Der Älteste hantierte mittlerweile mit einem Funkgerät und holte Verstärkung.
Allmählich schwoll das Stimmengewirr um ihn herum an. Er fühlte den Schweiß in seinem Nacken, und Majas unablässiges Geschrei zerrte an seinen Nerven. Seine Beute zappelte in seinen Armen, wand sich trotz der Waffe im Genick wie ein Aal, und plötzlich fühlte er sich von ihr demaskiert. "Oh mein Gott ...", stieß sie hervor. In plötzlichem Erkennen starrte sie ihn großäugig an.
Er warf sie von sich weg, machte einen Sidestep nach links und schnappte sich Tom. Mittlerweile rann ihm der Schweiß in Bächen den Rücken hinunter. Mit seiner Ruhe war es vorbei.
Der Arzt machte zwei Schritte nach vorn und versuchte, durch die Tür zu gelangen. Der Killer schlang den rechten Arm um den Oberkörper des Jungen und zog ihn an sich heran. Tom trat ihm mit seinen schweren Stiefeln gegen das Schienbein und schrie: "Lass mich los, du Psychopath."
Bisher war der Verbrecher noch keinen Schritt von der Stelle gekommen. Im Rücken hatte er die Glasscheibe der Station D, linkerhand von ihm befanden sich Alexa und mittlerweile der Arzt, der im Begriff war, das Innere der Intensiv-Station zu betreten. Maja Berger lag wenige Schritte entfernt auf dem Boden und krümmte sich. "Mein Knöchel!", jammerte sie beim Versuch, sich zu erheben. Ein Pfleger bewegte sich auf sie zu.
Plötzlich löste sich ein Schuss aus seiner Waffe. Dr. Mendelson sank getroffen zu Boden. Die Menschen um ihn herum begannen, zu schreien. Hysterie machte sich breit.
Um den Körper des jungen Mannes bildete sich binnen Sekunden eine riesige Lache aus Blut. Für den Arzt käme jegliche Hilfe zu spät!
Der Killer fühlte die Panik in sich fast physisch. Der junge Mittnacht war ganz offenbar der gleiche widerspenstige Arsch wie sein Vater und wehrte sich heftig. So jung wie er war: Er spürte dessen eisernen Willen, es ihm nicht zu einfach zu machen. Er würde ihn jedoch brauchen, um wenigstens den Hauch einer Überlebenschance zu haben. Also zog er ihn mit Kraft näher an sich heran und flüsterte ihm ins Ohr: "Du hast gegen mich keine Chance. Bleib einfach nur ruhig, und dir wird nichts geschehen. Nur noch eine einzige Regung, dann bist du der Nächste."
Tom erstarrte und stellte seinen Widerstand ein. "Was soll ich tun?", fragte er leise, so dass nur er selbst es hörte.
"Du bist nun ganz brav und führst mich hier heraus." Er sah, wie Maja Berger sich mit Hilfe des Pflegers erhob und zur Seite humpelte. "Dich hol' ich mir noch", verhöhnte er sie.
Er drehte Toms Körper mit dem Rücken zu sich und presste ihm die Pistole gegen die Schläfe. Mit ihm als Schild bewegte er sich in kurzen Schritten auf die mittlerweile anwachsende Menge um sich herum zu. Von weit entfernt hörte er die Sirenen, die sich in das Stimmengewirr mischten.
Millimeter um Millimeter erkämpfte er sich und bewegte sich mit Tom gemeinsam auf die Security zu. Diese bildeten nach wie vor eine Kette quer durch den Flur, doch als er mehrere Schritte vor ihnen stand, wichen die kräftigen Männer zur Seite und ließen ihn durch eine Schneise passieren.
Von der anderen Seite des Ganges kamen ihm weitere Menschen entgegen, von denen er vermutete, dass sie jemanden besuchen wollten. Unbeirrt führte er den Jungen voran Richtung Aufzug, und schließlich befanden sie sich auf freiem Gebiet. Der Geiselnehmer atmete auf.
"Was haben Sie mit meinem Vater gemacht?", fragte Tom zwischen zusammengepressten Zähnen hindurch, wandte den Kopf im Gehen nach oben und sah seinem Geiselnehmer hasserfüllt ins Gesicht. Seine blonden Strubbelhaare verstärkten den wilden Ausdruck in seinen Augen.
"Ihn dahin geschickt, wo er hingehört - zur Hölle", spottete der Killer mit eiskalter Stimme. "Und wenn du nicht tust, was ich sage, wirst du ihm folgen." Er spürte das Zittern des Jungen in seinen Armen mit einer gewissen Befriedigung, doch dann hörte er Schritte im Hintergrund. "Geh ein bisschen schneller", befahl er Tom.
Der Junge wandte den Kopf wieder nach vorn und gehorchte. Heiß brannte das Neonlicht in sein Gesicht, und der Krankenhausflur kam ihm ellenlang vor. 'Er wird mir nichts tun, solange er mich braucht', machte er sich selbst Mut.
Mit leicht schlürfenden Schritten passierten Täter und Opfer - Tom nach wie vor in dessen Fängen - mehrere Fenster zur Linken.
Sie hielten sich weitestgehend in der Mitte des breiten Ganges. An beiden Seiten wichen Menschen vor ihnen zurück und versuchten, sich so unsichtbar wie möglich zu machen. Es wirkte auf den Jungen, als würden sie schweben.
"Warum", fragte er. "Warum mein Vater?"
Er fühlte den starken Körper des Mannes in seinem Rücken. Sein rechter Arm lag auf seiner Brust, während er mit der linken Hand seine Waffe hielt. Sie kamen nur schleppend voran.
"Er wusste zuviel", knurrte der Andere. "Pass nur auf, dass du nicht auch zu neugierig wirst, und jetzt halt die Klappe und lauf."
Er dirigierte den Jungen in Richtung Umkleidekabine, die mittig des Ganges linkerhand lag, gleich nach den Fenstern. Als sie das vorletzte passierten, zog er Tom auf die Seite und warf einen Blick auf den Hof. Im Genick fühlte er ein ständiges Prickeln, und er ahnte mehr wie dass er sah, wie sie ihm folgten.
'Solange ich den Jungen im Griff habe, können sie mir nicht an die Kandare', dachte er triumphierend, blendete die aufgeregten Stimmen im Hintergrund aus und konzentrierte sich auf die Nebengeräusche. Schritte verliefen sich in mehrere Richtungen, doch die interessierten ihn nicht.
Sein Instinkt richtete sich auf die schweren Trittgeräusche der Security und erkannte, dass sie wie vermutet auf Abstand blieben. Dennoch wurde es ihm mulmig zumute.
'Ein Schuss von hinten, und ich bin verloren.' Gedankenvögel flatterten durch den Höllentunnel, in dem er sich befand, und stießen gegen die grell beleuchtete Decke, um wie ein Todesfluch zu ihm zurückzukehren.
Unter ihm sammelte sich die Meute zusammen und starrte geschlossen zu ihm herauf. Zumindest empfand er es so, als ob zigtausend Augen ihn sahen.
Eine Gänsehaut lief ihm über den Rücken, und den Killer überkam eine Furcht: Das Ding war eine Nummer zu groß.
Plötzlich vernahm er ein Kichern und dachte, er höre nicht richtig. Es kam aus dem Mund seiner Geisel.
'Was gibt's da zu lachen?', fragte er sich selbst irritiert. Seine geröteten Augen flackerten wütend auf. Seine Umklammerung rutschte ein Stück weiter hoch und legte sich um Toms Hals. Mit einem Druck seines tätowierten Unterarms gab er dem Jungen zu verstehen, dass an seiner Situation rein gar nichts komisch sei. Er herrschte ihn an: "Was ist so witzig? Denkst du vielleicht, das sei eine Komödie?"
Tom röchelte, was den Mann wieder zu Bewusstsein brachte. Er lockerte seinen Griff, und er bekam eine Antwort.
"Ach, Sie sind das?", erwiderte Tom Mittnacht. Dann kicherte er noch einmal. Es klang gehässig. "Wie hat Ihnen vor zwei Wochen Ihr Bettgefährte gefallen?"
Im Gesicht des Killers arbeitete es. Irritiert zog er mit der freien Hand die ohnehin verrutschte Hygienemaske vollends nach unten. Er nahm die Waffe von Toms Schläfe und drehte das Antlitz des Jungen zu sich, nicht ohne sich vorher nach seinen Verfolgern umzuschauen. Hinter ihm war die Sicht frei, und es war totenstill. Nur von vorn kamen noch vereinzelt Besucher entgegen, drückten sich stumm gegen die Wand und schlichen scheu an ihnen vorbei.
Er sah keine unmittelbare Gefahr und konzentrierte sich wieder auf Tom. Mit irre flackernden Augen musterte er das junge Gesicht.
Kurzfristig schweiften seine Gedanken zu seinen beiden Töchtern, die jünger gewesen waren als dieser Rotzlöffel in seinen Armen. Gewissensbisse kannte er nicht, eher fürchtete er die Konsequenzen. Das Einzige, was dem Psychopathen sauer aufstieß, war der Verlust von Kontrolle.
In seinem Blut kochte höllische Angst, und verstärkt durch die Aussage des Jungen überkam ihn das Grausen. Wieder erschien das Bild Arcos vor seinem inneren Auge, und plötzlich bekam er vor Tom Mittnacht Respekt. "Warst du das?", fragte er ihn mit leicht bebender Stimme.
Tom wand sich in seinem Griff und bestätigte ihm mit eiskalter Stimme: "Mehr oder weniger, ja. Tolles Arrangement, nicht wahr? Aber Sie haben Toter Hund vorher abgemurkst, auf bestialischste Weise."
Ekel huschte über sein Antlitz.
Der Mann schielte an dem Jungen vorbei hinab in den Hof. Panzerwägen drängten sich durch die Menge, und ein Blitzlicht blendete ihn von unten herauf. Kein Laut drang nach oben, wodurch das Szenario vor seinen Augen umso unheimlicher war.
"Legst du mir nun deinen Vater auch vor die Tür?", verhöhnte er Tom und lachte bellend. Er drückte die Pistole gegen die Wange seiner Geisel und ließ Franks Sohn kurzfristig los, um eine Hand freizubekommen. Mit dieser nestelte er an dem Bindegürtel des grünen Pfleger-Kasacks, band ihn auf und drehte den Jungen wieder mit dem Rücken zu sich. Grob zog er dessen Arme nach hinten und fesselte ihn.
Tom entfuhr ein Schmerzensschrei, gefolgt von einem Stöhnen. Hass stieg in ihm hoch, und er wünschte sich, dass der Killer den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr erlebte. Er hatte nicht viel, um sich gegen dessen mörderischen Kräfte zu wehren, doch dies, was er hatte, würde er nutzen.
Ein kurzer Blick nach draußen sagte ihm, dass dies nicht ganz so abwegig war, und er erkannte die Chance, heil aus dem Schlamassel zu kommen.
"Du wirst hier niemals heil herauskommen." Er stieß die Worte zwischen den Zähnen hervor und betonte die einzelnen Silben. Seine blauen Augen wurden zu schmalen Schlitzen, während es in seinen Eingeweiden rumorte.
Frühdämmerung vertrieb allmählich die Tristesse des sonnenlosen Wintertages. Vor dem Fenster flammte eine Laterne nach der anderen auf und tauchte die Umwelt in ein diffuses Licht, welches das gespenstische Szenario aus Leibern und blinkenden Lichtern eher verdunkelte, statt es zu erhellen. Silbern glitzerte der Schnee aus dem Grau.
Gegenüber umkreisten Raben den Giebel eines Mittelalterhauses. Ihr Krächzen war nicht zu hören, doch Tom erahnte dieses in seiner Phantasie. Plötzlich vermisste er seine Freunde.
Er bekam einen derben Stoß in den Rücken: "Beweg dich, ich habe nicht vor, hier Wurzeln zu schlagen."
Schmerzerfüllt zuckte der Junge zusammen. Plötzlich vermeinte er, ein rotes Aufblitzen zu sehen. Es kam aus dem Haus gegenüber. 'Ich muss Zeit schinden', dachte er, 'dass er hier stehen bleibt. Das ist bestimmt ein Scharfschütze.'
Doch offenbar sah der Mörder seines Vaters das auch! Demonstrativ drehte er Tom Mittnacht zum Fenster und setzte ihm gut sichtbar die Pistole gegen die Schläfe. Dieser wehrte sich und schielte erschrocken nach oben.
Das Infrarotlicht eines Zielfernrohrs wanderte über seine Stirn, entfernte sich wieder und richtete sich gegen die weißgetünchte Wand im Hintergrund. Dann fiel er zu Boden, den schweren Körper des Mannes direkt auf seinem Rücken.
Tom schrie. Sein Ruf brach sich hallend an den Wänden des weiß glühenden Ganges und wiederholte sich aus mehreren Kehlen wie ein mehrstimmiger Kanon des Schreckens. Dann war es still. In Toms Unterbewusstsein drang ein dumpfes Rollgeräusch.
Schwer spürte er das Gewicht des Killers auf sich und zappelte panisch. Beide lagen mit den Gesichtern in entgegengesetzter Richtung der Intensiv-Station. Was hinter ihnen geschah, sahen sie nicht.
"Halt still!", hörte Tom den gezischten Befehl.
Von vorn kam eine junge Frau auf sie zu, die Augen weit aufgerissen vor Angst. Sie schien wie von unsichtbaren Fäden gezogen zu sein - dann erkannte er sie: Es war Alexa. "Hau ab!", schrie der Junge in ihr bleiches Gesicht. Sie war nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt und offenbar felsenfest entschlossen, in ihr Unglück zu laufen.
Das Gewicht auf seinem Rücken wurde leichter. Plötzlich hörte er einen Knall, von einem zweiten gefolgt.
"Tom ...", stammelte sie, "Tom!"
Durch die Luft flog wie in Zeitlupe ein kleines schwarzes Etwas direkt auf sie zu, und er sah, was es war. In Sekundenschnelle warf sie sich geistesgegenwärtig zur Seite. Erleichtert atmete der Junge auf.
Der zweite Schuss war aus anderer Richtung gekommen. Fast zeitgleich rutschte Emil Kieselwurfs Waffe über den Boden. Sein großer Korpus sackte getroffen auf Toms Rücken zusammen. Ein lautes Stöhnen kam aus seinem Mund und wurde sogleich durch ein allerletztes Todesröcheln ersetzt. Es war vorbei!
Alexa Winter rappelte sich wieder auf, ging auf die beiden am Boden liegenden Menschen zu und fragte: "Bist du verletzt?"
Stumm schüttelte Tom seinen Kopf. Vorsichtig versuchte er, unter der Fleischlawine, deren Geruch nach Schweiß und nach Tod ihn beinahe zum Würgen reizte, hervorzukrabbeln. Hinter sich hörte er Schritte und das gleiche seltsam dumpfe Rollgeräusch noch einmal. Er wandte den Kopf und schaute unter der Achsel des Geiselnehmers hervor. Vier Männer in weißen Plastikanzügen kamen mit einer Rollbahre auf sie zu und befreiten ihn von seiner Last.
Mit zitternden Knien erhob er sich, neben sich den Fleischberg des toten Killers. Als Tom die rote Lache am Boden sah, würgte er trocken.
Plötzlich lagen Alexa und er sich weinend in den Armen. Er spürte, wie sie im Versuch, ihn zu beruhigen, über den Rücken strich, fühlte deren eigenes Beben, ihre Körperwärme, und kuschelte sich dankbar in sie hinein.
"Alles ist gut", murmelte die junge Frau immer wieder und wiegte ihn wie ein Baby.
Innerlich tat Tom Abbitte. Er hatte sie eigentlich für eine oberflächliche, gedankenlose Schnepfe gehalten und sich gefragt, was ihr Vater von der eigentlich wollte.
Vom Ende des Ganges kam Maja Berger auf die beiden zu. Neben ihr ging ein junger Mann mit langen Haaren.
Er spürte, wie Alexas Körper sich versteifte und löste sich von ihr. Fragend sah er sie an.
"Basti ...", flüsterte sie. "Mein Ex."
Sebastian Tränkle schlenderte in gewohnter Lässigkeit auf sie zu und musterte Alexa von oben bis unten. "Stehst du jetzt schon auf kleine Jungs?", fragte er beißend.
Sie straffte ihren Körper, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und trat ihm entgegen. Alexa gab keine Antwort und sah ihm nur in die Augen. Nach einem Moment spuckte sie ihn an und traf ihn direkt an der Wange.
"Wenn man von nichts eine Ahnung hat, sollte man besser die Klappe halten", antwortete sie und schaute angelegentlich nach hinten, wo die Leiche von Emil Kieselwurf soeben abtransportiert wurde.
Automatisch folgte Tom ihrem Blick und zuckte schmerzerfüllt zusammen.
Aus einem Nebengang drangen Menschen und drückten sich scheu gegen die Wand, als der bizarre Zug sie passierte. Währenddessen erblickte er etwas weiter entfernt weitere Bahren und wusste sofort, was sie bedeuten sollten: Sein Vater wurde geholt.
Eine kleine Gruppe der KTU betrat den Raum, den er vor einer Ewigkeit - wie es ihm schien - verlassen hatte. Der junge Arzt, den Emil Kieselwurf erschossen hatte, war schon aus seinem Blickfeld verschwunden.
Verloren starrte der Junge in die Richtung des stetigen Menschenstroms auf den Fährten des Todes.
Das Flappen der doppelflügeligen Stationstür klang überlaut wie Donner in seinen Ohren. Tom sah sie schwingen, wieder und wieder, rot gelackt wie vergossenes Blut.
Erregte Stimmen - ganz offenbar im Streit - zogen seine Aufmerksamkeit wieder auf Alexa und ihren Ex. Sebastian wischte sich die Spucke aus dem Gesicht und starrte diese entgeistert an. "Das bist doch nicht du." Seine Stimme klang, als wäre soeben ein Weltbild zusammengebrochen. "All diese Jahre, die wir miteinander verbrachten, ist das alles Geschichte? Hast du mich überhaupt jemals geliebt?"
Ein unsichtbarer Trauerflor glitt über Alexas Antlitz. "Du warst meine Jugendliebe, das ist wohl wahr. Atemlose Zeiten mit dir, wir waren die ewigen Kinder. Doch das Leben ist nicht nur Spiel. Derjenige, der mich dies lehrte, ist tot."
"Warum all diese Lügen?" Sebastian wollte sich nicht so einfach abspeisen lassen. Traurig blickte er in ihre grünen Katzenaugen und suchte darin nach der Wahrheit. "So, dass alle dachten, du seist gestorben?" Seine braunen Haare hingen wie Spinnweben in seiner Stirn, und er pustete sie wütend aufschnaubend nach oben.
"Sebastian ...", Alexa wählte die Originalform seines Namens bewusst, "ich wollte dich nicht verletzen, weder dich noch Maja. Deshalb dachte ich einfach, dass es besser so ist." Ihre Miene wirkte plötzlich hilflos und zerbrechlich. "Aber was soll ich nun tun ... ohne ihn?"
Basti dachte, er höre nicht richtig. "Das wagst du, mich zu fragen? Wer ist dieser IHN überhaupt?" Er trat einen Schritt auf sie zu, zögerte und blieb stehen, als er Majas Hand auf seinem Arm spürte. Diese spürte, wie er sich mehr und mehr wieder von ihr entfernte, und dass ihn nach wie vor alles zu Alexa hinzog. Es war noch so neu ...
Wieder befand sie sich an einer Stätte des Todes, doch diesmal war sie nicht allein. Rings um die vier jungen Menschen herum befand sich das Pulsieren des Lebens in Form weiterer Zeugen der Zeit, die den Schrecken des Tages von sich werfen wollten wie einen Mantel.
Aufgeregte Sprachfetzen umwogten sie wie ein stürmisch tosendes Stimmenmeer. Tom, Alexa, Basti und sie bildeten eine Insel der Trauer inmitten all dieser gekünstelt wirkenden Lebendigkeit.
Maja fühlte sich beinahe unsichtbar, doch offenbar hatte sie sich getäuscht. Basti wartete Alexas Antwort nicht ab, zog sie zu sich und nahm sie in den Arm. "Es spielt ohnehin keine Rolle mehr, Alex. Ich weiß nicht, ob dir das gefällt oder nicht: Aber Maja und ich sind nun zusammen."
Triumphierend funkelten seine blauen Augen die zierliche Blondine an. Demonstrativ hielt er Maja umschlungen und küsste sie vor den Augen aller Leute zärtlich und innig.
Tom klinkte sich aus und wandte sich seinem eigenen Drama zu. Aus den Augenwinkeln sah er Alexa erstarren und dachte sich seinen Teil: 'Da geht wohl noch was, gut, dass Paps das nicht sah.' Fröstelnd steckte er seine Hände in die Hosentaschen seiner durchlöcherten Jeans und folgte ziellos dem Strom, ohne zu wissen, wohin er sich wenden sollte. Erst, als er wieder vor der Intensiv-Station stand, kam er zur Besinnung.
Er schlängelte sich durch die Weißplastik-Roboter der KTU und blieb wieder vor der Glasscheibe stehen. Am Ursprung seines eigenen Höllentripps - und zugleich an dessen Ende. Verzweifelt wartete Tom dort auf ein Wunder!
Zeit ist ein unmessbarer Faktor, auch wenn manchem dies anders erscheint. Für den Wartenden oder die Verzweifelten scheint sie zäh wie Gummi zu sein, während sie sowohl bei Wohlbefinden als auch in Ausnahme-Situationen rasant dahinfließt wie ein wildgewordener Fluss.
Tätern brennt die Zeit unter den Nägeln, während Opfer froh um jede Minute sind, die sie noch erleben. Da hilft es nichts, sie in Sekunden, Minuten, Tagen oder gar Jahren zu messen - selbst der Blick auf die Uhr erfährt im Sekundentakt eine andere Geschichte. An jenem Tag schien sich sogar das Tageslicht gegen sämtliche Lebensuhren verschworen zu haben, es war, als schickte der Tod seine Boten voraus.
Im Innenbereich der Intensivstation hatte Dr. Shiwas - der diensthabende Arzt - sehr schnell erkannt, dass bei einem gleichzeitigen Herzstillstand dreierlei Komapatienten beileibe etwas nicht stimmen konnte.
Endgültig Verdacht schöpfte er jedoch erst, als der Killer draußen die Nerven verlor und Maja Berger als Geisel nahm. Die Sicherheitskräfte, die sein Durchdrehen allem Anschein nach verursacht hatten, waren schnell vor Ort, wohl eher durch Zufall. Das gut geschulte Team erkannte die Brisanz der Situation relativ schnell. Binnen weniger Minuten brachten sie die Menschen im Wartebereich in einem Seitengang unter und bereiteten alles weitere vor.
im Innenbereich der Station D stand ein hochgebildeter Arzt hingegen vor einem Rätsel. Das Einzige, was nicht von der Hand zu weisen war: Drei Patienten waren aus irgendwelchen Gründen beinahe gleichzeitig durch Fremdeinwirkung verstorben.
Es war nicht einfach, die Nerven zu bewahren. Während der Arzt im mittleren Alter noch versuchte, zu reanimieren, erkannte er bald, wie sinnlos das war. Alles in Allem war maximal eine halbe Stunde vergangen - doch schließlich gab er es auf und legte resigniert beim letzten Patienten sein Werkzeug weg.
Hilfe ließ auf sich warten, und als er den Schuss hörte, war ihm sofort klar, weshalb das so war. Prompt packte ihn das schlechte Gewissen, weil er die beiden Besucher und die kreischende Dorothea Henschel des Raumes verwiesen und sie in diese Hölle vor der Tür geschickt hatte.
"Oh mein Gott ...", drang Margarethe Windaus entsetzter Aufschrei in den Nebel seiner Gedanken. Die Neugierde und der Wunsch, Erste Hilfe zu leisten, trieb sie panisch zur Tür. Dr. Shiwas erwischte sie noch an einem Zipfel ihrer Schwesterntracht, als der Schuss fiel. "Sie bleiben hier!", fuhr er sie an. "Machen Sie sich irgendwie nützlich, setzen Sie sich auf einen Stuhl, oder telefonieren Sie mit Ihrer Schwester. Von mir aus spielen Sie Browsergames, aber rühren Sie sich auf keinen Fall von der Stelle. Und fassen Sie hier drin nichts mehr an, ohne Handschuhe zu tragen. Ich will mir nichts nachsagen lassen."
Mit großen Augen sah die ältere Frau ihn an. Schwester Margarethe war schon lange im Dienst und hatte sich im Lauf der Jahre zur Oberschwester gemausert. Bald würde sie das Rentenalter erreichen, keine gute Zeit, um Heldin zu spielen. Als sie die Angst im Gesicht ihres Vorgesetzten erblickte, wurde ihr das sehr schnell bewusst, und ihre Nackenhaare stellten sich binnen Sekunden auf.
"Was ist da passiert?", fragte sie Dr. Shiwas. Ihre Stimme klang ganz zart und kleinlaut, wie das ängstliche Piepsen einer Maus.
"Wenn ich das nur wüsste ...", antwortete der Arzt und durchquerte den Raum. Er stellte sich an das Bullauge der Tür und starrte hinaus.
Hinter ihm schrillte noch immer das Exitus-Signal aus den Geräten, und von draußen erschollen ängstliche Schreie. Durch seine eingeengte Sichtperspektive erblickte er Menschen verschiedenen Alters auf Stühlen, einige das Gesicht hinter einer Zeitung versteckt, als könnten sie sich so vor dem Schrecken des Tages schützen. Er hörte, wie der Sicherheitsdienstleiter ihnen halblaut riet, sich vorläufig nicht von der Stelle zu rühren, wohl in der Hoffnung, die Aufmerksamkeit des Killers nicht auf sie zu lenken.
"Rufen Sie bei der Polizei an", flüsterte er leise nach hinten, wo Schwester Margarethe nervös mit ihrem Handy spielte. Sie hatte seine Anweisung befolgt und saß auf einem Stuhl neben einem weißen Arzneimittelschrank.
Nach kurzem Zögern ihrerseits hörte er, wie sie leise und umsichtig mit einem unhörbaren Gegenüber redete. Mit überraschter Miene beendete sie das Gespräch und sagte zu Dr. Shiwas: "Die Polizei war schon informiert und ist unterwegs. Sie dürften bald da sein."
Sie stand auf, öffnete eine Jalousie und warf einen Blick aus dem Fenster. Unten sammelten sich bereits die ersten Seh-Leute zusammen und bildeten ein kleines, graues Menschenknäuel der Anonymität.
Vorsichtig öffnete Dr. Shivas einen Spaltbreit die Flügeltür der Station und streckte den Kopf ein Stück weit heraus. Der Killer befand sich links von ihm und hatte sich mittlerweile den Jungen geschnappt.
Mit Schaudern fiel Dr. Shivas Blick auf Dr. Mendelson, dessen Körper reglos mittig seines Blickfeldes lag. Voller Angst wartete der erfahrene Arzt ein paar Minuten, und als der Täter mit seinem Opfer die zurücktretende Security-Gruppe passierte, wagte er sich hinaus in den Flur. Erschüttert beugte er sich über den jungen Kollegen, der in einer Blutlache lag. Dessen verschleierten Augen blickten fassungslos gegen die Decke.
Ohne viel Hoffnung untersuchte er den leblosen Körper auf Lebenszeichen, während um ihn herum entsetzte Blicke auf den Mann am Boden starrten. Die grausige Stille, die plötzlich eingetreten war, schien fast schon zu schreien.
"Bitte verändern Sie die Lage des Toten nicht", hörte er die leise Mahnung eines Sicherheitsbeamten. Während die Evakuierung des Wartebereichs begann, erhob er sich und betrat mit hängenden Schultern den Innenbereich der Station. Wenn er schon nichts tun konnte, dann wollte er wenigstens wissen, wie seine Patienten gestorben waren.
Er bat Schwester Margarethe, ihn allein zu lassen. Diese stand noch immer am Fenster und schaute nachdenklich hinaus. "Ich hoffe, dass ich so etwas nie wieder erleben muss", antwortete sie gedankenverloren. "Und all diese Menschen da unten, sie tummeln sich, als wären sie auf einem Rummel." Die erfahrene Oberschwester drehte sich um. "Was hatten Sie soeben gesagt?"
"Ich hatte Sie gebeten, mich allein zu lassen. Die Gefahr ist vorläufig gebannt, schließen Sie sich einfach den Männern der Security an."
"Aber ...", besorgt sah sie ihn an.
Dr. Shivas erkannte den Widerwillen und die Angst in ihren Augen. "Es ist besser so", insistierte er. "Der Täter könnte zurückkommen, und dann befänden Sie sich in Gefahr."
"Aber was ist mit Ihnen?"
"Ich komme schon klar. Muss noch etwas erledigen, und zudem muss jemand die Polizisten empfangen."
Zögernd ging Margarethe Windau zur Tür und wandte sich dort noch einmal um. "Passen Sie auf sich auf, Dr. Shivas. Ich möchte noch ein paar Jahre mit Ihnen zusammen arbeiten."
Ein warmes Gefühl durchlief ihn, und er lächelte sie gerührt an. "Das werden Sie, nur keine Bange."
Sie drehte sich um und ging durch die Tür. Der Arzt wartete noch, bis diese mit Schwingen aufhörte, dann trat er zum Rollbett am Fenster und machte sich an die Arbeit.
Umsichtig schlug er die Laken zurück und tastete den leblosen Körper der jungen Frau von oben bis unten ab. Sie war nach einem Haushaltsunfall mit Schädel-Hirntrauma eingeliefert worden und hätte noch eine gute Chance gehabt, zu überleben.
Zorn durchflutete sein Herz, doch unbeirrt machte er weiter. Er spürte das rapide Absinken der Körpertemperatur unter seinen Fingern und nahm ein Fieberthermometer, um nachzumessen. Dann notierte er sich das Ergebnis auf einem Zettel und schrieb ihren Namen darunter.
Nachdem er keine weiteren außer den Einlieferungsverletzungen feststellen konnte, drehte er sie vorsichtig zur Seite und schlug ihr OP-Hemd zurück. Er tastete sich den Rücken entlang, fuhr über den Po, die Beine entlang - und stutzte. In der linken Kniekehle entdeckte er eine seltsame Ampulle, die offenbar elektronisch gesteuert werden konnte. Sie war leer.
"Gift!", murmelte er. "Das war ein Profi." Er notierte sich auch diese Entdeckung. Dann versetzte er den Körper der Patientin wieder in die Originallage und deckte sie zu.
Der nächste Patient, den er untersuchte, war der alte Mann. Bei ihm lag ein Schlaganfall zugrunde. Er war ein Wackelkandidat, doch auch bei ihm wäre noch eine positive Wendung möglich gewesen.
Diesmal ging er gezielt vor und kam schneller zum Ziel. Es wunderte ihn nicht, als er auch bei ihm eine Ampulle in einer Kniebeuge fand, ebenfalls leer.
Er notierte sich seine Beobachtungen, brachte den toten Körper wieder in Ordnung und nahm sich des letzten der Mordopfer an: Kommissar Mittnacht. Das Fieber des Wissenwollens kam mit Macht über ihn. Rollgeräusche aus mittlerer Entfernung machten ihm klar, dass Eile angesagt war. Zielbewusst schlug er die Bettdecke zurück. Dr. Shivas maß Fieber, und während der kurzen Wartezeit tastete er sich unter seinen Kniekehlen entlang, ohne ihn umzudrehen. Mit einem Fluchen bemerkte er das leise Plopp und hatte die Ampulle in seiner Hand. Zurück blieb nur die Kanüle.
Stimmen erschollen im Flur. Schnell ließ er das Gefäß in seine Kitteltasche gleiten, entfernte das Thermometer und breitete die Laken wieder über Frank Mittnacht.
Keine Minute zu früh! Dr. Shivas warf einen Blick auf das Display des Fieberthermometers und wunderte sich. Die Körpertemperatur war fast normal.
Als die Beamten der KTU und Kommissar Mayrhöfer den Raum betraten, vergewisserte er sich noch einmal anhand eines kleinen Spiegels nach letzten Lebenszeichen. Es gab keinen Zweifel: Der Mann war tot.
Mit hilflosem Schulterzucken richtete er sich auf und begrüßte die Beamten mit den Worten: "Was Sie hier finden werden, ist ein Desaster. Sorry, aber ich kann nicht mehr."
Der Arzt brach in Tränen aus und trat hinter Franks Bahre hervor. Dann übergab er Kommissar Mayrhöfer seine Notizen, zuckte noch einmal die Schultern und schluchzte trocken. Ohne ein weiteres Wort wandte sich Dr. Shivas unter den erstaunten Blicken der Männer zur Tür, schwang deren Flügel beiseite und trat hinaus. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen wandte sich sein Kopf nach links. "Es tut mir so leid", sprach er mit abgehackter Stimme und blickte durch die jugendliche Gestalt Tom Mittnachts hindurch.
"Es tut mir so unendlich leid", wiederholte er murmelnd und blinzelte zur neongleißenden Decke hinauf, bis Sterne vor seinen Augen erschienen. Dann ging er weiter.
"Es tut mir so leid", wieder und wieder, schreitend mit langen Schritten, vor Erschütterung starr, an Rollbahren mit schwarzen Plastiksäcken vorbei, die noch leer waren und auf ihre Passagiere warteten.
Tom drehte sich um und sah ihm nach. Der gedrungene Körper des glatzköpfigen Arztes verschwand um die rechte Ecke in einen Seitengang, während sich seine Stimme wie ein einzelner Tropfen in einem Meer voller Geräusche verlor.
Der Junge lehnte sich gegen die Trennscheibe, steckte die Hände in die Taschen seiner Jacke und zog fröstelnd die Schultern hoch - in derselben Manier wie sein Vater. Ein paar Schritte von ihm entfernt fuhr Emil Kieselwurf im ersten von vier Todes-Taxis davon und verschwand in der Richtung von Dr. Shivas.
Tom sackte in sich zusammen. Langsam ließ er sich rücklings an der Glasscheibe hinabgleiten. Das Leder der Jacke hinterließ ein durchdringendes Quietschen. Er setzte sich auf den Boden, umschlang mit beiden Armen seine angezogenen Knie und senkte den Kopf in die Ellenbeugen hinein. So blieb er sitzen, bis Joe Neureuth auf ihn zutrat und ihn umarmte. "Komm, Tom", sprach er. "Wir gehen nach Hause."
Der Geist des Jungen kehrte aus seinen Dunkelwelten zurück und wandte sich dem besten Freund seines Vaters zu.
"So viel Tod", wisperte er mit einer rauhen Stimme, die mehr nach altem Mann denn nach Jugend klang. "So viel Tod an einem einzigen Tag - und Paps hat mich verlassen. Wo ist jetzt mein Zuhause, Joe?"
Der Beamte fasste ihn unter den Achseln und versuchte, ihm aufzuhelfen. "Komm, Tom. Vorerst nehme ich dich mit zu mir, und dann werden wir sehen. Du bist nicht allein."
Als der Junge stand, atmete Polizeiobermeister Neureuth erleichtert auf. "Warte hier auf mich", bat er Tom. Dann betrat er die Intensivstation und stellte sich neben Franks Bett.
Fassungslos starrte er auf seinen toten Freund. Mit aller ihm zur Verfügung stehenden Kraft drängte er die Tränen, die in ihm aufsteigen wollten, bis in die Tiefe seiner Seele hinab und schluckte trocken. "Mit wem hast du dich nur angelegt?", fragte er leise. "Was verband dich mit Emil Kieselwurf?" Es waren Fragen, auf die er keine Antwort erhielt.
Kommissar Mayrhöfer trat neben ihn und legte ihm mitfühlend eine Hand auf den Arm. "Frank Mittnacht stand Ihnen wohl sehr nahe, nicht wahr? Es tut mir sehr leid!" Mit leichtem Druck seiner schlanken Finger drückte er dem Kollegen sein Bedauern aus.
"Wir waren befreundet", antwortete Polizeiobermeister Neureuth. "Was ist hier nur passiert?"
Wolfgang Mayrhöfer zuckte nur mit den Schultern. "Wir werden es bald erfahren." Dann wandte er sich an die KTU-ler und bellte: "Auf geht's, Leute. Steht hier nicht rum und haltet Maulaffen feil. Macht eure Arbeit."
Während die Spurensicherung und Dr. Tribeck - der Pathologe - ihre Arbeiten fortführten, verließ Josef Neureuth den Raum, um den Jungen nach Hause zu bringen. Tom erwartete ihn mit Tränen in den Augen. "Nun habe ich alles verloren", sagte er leise. "Bist nun du meine Familie?"
"Komm!", erwiderte Joe und nahm ihn am Arm. "Wir werden sehen. Ich lasse dich jedenfalls niemals im Stich."
Gemeinsam setzten sie sich in Bewegung und betraten den Seitengang, in dem Dr. Shivas noch vor Kurzem verschwunden war. Das bleiche Neonlicht warf ihre bizarren Körperschatten langgezogen gegen die Wand. Sie begleiteten die beiden Männer, bis sie den Aufzug betraten.
Im gleichen Moment betrat Besagter sein Büro auf der anderen Seite. In seiner Kitteltasche hatte Dr. Shivas die Ampulle, die er aus Frank Mittnachts Kniekehle entfernt hatte.
Vor der Tür hörte er die aufgeregten Stimmen von Menschen, die durch mehr Glück als Verstand überlebt hatten, vernahm die Schritte der Beamten und Rollgeräusche, an die er sich schon so sehr gewöhnt hatte, dass er sie heute das erste Mal seit Langem wieder als dies wahrnahm, was sie bedeuteten: Oftmals den Tod.
Dr. Shivas hatte schon viele Todesgesichter gesehen, doch selten trat der Sensenmann in solch heimtückischer Weise an ihn heran. Dennoch lag es für den erfahrenen Arzt fast auf der Hand, wie die drei Menschen auf seiner Station ums Leben gebracht worden waren.
Ihm fehlten nur noch Details, um seine Vermutung vorerst nur für sich selbst bestätigt zu sehen. Eine an Wahnsinn grenzende Idee wuchs in seinem Kopf heran. Der ältere Arzt begab sich zu seinem Labortisch an der rechten Seite des Raums, griff in seine Kitteltasche und zog vorsichtig die Ampulle hervor. Dr. Shivas musterte sie und bewunderte die raffinierte Schließvorrichtung, die eine kontrollierte Giftabgabe erlaubte. Sie war winzig klein, befand sich im Inneren der Ampulle und war durch haarfeine Glasfasern mit dem Chip an der runden Außenseite des Gefäßes verbunden.
Um die Verbindungen vor Feuchtigkeit im Inneren zu schützen, war die Ampulle doppelwandig, und im Innengefäß hatte sich ganz offensichtlich die todbringende Giftmischung befunden. Ein kleiner Rest sammelte sich in der spitz zulaufenden Öffnung, ungefähr ein Achtel des aufgrund der Behältergröße kalkulierbaren Gesamtinhalts.
Vorsichtig stellte Dr. Shivas das Gefäß in einen Reagenzglas-Ständer, setzte sich davor und dachte über die milchigweiße, leicht schäumende Flüssigkeit im Inneren nach. Angestrengt kramte er in seinen Gehirnwindungen nach der Erinnerung an die Symptome, die er bei seinen Patienten entdeckt hatte. Der Chefarzt der städtischen Klinik erinnerte sich an eine blaue Färbung der Lippen, was auf Atemlähmung hindeuten würde. Darüber hinaus war bei zwei der drei Opfer verblüffend schnell die Leichenstarre eingetreten gewesen, zu schnell nach seinem Geschmack.
Er nahm die Ampulle aus dem Ständer und testete seinen Verdacht im Eigenversuch. Mit klopfendem Herzen kippte er sie nach vorn und wartete darauf, dass die Abgabe des Giftes erfolgte. Ein mikroskopisch kleiner Tropfen genügte, und er empfand sofort das Kribbeln auf seiner Haut.
Tetrodotoxin - das Gift des Kugelfischs!
Um sicher zu gehen, verließ er den Raum und begab sich zurück zur Intensiv-Station in der Hoffnung, dass die Leichen noch nicht abtransportiert worden waren. Die Ampulle packte er umsichtig in einen passenden Behälter aus Styropor und nahm ihn mit, um sie den Beamten zu übergeben.
Während er den Gang passierte, kamen ihm zwei Rollbahren in Begleitung von vier weißgekleideten Männern entgegen. Dr. Shivas stellte sich in den Weg. "Warten Sie! Ich glaube, ich kann Ihnen helfen."
Fragend sah Fred Olstorff - der erste Zugfahrer des makabren Transports - ihn an: "Wie meinen?"
"Ich meinte, wegen der Todesursache." Dr. Shivas streckte ihm die verpackte Ampulle entgegen. "Die nahm ich versehentlich mit."
"Hmmmm." Fred rieb sich das unrasierte, narbenübersäte Kinn. "Wenden Sie sich an Dr. Tribeck und Kommissar Mayrhöfer, sie sind noch da hinten."
Damit wies er mit dem Kopf zur Station D, blickte seinen Kollegen am Ende der Bahre angelegentlich an und setzte sich gemeinsam mit ihm wieder in Bewegung.
"Höööhhh, langsam", hörte Dr. Shivas noch dessen Beschwerde, passierte die zweite Bahre und bog nach links ab.
Als er die Intensiv-Station betrat, befand sich nur noch einer seiner Patienten an Ort und Stelle. Kommissar Mayrhöfer saß an der Kante von Franks Rollbett und sah diesen nachdenklich an. Trauer stand in seinem Gesicht.
Drei Plastikmänner wuselten im Raum herum, pinselten und klebten die Möbel ab und suchten nach Spuren. Ein vierter Mann in Zivil und einem Laptop stand an der Seite.
Das musste Dr. Tribeck sein. Zielstrebig ging Dr. Shivas auf ihn zu und streckte ihm seine Beute entgegen. "Ich fürchte, ich habe versehentlich ein Beweisstück entwendet."
Seine Ausdrucksweise klang leicht schwammig, und allmählich fühlte er Schwäche in seinen Gliedern. Der Angesprochene sah ihn seltsam an. "Haben Sie getrunken?"
Dr. Shivas verneinte. "Ich möchte ... Ihnen ... nur das hier ... geben." Mühsam kamen die Worte heraus. Unsicher legte er das Paket vor dem Pathologen ab und hielt sich fest. Der Raum der Intensiv-Station und die Menschen darin begannen, sich um ihn zu drehen.
"Tetrodotoxin ...", stieß er gepresst zwischen den Zähnen hervor. Seine Lippen wurden allmählich taub.
Allmählich dämmerte es Dr. Tribeck, und er öffnete das Styropor. "Waren Sie das?", fragte er.
Die Styropor-Packung enthielt dieselbe Art von Ampulle wie bei den ersten beiden Opfern. Die Männer der KTU hatten sie in deren Kniebeuge gefunden, während sie bei Kommissar Mittnacht gefehlt hatte.
Mittlerweile wurde auch Kriminaloberkommissar Mayrhöfer aufmerksam und trat zu den beiden Männern hinzu. "Was ist los?", fragte er mit fistelnder Stimme. Was ist das?"
"Die vermisste Ampulle", antwortete Dr. Tribeck knapp. "Und sie ist sogar recht aussagekräftig, ebenso wie unser werter Kollege." Damit wies er mit dem Kopf zu Dr. Shivas. "Er sprach von Tetrodotoxin. Nur fragen Sie mich bitte nicht, woher er das weiß."
"Vielleicht ist er ja unser Täter, und unsere Kollegen vom SEK haben den falschen erschossen", mutmaßte der Kommissar.
Im Hintergrund erklang ein leises Fauchen. Zugleich betraten vier KTU-ler mit einer weiteren Rollbahre den Raum. "Wir nehmen ihn jetzt mit", sagte einer der Männer leise.
"Warten Sie noch einen Moment", bat Kommissar Mayrhöfer, den Rücken der Tür zugewandt. Er betrachtete Dr. Shivas misstrauisch und sprach ihn an. "Woher kennen Sie den Inhalt der Ampullen?"
"In ... tubation", antwortete der Arzt. "Schnell, helfen ... Sie ... mir!"
"Wie bitte?"
"Sauerstoff ...", lallte der Mann abgehackt und schleppte sich steifbeinig auf Franks Bett zu. Dieser war noch an EKG und Beatmungsmaschine angeschlossen. Während der Herzmonitor bereits vom Strom getrennt war, fauchte letztere noch immer wie eine junge, ängstliche Katze.
Dr. Shivas sackte neben dem Leichnam zusammen, entfernte das Mundstück aus Franks Rachen und nahm selbst eine Prise. Kommissar Mittnachts Brustkorb fiel in sich zusammen, und ein lautes Röcheln ließ die Männer im Raum zusammen zucken. Entgeistert starrten sie Dr. Shivas an. "Was ist mit Ihnen los?", fragte nun auch Kommissar Mayrhöfer, dem das Verhalten des Arztes gehörig spanisch vorkam. "Sie sind doch besoffen."
Dr. Shivas zog das Mundstück zwischen seinen Lippen hervor und antwortete schleppend: "Selbsttest ... Tetrodotoxin." Schwerfällig zeigte er auf das Styropor-Paket, welches neben Dr. Tribeck auf einem kleinen Tischchen stand.
Unkoordiniert schob er das Endstück des Intubations-Schlauchs wieder zwischen Franks Lippen, dessen Brustkorb sich hob. Niemand bemerkte es!
Die Männer, die Franks Leichnam abholen wollten, schoben ihre Rollbahre links neben sein Bett. Fred Olstorff forderte Dr. Shivas auf: "Darf ich bitten?"
"Mo ... ment", gurgelte er, nahm Kommissar Mittnacht den Schlauch weg und inhalierte. Dr. Tribeck trat hinzu und betrachtete nachdenklich den toten Körper. "Irgendwas stimmt hier doch nicht."
Franks Augen waren geöffnet und starrten gegen die Decke. Zumindest dachte er das, doch als er noch einmal genauer hinsah, waren sie wieder geschlossen.
"Imagination", murmelte Horst Tribeck. Ein Gruselschauer überlief den Rücken des ansonsten abgebrühten Pathologen. Der kleine Mann umrundete das Bett, flanierte von Seite zu Seite und konzentrierte sich wieder auf seinen Kollegen. 'Was ist mit dem Kerl los?', fragte er sich wiederholt.
Plötzlich überschlugen sich die Ereignisse. Franks Körper begann, spastisch zu zucken. Dr. Tribeck fuhr erschrocken zusammen.
Als Fred Olstorff Frank anfassen wollte, schnellte dessen Oberkörper wie ein Springteufel nach oben, und er saß senkrecht mit weit aufgerissenen Augen im Bett. Krampfhaft sog Kommissar Mittnacht die Luft ein, und Dr. Shivas fiel steifgliedrig zu Boden. Starr lag er zwischen Bahre, Geräten und einem weißen Metallnachttisch und konnte sich nicht mehr bewegen.
"Schnell!", fiel nun bei Dr. Tribeck der Groschen. "Legen Sie Hand mit an und ihn auf das andere Bett. Schnallen Sie ihn fest." Damit forderte er Fred Olstorff und dessen Kollegen auf, Krankenpfleger zu spielen. Er selbst querte den Raum und öffnete sein Laptop auf dem Schreibtisch am Fenster.
Drei Männer machten sich an Dr. Shivas zu schaffen und taten, wie ihnen geheißen. Währenddessen stand Kommissar Mayrhöfer ratlos herum und blickte verwirrt durch die Gegend. "Was ist denn nun passiert?"
Seine helle Stimme überschlug sich kieksend vor Aufregung, und sein hageres Gesicht wurde länger und länger.
Im Raum wurde es allmählich dämmrig, und Franks Augen blitzten ihm gefährlich entgegen. Der MK-ler riss sich von dessen Anblick los, ging zum Lichtschalter neben der Tür und drückte darauf. Gleißendes Neonlicht fiel in den Raum und hob die Konturen der Anwesenden fast schon überdeutlich hervor.
Blinzelnd regulierte er sein angeschlagenes Sichtfeld und tastete sich zu Kommissar Mittnachts Bett hinüber. Der irritierte Beamte drückte dessen noch immer aufgerichteten Oberkörper nach unten und fragte: "Frank? Schlafen Sie noch oder leben Sie schon?"
"Sind wir hier bei IKEA?", warf irgendein Witzbold von hinten ein. "Sie reden mit einer Leiche."
Es rumpelte, und etwas fiel mit metallischem Scheppern zu Boden. Dr. Tribeck sog lautstark die Luft ein und fuhr den Pechvogel an: "Passen Sie doch auf. Sie hätten beinahe ein Beweisstück vernichtet."
Damit deutete er auf das Styropor-Paket, welches daneben lag, drehte sich auf seinem Ledersessel zum Schreibtisch zurück und widmete sich wieder seiner Recherche. "Tetro ...", murmelte er vor sich hin.
Nebenbei erklang das Klappern der Tastatur. "Tetra ...", begleitet von einem Störsignal.
Er fluchte und fuhr sich durch sein schütteres Haar.
"Tock!" Ein hölzernes Geräusch störte seine Konzentration. Dr. Tribeck drehte sich zurück in den Raum und starrte strafend zur vermuteten Geräuschquelle hinüber.
Wolfgang Mayrhöfer rieb sich mit schmerzverzerrter Miene die Stirn. Eine Beule bildete sich, und Frank saß aufrecht im Bett.
"Nun schnallen Sie unseren Kollegen doch um des lieben Herrgöttle von Biberachs Willen fest, Himmel noch mal!", rief Dr. Tribeck voller Verzweiflung. "Und geben Sie ihm Sauerstoff, der Mann lebt, schnallt Ihr Holzköpfe das nicht?"
"Ähhhhmmm", wagte Fred Olstorff einen Einwand. "Sind das nicht vielleicht nur Reflexe, so wie bei Aalen oder bei geköpften Hühnern?"
"Dann würde er ja wohl flattern", warf der Witzbold von vorhin ein und kicherte ungeniert.
Währenddessen nahm sich Kommissar Mayrhöfer der Sache an und befolgte die Anweisung von Dr. Tribeck. Wohlwollend tätschelte er Franks Wange und flüsterte: "Das wird schon wieder, Kollege. Aber nun bleiben Sie schön liegen und werden gesund."
Der Pathologe hatte gefunden, nach was er gesucht hatte. Er erhob sich vom Schreibtisch und ging zum Bett von Dr. Shivas. "Können Sie reden?", fragte er und blickte in dessen halbseitig gelähmtes Gesicht. Mit großem Kraftaufwand hob der Mann eine Hand und deutete auf eine Klingel über dem Bett. Dr. Tribeck verstand und drückte darauf.
"Dopamin ... spritzen", artikulierte Dr. Shivas mühselig. "Intu ... Sauerstoff", fuhr er fort und formte mit leicht heraushängender Zungenspitze die Silben. Seine Augen rollten in Kommissar Mittnachts Richtung. "Atro ... pin ... bei ... ihm, wichtig."
Franks Blick war mittlerweile klarer geworden, und sein Atem ging etwas ruhiger wie noch wenige Sekunden zuvor.
Erleichtert atmete Wolfgang Mayrhöfer auf. "Kennen Sie sich mit diesen Maschinen da aus?", fragte er Dr. Tribeck und wies mit dem Kopf zu den Geräten rechts neben Franks Bett.
"Auf jeden Fall sollte er intubiert werden." Der Pathologe trat neben Kommissar Mayrhöfer und nahm ihm den Beatmungsschlauch aus der Hand. Er stülpte das Mundstück über Franks Lippen und ignorierte die Gänsehaut auf seinen Armen unter dessen dunkel glühendem Blick.
Die Beatmungsmaschine begann wieder, zu fauchen, und Kommissar Mittnachts Gesichtsfarbe wurde allmählich rosig. Währenddessen schwangen die beiden Flügel der Tür laut flappend zur Seite, und Margarethe Windau eilte ins Zimmer.
"Sie haben geläutet?", fragte sie aufs Geratewohl einen der Männer der KTU. Dieser nickte stumm in Richtung von Dr. Tribeck. Der Pathologe wandte sich an Schwester Margarethe: "Wir brauchen jemanden, der sich hier auskennt."
"Gelbe Seiten", kam ein weiteres freches Bonmot von irgendwo, und kurz darauf hielt jener klappernd die Tür eines Nachttischs in seiner Hand. "Oh liabs Herrgöttle von Biberach!", rief Dr. Tribeck aus und raufte sich seine wenigen Haare, während Wolfgang Mayrhöfer grinste und sich die Hände rieb.
Die Augen von Schwester Margarethe irrten irritiert im Raum herum, und die ältere Frau hoffte, dass diese sich irrten, als sie ihren Vorgesetzten in einem Bett liegen sah. Seine Lippen liefen allmählich bläulich an, und erschrocken fragte sie: "Was ist mit Dr. Shivas los?"
"Tetrodotoxin", antwortete Dr. Tribeck. "Der gute Mann hatte einen Selbsttest gemacht." Endlich fiel ihm ein, dass da noch jemand war, der etwas mehr Hilfe bräuchte.
"Fürs Erste bräuchte er Sauerstoff", wies er sie an. "Können Sie Ihren Doktor an die Beatmungsmaschine anschließen? Und wir brauchen einen zweiten Arzt, der sich mit der Behandlung von lebensbedrohlichen Giften auskennt."
"Holen ... Sie ... Dr. Merchent", stieß Dr. Shivas hervor und sah seine Oberschwester flehentlich an. "Nicht ... viel ... ich, aber ... er." Seine Augen rollten wieder zum Nachbarbett. Automatisch sah sie hinüber. Frank Mittnacht sah sie unverwandt an. Sprechen konnte er nicht, doch seine Augen sprachen für ihn. Margarethe sah die flehentliche Bitte in ihnen, zu überleben, und sie möge ihm dabei helfen. Mitleidig krampfte sich ihr Herz zusammen. Das war die Überraschung des Tages, so schrecklich dieser bisher auch gewesen war: Ein Totgeglaubter kehrte wieder ins Leben zurück.
Mit ihrem Erscheinen kam endlich Bewegung in den bisher unglücklichen Verlauf des Geschehens. Nach einem kurzen Schreckensmoment schickte sie die Männer im Raum hinaus und kümmerte sich um die beiden neuen Patienten. Dr. Merchent wurde telefonisch beordert, und der junge Toxikologe wusste dann auch, was zu tun war.
Die Gefahr, in der sich Frank Mittnacht in seinem angeschlagenen Zustand - durch den Blutverlust des Mordanschlags am Abend zuvor - befunden hatte, war für den Moment gebannt. Außer Lebensgefahr war er noch nicht, weil das Gift des Fugus tückisch ist.
Der Verzehr dessen ist ein Russisches Roulette für Gourmets, die den Nervenkitzel und das Spiel mit dem Tod lieben. Es gibt Spezialitätenlokale, die sich auf dessen Zubereitung verstehen. Was sie ihren Kunden zu bieten haben, ist kein wohlschmeckendes Fischgericht, sondern: Der Tod!
Die Klatschblätter hatten noch im alten Jahr neue Nahrung bekommen, und wie immer hatte die IM BILD die Nase vorn. Es gab nicht viele Bürger der Stadt, an denen die Geschehnisse von jenem schrecklichen Tag spurlos vorbei gegangen waren, doch letztendlich: Die Welt ist groß, und vieles geschieht. Manches ist wichtig genug, um über Wochen, Monate und Jahre nicht vergessen zu werden, und doch verliert es irgendwann einmal den Schrecken.
Wer jedoch niemals vergisst, das sind die Opfer. Nicht jene, die ihr Leben verloren, sondern diese, die es erlebten. Mancheiner macht sich selbst zu einem Opfer, aus Scheu, irgendwelche Konsequenzen zu ziehen, wenn Gefahr für Leib und Leben besteht. Oder auch "nur" für die eigene Seele.
Es war das erste Mal, dass in der oberschwäbischen Kreisstadt etwas über das Übliche hinaus geschah. Zwar war es nicht das erste Verbrechen, auch nicht das erste Mal, dass Menschen ihr Leben verloren, aber doch das erste Mal, dass eine Verkettung von mehreren Ereignissen einen Zusammenhang bildeten und in einer solch schicksalhaften Tragödie gipfelten. Spätestens seit den Geschehnissen in der Klinik war der Name "Emil Kieselwurf" jedem bekannt, und sei es nur durch die reißerischen Leitartikel der IM BILD-Redaktion. Inwieweit deren Kontext der Wahrheit entsprach, sei dahin gestellt, doch immerhin sorgten sie für das allmorgendliche Stadtgespräch, für Witze am Stammtisch, für anrührende Messen in Kirchen. Sie rückten Menschen in den Fokus der Öffentlichkeit, die ansonsten nur am Rande bemerkt worden wären, wie Nachtschattengewächse, die plötzlich dem Sonnenlicht ausgesetzt werden, mit dem Befehl, sich an der neuen Situation zu orientieren.
Nicht alles von den tatsächlichen Hintergründen kam auch ans Licht, und vieles stellte insbesondere die Kripo vor Rätsel. Manches wurde verzerrt wiedergegeben.
So zum Beispiel kam niemals heraus, wer Toter Hund im Haushalt Kieselwurf im Bett des Hausherrn entsorgte. Im Wesentlichen jedoch war Arco - Toter Hund - ohnehin nur als Anekdote geeignet, über die blutige Grausamkeit selbst machten sich nur wenige ernsthaft Gedanken. Und irgendwann geriet er in Vergessen - außer im Herzen von Tom.
Die Akte der Kisslegger Morde wurde geschlossen. Alle Indizien sprachen gegen Emil Kieselwurf, und somit waren weitere Ermittlungen überflüssig geworden. Elisabeth Weigert erholte sich nicht mehr von dem Schock, ihre einzige Tochter und ihre beiden Enkelinnen auf so grausame Weise verloren zu haben. Sie verstarb noch vor Weihnachten in der Klinik von Isny, wohin sie nach ihrem Herzinfarkt abtransportiert worden war.
Das waren jedoch nicht die einzigen Gräueltaten des Täters: In der Wohnung von Maja Berger und Marco Meier wurden Fingerabdrücke und weitere Spuren von dem toten Geiselnehmer und Giftmörder gefunden. Die junge Frau hatte Emil Kieselwurf nach seinem Tod als ihren Verfolger identifiziert, und es gab keinerlei Hinweise auf einen anderen Täter. Der Fall Marco Meier wurde ebenfalls als abgeschlossen zu den Akten gelegt.
Später meldete sich über die IM BILD ein bundesweit bekannter ehemaliger Profiler zu Wort und mahnte die Öffentlichkeit, nicht zu leichtgläubig zu sein, sich nicht zu sicher zu fühlen. Da war Weihnachten bereits vorüber, doch das Jahr war noch nicht zu Ende.
Noch einmal wurde der Fall "Rosenrot" von allen Seiten beleuchtet - zumindest von den Bürgern der Stadt.
Nach einem Querverweis auf die Rose am Tatort - federführender Journalist war Stephan Wagner - wurden Parallelen zu dem ermordeten Mädchen in Leutkirch gezogen, und ein Phantombild des vermeintlichen Täters prägte die erste Seite der Zeitung.
Im Innenteil kam ein Interview mit besagtem Profiler zum Tragen, mit der Kernaussage, dass die Mordkommission sich auf dem Holzweg befände. Das gehässige Endfazit war: Der Rosenkiller sei nach wie vor auf freiem Fuß.
Angst machte sich breit. Die Telefon-Anlage der Notruf-Zentrale stand fast nicht mehr still. Bei jedem kleinsten Geräusch in der Nacht durften die Beamten ausrücken und nach dem Rechten schauen.
Männer, die dem Profil des angeblichen Täters entsprechen könnten, wurden an öffentlichen Stätten misstrauisch begutachtet, und nicht nur einmal kam ein Anruf, man hätte den Rosenkiller gesehen.
Die Gerüchte-Küche brodelte, dass dieser sich in den Reihen der Kripo Großdummsdorf befände. Gestützt wurde diese Vermutung durch die Aussage einer Anwohnerin der Viktor-Huss-Straße, die Stein und Bein schwor, Frank Mittnachts Auto in der Mordnacht vor Marcos und Majas Haus gesehen zu haben.
Für Stephan Wagner war das ein gefundenes Fressen. Die Artikel aus seiner Feder waren von der ersten Seite der IM BILD nicht mehr wegzudenken. Großdummsdorf hatte sein neues enfant terrible gefunden: Einen honorierten Polizisten und Präsidiumsleiter in Person von Kommissar Mittnacht.
Der, den es augenscheinlich betraf, bekam von alledem nicht allzuviel mit. Er hatte noch immer mit den Nachwehen der beiden Anschläge auf ihn zu kämpfen und lag auch weiterhin in der Klinik. Mittlerweile hatte er die Intensiv-Station zwar hinter sich gelassen, aber die Ärzte waren der Meinung, ihn noch nicht gehen lassen zu können.
Unter dem Druck der Öffentlichkeit stehend, blieb den Obrigkeiten keine andere Wahl. Kommissar Mittnacht wurde hinter seinem Rücken vom Dienst suspendiert. Polizeihauptmeister Sankt wurde befördert und übernahm an seiner Stelle den Posten des Dienstgruppenleiters.
Alexa Winter besuchte Frank jeden Tag und bewirkte zudem, dass er ein Einzelzimmer bekam. Sie wechselte sich mit Tom ab, um mit ihm allein zu sein. Kommissar Mittnacht tat jedoch desinteressiert und starrte während ihrer Anwesenheit oftmals nur wortkarg gegen die Wand.
In Wirklichkeit litt er Höllenqualen in ihrer Nähe, war jedoch nach wie vor der Meinung, dass es ihm nicht vergönnt sei, mit ihr glücklich zu sein. Zu viel lag im Dunkel seiner Seele vergraben, und nach wie vor war er sich nicht sicher, was an jenem verfluchten Freitag geschehen war.
Er hatte indessen nicht mit Alexas Kampfgeist gerechnet. Die junge Frau hatte es sich in den Kopf gesetzt, mit ihm - einem Mann, der fast ihr Vater sein könnte - ihr Leben verbringen zu wollen. Nichts hatte sie bisher davon abbringen können, weder Majas mahnende Worte noch Bastis Annäherungsversuche, die ihr nur ein Kopfschütteln abrangen.
Schließlich hatte er sich schnell an ihrer Freundin schadlos gehalten, was also bitte schön wollte er da von ihr? So sagte sie es ihm denn auch, als er sie am Silvestertag im Foyer der städtischen Klinik abgepasst hatte, und riet ihm zugleich, Maja und sie nicht zu verarschen.
Anschließend ließ sie ihn stehen und verschwand im Aufzug. Während sie nach oben fuhr, plante sie genüsslich ihr Attentat, welches sie auf Frank vorbereitet hatte. An ihren Ex verschwendete sie nicht einen Gedanken mehr.
Basti hatte mittlerweile das Krankenhaus wieder verlassen und schlenderte nachdenklich den Berg hinab. Den Mann, der sich an seine Fersen heftete, sah er nicht.
Als ein Blitz ihn blendete, wurde er jedoch aufmerksam. Stephan Wagner trat ihm in den Weg und fragte: "Du bist doch der Freund von Alexa Winter, oder? Darf ich dir ein paar Fragen stellen?"
Sebastian Tränkle schüttelte seine kastanienbraune Mähne nach hinten und musterte sein Gegenüber gleichgültig aus eisblauen Augen. "Ich glaub eher nicht", antwortete er.
"Ach komm schon, Kumpel. Ich an deiner Stelle wäre ganz heiß darauf, deiner Braut eine reinzuwürgen. Zieht die nicht mit diesem sonderbaren Kommissar rum?"
Stephan baute sich vor ihm auf und sah ihn provokativ an. Es passte ihm gar nicht, dass das Objekt seiner obskuren Recherchen - Emil Kieselwurf - seinem Schicksal erlegen war und ihm nicht mehr zur Verfügung stand. Obwohl sein Leben nun doch wieder etwas ruhiger und sicherer geworden war: Für seine Karriere war dieser doch recht nützlich gewesen. Nun brauchte er neuen Stoff, und den sollten Alexa Winter und ihr Kommissar schnellstmöglich liefern.
Mit Sebastian Tränkle war jedoch nicht gerade zu rechnen. Das wurde Stephan ganz schnell klar, nachdem ihn dieser noch einmal abblitzen ließ: "Solche Schmierfinken wie du sind mir ein Gräuel. Such dir jemand anderen für deine Lügengeschichten."
Danach drehte er sich um und ging denselben Weg, den er gekommen war, wieder zurück. Es widerstrebte ihm zwar zutiefst, doch die Fairness seiner Ex gegenüber gebot ihm, sie schleunigst vor dem rasenden Reporter zu warnen. Bei der Gelegenheit war Basti ganz gierig darauf, ihren Knilch auch mal kennenzulernen.
Stephan Wagner grinste, als er sah, wie Alexa Winters Exfreund mit langen Schritten noch einmal den Glasvorbau der Klinik betrat. Er wartete, bis er außer Sicht war, dann setzte er sich in Bewegung und folgte ihm.
Er konnte sich denken, wo dieser zu suchen war, und vielleicht kam er auch so an eine noch heißere Story - über den direkten Weg. Während der junge Mann den Aufzug betrat, versteckte der Journalist seine Kamera in der dazugehörigen Tasche und trat an die Info-Theke. "Sagen Sie mir bitte die Zimmernummer von Kommissar Mittnacht?", fragte er die junge Dame, die gerade Dienst hatte.
Deborah Illmann sah ihn misstrauisch an. "Sind Sie von der Presse?"
Stephan verneinte. "Ich bin sein Neffe."
"Wie ist der volle Name des Patienten?", fragte die hübsche Blondine und öffnete die Datenbank.
"Frank Mittnacht", antwortete er. "Ich habe ihm versprochen, vorbei zu kommen." Aus den Augenwinkeln sah er, wie die Aufzugstür schloss und der Lift mit Sebastian Tränkle nach oben fuhr. Sicherheitshalber blickte er auf die Digitalanzeige und merkte sich die Zieletage.
"Offenbar hat der Patient mehrere Neffen." Deborah tippte den Namen in die Maske und nannte Stephan die Zimmernummer. Triumphierend grinste er sie an und dankte knapp.
Widerwillig löste sich der breitschultrige Journalist von dem Anblick, der ihm gefiel und nahm sich vor, sie irgendwann näher kennenzulernen, wenn er die Zeit dazu fand. Er durchquerte das Foyer und nahm den zweiten Aufzug nach oben. Die beiden Männer kamen zeitgleich oben an und näherten sich aus verschiedenen Richtungen Franks Zimmer.
Stephan hielt sich im Hintergrund und auf Beobachtungsposten, darauf bedacht, von Basti nicht sofort entdeckt zu werden. Hinter einer Stehpalme verborgen harrte er der Dinge, die bald geschehen sollten.
Sebastian Tränkle schlenderte derweil den langen Gang entlang. Seine hochgewachsene Gestalt zog einige Blicke junger Damen, die ebenfalls die Besuchszeit der Klinik für Stippvisiten nutzten, auf sich. Er blickte jedoch weder nach links noch nach rechts.
Zielstrebig hielt er auf Franks Zimmer zu. Er zögerte nur einen kurzen Moment, dann drückte er ohne anzuklopfen die Klinke nach unten. Leise zog er die Tür auf - und stand da wie vom Donner gerührt. Ihm bot sich ein Anblick, den er nur allzugut kannte.
Von Alexa selbst entdeckte er nur einen nackten Rücken und ihre schlanken Beine, von Jeans-Stoff verhüllt. Gegenüber der Zimmertür kauerte sie vor einem weißen Rollbett, in dem der Mann, den Basti hasste wie sonst keinen zuvor, lag. Seine Augen waren mit einem schwarzen, mit weißen Röschen bestickten Spitzen-BH verbunden. Das Gesicht unter dem blonden Struwwelkopf wirkte verklärt, und leise Lustlaute kamen aus Franks halbgeöffnetem Mund.
Alexas Kopf war ganz offenbar in einer äußerst heißen Region zugange und unter der Bettdecke, die sich rhythmisch bewegte, versteckt. Unter ihrer linken Achsel blinzelte dem jungen Mann neckisch nacktes Brustfleisch entgegen, umspielt von einer großen Männerhand.
Sebastian Tränkle wollte die Tür soeben wieder schließen, da legte sich eine Hand auf seine Schulter. Stephan Wagner schob ihn zur Seite und brachte seine Kamera in Position. Nach ein paar Sekunden hatte er ein paar heiße Bilder im Kasten, ohne dass es das Pärchen im Innern des Raumes bemerkte. Zufrieden schloss er die Tür.
Einmal mehr gab sich Kommissar Mittnacht geschlagen. Sein Plan, Alexa Winter zu ihrem eigenen Schutz auf Distanz zu halten, scheiterte an dem buntschillernden Traum, der in seiner Realität Einzug hielt. Das prickelnde Spiel, das sie ihm bot, ließ alle Schmerzen und Zweifel vergessen.
Im Schlaf hatte er noch gelegen, da vernahm er wie von weit her das erste Klappen der Tür. Auch ohne die Augen zu öffnen, wusste er sofort, dass sie es war. Ein Duftgemisch aus Patchouli und Schnee vertrieb den typischen Krankenhausgeruch aus Desinfektionsmitteln und Krankheit. Sie brachte die Frische des Winters in den überheizten Raum, und ihre leichten Schritte trippelten an sein Gehör.
Wohlig verhielt Frank in Morpheus' Reich, um den Zauber nicht zu zerstören. Träumend wähnte er sich, als sich sein Rollbett auf eine Reise begab. Dann drang das Ratschen eines Reißverschlusses an seine Ohren, gefolgt von leisem Seidengeflüster. Schließlich spürte er herrlich weiche Haare auf seiner Stirn.
Kitzelnd und streichelnd hatte sich Alexa über seinen hinteren Bettrand gebeugt, doch seine Augen zu öffnen, war ihm nicht vergönnt. Noch bevor er richtig begriff, wie ihm geschah, behinderte ein zartrauher Stoff seine Sicht.
"Heute ist Silvester", flüsterte sie lasziv in sein Ohr. "Auch die Liebe lässt Raketen zum Himmel steigen."
Seine Hände hatten sich nach oben getastet, um ihr zu wehren, doch seine Finger entwickelten einen eigenen Willen. Fasziniert erkundeten sie ihr weiches Fleisch auf seinem Gesicht, während Frank ihren Duft einsog, als wäre er eine Droge. "Ich will dich sehen", raunte er heiser.
Ein perlendes Gelächter antwortete ihm. "Liebe braucht kein Gesicht", sagte Alexa zärtlich zu ihm. "Ich brauche es nicht, du brauchst es nicht. Ich brauche nur dich."
"Wenn jemand kommt ..."
"Es wird niemand kommen! Wir sind allein", beruhigte sie ihn. Dann trat sie hinter dem Bett hervor und kauerte sich wie anbetend an seine Seite. Zitternd haschte die junge Frau nach seiner Hand und legte sie auf ihre Brust.
Als er sie wegziehen wollte, hielt sie ihn fest. "Berühre mich, es ist so lange her. Hör auf zu denken", wisperte sie.
"So lange nicht, Rehlein", murmelte er und fuhr spielerisch mit den Fingern an ihrer Brustspitze entlang. Alexa seufzte und legte den Kopf auf seine Brust. Ihre schlanken Finger glitten unter die Decke und zogen malerische Kreise auf seinem Bauch.
Seine starken Hände zausten ihr üppiges Goldhaar. "Du bist wunderschön." Franks Worte klangen ehrfürchtig wie ein Gebet, wie eine Hommage an eine Göttin.
Alexa sog sie in sich ein und verwahrte sie in ihrer Seele. Noch nie war sie so sehr Frau gewesen wie in jenen Tagen, seit sie ihn kannte. Sie hatte viel mit Basti erlebt, und auch diese Zeit war herrlich gewesen. Doch erst mit Frank bekam ihr Leben Konturen. Sie fühlte sich nicht mehr nutzlos.
Wie von selbst glitten ihre sinnlichen Lippen zu seinem Gesicht und begannen, ihn zu liebkosen.
Frank fühlte ihre weichen Brüste auf sich und wünschte sich, für immer mit ihr in dieser abgeschiedenen Welt zu verweilen. Plötzlich fühlte er die Wärme der Sonne, die er so lange in seinem Herzen entbehrte.
Noch einmal machte er einen Versuch, die Augenbinde herunterzunehmen. "Lass", bat sie ihn. "Zeig mir, dass du mir vertraust." Er ließ ihr den Willen.
Seine Gedanken verabschiedeten sich, als Alexas Hände zu wandern begannen. Ihr Mund sog sich an seinem Hals fest, während sie die Knopfleiste seiner Schlafanzugjacke öffnete. Millimeter für Millimeter zog sie brennende Spuren auf seiner Haut.
Kurz darauf rutschte die Decke nach unten. Franks Kopf wandte sich nach rechts, als Alexa sich von ihm löste. Sie ließ nicht lang von ihm ab.
In süßer Lustqual bäumte sein Körper sich auf, als ihre warme Mundhöhle ihn umschloss und ihre Zunge ihm kreiselnd leichte Elektrostöße verpasste.
Instinktiv zog er die Decke schützend nach oben, doch sie ließ sich davon nicht irritieren. Hingegeben schloss Alexa die Augen und gab ihm alles an Heilung, was ihr Innerstes ihr gebot. Ihr eigenes Verlangen stellte sie ganz weit zurück.
Leise Schritte verhallten im Flur. Sebastian Tränkle hatte sich von dem Anblick gelöst und schlenderte in gewohnter Weise den Gang entlang, ohne sich von Stephan Wagner aufhalten zu lassen. Er sah nicht zurück.
Als er den Aufzug betrat, stellte er verwundert fest, dass sich der zu erwartende Schmerz nicht einstellen wollte. Stattdessen fühlte er eine Befreiung in sich.
Während er nach unten fuhr, gingen seine Gedanken zu Maja. Seit Weihnachten hatte er sie nicht mehr gesehen. Sie hatte die Feiertage in der Geborgenheit von Alexas Familie verbracht. Plötzlich merkte Basti, wie sehr er sie vermisste.
Er hatte gelogen, um über Alexas Betrug zu triumphieren. Gelogen, dass er mit Maja zusammen sei, an jenem Tag, als dies alles in der Klinik geschah. Mittlerweile wurde die Lüge zur Wahrheit, doch das begriff er erst jetzt.
Der Aufzug hielt. Basti konnte es plötzlich nicht mehr erwarten, nach Hause zu kommen. Er betrat das Foyer, zog das Handy aus seiner Tasche und wählte ihre Mobilnummer. Nach ein paar endlos scheinenden Atemzügen vernahm er Majas Stimme.
"Basti? Wo bist du?", fragte sie. Im Hintergrund hörte er geschäftiges Treiben und das Klappern von Töpfen.
"Du wirst es nicht glauben, aber ich bin in der Klinik. Und ich möchte dich sehen. Komm bitte nach Hause!"
"Basti ...", er spürte ihr Zögern. "Ich weiß nicht, ob ich das kann. Es ist so viel geschehen, und Marco ist tot. Was zwischen uns war oder ist, weiß ich nicht. Aber die eine Nacht mit dir war wunderschön. Du hast mir das Leben gerettet."
"Bin ich dir nicht mehr als ein Mann für eine Nacht?", fragte er durch den Äther. Verletztheit ummantelte seine Seele. Aus den Augenwinkeln sah er den Reporter von vorhin mit gespitzten Ohren neben sich stehen.
Unwirsch wandte er sich von ihm ab, tat ein paar Schritte und suchte Ungestörtheit in einem Nebengang. Drei Sanitäter rollten missmutig ein leeres Krankenbett an ihm vorbei.
"Bist du noch da?", fragte Maja vom anderen Ende der Leitung.
"Ja!", antwortete er. "Ich habe nur diesen blöden Reporter am Hals. Der, dessen Bekanntschaft du auch schon gemacht hattest."
"Ja, ich weiß, wen du meinst. So ein richtiges Arschloch, nicht wahr?" Ein Schmunzeln klang aus ihrer Stimme.
"Kann man wohl sagen. Er wollte mir ein paar Fragen stellen, und ... ha ... so ganz aus Versehen haben wir Alexa bei etwas erwischt, was ihr peinlich sein dürfte." Beim Gedanken daran lachte er hämisch auf.
Das Mädchen von der Informations-Theke ging an ihm vorbei und warf ihm einen neugierigen Blick zu.
Er sah ihr nach, bis ihre schlanke Gestalt in einem Raum verschwand. Basti lehnte seinen Körper lässig gegen die Wand und verschränkte seine langen Beine übereinander.
"Ach, bei was denn?", fragte Maja.
Eine rufende Frauenstimme mischte sich ins Gespräch. "Ist das Basti? Grüß ihn von mir."
Er grinste. "Sag meiner Ex-Schwiegermutter ein Grüßlein zurück, und sie sei tausendmal netter als ihre Tochter."
"Basti!" Maja war entsetzt. "Sie ist Alexas Mutter."
"Sie vögelt wenigstens nicht mit alten Männern", antwortete er. Deborah Illmann lief erneut an ihm vorbei und warf ihm einen entrüsteten Blick zu. Kopfschüttelnd ging sie zurück an ihren Arbeitsplatz. Sebastian Tränkle behielt sie neugierig im Blick und beobachtete, wie der Journalist sich an sie heranmachen wollte. Offenbar war sie darüber nicht sehr erbaut.
Schadenfroh lachte Basti in sein Handy, als er sah, wie sie Stephan Wagner eine Ohrfeige verpasste. 'Die Kleine ist genauso tough, wie sie aussieht', dachte er.
"Ich muss Schluss machen", sprach Maja in der Wohnung von Alexas Eltern in die Muschel. "Mit dir ist heute schwierig zu reden. Ist schon alles okay?"
"Nicht wirklich", antwortete er. "Komm nach Hause, und ich erzähle dir alles." Ohne auf Maja Bergers Antwort zu warten, beendete er das Gespräch und verließ die Klinik.
***
Zwei Tage später wurde Frank Mittnacht entlassen. Alexa holte ihn mit seinem eigenen Auto ab und fuhr ihn auf seinen Wunsch direkt ins Präsidium. Seine Ankunft wurde zum Spießrutenlauf.
Niemand von seinem ehemaligen Team hatte es bisher für nötig gehalten, ihn über die neuesten Begebenheiten in Kenntnis zu setzen. Joe hatte ihn zwar ein paar Mal in der Klinik besucht, und auch die anderen hatten ein bis zwei Mal vorbei geschaut, doch jeder hatte so getan, als sei alles völlig normal. Und so lief Frank einmal mehr ahnungslos in einen gewaltigen Gong.
Hanno Kekkonen hatte Wachstubendienst, als Kommissar Mittnacht das Gebäude betrat.
Neugierig lugte er durch das Bullauge der Trennscheibe zum Vorraum und begrüßte seinen ehemaligen Vorgesetzten in seiner gewohnt freundlichen Art.
Es war ihm peinlich, Frank gegenüberzustehen, und es fiel Hanno schwer, sich nichts anmerken zu lassen. Leicht betreten senkte er seinen Blick. "Sie werden erwartet, Kommissar Mittnacht", sagte er ihm Bescheid. "Oberstaatsanwalt Schuster möchte Sie sehen. Er ist in Ihrem Büro."
Frank sah ihn merkwürdig an und stapfte sich den Schnee von den Schuhen. "Irgendwas stimmt mit Ihnen nicht. Haben Sie Kummer?"
Hanno lächelte ihn schräg an und strich sich verlegen seine goldblonden Kuschellocken aus dem Gesicht. Er wagte es kaum, ihn anzusehen. "Nein, Kommissar Mittnacht, mir geht es gut. Danke der Nachfrage. Und Ihnen?"
"Unkraut vergeht nicht", antwortete Frank und wandte sich der Durchgangstür zum Innenbereich des Präsidiums zu. "Dann will ich mal sehen, was der gute Mann von mir will." Lange, nachdem sich die Tür geschlossen hatte, starrte Hanno Kekkonen noch immer hinter ihm her. Es war ihm wohl zu Ohren gekommen, was sich im Präsidium zusammengebraut hatte, nachdem der Mann, von dem er dachte, über alles erhaben zu sein, in der Klinik beinahe sein Leben verlor. Die Gerüchte über dessen Person konnte er ebenso wenig glauben wie nachvollziehen.
Als sich die breite Präsidiumstür erneut öffnete, wehte ein kalter Wind von draußen herein und trieb eine junge Frau vor sich her. Alexa Winter blieb vor dem Bullauge stehen und sah sich unschlüssig um.
Hanno riss sich zusammen und wandte sich ihr zu. "Ja bitte?", fragte er knapp.
"Ich möchte hier nur auf Kommissar Mittnacht warten", antwortete Alexa.
"Darf ich Ihren Namen erfahren?"
"Alexa Winter, kennen Sie mich nicht mehr?"
Der junge Beamte musterte sie von oben bis unten. "Sie waren vor Kurzem noch als vermisst gemeldet, nicht wahr? Und ich kenne Sie aus der Zeitung. Schön, dass sich alles aufgeklärt hat." Er lächelte die hübsche Alexa sonnig an.
Sie war nicht viel jünger als er, und nicht alle Tage bekam er eine solche Augenweide zu Gesicht. 'Wenn es stimmt, was man sich erzählt, dann ist Kommissar Mittnacht ein echter Glückspilz', sinnierte Hanno mit leichtem Wehmut. Außer Kurzzeit-Beziehungen und One Night Stands gab sein bisheriges Leben noch nicht viel mehr her. Bisher hatte er sich darüber auch noch nicht oft Gedanken gemacht, doch meistens waren die Frauen, mit denen er sich etwas Ernsthaftes vorstellen konnte, bereits vergeben.
'Und Ronja ist meine Cousine ...' Bei dem Gedanken musste er grinsen. Jana wäre allerdings auch eine Frau ganz nach seinem Geschmack.
'Aber nun gut, auch schon vergeben', fuhr er seinen Gedankengang wie zur Bestätigung seiner Glücksthese fort, ohne sich über Alexas amüsiertes Schmunzeln zu wundern.
"Gefällt Ihnen, was Sie sehen?", fragte sie Hanno keck und warf ihre langen Locken nach hinten. 'Was für ein süßes Mimöschen.' Sein leichtes Erröten erheiterte sie. Neugierig warf sie einen Rundblick durch den Vorraum. "Darf ich nun hier warten?", hakte sie noch einmal nach.
"Selbstverständlich." Er wies an die Wand gegenüber. "Dort drüben haben wir unsere Büßerbank. Setzen Sie sich einfach hin und genießen den Ausblick."
"Ach, und was soll ich büßen?" Silbern lachte sie auf. Er antwortete nicht und setzte sich an seinen Schreibtisch. Auf diese Art von Zeitvertreib hatte er keine Lust.
Nachdem er ihrem Blickfeld entkommen war, wandte Alexa sich von der Trennscheibe ab und querte den Raum. Flüchtig glitt ihr Blick über die Fahndungsplakate über der schlichten Holzbank und stockte kurz bei einem Schwarzweiß-Steckbrief von Emil Kieselwurf, unter dessen Gesicht sich ein schwarzes Kreuz befand. Vergessen würde sie dessen Anblick am Tag seines Showdowns wohl niemals mehr.
Bevor Alexa sich setzte, nahm sie ein Polizeimagazin aus einem Zeitungsständer und begann gelangweilt, darin zu blättern. Bald jedoch sank die Zeitung geöffnet auf ihren Schoß, und sie lehnte ihren Kopf gegen die Wand. Sie dachte an die Tage und Wochen, die verstrichen waren seit Marcos Tod, an die Gefahr, in der sie alle sich befunden hatten, und an ihre eigene Vergangenheit.
Alles hatte sich für sie verändert! Alexa schien es, als sei ihr die bisherige Leichtigkeit des Seins unter den Fingern zerronnen. 'Vielleicht wird es Zeit, die Verantwortung für mich selbst zu übernehmen', kam sie zu der Einsicht. Sie hatte es sich ein bisschen zu einfach gemacht, das war ihr bewusst geworden, als sie dem Schmerz der Eltern gegenüber gestellt worden war.
"Wie konntest du uns das nur antun, nach alldem, was wir mit Saskia durchgemacht haben", hatte ihr Vater mit tränenschwerer Stimme gesagt. Er hatte so verletzt ausgesehen, nachdem sie das erste Mal wieder zuhause gewesen war. "Uns alle in dem Irrglauben zu lassen, du wärest tot."
Saskia war ihre zwei Jahre ältere Schwester. Den Schmerz um sie hatte Alexa Winter schon lange in ihrem tiefsten Seelenabgrund vergraben und sich in Vergessen gestürzt. Die atemraubenden Jahre mit Sebastian Tränkle hatten ihr dabei geholfen. Er war in Saskias Alter.
Alexa war erst dreizehn gewesen, als sie ihn kennengelernt hatte - das Jahr, als ihre Schwester verschwand. Das letzte, was man von Saskia gewusst hatte, war, dass sie mit einem jungen Italiener am Tag ihres Verschwindens gesehen worden war. Seitdem wurde weltweit nach ihr gefahndet.
Eine junge Männerstimme riss sie aus ihren Gedanken. "Möchten Sie eine Tasse Kaffee?"
Alexa sah auf die Uhr über der Durchgangstür und schüttelte den Kopf. "Nein danke", antwortete sie. "Frank müsste doch bestimmt bald kommen, oder?"
"Ist Ihnen nicht kalt?", hakte Hanno nach und blickte sie neugierig durch seine Trennscheibe an. 'Ob es wohl stimmte?', fragte er sich. 'Würde mich interessieren, was er für sie ist: Sugar Daddy, oder bedeutet er ihr wirklich so viel, dass sie ihm Knall auf Fall folgte?' Laut bot er ihr an: "Sie können auch hier in der Wachstube warten. Das könnte dauern."
Alexa schüttelte noch einmal den Kopf. "Nein danke." Dann vertiefte sie sich demonstrativ in ihre Zeitung. Hanno zuckte die Schultern und ging zurück an seinen Schreibtisch.
Plötzlich lauschte sie auf. Hektische Schritte und laute Stimmen erklangen im Inneren des Präsidiums. Ihre Augen wurden groß wie Teller, als die Tür zur Straße aufging und vier Beamte in Schutzmontur herein stürmten.
Alexa vermeinte, Franks Stimme zu hören. "Das ist doch wohl nicht euer Ernst", schrie er im Treppenhaus. Kurz darauf vernahm sie ein trockenes Klatschen, gefolgt von einem Poltern.
Besorgt sprang sie auf und wollte den Männern folgen, doch Hanno stand wie aus dem Nichts neben ihr und hielt sie davon ab. Unwirsch versuchte sie, seine Hände von ihren Armen abzustreifen.
"Es ist alles in Ordnung," versuchte der junge Beamte, sie zu beruhigen. "Sie können jetzt nicht hinein."
"Lassen Sie mich los", zischte sie.
Der Beamte warf einen Blick zu der mit einem Code gesicherten Durchgangstür und sah sie geschlossen. Erleichtert atmete er auf und gewährte ihr Freiraum. "Bitte setzen Sie sich wieder. Ich habe Anweisung erhalten, mich um Sie zu kümmern. Sie dürfen gleich zu ihm."
Misstrauisch musterte sie ihn. "Was hat das zu bedeuten? Ist etwas mit Frank?"
"Nur ein kleiner Zwischenfall." Hanno Kekkonen zuckte ratlos die Schultern. Alexa setzte sich wie geheißen zurück auf die Bank und schlug ihre Beine übereinander. Unruhig wippte ihr rechter Fuß in der Luft. Durch das Milchglas der Tür sah sie undeutliche Schatten hektisch von links nach rechts huschen, und sie vernahm Stimmen dahinter. Dann rannte jemand offenbar eine Treppe hinauf - und es war unheilvoll still.
Minutenlang war nichts mehr zu hören. "Was ist geschehen?", fragte Alexa ihn nach einer Weile noch einmal und zuckte zusammen, als ein Knall die Stille durchbrach.
Der Beamte sprang auf und griff instinktiv nach ihrem Arm. "Ich glaube, es ist besser, wenn Sie das Gebäude verlassen", sprach er mit erzwungener Ruhe.
Als sie ihn fragend ansah, fuhr er fort: "Irgendetwas ist hier im Gang, und es ist zu Ihrem eigenen Schutz. Haben Sie ein Auto dabei? Dann warten Sie einfach im Wagen."
Alexa stand auf. "Ich werde nicht gehen, ohne zu wissen, was mit Frank hier geschieht. Alles, was mit ihm zu tun hat, geht auch mich etwas an. Lassen Sie mich einfach hier bleiben, und Sie können getrost zurück an Ihre Arbeit." Ihre Stimme klang entschlossen und grimmig.
Zu einer Antwort kam Hanno nicht. Erneut erklangen Schritte im Flur, und mehrere Schemen näherten sich von drinnen der Milchglastür. Alexa vernahm von irgendwoher noch einmal Franks Stimme: "Das könnt Ihr nicht machen."
Nach einem Summen ging die Durchgangstür auf. Ein junger, sich wild wehrender Mann verließ in Handschellen mit den SEK-Beamten das Haus. Erleichtert atmete Alexa auf.
Fünf Minuten später öffnete sich die Tür zum Präsidiums-Inneren erneut. Frank kam auf sie zu. "Komm mit mir, Kommissar Mayrhöfer will mit uns reden." Seine Miene wirkte ernst, und er war bleich.
Krampfhaft versuchte er, sich vor Hanno Kekkonen nicht allzuviel anmerken zu lassen. Dieser streifte ihn wiederholt mit fragenden, halb wissenden Blicken.
"Alles in Ordnung, Hanno. Haben Sie morgen abend Lust auf eine Runde Skat in der Alten Linde?" Kommissar Mittnachts überraschende Einladung wurde von einem gequälten Lächeln begleitet, das nur dazu gedacht war, seinen inneren Aufruhr vor sich selbst und der Welt zu verstecken. 'Es ist also soweit', dachte er bitter. 'Abstellgleis!'
Freudig nahm Hanno an. "Ich spiele gern Skat, kam bisher allerdings außer in Familienkreisen noch nicht oft dazu. Ich komme gern."
Frank nickte knapp. "Gut. Um acht Uhr. Gehen wir?", wandte er sich an Alexa. "Was ist passiert?", fragte sie.
"Später!" Er nahm sie am Arm und führte sie in das Gebäudeinnere. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie allein waren, fragte er sie: "Weshalb hast du mir nichts von deiner Schwester erzählt?"
Alexa zuckte zusammen. "Meine Schwester? Sie gehört zu dem Teil meines Lebens, an den ich nicht mehr denken will. Was ist mit ihr?"
"Das würde ich gern von dir wissen, BEVOR wir bei meinem Kollegen aufschlagen."
Haltsuchend klammerte sie sich an Franks Arm. "Du machst mir Angst", flüsterte sie. "Was ist geschehen? Weshalb warst du so lange da drin?"
"Beantworte meine Frage, Alexa", wiederholte er fest.
"Saskia wird seit Jahren gesucht", antwortete sie. Tränen schossen ihr in die Augen. "Ich war noch ein Kind, als sie verschwand. Wir dachten alle, sie sei tot."
Als der Aufzug kam, schob Frank sie hinein und drückte den Knopf in den dritten Stock. Alexas Augen waren angstvoll auf ihn gerichtet. Es tat ihm weh, sie so zu sehen, doch er wusste, es käme noch schlimmer. Angelegentlich starrte er während der Fahrt gegen die verspiegelte Decke, wo ihre beiden Klone vorwurfsvoll auf ihn herab glotzten.
Plötzlich überkam es ihn. Er drückte den Notknopf und war mit Alexa zwischen den Etagen gefangen. Zart wischte er ihr eine Träne von der Wange. "Ich weiß, ich habe mich lange gegen deinen Zauber gewehrt", flüsterte Frank, umarmte sie und presste sie gegen die Wand. Ihre Arme umfingen seinen Nacken, und Alexa sah erwartungsvoll zu ihm auf. "Ich will mich nicht länger verstecken", fuhr er entschlossen fort. "Und egal, was passiert, du sollst eines wissen: Ich habe mich in dich verliebt."
Ein herausforderndes Lächeln umspielte ihren sinnlichen Mund. Alexa legte eine Hand an seine Wange und antwortete zärtlich: "Das weiß ich schon länger als du. Und nun?"
"Du bist in Gefahr", raunte er heiser und senkte hungrig seinen Mund auf ihre Lippen.
Ihre Knie sackten zusammen. "Ja", hauchte sie, nachdem er von ihr abließ. "In Gefahr, mich in dir zu verlieren."
"Ich meine es ernst." Abrupt ließ er sie los und lehnte sich an die gegenüberliegende Wand. Er wagte es nicht, in ihre fragenden Augen zu sehen. Aufgewühlt fuhr er mit beiden Händen durch sein volles Haar. "Ich kann dir nicht versprechen, dass mein Leben keine dunklen Flecken enthält."
Ohne eine Antwort abzuwarten, löste er die Notbremse. Der Fahrstuhl fuhr wieder an - einer bitteren, vielleicht tödlichen Wahrheit entgegen.
Alexa trat mit festem Blick auf ihn zu. "Das nehme ich in Kauf. Auch das ist mein Ernst. Und ein Versprechen!"
***
Kommissar Mayrhöfers beide Kollegen Guido Wiegenkind und Bertram Weishaupt waren bereits wieder zuhause. Er selbst hatte noch an Ort und Stelle zu tun, und so wie es aussah, würde der verheiratete Mann noch eine ganze Weile ohne seine Familie auskommen müssen. Es gab noch etliche Fragen!
Aufgeworfen wurden diese durch die Medienpräsenz des Mords an Marco Meier, von dem er dachte, er sei erledigt.
Zudem gab es ein Amtshilfe-Gesuch aus Leutkirch, und dies enthielt eine bittere Wahrheit für mehrere Menschen. Zwei davon saßen ihm nun gegenüber.
Mayrhöfer blätterte in einer Sammelmappe und überlegte, wie er es anfangen sollte. Dann gab er sich einen Ruck und drehte sie aufgeschlagen in Blickrichtung des Paars. Es war ihm nicht sonderlich wohl in seiner Haut.
Misstrauisch sah Mittnacht ihn an. „Was soll das werden?“, fragte er mit rauher Stimme.
Mit zwei Fingern fuhr er sich unter den Kragen. Sein Hals wurde trocken, und er hoffte, dass Mayrhöfer diplomatisch sein würde.
Die Mappe enthielt eine Sammlung von Leitartikeln der letzten Wochen. Ganz obenauf lag ein Bild von ihm und Alexa – in prekärer Situation. Diese war erst zwei Tage her. Die Schlagzeile lautete: Alexa W. - Geliebte oder Komplizin?
Kommissar Mayrhöfer ging weder auf Franks Frage noch auf den Kontext des provokativ gehaltenen Artikels von Stephan Wagner näher ein.
Vielmehr sah er ihn an und antwortete: „Ihnen ist klar, dass dieser rasende Reporter von der IM BILD Sie im Fokus hat? Mich würde interessieren, warum.“
Ohne Frank Zeit zu lassen, ihn näher zu betrachten, zog er den ausgeschnittenen Artikel heraus und wollte ihn beiseite legen, doch Alexa Winter kam ihm in die Quere. Sie nahm ihm das Blatt aus der Hand, warf einen Blick darauf und zerriss es. „Sie werden doch wohl solche Schmierereien nicht ernst nehmen?“, fragte sie den Kommissar.
Gelassen ließ sie die Schnipsel auf den Schreibtisch rieseln, lehnte sich in ihrem Sessel zurück und sah Wolfgang Mayrhöfer unablässig an. Dieser schluckte nervös. „Frau Winter, das ändert nichts an der Tatsache, dass es diese Artikel gibt. Genau aus diesem Grund bin ich noch hier. Normalerweise wäre ich schon lange wieder zuhause.“
„Das geht mich nichts an“, antwortete sie kaltschnäuzig. „Aber angehen würde mich, weshalb wir hier sitzen.“ Bei ihren Worten legte sie eine Hand auf Franks Arm. „Lass gut sein!“, mahnte er sie. „Der Mann macht nur seine Arbeit.“
Dankbar nickte Kommissar Mayrhöfer ihm entgegen. „Ich weiß nicht recht, wie ich anfangen soll“, gestand er. „Gestatten Sie, dass ich Ihnen eine etwas persönliche Frage stelle?“ Dabei wandte er sich an Frank und sah ihm offen ins Gesicht. „Fragen Sie!“, forderte dieser ihn auf und verschränkte die Arme.
Wolfgang Mayrhöfer nahm einen Bleistift in die Hand und begann, mit dessen Rückseite Kreise auf dem Schreibtisch zu ziehen. Er sah seinen ehemaligen Kollegen nicht an.
„Ihre verstorbene Frau züchtete Rosen, nicht wahr?“ Seine Stimme klang verhalten, fast scheu.
Überrascht sah Frank ihn an. „Ich weiß zwar nicht, was das mit Ihrem Problem zu tun hat, aber … ja.“
Sein Blick wurde wachsam, als Kommissar Mayrhöfer in seiner Mappe kramte, darauf bedacht, sich nicht zu schnell in die Karten schauen zu lassen. In rascher Abfolge zog er zwei weitere Artikelauszüge heraus und legte sie vor sich hin. Einen davon verdeckte er mit seiner Hand vor den Augen des Paars. Den anderen legte er zur Ansicht vor Frank. „Vom Rosenkiller haben Sie schon mal gehört?“, fragte er.
„Als könnte ich nicht“, antwortete der Gefragte und lachte auf. „Ich habe diese Artikel der IM BILD genauso verfolgt. Aber worauf wollen Sie hinaus?“
Alexas Lippen umspielten ein höhnisches Lächeln. „Ich verstehe das nicht. Sie sind doch ein Profi, dachte ich. Es müsste doch klar erkennbar sein, dass seit einiger Zeit eine reine Panikmache durch die Medien stattfindet.“ Ein Gefühl sagte ihr, dass dieser Mordermittler Frank nicht sehr wohlgesonnen war und nur darauf wartete, ihm an den Karren zu fahren.
Sie sah es an seinem Blick, an seinem Gebaren, an so vielen Kleinigkeiten, wie er seine Fragen stellte. Instinktiv versuchte sie, den Mann, den sie liebte, vor ihm zu schützen, doch Frank ließ das nicht zu. „Alexa!“ Scharf sah er sie an. „Es ist okay. Ich bin selbst Polizist – und volljährig.“
Beschämt senkte sie ihren Blick, blieb jedoch auf der Hut. „Waren …“, konnte sich Mayrhöfer der kleinen Spitzfindigkeit nicht enthalten. Überrascht sah Alexa ihn an, wagte es jedoch nicht, noch einmal das Wort zu ergreifen. Ihre Augen schweiften zu Frank. Was war hier im Gang?
„Zu Ihnen komme ich auch noch, Frau Winter“, sprach Kommissar Mayrhöfer, plötzlich entschlossen. Mit einem Blick zwischen Bitten und Warnung sah Frank Mittnacht ihm in die Augen. „Nun sagen Sie mir, was in Ihnen vorgeht“, forderte er den Beamten auf. Was lasten Sie speziell mir eigentlich an?“
„Ich laste Ihnen gar nichts an, Frank.“ Wolfgang Mayrhöfer wählte eine intimere Form der Anrede. „Ich will einfach nur verstehen, weshalb Sie durch die Medien, speziell durch die IM BILD - Redaktion, zum Täter aufgebaut werden."
„Ich fürchte, mir ist da etwas entgangen“, antwortete Frank Mittnacht. „Was hat das mit mir zu tun?“
„In der Zeit, als Sie im Krankenhaus lagen, gab es eine ganze Serie. Ein ehemaliger Profiler – Sie müssten ihn kennen – beschuldigt uns, der Öffentlichkeit im Fall Marco Meier den falschen Täter präsentiert zu haben. Wir hatten alle Hände voll zu tun, um Schadensbegrenzung zu betreiben.“
Er griff noch einmal in die Mappe und zog einen weiteren Auszug hervor. „Initiiert wurde der Hype von besagtem Journalisten“, fuhr Kommissar Mayrhöfer mit gerunzelter Stirn fort. „Deshalb nun zwei Fragen an Sie: In welcher Beziehung standen Sie zum Einen zu Marco Meier, und zum Zweiten – zu Stephan Wagner?“
Franks Antwort fiel heftig aus. „In gar keiner Beziehung, das hatte ich Ihnen schon einmal erklärt. Marco Meier war ein Kronzeuge, und diesen Stephan Wagner kenne ich nicht.“
Alexa mischte sich ein. „Zu Stephan Wagner kann ich etwas sagen.“
Erstaunt sahen beide Männer sie an. „Lass hören“, nahm Frank dem Ermittler die Antwort vorweg.
Sie lehnte sich vor und trommelte mit ihren Fingern auf dem Schreibtisch herum. „Stephan Wagner hatte indirekt mit dem Fahrer des Unfallwagens zu tun – du weißt, was ich meine.“ Dabei sah sie zu Frank. Dieser nickte und blickte sie aufmunternd an. „Er wurde von Emil Kieselwurf aus irgendwelchen Gründen bedroht“, erklärte sie weiter. „Maja war am Unfalltag betäubt und überfallen worden. Als sie aufwachte, war sie an Stephan Wagner gefesselt.“
Der Mordermittler sah den ehemaligen Kollegen direkt an. „Wussten Sie davon?“
„Ich habe erst kürzlich darüber Kenntnis erhalten.“ Lässig lehnte sich Frank nach hinten. „Leider kam mir etwas dazwischen, bevor ich es Ihnen mitteilen konnte.“
„Lieber Frank, soweit so gut. Das heißt also, Stephan Wagner kannte den Fahrer des Unfallwagens, der zudem erwiesenermaßen der Täter im Fall der Kisslegger Morde war. Wir haben außerdem Emil Kieselwurfs DNS in der Wohnung von Marco Meier gefunden.“ Grübelnd rieb sich Wolfgang Mayrhöfer seine unrasierte, magere Wange. „Aber nun habe ich noch ein Problem: Wie kam Emil Kieselwurf gerade auf Sie als sein nächstes Opfer? Sie sind gerade noch so mit dem Leben davon gekommen. Glücklicherweise!“
„Was man von dem Mann nicht gerade behaupten kann“, antwortete Frank sarkastisch. Er sah Alexas Blick fragend auf sich gerichtet. ‚Wird ihr allmählich klar, auf was sie sich einlässt?’, grübelte er. ‚Wie standhaft bist du, und wie sehr bist du Frau, um mit mir alles durchstehen zu können? Würdest du mich auch noch lieben, wenn ich ein Mörder wäre?’
Sie schien seine Fragen in seinen Augen zu sehen und legte all ihre Gefühle für ihn in ihren Blick. ‚Hör auf zu zweifeln’, signalisierte sie ihm. ‚Egal, was geschieht: Ich hab’ keine Angst.’
Kommissar Mayrhöfer verfolgte den innigen Augenkontakt des Paars und dachte an seine Frau. Er wünschte sie sich an seine Seite und fragte sich zugleich, was wäre, wenn er sein Domizil ganz in Großdummsdorf aufschlagen würde.
Schließlich erinnerte er sich an seine Pflicht. „Frau Winter“, sprach er Alexa unvermittelt an. „Herr Mittnacht und Sie sind nur als Zeugen geladen. Weshalb ich Sie sehen wollte, ist mir sehr unangenehm.“
Nach wie vor hatte er einen weiteren Artikel neben sich liegen. Bisher hielt er diesen vor ihren Augen verborgen, doch nun zeigte er ihn ihr. „Erinnern Sie sich daran, dass Sie als vermisst gemeldet waren?“, fragte er sie. „In der IM BILD wurde behauptet, Sie seien ermordet worden.“
„Ja, ich erinnere mich“, antwortete Alexa und sah auf das Bild in dem Zeitungsausschnitt. Sie zuckte zusammen. „Meine Familie war komplett von der Rolle vor Sorge. Aber wie kommt dieser Journalist an ein Foto von mir? Wie kommt er dazu, so etwas überhaupt zu behaupten?“
Frank wusste, worauf der Gesprächsverlauf hinaus laufen sollte. Er wünschte sich, dass dieser Tag des Hiobs bald vorüber sein würde. Vorsorglich griff er nach Alexas Hand und warf Kommissar Mayrhöfer noch einmal einen Blick zu, mit der heimlichen Bitte verbunden, diplomatisch zu sein. Dieser ließ sich jedoch nicht darauf ein.
„Nun“, antwortete Mayrhöfer trocken auf ihre Frage. „Dieses Bild ist eine Fotomontage. Aber der Inhalt des Artikels: Der ist leider echt. In Leutkirch wurde ein junges Mädchen ermordet.“
Alexa sog mit einem entsetzten Laut den Atem ein. „Ich dachte, der Artikel selbst sei ebenso Fake.“
Mayrhöfer lachte bitter. „Schön wär’s. Mittlerweile haben wir auch herausgefunden, wer die Ermordete ist.“
Franks Hand krampfte sich fest um Alexas Finger, beinahe schmerzhaft. Erstaunt sah sie ihn an. Dumpfe Angst krallte sich an ihr fest. Was hatte das alles mit ihr zu tun – abgesehen davon, dass eine Verwechslung vorlag?
Als die junge Frau es erfuhr, traf es sie wie ein gigantischer Hammer. Kommissar Mayrhöfer legte ihr ein Foto vor, diesmal das echte. „Kennen Sie diese Frau?“, fragte er, wohlwissend, dass er die Antwort schon kannte.
Alexas Blick verschleierte sich und wich hinaus in die Ferne. „Ja“, antwortete sie mit einer Stimme wie aus einem Grab. „Lange habe ich sie schon nicht mehr gesehen, doch das ist meine Schwester." Geschockt entzog sie Frank ihre Hand.
„Sind Sie sich sicher?“
„Ja. Auch wenn zehn Jahre zwischen damals und heute liegen. Das ist sie.“
„Ihre Schwester ist tot …“
„Sie ist es schon lang.“
„Nein. Ihre Schwester ist die Frau, die in Leutkirch ermordet wurde.“
„Nun machen Sie aber mal halblang“, brüllte Frank dazwischen und sprang auf. Er merkte, dass Alexa kurz vor einem Zusammenbruch stand, und am Liebsten wäre er Mayrhöfer an die Gurgel gesprungen. „Wäre das nicht etwas subtiler gegangen? Was sind Sie für ein blöder Hund!“
„Setzen Sie sich wieder, Herr Mittnacht.“ Mayrhöfer betonte die Anrede in provokativem Jargon. „Sie wissen nicht alles. Stephan Wagner beschuldigt Sie und Ihre Freundin über die heutige Ausgabe des Mordes an Saskia Winter.“
Frank wurde rot. „Das wird ja immer schöner. Wie soll denn das zustande gekommen sein?“
„Sie erinnern sich, dass ich Sie nach dem Beruf Ihrer verstorbenen Frau gefragt hatte?", fuhr Kommissar Mayrhöfer in neutralem Ton fort. "An beiden Tatorten - sowohl dem von Marco Meier als auch dem Tatort in Leutkirch - wurde eine Rosenknospe gefunden. Das war offenbar der IM BILD - Aufhänger für eine gesamte Serie über den Rosenkiller."
Alexa hörte nichts von dem Gespräch. Sie weilte in der Vergangenheit, in ihrer Kindheit, zu jener Zeit, als das Geschwisterband zwischen Saskia und ihr noch bestand. Sie hatten alles miteinander geteilt: Geheimnisse, Kleidung, und auch die Liebe der Eltern. Es hatte keine Bevorzugung gegeben, alles war so, wie es sein sollte.
Bis zu jenem schwarzen Tag in den Schulferien: Saskia war zum Arbeiten gegangen – und kehrte nie mehr zurück.
Sommer war es gewesen …
Alexa erhob sich langsam und trat ans Fenster, ohne sich Gedanken darüber zu machen, ob es angebracht sei. Saskia war tot …
Und sie selbst hatte ihre Eltern zudem auch noch überflüssigerweise in Angst und Schrecken versetzt.
Frank stellte sich neben sie und legte den Arm um ihre Schulter. Er sagte nichts, und sie war ihm dankbar dafür. Der Himmel hing in trübgrauen Wolken über der Stadt und berieselte die Welt mit gefrorenem Regen. ‚Eistränen’, dachte Alexa versonnen. ‚Und mein Herz war auch lang voller Eis.’
Sie spürte, wie er seine Hand an ihrer Seite herab gleiten ließ. Ein warmer Hauch streifte voll Trost ihre Seele.
Nach einem leichten Druck an ihrer Taille wandte er sich von ihr ab und ging zum Schreibtisch seines Kollegen zurück. Frank setzte sich und schlug ein Bein über das andre.
„Und dieser Rosenkiller soll ich sein, nach eurem Willen?“, nahm er das Gespräch wieder auf.
„Nach unserem Willen?“, Mayrhöfer schnappte beleidigt. „Was unterstellen Sie mir?“ Seine Stimme brach in der Höhe. „Genau genommen versuche ich, Ihnen zu helfen. Wenn das anders aussieht, dann sind Sie offenbar nicht sehr objektiv mir gegenüber.“
„Und wie sieht es mit Ihrer Objektivität aus?“, stellte Mittnacht die Gegenfrage. „Seit Sie in unserer Stadt die Arbeit aufnahmen, fahren Sie mir an den Karren. Ich habe meinen Posten verloren, durch Ihre Intervention. Was versprechen Sie sich eigentlich davon?“
„Sie wurden beurlaubt“, berichtigte Kommissar Mayrhöfer. „Das ist nicht ganz dasselbe. Und wenn ich ehrlich sein darf: Bei Ihrer Vorgeschichte – und hätte ich es auch in der Hand – wären Sie überhaupt nicht mehr im Amt.“
„Ich möchte Sie erleben, was Sie tun würden in meiner damaligen Situation.“ Die Augen seines Gegenübers weiteten sich, und Frank hob einer Antwort vorgreifend die Hand. „Nein, sagen Sie nichts. Das wünsche ich niemandem.“
Er spürte, wie Alexa hinter ihn trat. Sie legte eine Hand in seinen Nacken, ungeachtet des Blicks seines Kollegen. Wie eine Bastion blieb sie hinter ihm stehen, und am Liebsten hätte Frank Mittnacht seinen Kopf nach hinten gelegt.
Aus ihrer beobachtenden Position heraus streifte Alexa mit einem kalt wirkenden Blick Wolfgang Mayrhöfers Gesicht, doch in ihr brodelte es.
‚Dieser aufgeblasene Wicht’, dachte sie. ‚Stellt aus dem Nichts Behauptungen auf und versteckt sich hinter Zeitungsartikeln.’ Laut fragte sie ihn: „Wissen meine Eltern schon Bescheid über den Tod meiner Schwester?“
Unbehaglich zog Kommissar Mayrhöfer die Schultern nach oben und griff nach einem Stift. Nervös begann er, damit auf den anthrazithfarbenen Schreibtisch zu ticken. "Bisher nicht", antwortete er zögernd. "Wir haben die Ergebnisse der KTU noch nicht lange genug. Aber sie werden es morgen erfahren."
"Ich übernehme das!" Entschlossen warf Alexa den Satz in den Raum. "Wenn das okay für Sie ist." Ihre Stimme klang fast aggressiv. "Und wenn wir hier nun bald fertig würden ..."
„Wir haben noch etwas zu klären“, wehrte der Ermittler ab. „Und das betrifft Herrn Mittnacht. Mir wäre es lieb, wenn wir das unter uns ausmachen würden.“
Frank drehte sich zu ihr um und bat sie: „Wartest du bitte draußen?“
„Auf gar keinen Fall“, antwortete sie. „So schlimm wird es schon nicht sein, dass es nicht für meine Ohren bestimmt sein könnte. Natürlich nur, wenn es dir recht ist.“ Sie setzte sich wieder auf ihren Drehstuhl und wartete darauf, dass Kommissar Mayrhöfer fortfuhr.
„Wenn du meinst, dann bleib“, gestand Frank ihr schließlich zu. Er hatte keinerlei Ahnung davon, was nun noch kommen sollte und machte sich keine sonderlichen Sorgen, dass es sein Leben in irgendeiner Weise tangierte. Als Mayrhöfer weiter sprach, riss es ihn allerdings doch!
„Was haben Sie in der Mordnacht im Fall Marco Meier in der Victor-Huss-Straße gemacht?“, fragte ihn sein Kollege.
Frank überlegte. „Wann war das noch?“, fragte er, um Zeit zu schinden.
„Ach kommen Sie, Frank, als ob Sie das nicht wüssten“, antwortete Kommissar Mayrhöfer ungehalten. „Es war der 13. Dezember, an einem Freitag. Ihr Wagen wurde gesehen.“
„Ach ja, es stand ja auch in der Zeitung.“ Seine Antwort kam in sarkastischem Ton. „Allmählich kommt es mir vor, als ob Sie alles für bare Münze nehmen, was irgendwo, irgendwann und irgendwie auf Papier gedruckt wird. Papier ist geduldig.“
Frank griff in seine Brusttasche und holte ein Notizbuch heraus. „Mein schlaues Buch“, antwortete er auf Alexas fragenden Blick. Dann begann er, zu blättern.
„Ah, da haben wir’s ja. Freitag der dreizehnte: ich war tatsächlich bei Maja Berger und Marco Meier, am Abend. Ich hatte noch ein paar Fragen, wegen der Unfallnacht. Aber es war niemand da.“
Skeptisch zog Mayrhöfer die Augenbrauen nach oben und kritzelte Kringel auf ein Blatt Papier. „Und weshalb stand Ihr Auto am anderen Morgen immer noch da?“
Frank Mittnacht war nicht aus der Ruhe zu bringen. „Ich stehe öfter unter Medikamenteneinfluss, wegen meiner Migräne. Diese Anfälle kommen ziemlich schlagartig, und ich habe immer etwas dabei. Wenn ich etwas einnehme, bleibt das Auto stehen, egal wo ich grade bin.“
„Das kann ich bezeugen“, warf Alexa ein. „Ich habe ihn selbst schon während eines solchen Migräneanfalls nach Hause gefahren.“ 'An diesem Tag fing alles an', fügte sie in Gedanken hinzu.
Ihr Blick ruhte nachdenklich auf seinem Gesicht. War nur der Verlust seiner Familie der dunkle Fleck in seinem Leben, oder gab es noch mehr, was ihn davon abhielt, sich ihr völlig zu öffnen? Weshalb war er so darauf bedacht, sie vor irgendwelchen Einflüssen aus seinem Umfeld zu schützen?
Das Klingeln des Telefons schreckte sie auf. Kommissar Mayrhöfer hob den Hörer ab und meldete sich. "Stephan Wagner ist da", klang es vom anderen Ende der Leitung.
"Ah ja, gut", antwortete er. Dann wandte er sich an Frank und Alexa. "Wir sind vorläufig fertig. Wenn ich Glück habe, bekomme ich heute noch mehr Antworten auf meine Fragen." Der Ermittler legte den Telefonhörer auf und schlug die Mappe mit den Artikeln zu.
"Bin gespannt, was der Journalist dazu sagt. Vor Allem bin ich neugierig auf seine Quellen", erklärte er Frank. "Wenn es zufriedenstellend läuft, haben Sie bald Ruhe vor mir."
Mit einem leisen Rollensurren schob das Paar die Drehstühle zurück. Während Alexa Winter schon stand, blieb Kommissar Mittnacht (a.D.) noch einen Moment sitzen und sah seinem Kollegen fest in die Augen. "Wegen den Quellen von Stephan Wagner", begann er. "Die würde ich auch gern erfahren, zumal seine Ergüsse mich in besonderer Weise betreffen. Ich meine, zwar bin ich es gewöhnt, dass meine Mentalität etwas umstritten ist. Aber weshalb er sich so sehr auf mich fixiert: Das ist mir zu hoch, zumal wir uns nicht kennen. Vor Allem sähe ich mich ungern auch weiterhin als Buhmann. Wenn Ihr meint, euren Killer noch nicht gefunden zu haben: Ich stehe nicht zur Verfügung."
Nachdenklich rieb sich Kommissar Mayrhöfer das Kinn. „Ich vermute mal, in Bezug auf Stephan Wagner ist Emil Kieselwurf das Bindeglied. Wobei ich wieder bei der Frage bin, weshalb dieser Sie umbringen wollte. Aber lassen wir das. Sie können gehen!“ Demonstrativ kramte er in seiner Ablage herum und gab sich geschäftig. Frank erhob sich mit einem Achselzucken. „Gehen wir!“, forderte er Alexa auf, die bereits ungeduldig an der Tür stand. Einträchtig ließen sie Kommissar Mayrhöfers Büro hinter sich und schlenderten gemächlich zum Aufzug.
Franks Blicke schweiften etwas wehmütig durch die großräumige, helle Etage. Deckenhohe Glasfronten ließen das Tageslicht ein, und freundliche Cremefarben bestimmten das Interieur. Die Wartezone bestand aus mehreren Clubgarnituren in beige. Die Bürotüren, hinter denen sich die Räumlichkeiten der Ravensburger Kollegen befanden, waren in dunklem Choco lackiert. ‚Hier hätte mein Reich sein sollen, wäre so vieles nicht erst geschehen. Aber dass ich meine letzte Bastion auch noch verliere …'
Alexa beobachtete sein Mienenspiel heimlich von der Seite. Sein Antlitz war so schwer zu definieren wie sein Charakter; genau dies machte Frank für sie indes interessant. Er war gesetzt – und doch wieder nicht. Er schien erfahren zu sein, und er strahlte Souveränität und Gelassenheit aus.
Ein Gefühl sagte ihr, dass er auch anders sein konnte. Sie sah es an seinen dunklen, mandelförmig geschnittenen Augen, an der sinnlichen Form seiner Lippen, an der Kantigkeit seines Gesichts, die ein krasser Gegensatz zu dieser Sinnlichkeit war. Allerdings hatte sie den Vulkan in ihm schon kennengelernt, und sie war ihm nichts schuldig geblieben.
Als sie am Aufzug angelangt waren, lernte sie auch das Eis in ihm kennen. Die Tür öffnete sich, und ein muskulöser Mann trat aus ihr heraus. Er überragte die beiden um gut einen Kopf.
Franks Augen verdunkelten sich voller verhaltenem Zorn, und seine Hand umklammerte Alexas Arm. Er konnte sich denken, wer das war, obwohl er ihn noch nie gesehen hatte. Einen Augenblick überlegte Frank, ob er den Journalisten ansprechen solle, entschied sich dann jedoch schweren Herzens dagegen.
Stephan Wagner kam auf sie zu und blieb kurz vor ihnen stehen. Er schien eine Frage auf den Lippen zu haben, doch dann ging er mit federnden Schritten an ihnen vorbei und begab sich zu Kommissar Mayrhöfers Büro.
Alexa spürte die eiserne Beherrschung, der sich Frank unterwarf. Zart strich sie ihm über den Arm. „Es rentiert sich nicht“, mahnte sie sanft. „Er ist keiner Aufregung wert.“
Er machte eine hilflos anmutende Handbewegung. „Du hast recht. Doch damit ist das Thema noch lang nicht gegessen. Wie kannst du mir nur vertrauen?“
Sie betraten den Lift. Frank setzte sich auf die hintere Haltestange und streckte seine Beine. „Ich kann mir selbst kaum noch trauen“, fuhr er fort. Alexa stellte sich vor ihn, legte beide Arme um seinen Hals und sah ihm tief in die Augen. „Ich traue nicht dir, sondern mir. Kein Vertrauen in andere Menschen zu haben, bedeutet auch, sich selbst zu unterschätzen. Und das tue ich nicht.“
„Ich wette“, antwortete Frank, während die Glaskabine mit einem Surren nach unten glitt, „dass du in deinem jungen Leben schon oft unterschätzt worden bist.“
„Das ist wohl wahr. Basti und ich waren lange zusammen, und er nahm mir viel Verantwortung ab. Ich war das Weibchen, ein bisschen dumm, und er das Männchen, das alles tat, um mir ein angenehmes und vor Allem lustiges Leben zu bieten." Ein melodischer Gong unterbrach sie. Der Lift hielt. Sie stiegen aus. "Wir lebten von der Hand in den Mund", erzählte Alexa weiter. "Wir waren mehr auf der Straße und hatten ständig die Clique um uns herum.“
Als Frank stehen blieb und sich ihr zuwandte, sah Alexa nachdenklich zu Boden. „Ich hatte es nie für nötig gehalten, selbst Geld zu verdienen. Wenn ich es brauchte, war es da, wenn keines da war: Dann haben wir es uns beschafft, nicht immer auf legalem Weg. Und was die Leute dachten, scherte uns nicht.“
Leichte Eifersucht ergriff ihn. „Du redest oft noch von ihm. Was bedeutet er dir?“
Während sie Seite an Seite das kleine Foyer im Erdgeschoss querten, berührten sich ihre Hände. Alexa durchfuhr es wie ein elektrischer Schlag. „Du wirst es nicht glauben, ich habe ihn wirklich geliebt. Ich dachte, dass es immer so weiter ginge, und er wäre der Mann, mit dem ich alt werden will. Doch dann traf ich dich. Aber was fragst du?“
Als Antwort zuckte er nur mit den Schultern. Alexa streifte ihn mit einem Seitenblick. Er wirkte angespannt, hielt seinen Kiefer zusammengepresst. „Was?“, zischte er zwischen den Zähnen hervor. „Ja, ich bin eifersüchtig. Und?“
Frank warf einen Blick in die Runde und sah, dass sie allein waren. Er zog sie zur Seite und umarmte sie heftig. „Ich bin schlecht im Teilen. Und du wolltest es so.“
Als sich die Tür von der Wachstube öffnete, ließ er sie los. Hanno trat in das Treppenhaus und warf einen neugierigen Blick zu ihnen hinüber.
Ohne jegliche Verlegenheit strich sich Alexa ihre blonden Locken zurecht und hängte sich bei Frank ein. „Komm, gehen wir“, sagte sie laut. „Ich habe noch etwas Wichtiges mit dir zu besprechen.“ Sie kicherte anzüglich.
Gemeinsam schlenderten sie an Hanno vorbei. „Morgen abend in der Alten Linde“, erinnerte Frank seinen ehemaligen Kollegen. „Wir warten am Stammtisch auf Sie.“
Während sie das Gebäude verließen, blickte Hanno Kekkonen ihnen sinnend hinterher. ‚Es sieht ganz so aus, als würde es stimmen. Mittnacht, du bist ein Glückspilz.’ Dann nahm er sich vor, Ronja zum Skatspielen mitzunehmen. 'Und vielleicht', hoffte er, 'könnte sie ihre Freundin mitbringen. Wie heißt sie noch gleich?’
Als das Paar aus seinem Blickfeld verschwand, ging er zurück ins Präsidium und rief sie an. Seine Cousine hatte tatsächlich nichts vor, und sie freute sich sehr, mit Hanno mal wieder klönen zu können.
Die Idee, Jana Abendroth mitzubringen, nahm sie allerdings eher skeptisch entgegen. „Ich glaube nicht, dass das geht“, antwortete Ronja. „Ihren Macker hast du ja schon kennengelernt. Und der würde das niemals zulassen. Und wenn, dann käme er mit.“
„Hmmm, ja ich erinnere mich. Es war an der Nikolaus-Party, nicht wahr?“ Dann fiel ihm was ein. „Du, kann das sein, dass Janas Freund Journalist ist? Wir haben gerade einen Stephan Wagner im Haus.“
„Ja, das müsste er sein. Was ist da los? Hat er was angestellt?“, fragte Ronja.
„Ich weiß nichts genaues, aber es geht glaube ich um ein paar Zeitungs-Artikel, die er verfasst hatte. Er schmiert uns schon seit einiger Zeit durch die Medien, und vor Allem den Chef.“ Hanno konnte sich noch nicht ganz dran gewöhnen, dass Frank Mittnacht nicht mehr länger sein Vorgesetzter sein würde und hoffte, dass sich alles aufklären würde.
„Hoffentlich kommt Janas Kerl in den Knast“, entgegnete Ronja bissig.
Hanno lachte. „Das glaube ich eher nicht. Muss weiter machen, ich hole dich morgen um 19:00 Uhr ab.“
„Okay. Ich werde es mal bei Jana versuchen. Es wäre bestimmt eine gute Möglichkeit für sie, mal wieder abzuschalten. Dass sie den Kerl aber auch nicht in den Wind schießt …“, schimpfte sie durch den Äther.
„Vielleicht hat sie zu viel Angst“, mutmaßte Hanno. „Und wenn sie mit ihm zusammenwohnt: Wohin soll sie dann auch, wenn sie sich zum Gehen entschließt?“
„Na ja, egal. Reden wir morgen drüber“, schlug Ronja Kekkonen vor. „Ich freue mich.“
Hanno legte auf und ging in die Wachstube zurück. Sein Enthusiasmus war gewaltig gebremst.
Bis zum Feierabend hingen seine Gedanken noch öfter bei Jana. „Das nächste Mal bekommt der Kerl eins auf die Glocke, wenn ich es noch einmal sehe“, grummelte er vor sich hin und knallte kurz vor 17:00 Uhr die Tür hinter sich zu.
Die Augen des Todes verfolgen mich bis in den Schlaf. Was hab’ ich getan? Vor mir liegt ein Mensch, ein junger Mann. Er hatte noch das ganze Leben vor sich, doch seine Augen sind für immer geschlossen.
In meinen Träumen sehe ich es immer wieder vor mir. Habe ich Hand an ihn gelegt?
Jemand ist hinter mir her seit jenem Tag, als der Unfall geschah. Er verfolgt mich, und auch jetzt spüre ich seinen Atem. Ich habe ihn gesehen, und er hat mich gesehen.
Ich weiß, dass er mich fürchtet.
Die Nichtigkeit in der Seele der Menschen verleitet zu Taten, die hat niemand gewollt. Bin auch ich zu einem Täter geworden? Ich erinnere mich nicht …
Von wem wurde ich verurteilt, mein Leben in Schmach verbringen zu müssen? War ich es selbst, oder war es das Schicksal? Fragen über Fragen …
Babsi hasste die Fragen des Lebens. Besser gesagt: Sie lachte darüber, und sie hat es verstanden, mir dadurch die Antworten zu geben, die meine Seele brauchte, um Frieden zu finden. Doch Babsi ist fort, und den Sonnenschein hat sie mit sich genommen. Und meine Tochter. Kleine Lina ...
Ich hatte drei Sonnen in meinem Leben. So sehr habe ich sie gebraucht, dass ich es erst spürte, als sie nicht mehr schienen. Eine Sonne ist mir geblieben, doch diese ist dunkel. Tom ... er macht mir Sorgen.
Auch seine Seele ist seitdem von Schmerzen gepeinigt; oder war es schon früher? Ich hätte besser auf ihn achtgeben müssen. Er treibt sich am Liebsten auf Friedhöfen herum, und ich hatte mir nie darüber Gedanken gemacht.
Weil ich mich in ihm wieder finde? Was habe ich getan in jener Nacht? Das Mädchen … wollte ich sie bestrafen, ihr zeigen, was es heißt, durch Hilflosigkeit das zu verlieren, was man am Meisten liebt? Weil sie nicht da war?
Oder galt die Strafe gar mir, oder ihm? Er hatte diesen Tod nicht verdient. Starb er stellvertretend für mich?
Diese Schmerzen … Manchmal ist es, als ob mir ein Hammer den Schädel zertrümmert. Zugleich bohrt sich immer wieder der Dolch der Schuld tief in mein Herz. Er dreht sich nach allen Seiten, und ich fühle, wie diese Schuld meine Eingeweide zerfrisst. Das ist mein Geheimnis, das niemand weiß, nicht einmal Tom.
Ich weiß nicht, ob Alexa es jemals erfährt. Niemals dürfte sie mit mir zusammen sein, denn ich …
Ich könnte ein Mörder sein!
***
Es war weit nach Mitternacht, als Alexa erwachte. Der Vollmond sandte einen einzelnen Silberstrahl durch einen Schlitz in der dicken Gardine, welche die Fenster verdeckte. Sie war mit Rosen gemustert, doch in seinem diffusen Schein erschienen sie ihr wie kleine Köpfe.
Irgendwo tickte eine Uhr im Zimmer, ansonsten war das ganze Haus ruhig. Schlaftrunken griff sie neben sich und tastete nach seinem Körper. Stattdessen erfasste sie jedoch nur das dicke Kissen, auf dem sein Kopf geruht hatte. Es fühlte sich nass an, und sie erschrak. Sie war allein!
Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in die Nacht und fragte sich, was sie geweckt hatte, und wo er war. Sie brauchte ihn - seine Nähe, seine Umarmung, und seine Wärme. Nach den Geschehnissen der letzten Wochen war Alexa noch nie so bedürftig und haltlos gewesen, wie sie es war.
Es war eine Zeit eingetreten, die dazu gedacht war, sie zu verändern. Die Rebellion in ihr zu beenden, Alexa ins Leben zu führen. In das Leben einer Frau statt einer Traumtänzerin. Sie hatte den Weg selbst gewählt, als sie sich an seine Seite begab.
Bisher war sie diejenige gewesen, die nahm, ohne zu geben. Doch nun bedurfte es eines Mannes wie Frank, um ihr zu zeigen, worauf es im Leben ankam. Vielleicht hatte sie ihn deshalb erwählt, oder war doch sie die Erwählte? Sie wusste es nicht, manchmal fühlte sie sich wie eine Blume am Wegesrand, die gepflückt worden war.
Ja, sie spürte wohl ihre Kostbarkeit, die Frank zu leugnen suchte. Zu jener Zeit, als sie es noch nicht wusste, hatte er sie wie eine Göttin behandelt, und das wurde ihr nach und nach klar. Doch göttlich wollte sie nie wieder sein. Sie war schon Bastis Göttin gewesen, und das war ihr genug.
Zaudernd tastete sie linkerhand nach der Nachttischlampe, um die Schatten im Raum zu vertreiben. Die Umgebung war ihr noch fremd. In jeder Ecke des Zimmers schien Barbaras Geist zu wachen, darauf bedacht, dass ihr geliebter Mann auch das Glück fand. Angst verspürte Alexa nicht vor ihr, nur den Wunsch, für sie zu bestehen. Und für sich selbst.
Als das Licht die Umgebung erhellte, schwang sie ihre Beine resolut aus dem Bett und setzte sich auf. Ihr Blick fiel auf Franks Nachttisch, dort stand das Foto eines jungen Hochzeitspaars.
Alexa war überrascht, wie ähnlich die Frau ihr auf dem Bild sah. Nackt, wie sie war, erhob sie sich und trat vor einen großen Schrankspiegel, um sich davon zu überzeugen, dass der erste Eindruck nicht trog.
Nein, sie war kleiner. Alexa wich vom Spiegel zurück und holte das Bild. Neugierig betrachtete sie es. Barbara hatte an ihrem Hochzeitstag eine Mantilla statt einem Schleier getragen. Weißblondes Haar schimmerte durch die feine Spitze hindurch. Mit ihrer lichtweißen Tracht wirkte sie wie eine Schneekönigin, doch das Lächeln, mit dem sie den jungen Mann an ihrer Seite anstrahlte, ließ jedes Eis schmelzen.
Alexa ließ sich rücklings auf Franks Bettseite fallen und streichelte selbstvergessen sein Gesicht auf dem Foto. Damals hatte er seine Haare länger getragen – und die junge Frau war verblüfft, als sie vermeinte, Basti in seinen Gesichtszügen zu finden. Es war, als schaute er ihr aus einer anderen Zeit von anderen Orten entgegen, und sie stünde direkt neben ihm.
Und doch wieder nicht. Franks Haare waren wesentlich heller; dennoch wirkte er genauso verwegen. Heute trug er sie kürzer, jedoch weit vom Konservatismus seiner Altersklasse entfernt.
Alexa erinnerte sich an ihr Vorhaben, nach ihm zu suchen. Sie stellte das Bild auf seinen Nachttisch zurück, erhob sich vom Bett und zog ihr Big Shirt über den Kopf. Es reichte ihr knapp bis über den Schenkel, und plötzlich wirkte sie fast kindlich hilflos und zierlich. Nichts mehr erinnerte sie an die hochgewachsene Frau an seiner Seite.
Sie trat ans Fenster und schob die Gardinen zurück. Die Schneefälle der letzten Tage waren in einen Eisregen übergegangen, und Rasenflecken wirkten im Mondlicht wie schwarze Schatten. Alexa drehte den Kopf und schaute nach rechts in den Hof, wo sie wusste, dass dort sein Wagen abgestellt war.
Erleichtert atmete sie auf. Offenbar war Frank im Haus.
Sie verließ das große Doppelschlafzimmer und ging leise die Treppe hinab. Im unteren Stockwerk kam sie an Toms Zimmer vorbei. Unter einem Türspalt hindurch schimmerte ein grünliches, gespenstisches Licht.
Vorsichtig drückte sie die Klinke herunter und warf einen Blick hinein, in der Hoffnung, dass Frank bei seinem Sohn zu finden sein würde. Dem war nicht so, doch Tom wachte auf.
Sein blonder Igelkopf erhob sich aus seinem sargähnlichen Bett, und er blickte ihr aus schläfrigen Augen entgegen. „Was ist?“, fragte er. „Kannst du nicht schlafen?“
Freundlich grinste Alexa ihn an. „Du würdest einen super Vampir abgeben. Mich hast du jedenfalls gehörig erschreckt. Wie schläft es sich in einem Sarg?“
„Leg dich halt zu mir, dann weißt du es.“ Tom blinzelte sie keck an.
„Nein danke, das lassen wir lieber“, entgegnete sie und verschränkte mit gespielter Entrüstung die Arme. „Ich glaube, da hätte dann doch dein Vater etwas dagegen. Und deine Freundin ganz bestimmt auch, vermute ich mal.“
„Och … ich bin noch zu jung, um mich so fest zu binden. Aber du hast Recht: Mit Paps lege ich mich besser nicht an.“ Er musterte sie neugierig von oben bis unten. „Schläfst du eigentlich nackt?“
„Jetzt hör aber auf. Das binde ich dir bestimmt nicht auf die Nase.“ Alexa lehnte sich an den Türrahmen und sah ihn forsch an. „Sonst kannst du nur nicht mehr schlafen.“
Sie wandte sich ab und wollte gerade gehen, da rief er sie leise zurück. „Alexa? Es war nur Spaß“, entschuldigte er sich. „Ich hoffe, das weißt du. Ich würde meinem Vater nie die Freundin ausspannen.“ Tom legte eine kleine Kunstpause ein. „Solange er es nicht tut.“
„Ja, das weiß ich, Tom. Sonst hätte ich dir eine gescheuert.“ Alexa schloss die Tür hinter sich und setzte ihre Streifgänge fort. Es war ein Haus, in dem man sich wohlfühlen könnte, doch es strahlte Trauer aus. Wo immer sie ging und stand, begleiteten sie Rosenbilder, die sich mit Urkunden über gewonnene Preise abwechselten. In dem langgezogenen Flur im Erdgeschoss waren verschnörkelte Leuchter aus Gusseisen in die Wand eingelassen, sie leuchteten ihr den Weg. Die rosenförmigen Birnengewinde waren von schwarzem Tüll umhüllt.
Voller Sorge um Frank warf sie nur einen kurzen Blick in die Küche, doch auch diese war leer. ‚Wo kann er nur sein?’, fragte sie sich. Eine ungute Unruhe machte sich in ihr breit. Frank hatte eine solch gefährliche Zeit hinter sich, war fast gestorben, und das hatte Spuren der Angst in ihr hinterlassen. Mühsam versuchte sie, das rasende Klopfen ihres Herzens zu ignorieren und erklomm noch einmal die Treppe, um in das vergessene Zimmer zu schauen. Es befand sich auf derselben Etage wie Toms Gruselkabinett und war das Kinderzimmer von Lina.
Alexa hatte die ersten beiden Tage ihres Kennenlernens darin verbracht, und auch nach ihrer Rückkehr von Franks Schwiegereltern war hier ihr Domizil gewesen.
Erst seit dem Tag, an dem Frank aus dem Krankenhaus entlassen worden war, schien er bereit zu sein, die junge Frau etwas mehr in sein Leben zu lassen. Das war vor vierzehn Tagen gewesen. Seitdem schlief Alexa bei ihm.
Sie löschte das Licht, schloss nach einem kurzen Blick ins Zimmer die Tür und ging wieder die Treppe hinab.
‚Der Garten?’ Sie glaubte zwar nicht wirklich daran, wollte es aber auch nicht ausschließen. Franks Rastlosigkeit in der Nacht hatte sie schon beizeiten kennengelernt, und es war nicht das erste Mal, dass er nicht neben ihr lag.
Wohin es ihn in solchen Phasen zog: Herausgefunden hatte sie es bisher noch nicht, doch heute wollte sie’s wissen. Sie begab sich in das Zimmer, an welches die Terrasse anschloss. Dort waren nach wie vor Exponate aus Barbaras Rosenzucht untergebracht, und man sah den Stöcken an, dass sie liebevoll gepflegt worden waren.
Sie drückte auf den Lichtschalter, worauf an der Decke ein Fluter aufstrahlte und den Raum fast in Tageslicht hüllte. Frank war sehr darauf bedacht, diesen Wintergarten gepflegt zu halten, und ganz offensichtlich war das ihr Refugium gewesen. Ein lebensgroßes Porträt seiner verstorbenen Frau - von Efeu umrankt - hing an der Wand.
Alexa fragte sich, ob sie jemals die Lücke füllen könnte, die Barbara in seinem Leben hinterlassen hatte. An Schönheit und Mut mangelte es ihr nicht, und dennoch hatte sie Angst, ihm das, was er brauchte, nicht geben zu können.
Zögernd löste sie den Blick von Barbara und durchquerte die große Fläche, doch sie sah gleich, dass die Terrassentür geschlossen war. Alexa verwarf den Gedanken, dass er auf eine Zigarette hinaus gegangen sein könnte, und sie verließ fast fluchtartig den Raum.
Blieb nur noch der Hof! Verärgert, nicht auf das Naheliegende gekommen zu sein und ungeachtet ihrer leichten Bekleidung, beschleunigte Alexa ihre Schritte in Richtung Hauseingang.
Im Vorraum fiel ihr eine Tür auf, die nur angelehnt war. Sie führte zum Kellerabgang. Kühle umstrich ihre Beine und jagte ihr eine Gänsehaut über den ganzen Körper. Als Alexa sie zuziehen wollte, drang ein süßlicher Geruch von unten herauf an ihre Nase, und nun sah sie auch, dass ein schwaches Licht am Ende der Treppe brannte.
Alexa wusste zwar von dessen Existenz, doch betreten hatte sie den Keller noch nie. Sie tastete nach dem Schalter und stieg vorsichtig die vor ihr liegende Wendeltreppe hinab. Es war kein beängstigender Gang, den sie antrat. Vielmehr war es eine freundliche, hell gehaltene Räumlichkeit, mit naturbelassenen Felswänden. In kleinen Nischen standen Wohn-Accessoires, und auch hier wunderte sich Alexa über die feminin anmutende Atmosphäre. Am Ende der Stiege aus glattpoliertem Eichenholz lag wiederum ein langer Gang, von dem aus mehrere Türen abzweigten, vor ihren Augen. Offenbar führten die grau gestrichenen Türen zu vier verschiedenen Abstellkammern, wie sie auch unschwer durch eine kleine Luke erkennen konnte.
Mit angstvoll klopfendem Herzen folgte Alexa der leichten Biegung des Kellergewölbes, dessen Licht düsterer wurde, umso mehr sie sich von der Treppe entfernte. Am Ende des Flurs kam plötzlich ein abrupter Knick, und dieser führte zu einer weiteren, in Nussbaum gehaltenen Kassettentür. Durch eine kleine Ritze zwischen Falz und Boden roch Alexa erneut jenen süßlichen Geruch, der ihr schon aufgefallen war, als sie noch oben im Gang stand. Er war ihr nicht gänzlich unbekannt, auch sie hatte in ihrem Leben schon ein- bis zweimal gekifft.
Hier war er also! Die junge Frau war zwar in mehrfacher Hinsicht überrascht, zum Einen, dass Frank sich überhaupt mit so etwas abgab. Zum Anderen wunderte sie sich, weshalb er sich dazu im Keller versteckte.
Nach kurzem Überlegen zog sie die Schlussfolgerung, dass er sich mit dieser Maßnahme vor einer spontanen Entdeckung durch seinen Sohn schützen wollte.
Leise drückte Alexa die Klinke nach unten und öffnete die Tür nur einen kleinen Spalt. Sie wollte sich erst vergewissern und ihn dann überraschen. Die Überraschung war dann jedoch auf ihrer Seite, als sie das große Zimmer sah.
Mit einem solchen Refugium hatte sie bestimmt nicht gerechnet. Von der Decke hing ein zwölfarmiger Kronleuchter herunter, behängt mit glasklaren, diamantenförmig geschliffenen Bleikristallen. Die eingeschraubten Birnen imitierten das Flackern von Kerzen und verstrahlten ein warmes, etwas düsteres Licht. Die gebogenen Messingarme waren mit rotem Organza umhüllt, in einem solch dunklen Rot, dass es aussah, als wäre es mit Blut durchtränkt.
Alexa schob die Tür noch etwas weiter auf und schlüpfte hinein. Mit leichtem Unbehagen lehnte sie sich gegen die Wand neben dem Eingang. Von Frank war noch nichts zu sehen, doch sie spürte seine Anwesenheit – und wieder diesen süßlichen Duft, mit kleinen, fast unsichtbaren Rauchfahnen aus der linken Ecke des Raumes gepaart.
Sie wartete ab, ob er auf sie aufmerksam geworden war und sie ansprechen würde. Sein ruhiger Atem füllte den Raum und vermischte sich mit leisen Sitarklängen, die sie aus Lautsprechern aus allen Ecken umhüllten.
Alexa fühlte sich, als wäre sie zwischen den Welten gelandet, so, als würde sie schweben. Nach ewig scheinendem Schweigen löste sie sich von ihrem Standort und drehte sich mit weit aufgerissenen Augen im Kreis.
Ihre nackten Füße versanken in weichem Flor. Es war ihr plötzlich nach Tanzen zumute, doch sie unterdrückte diesen Reflex und verharrte dann gebannt auf der Stelle. Die Wände glimmerten ihr silbern entgegen, in einem Leuchten, welches offenbar dem dezenten Tapetenmuster entsprang. Unterbrochen wurde es von orientalischen Runen und zarten Ornamenten in Schwarz.
In fast ehrfürchtigem Bemühen, kein Geräusch zu verursachen, um den Bann nicht zu brechen, schlich sie durch den Raum. Sie wandte sich nach links, den filigran anmutenden Rauchfahnen entgegen – und wurde bereits von ihm erwartet. „Ich wusste, dass du mich irgendwann findest“, sagte er leise. Seine Stimme klang sinnlich, und Alexa spürte einen wohligen Schauer auf ihren Armen. „Diesmal hast du es mir einfach gemacht“, flüsterte sie, beugte sich über ihn und schaute ihm in die Augen. „Hast du die Kellertür absichtlich offen gelassen?“
Undeutlich sah sie sein Grinsen. „Es war ein Spiel mit dem Feuer“, antwortete er. „Normalerweise ist dieser Raum mein Geheimnis.“ Seine Stimme verlor sich im Schatten, fast wie ein Hauch: „Es war unser beider Geheimnis … von Babsi und mir.“
Franks Geständnis rührte tief an ihre Seele, und sie schwankte zwischen Trauer und Neid. Eine einzelne Träne fiel auf sein Gesicht. Zart berührte er sie. „Nicht“, bat er innig. „Wein nicht um mich, das bricht mir mein Herz.“
Alexa setzte sich auf den Bettrand und legte die Hand auf seine Brust. „Ich bin ehrlich zu dir“, sprach sie und strich sich eine Locke hinter die Ohren. Ihre Stimme wurde leiser, während sie fortfuhr: „Mein sehnlichster Wunsch ist, dass du mich eines Tages so sehr liebst, wie du sie geliebt hast.“
Frank hob den Arm und zog sie herab auf das gusseiserne Bett. Sie versank in den Wogen einer Wassermatratze. Als er sie fest umschlang, fragte er sie: „Liebst du mich denn so sehr, wie du deinen Ex geliebt hast?“ Eifersucht klang aus seiner Stimme, und fast grob umklammerte er ihre Taille.
Alexa entwand sich seinen Armen, entkleidete sich und legte sich auf ihn. Bis auf eine enganliegende Radlerhose lag er nackt unter ihr. „Ich liebe dich mehr!“, sprach sie im Brustton der Überzeugung. Lasziv rieb sie sich an seinem Bauch und genoss das Prickeln in ihren Lenden.
Ihre langen Goldlocken fielen auf seine Brust, als sie seine Handgelenke umfasste und sich fallen ließ. Übermütig lachend überzog sie sein Gesicht mit stürmischen Küssen.
‚Sie ist wie sie …’, dachte Frank und verlor sich in der Vergangenheit. ‚Und doch ist sie ganz anders. Es ist das gleiche Feuer, was in ihr brennt, die Leidenschaft, mit dem sie ihre Ideale verficht. Aber manchmal erinnert sie mich auch an ihre Freundin – so zart, so anschmiegsam wie eine Katze.’
„Was hast du eigentlich vorher geraucht?“, unterbrach Alexas Stimme seine Gedanken. Während ihr Antlitz dem seinen ganz nahe war, fixierte er es mit seinem Blick: „Geraucht? Wie kommst du darauf?“
„Nun ja“, antwortete Alexa. „Der Geruch deiner Zigaretten hat mich zu dir geführt.“
Frank lachte auf. „Ach das.“ Sein Blick fiel nach rechts zu einem flackernden Marmorkamin. „Räucherstäbchen …“, murmelte er. „In Heiligtümern wird nicht geraucht.“
Er drückte sie von sich herunter, erhob sich von ihrem gemeinsamen Lager und durchquerte den Raum. Vor einer weißen, antiken Kommode blieb er stehen und zog eine Schublade auf.
Alexa räkelte sich in den weichen, warm temperierten Wellen, die ihren Körper im Innern der Unterlage umspielten, und folgte ihm gebannt mit den Augen.
Als er zu ihr zurückkehrte, stand er nackt neben ihr und streckte ihr eine Hand entgegen. „Komm mit“, forderte er. Die andere Hand hielt er hinter seinem Rücken versteckt. Fragend sah sie ihn an.
Als Frank ihr Zögern bemerkte, streichelte er ihre Stirn und begann, seinen Zeigefinger über ihr Gesicht wandern zu lassen. Er fuhr ihr zart über die Nase, berührte sie an den Lippen und wanderte über ihren Hals bis zum Bauchnabel hinab. Geistesabwesend umkreiste er ihn. „Hab keine Angst“, murmelte er, setzte sich und senkte seine Lippen auf eine Brust.
Alexa stöhnte auf. „Was hast du mit mir vor?“
„Komm mit und genieße“, wiederholte er seine Forderung mit rauher Stimme. Wieder reichte er ihr seine Hand. Alexa ergriff sie und ließ sich hochziehen. Er drehte sie vor seinen Körper und führte sie zu einer aus Gusseisen geschmiedeten Frisierkommode.
Frank blieb hinter ihr und trat zwei Schritte zurück. „Heb deine Arme“, verlangte er. Alexa gehorchte zögernd.
„Höher, und dann schließ die Augen.“ In ihrem Nacken fühlte sie seinen warmen Atem, und der feine Flaum stellte sich auf. Als sie es tat, fühlte sie einen grobmaschigen Stoff über ihre nackte Haut gleiten.
Frank trat hinter sie und schlang einen Arm um ihren Bauch. „Du kannst die Augen aufmachen“, raunte er ihr voller Verlangen ins Ohr.
Überrascht keuchte sie auf, als sie ihr Bildnis im Spiegel erblickte. Er hatte ihr ein fischernetzartiges Gebilde über den Körper gestreift. Frank stand hinter ihr und hielt einen Enterhaken in seiner Hand. Er selbst hatte ein schwarzes Satintuch um seinen Kopf geschlungen und sah aus wie ein Pirat. Sie drehte sich zu ihm um und blickte ihn herausfordernd an. „Was soll das werden?“, fragte sie.
„Nun, du hast doch immer wieder von deinen Abenteuern mit deinem Basti geredet“, antwortete er. „Ich will da nicht hintan stehen.“
„Frank, sei mir nicht böse, aber diese Art von Spielchen sind mir zuviel.“ Ihre Augen schweiften zu dem Enterhaken, und sie versuchte, ihr Erschrecken vor ihm zu verbergen. Plötzlich sah alles für sie ziemlich bedrohlich aus.
Er folgte ihrem Blick und lachte auf. „Der ist nicht echt.“ Frank streckte ihn ihr entgegen und forderte sie auf, sich selbst davon zu überzeugen. Sein Blick wurde weich, nachdem sie ihm diese Bitte verwehrte. Er warf ihn in eine Ecke, zog das Piratentuch ab und wandte sich ihr wieder zu. „Bitte verzeih“, bat er sie mit leiser Stimme. „Ich wollte dich testen, wie sehr du mir vertraust.“
Ein warmes Gefühl durchflutete sie. Wie hatte sie denken können, dass er ihr etwas antun wollte? Um Vergebung heischend umarmte sie ihn und flüsterte: „Du Dummer. Mich so zu erschrecken, nach alldem, was wir schon zusammen erlebten. Vergiss Basti, vergiss alles, wichtig sind nur wir zwei. Niemand hat mehr Platz in unserem Leben.“
Plötzlich fühlte sich Frank höllisch müde. Es war eine Müdigkeit, die kein Schlaf lindern konnte. Er wünschte sich so sehr, sie halten zu können, ihr glauben zu können, ihr vertrauen zu können.
Nackt, wie er war, stellte er sich wieder hinter sie und bat sie, in den Spiegel zu schauen. Alexa gewährte ihm diese Bitte und musterte sein Antlitz vor sich.
„Was siehst du?“, fragte er sie. Sein Arm ruhte auf ihrer Brust. Ihr Blick war offen auf seinen Zwilling gerichtet, und sie brauchte nicht lang zu überlegen. „Ich sehe einen Mann, der stark genug war, dem Tod zwei Mal von der Schippe zu springen.“
„Was siehst du noch?“, forderte er sie eindringlich auf, weiterzusprechen und streichelte spielerisch ihren Hals.
„Ich sehe einen Mann“, fuhr sie fort, der mutig genug ist, um einen Irrtum seinerseits zu revidieren.“ Alexas grünen Augen begannen, zu funkeln. „Und einen, der jung ist, voller Elan, und voller Kraft. Es ist ein Mann zum Verlieben.“
Sie glaubte, ein leises Stöhnen in ihrem Rücken zu hören. „Ich wünsche mir so sehr, dass du Recht hast“, murmelte er und schmiegte sich verlangend an ihren Po. „Aber was, wenn mein Innerstes Geheimnisse birgt, die ich selbst nicht einmal kenne?“
Alexa ignorierte seinen Einwurf und fragte etwas kokett: „Und was siehst du?“ Ihrer beider Blicke waren durch den Spiegel aufeinander gerichtet.
Frank schwieg lange. Leise sirrten die Klänge der Sitar um sie herum und schufen eine fast schwülstige Atmosphäre. Das indirekte Licht des Lüsters hüllte die Nische, in der sie standen, in mystische Schatten. Das künstliche Flackern der Birnen spiegelte sich in ihren Augen wider.
Atemlos wartete Alexa auf seine Antwort. Als sie kam, weitete sich ihr Blick voller Entrüstung. „Ich sehe eine Diebin“, sprach Frank. Er legte seinen Daumen auf ihre Lippen, um sie am Sprechen zu hindern, und drückte ihr einen Kuss in den Nacken. „Eine, die mir die Erinnerungen raubt, und auch den Atem. Du stahlst dich in mein Leben und herrschst seitdem über alles, was mich jemals ausgemacht hat.“
Er stützte sein Kinn auf ihr Haupt. „Deine Haare sind wie flammendes Gold, und das gleiche Feuer brennt in deinem Herzen.“
Alexa lehnte sich gegen ihn und bat: „Bitte sprich weiter.“
Frank fuhr mit der Hand unter das Fischernetz, was sie umhüllte, und streichelte ihre Schenkel. „Deine Haut ist weich wie Seide und schimmert wie Silber. Eine Göttin auf Erden. Doch der Mann, den sie liebt, wie sie sagt: Ist er ihrer würdig?“
Sie hielt ihn fest und führte seine sehnigen Finger dorthin, wo das Verlangen nach ihm ihr fast den Verstand raubte. Lüstern klemmte sie ihre Schenkel zusammen.
„Wenn du das noch öfter sagst“, antwortete sie mit fast versagender Stimme, „dann kann es sein, dass ich es irgendwann glaube.“
Alexa ließ ihren Kopf nach hinten fallen und legte ihn rücklings auf seine Schulter. Ihre langen Haare schlängelten sich wie ein Vipernnest über seinen Oberarm.
Mit halbgeschlossenen Augen musterte sie sein Antlitz im Spiegel. Ihr Blick war verschleiert, und Frank hörte sie leise stöhnen, während er ihr Paradies mit sanften Streicheleinheiten verwöhnte.
'Sie ist wie Wachs in meinen Händen', dachte er und erschrak über seinen Gedanken. Nur einmal wünschte er, ihre Hingabe unbedacht teilen zu können, zu fühlen, wie es ist, mit einem geliebten Menschen zu fliegen. Er wusste jedoch, dass er dieser Verantwortung niemals gewachsen sein würde. Abrupt zog er sich aus ihr zurück und ließ sie los, fing sie jedoch sogleich wieder auf, als er ihr Taumeln sah.
Ein fast knurrendes Ächzen ließ Alexa erbeben. Verwirrt versuchte sie, ihre Sinne zusammenzuhalten, und drehte sich zu ihm um. „Was ist mit dir, Frank?“, fragte sie ihn und blickte ihn fast vorwurfsvoll an. „Warum vertraust du mir nicht, näherst dich mir und ziehst dich dann wieder zurück?“
Ihr kam ein neuer Gedanke. „Ist es … wegen Babsi?“ Ihre Stimme klang leise und zart.
Langsam schüttelte Frank seinen Kopf und bewegte sich von ihr weg. „Ich habe höllische Angst“, gestand er. „Ich habe Angst davor, dich in dem Moment zu verlieren, wenn ich dich nicht mehr loslassen kann.“
„Ich dachte, damit seien wir durch“, antwortete Alexa und verschränkte herausfordernd die Arme vor ihrer Brust.
„Was ist mit dir, Kommissar Mittnacht“, fragte sie noch einmal in forschem Ton und fuhr fort: „Ist dein Ego so klein, dass du dir nicht vorstellen kannst, geliebt zu werden? Was soll es sonst sein, was mich an dich bindet?“
Ihr Blick wurde traurig. „Wo immer ich gehe und stehe, begleitet sie mich. Ich fühle ihre Blicke auf meiner Haut, ihr Atem streift durch das Haus.“ Alexa drehte sich und beschrieb einen Kreis mit beiden Armen. „Du pflegst ihre Rosen, hier unten habt Ihr euch vermutlich geliebt.“ Die junge Frau durchmaß den Raum und berührte einen Rosenstock an der linken Wand. „Ich fürchte sie nicht, aber es schmerzt, diese Trauer selbst in den Mauern dieses Hauses zu fühlen. Ein Mann wie du sollte lachen, sich öffnen können, Liebe empfangen und geben.“
Sie nahm ein braunumrandetes Blatt in die Hand, trat zu Frank und reichte es ihm. „Sonst verdorrt dieser Mann irgendwann einmal wie die vielen Rosen um ihn herum.“
Ihre Worte drangen wie ein Dolch in sein Herz. Grob packte er sie am Arm und zerrte sie vor den Spiegel zurück. Nur mühsam unterdrückte er das Verlangen, ihr wehzutun, damit sie von ihm ablassen würde.
Er riss ihr das Netz vom Körper, so dass sie nackt vor ihm stand. „Was willst du von mir?“, stöhnte er gequält, drängte sie vor die Kommode, drehte sie um und zwang ihren Oberkörper nach unten. Alexa fühlte das kühle Gusseisen an ihren Brüsten und schauderte. „Frank, du tust mir weh“, flehte sie. Angst klang aus ihrer Stimme.
„Ich tu dir nicht weh“, entgegnete er barsch. „Du willst, dass ich dir vertraue, dann verlange ich dasselbe von dir. Ich will dir nur etwas zeigen.“ Das indirekte Licht im Raum ließ seine Gesichtszüge düster erscheinen. Falten des Zorns rankten auf seiner Stirn. Selbstquälerisch sah er in den Spiegel und forderte Alexa auf, dasselbe zu tun.
Als sie es tat, versuchte er, ihr die Augen zu öffnen. Er legte die Hände auf ihre Brüste und beugte sich über ihren Rücken. Krampfhaft versuchte er, seine Erregung in Schach zu halten, um Alexa die Macht über ihn nicht spüren zu lassen. „Jetzt bin ich in der Blüte des Lebens“, sprach er und drehte ihren Kopf gewaltsam nach vorn, als sie sich umdrehen wollte. „Jetzt kann ich dir noch alles geben, was du brauchst. Meine Erfahrung als Mann, die Befriedigung, nach der du suchst, vielleicht kann ich sogar mit dir die Abenteuer erleben, die du offenbar willst. Du hast es mir schon mehrmals bewiesen, dass ich nicht irre.“
„Nein …“, versuchte sie, seinen Redeschwall zu stoppen, was ihr nicht gelang. Frank griff mit einer Hand in ihre Haare und ließ sie vor ihrem Gesicht herunter fallen. „Hör mir zu“, verlangte er. „Es wird höchste Eisenbahn, dass ich dir das einmal sage."
Es fiel ihm schwer, all diese Worte von seinen Lippen kommen zu lassen, die seine Seele knechteten, seit er sie kannte. Er hatte sich zu lange von ihr einfangen lassen, war der Verlockung erlegen, sich an ihrer Seite treiben zu lassen. Frank hätte ihr die Sterne vom Himmel geholt, wenn sie danach verlangte. Es drängte ihn, da weiterzumachen, wo sie aufgehört hatten. Doch er spürte, dass er das nicht durfte, und unterwarf sich seinem eigenen Willen. Sie musste begreifen, dass er zu alt für sie sei. Leise sprach er weiter. „Du bist noch jung, Alexa.“ Seine Finger strichen selbstvergessen ihre Wirbelsäule entlang. „Du hast noch nicht gelebt, und an meiner Seite wärst du gefangen. Wenn du so alt bist wie ich, bin ich über fünfzig, und dann wirst du es spüren.“
„Es sind fünfzehn Jahre, Frank, nicht hundert.“ Alexa wehrte ihn ab und erhob sich. Sie setzte sich auf die Kommode, spreizte die Beine und zog ihn zu sich. „Es ist nicht nur Sex, wie du vielleicht denkst. Das gehört vielleicht zu einer Beziehung dazu, und auch, wenn es sich aus meinem Mund seltsam anhört: Wesentlich ist das für mich nicht.“
„Das sagst du jetzt. Doch dann, wenn ich alt bin, suchst du dir einen Lover und betrügst mich vor meinen Augen.“
Alexa schlang die Arme um seinen Hals und bannte ihn mit einem etwas spöttischen Blick. „Wenn du um deine Libido fürchtest: Es gibt genug Alternativen. Wir könnten ganz neue Welten entdecken. Doch wie ich bereits sagte: Wesentlich ist das für mich nicht.“
„Ich würde dir so gern glauben.“ Frank spürte seinen Widerstand dahin schmelzen wie Eis in der Sonne. Auch das war sie für ihn: Die Wärme, die er brauchte, um sein Herz wieder schlagen zu lassen. Plötzlich war er sich sicher, dass er sie nicht mehr fortschicken konnte. Fast wie von selbst griffen seine Arme nach ihr und bargen ihren Körper an seiner Brust. Als sie zu ihm aufsah, flüsterte Frank: „Beweise es mir und heirate mich.“
Bangend tastete sich sein Blick über ihr schönes Gesicht, als er keine Antwort erhielt. Wie erstarrt lag sie in seinen Armen und schaute ihn unverwandt an. Doch dann füllten sich ihre Augen mit Tränen und schillerten wie zwei Seen im Sonnenaufgang. Er legte eine Hand auf ihr Herz und fühlte es schlagen. ‚Sie soll mein sein’, dachte er. ‚Und wenn die Welt untergeht: Sie gehört mir!’
Dann hob er sie hoch und trug sie zu dem Gusseisenbett vor dem Kamin. Als er sie fallen ließ, hauchte sie: „Ja.“
„Was hast du gesagt?“, fragte er grinsend und legte eine Hand an sein Ohr. Alexa sprang auf und warf sich auf ihn.
„Jaaaaa!“, schrie sie und lachte dabei. Die junge Frau saß huckepack auf seinem Rücken und trommelte übermütig auf ihm herum. „Ja, ja, ja“, wiederholte sie mehrmals. „Glaubst du mir jetzt endlich einmal?“
Frank setzte sich auf den Bettrand und ließ sich fallen. Genüsslich vergrub er seinen Kopf in ihrem Busen.
Alexa rutschte ein paar Zentimeter nach oben, setzte sich und umschlang ihn von hinten. „Du bist aber auch schwer von Begriff“, flüsterte sie und unterdrückte ein Gähnen. Frank reagierte sofort. Er griff neben sich und legte zwei flauschige Daunenkissen parat. Dann befreite er sich aus ihren Armen, stand auf und ging zum Kamin, um Holz nachzulegen.
Als er zurückkam, brachte er zwei Daunendecken mit und breitete diese über das Bett. „Du hast an alles gedacht, nicht wahr?“, fragte Alexa und streckte ihm schläfrig die Arme entgegen. Frank legte sich neben sie und deckte ihren Körper fürsorglich zu. „Es ist spät“, raunte er leise. „Schlaf, Engelchen.“
„Und ich hatte mich schon auf heiße Stunden gefreut“, neckte sie ihn.
„Die hatten wir doch, oder nicht?“
„Ja, das hatten wir wohl“, antwortete Alexa und kuschelte sich an seine Brust. Kurz darauf schlief sie ein.
***
Eine Stunde später waren zwei blaue Augen auf das schlafende Pärchen gerichtet. Tom starrte auf die beiden herab und kämpfte mit seinen sich widerstreitenden Gefühlen. Er war noch nie in diesem Zimmer gewesen, obwohl er wusste, dass es existierte. Sein Vater hatte es immer verschlossen gehalten, und weder er noch Lina waren jemals in Versuchung geraten, das verbotene Refugium zu betreten. Ihm war es plötzlich, als sei es entweiht.
Traurig wandte er sich ab und schaute sich um. Er bemühte sich, leise zu sein, um sie nicht zu wecken. Sein Blick fiel auf ein großes Porträt seiner Mutter. Eigentlich war es nicht für seine Augen gedacht, doch es war schön. Offenbar hatte sie für seinen Vater posiert.
Sie war in einen langen, weißen Schleier gewandet. Nackte Haut schimmerte durch das zarte Gewebe, das ihren Körper genau an den richtigen Stellen verhüllte. Dennoch strahlte es Sinnlichkeit aus, und Tom fragte sich, was die Wände wohl erzählen würden, wenn sie könnten.
Ein leises Murmeln schreckte ihn auf, und der Junge warf einen Blick über die Schulter. Alexa hatte die Bettdecke zwischen die Beine geklemmt und lag vor ihm, wie Gott sie schuf. Tom grinste verschmitzt und dachte an die Frage, die er ihr gestellt hatte. Nun wusste er es.
Er wich leise in eine Ecke zurück und betrachtete sie. Sein Vater hatte einen guten Geschmack, gestand er sich widerwillig ein. Alexa war wunderschön, wennauch etwas jung. Automatisch fragte er sich, wie Tamara wohl mit langen Haaren aussähe. Und nackt.
Er vergewisserte sich mit einem kurzen Blick, dass Alexa nicht aufgewacht war, und streifte weiter durch den verwinkelten Raum. Noch immer klang Sitarmusik aus den Lautsprecherboxen. Tom schüttelte sich angewidert. ‚Das ist keine Musik nach meinem Geschmack’, dachte er, ‚doch irgendwie passt sie hier rein.’ Verärgert über sich selbst kämpfte er gegen die Vorstellung an, wie die beiden es trieben.
Schließlich fiel sein Blick durch Zufall auf drei Rosenstöcke an einer Wand. Zwei davon blühten üppig in silber und rot, doch einer davon sah im Dämmerlicht des Lüsters aus wie geköpft. Ein Schauer überlief seinen Rücken, als er die verdorrten Dornen musterte.
Es war ihm, als hätte irgendeine willkürliche Macht ein Rosenleben zerstört. Ihm fielen die Schlagzeilen ein. ‚Der Rosenkiller …’
Angst übermannte ihn. Wer hatte Zutritt in dieses Haus? Dass sein Vater etwas damit zu tun haben könnte, der Gedanke kam ihm nicht eine Sekunde.
Tom trat aus der Ecke heraus und vergewisserte sich, dass Frank und Alexa nicht aufgewacht waren.
Schnell kniff sie die Augen zusammen und stellte sich schlafend. Ein kribbelndes Gefühl und leise Schritte – fast wie im Traum – hatten Alexa geweckt, und zuerst hatte sie sich gefürchtet.
Bei seinem Anblick war sie beruhigt. Nun war sie neugierig, was er tat, und vor Allem: Was Tom hier wollte.
Alexa grinste in sich hinein. Sein schwarzer Schlafanzug mit Totenkopf-Karikaturen war einfach zu drollig. Sie beobachtete ihn, während er herumwanderte wie ein Geist in der Nacht. Sein Gesicht sah angespannt aus, und sie meinte, Furcht darin lesen zu können. Tom strich an den Wänden entlang und schien ein Problem mit den Rosen seiner Mutter zu haben. ‚Na ja, das habe ich auch’, dachte sie ironisch. ‚Aber was hat Tom damit vor?’
Plötzlich war er in einer Nische verschwunden. Sie hörte und sah lange Zeit nichts mehr von ihm.
Als er wieder hervor kam, erschrak sie bei seinem Anblick. Seine Augen waren panisch weit aufgerissen, und er stürzte ohne den Versuch, leise zu sein, an ihr vorbei. Dann hörte sie seine trappelnden Schritte über sich auf der Treppe, ein lautes Türenknallen, und es war wieder still.
Mit klopfendem Herzen drehte sich Alexa auf den Rücken und starrte zur Zimmerdecke hinauf. ‚Was war das?’, fragte sie sich. Sie wandte ihren Kopf nach links und musterte Franks Gesicht. Seine Augen waren geschlossen, und seine ruhigen Atemzüge sagten ihr, dass er nicht aufgewacht war. Das wunderte sie allerdings nicht: Er schlug sich manche Nacht um die Ohren und war wohl ziemlich erschöpft.
Alexa beschloss, ihn schlafen zu lassen und selbst nachzusehen. Vorsichtig warf sie die Decke zur Seite und schwang ihre Beine aus dem Bett. Dann schlich sie in dieselbe Ecke, aus der sie Tom kommen sah. Was hatte ihn dort so erschreckt?
Auf den ersten Blick konnte sie nichts Außergewöhnliches entdecken. Ein antiker Schreibtisch aus Nussbaum stand dort, verziert mit Intarsien. Ein kleines Beipult stand auf der Tischfläche. Ein aufgeschlagener Lederband mit einem goldenen Schloss lag darauf, daneben ein Tintenfass mit einer Feder. ‚Das hat Stil’, dachte sie. ‚Und das ist typisch für ihn.’
Sie vermutete, dass das Buch ein Tagebuch war und wollte sich schon wieder abwenden, als ihr die eingerissene Seite auffiel. Alles in ihr drängte sie, Diskretion walten zu lassen und Franks Geheimnisse nicht zu enttarnen. Doch dann fielen ihr die weit aufgerissenen Augen von Tom wieder ein. Wie in Zeitlupe griff sie nach dem Buch, betrachtete den schwarzen Ledereinband mit einer stilisierten Rose darauf. Dann schlug sie es auf.
Als sie die ersten Worte las, weiteten sich ihre Augen voller Entsetzen. Alexa fragte sich, ob Frank seine Träume festhielt, doch irgendwie klang es zu sehr nach Realität. So, als ob er die verarbeiteten Situationen tatsächlich erlebte und sie dann nicht einordnen konnte.
Alexa vergaß die Zeit und alles um sich herum, durchblätterte das Buch von vorn bis hinten, analysierte, überlegte und stellte sich selbst vor die Wahl, etwas zu unternehmen. Voller Bangen dachte sie darüber nach, was sie tun sollte, wenn es tatsächlich so war. Sie liebte Frank und wollte ihn nicht verlieren. „Lieber Gott, mach, dass er das alles nur träumt“, flüsterte sie. Schließlich kam sie zu dem Eintrag der letzten Nacht. ‚Deshalb verschwindet er ständig im Keller’, sinnierte Alexa mit klopfendem Herzen. Ein kühler Hauch erinnerte sie daran, dass sie nackt war. Im Kamin war das Feuer erloschen.
Er näherte sich ihr mit fast unhörbaren Schritten. Alexa schwankte zwischen Angst und Besorgnis um ihn, doch nach wie vor war ihr Herz voller Liebe.
„Nun hast du mein letztes Geheimnis gefunden“, hörte sie sein Flüstern in ihrem Ohr.
Plötzlich wurde ihr einiges klar. Verzweifelt fühlte sie seine unerbittlichen Hände an ihrem Hals und erwartete jeden Moment die Schwärze der Nacht. Als sein Griff fester und fester wurde, sackte sie mit einem Keuchen in seinen Armen zusammen und wagte es nicht mehr, zu hoffen ...
***
Sina Katzlach
Buchtitel, Geschichten-Konzept, Inspiration
Regieführung und Aufgabenverteilung
Rollenaufbau Frank und Tom Mittnacht
Polizei-Apparat, Schauplatzgestaltung
Jenna Killby
Rollenaufbau Maja Berger und Marco Meier
Geschichtenführung, Kapitelbestückung
H.N. Parder
Rollenaufbau Alexa Winter, Sebastian Tränkle
Geschichtenführung, Kapitelbestückung
Shadow Light Peppenbach
Schauplatzgestaltung: Rosenzimmer,
Frank Mittnachts Haus
Die Autorengemeinschaft „Sina Katzlach and Authors“ besteht aus Jenna Killby, H.N.Parder, Shadow Light Peppenbach – und eben: Sina Katzlach, die Erschafferin und Ideengeberin des vorliegenden Projekts. Entstanden ist sie im September 2014, zur selben Zeit, als auch die Arbeit an dem vorliegenden Projekt begann.
Jenna Killby ist eine junge Autorin, die sich in mehreren Genres versucht. So wie alle Autoren, die an „Das Mord-Projekt“ mitgewirkt haben, veröffentlicht sie über BookRix, meistens kostenlos. Jenna ist das harmonische Glied in der Kette, mit viel Familiensinn, etwas verträumt. Sie liebt es, detailgetreu Geschichten wiederzugeben und zieht zu diesem Zweck viel Inspiration aus dem Leben. Eine Kostprobe ihres literarischen Charakters findet man vor Allem im Kapitel „Fahrt in den Tod“. Darin schickt sie die Frau unseres Hauptakteurs Kommissar Mittnacht und deren beider Kinder aufs Land. Dass die Rückfahrt tragisch ausgeht: Dafür kann sie nichts!
H.N.Parder wiederum steht für ein außergewöhnliches Talent. In ihren jungen Jahren – was sie vermutlich nicht gern hört – weist sie schon eine überdurchschnittliche literarische Reife auf. Wer ihre Bücher „Rain“ und „Der Mann, der im Regen tanzt“ kennt, wird dies bestätigen, und auch das Kapitel „Bittere Wahrheit“ in diesem Buch trägt ihre Handschrift. Ohne ihren maßgeblichen Anteil wäre „Das Mord-Projekt“ ganz anders geworden.
Shadow Light Peppenbach ist der verspielte Part unserer AG und bestrebt, ihren literarischen Weg noch zu finden. Bei der Arbeit an unserem Projekt war sie die Innen-Architektin. Sie hat sozusagen Frank Mittnacht und seiner Familie das Haus eingerichtet, und zu guter Letzt auch das Rosenzimmer vom letzten Kapitel.
Das Urgestein der Autorengemeinschaft wiederum – ja, das bin ich. Sina Katzlach ist ein Pseudonym, und das soll auch so bleiben.
Mein Part am Projekt: Siehe Autorenverzeichnis.
Geht es weiter?
Ein halbes Jahr haben wir gebraucht, um „Das Mordprojekt“ mit über 500 Seiten Umfang aus dem Boden zu stampfen. Im vorliegenden Band wird die Geschichte von Maja Berger und Marco Meier erzählt, und natürlich von Kommissar Mittnacht und seinem Umfeld.
Wie es dem Einen oder Anderen bestimmt aufgefallen ist, schlummern im Hintergrund noch wesentlich mehr Geschichten, in unserem speziellen Fach-Jargon „Augenzeugen-Kapitel“ genannt. Da sie beileibe nicht alle unterzubekommen waren, wird es Fortsetzungen geben.
Ob die Hauptprotas wieder dabei sein werden und was mit ihnen geschah: Nun, das bleibt offen, um niemanden die Überraschung zu verderben, wenn es soweit ist. Wir bedanken uns bei unseren Lesern und hoffen, Ihr hattet Spaß.
Herzlichst,
Sina Katzlach and Authors
Texte: Sina Katzlach and Authors
Bildmaterialien: Sina Katzlach & Herbert Kröll
Lektorat: Sina Katzlach
Tag der Veröffentlichung: 21.04.2015
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