Cover: Sina Katzlach
Bildquelle: Pixabay
Text: Sina Katzlach
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Sturmnacht-Melodie
Fantasy-Roman
von Sina Katzlach
Gewidmet:
der Kakophonie des Blutes
Schreien geschundener Leiber
Gitarren des Todes
Kinder-Armeen
der Erde in Ketten
versteinerten Herzen:
zarte Klänge der Liebe
goldener Saiten
siegen!
Vorwort
Roter Spaten
Gedicht von Florian Tekautz
Der kleine Rekrut
Das verlorene Paradies
Zwischen Zeiten
Cedar Rapids
Dimensionen der Hoffnung
Nostalgiewelten
Schwarze Rose des Orients
Engelsmagie
Verloren
Eine ägyptische Farce
Zeitungsartikel
Schatten der Vergangenheit
Sturmnacht-Melodie
Engelshaarlegenden
Namenlos
Gedicht von Florian Tekautz
Wabun Anung
Der seinen Namen sucht ...
Gefunden
Heimkehr
Nur eine Legende?
Zeitungsartikel
Edens Klagelied
Blutkarneval
Schlafende Hunde
Erwachen
Echo der Gewalt
Sternenreise
Gedicht von Enya Kummer
Bekenntnisse
Schwarzer Schmetterling
Gedicht von Florian Tekautz
Flügel der Nacht
Mysterium
Zeitungsartikel
Shawnee
Leerraum
In Stein gemeißelt
Gedicht von Enya Kummer
Steinewigkeit
Schneewelten
Tauwetter in der Sowjetunion?
Zeitungsartikel
Flagge der Freiheit
***
Schauplatz und Akteure
Danksagung
Vita
~ Nord ~
Die Nacht war ruhig – gespenstisch ruhig. Es war eine ungute Stille, die in all ihrer Dunkelheit Raum für böse Gedanken barg. Obwohl Vollmond war, hatte es nur selten derart finstere Nächte gegeben. Väterchen Lampe hielt sein gütig leuchtendes Antlitz hinter hoch aufgetürmten Wolkenbergen verborgen.
Hin und wieder segelten vereinzelte Wölkchen wie verirrte Schafe aus der Herde davon und rissen kleine Luken in Bauschgebirge. Sterne blinkten vorsichtig hervor, als ob sie sich fürchteten, in vollem Glanz zu erstrahlen.
Die Nachtschwärze verschluckte das leichte Säuseln des Windes – und die Ruhe auf Erden wirkte geräuschlos.
Die Zeit stand still!
Auf den Kriegsfeldern der Welt lagen vermummte Gestalten als die Saat von Habgier und Macht in schlammigen, stinkenden Gräben und versuchten, zu schlafen; wohl wissend, dass jede Sekunde die letzte sein könnte. Blutlachen tränkten die Erde, Kadaver von Tieren und Gliedmaßen verstümmelter Körper lagen vereinzelt zwischen niedergetrampelten Gräsern und zerstörten Mauern der nahen, einstmals blühenden Städte. Eine Schlachtstätte des Hasses sah wie die andere aus – und sie zogen sich quer über ein Viertel der Erde. Noch immer lohten vereinzelte Feuer gen Himmel, noch immer lag der Schmauch todbringender Waffen über dem Land. Es war, als hätte das Herz der Erde aufgehört, zu schlagen und dem Tod Vorrang gegeben.
Und die Nacht schien kein Ende zu nehmen!
~ Ost ~
Auf einer anderen Seite der Erde stahlen sich glühend rote Strahlen wie leuchtende Finger über fahlgelben Sand und kündeten den erwachenden Morgen. Stählerne Riesengerippe ragten hoch hinauf in einen blassen Himmel, der wolkenlos war. Dort, wo die Sonne den Boden küsste, wirkte die Wüste wie von Blut übergossen. Die Hitze ließ bereits jetzt die Luft flimmern, sodass ein beängstigendes Szenario entstand. Kein Mensch war zu sehen, nur vereinzelt zeugten Reifenspuren von einstiger Betriebsamkeit der verlassenen Stätten. Schwarze Lachen glänzten im Licht. An dieser Stelle war der Lebenssaft der Erde versiegt. Der Run der Menschheit auf die letzten Ressourcen hatte längst begonnen und ließ trostlose Trauerstätten erstehen.
Zurück blieb vergessene Wüstenei, menschenleer und voller Einsamkeit. Kein Platz für Leben, ja, nicht einmal der Tod fand hier Nahrung. Verrostete alte Maschinen hatten eine stumme Herrschaft angenommen und starrten wie anklagend gen Himmel. Bis auch sie ihr Grab auf immer und ewig im bleichen Sand der Vergessenheit fänden.
~ Süd-Ost ~
Die Uhrzeiger der Ewigkeit rückten mit dem Sonnenlicht weiter und reisten um das nächste Viertel der Welt. Hohe Türme aus Stahl und aus Glas wachten über den Moloch der Macht. Weit unter ihnen pulsierte das Leben. Ameisen gleich wälzten sich Unsummen verschiedenartigster Fahrzeuge durch enge, staubige Straßen. Sirenen schrillten, Hupen ertönten und vermischten sich mit dem eintönigen Brummen von Motoren zu einer ohrenbetäubenden Kakophonie. Die Schulglocken hatten längst schon ihre kleinen Rekruten einberufen und sicher in den Klassenzimmern verwahrt. Vereinzelt standen an den Bushaltestellen noch Kinder, die Rücken niedergebeugt unter der Last des Wissens, in Büchern und Tornistern verpackt.
Ihre Antlitze waren fern jeglicher Unschuld und Kindlichkeit. Das Streben nach Macht und Reichtum fordert auch bei der jüngsten Generation Pflicht und Schuldigkeit ein.
~ West ~
Im letzten Viertel der Erde senkte sich der Abend über die Dächer. Noch hatte das Sonnenlicht Kraft und besiegelte mit rotgoldenen Strahlen einen herrlichen Tag. Kinderlachen ertönte wie Musik in den Hinterhöfen kleiner Städte und Dörfer, Hunde bellten gegen das melodische Geläute von Kirchglocken an.
Die eine oder andere Frauenstimme rief mütterlich mahnend den Nachwuchs nach Hause, Väter kehrten nach erledigtem Tagwerk an den heimischen Herd zurück und erwarteten ungeduldig das Abendbrot.
Hier schien die Welt noch in Ordnung zu sein. Armut versteckt sich jedoch hinter verschlossenen Türen und birgt das Antlitz der Verzweiflung hinter angststarren Masken. Und die Erde dreht sich – von Tag zu Nacht, von Nacht zu Tag, fortwährend, unermüdlich, unbekümmert ob der Menschen, die darauf leben. Ein kleines Mädchen dreht sich mit ihr und lebt in einer anderen Welt. Und sie träumt einen Traum – von morgens bis abends; danach strebend, dass er sich erfüllt. Ihre Welt ist ihr Zimmer, voll von Spielwaren und Büchern, unberührt von ihren Händen.
Ihr Blick ist oftmals in die Leere gerichtet, die Stimmen der Eltern verhallen im Nichts. Sie sieht nicht die verzweifelte Miene der Mutter und den ratlosen Blick ihres Vaters. Ihrem Auge offenbaren sich andere Bilder. Diese jedoch bleiben der Außenwelt verborgen, weil das Mädchen sie gut in ihrer gefangenen Seele verwahrt. Ihr Name ist ... Eden!
Vom Krankenbett ein Schweigen
Vom Totenbett ein Schreien
Soldatenhand im Griff nach Ruhm
Um Kinderblut was anzutun
Aus der Erde steigen Geister
Tanzen mit verlorenen Seelen
Und die Engel steigen auf
Um die Hölle anzusehen
Herrscher, pack die Hosen ein
Im trüben Sumpf gilt es zu waten
Der Heimatsohn im Flusse spült
Gewissen mit dem roten Spaten
© Florian Tekautz
~ Khalil ~
Eine Schule hatte er niemals besucht, und doch barg seine kleine Kinderseele mehr Weisheit und Wissen als der Geist eines Professors. Seine Augen hatten schon so viel Grauen gesehen, seine kleinen Hände unzählige Morde verübt. Er wurde als Krieger geboren, zum Töten erzogen.
Sein erstes Spielzeug – zum fünften Geburtstag – war eine Schrotflinte gewesen. Die ersten zwei Jahre in seinem Besitz barg das Magazin noch kleine Plastikkügelchen. Mit ihr hatte er seine ersten Zielversuche gemacht, während seine beiden älteren Brüder bereits auf den großen Schlachtfeldern mitmischten.
Eine Wahl hatte er niemals gehabt. Mit zehn Jahren wurde er rekrutiert. An der Seite des Vaters bestieg er die Ladefläche eines Pritschenwagens und begab sich mit zwanzig anderen Soldaten ins Ungewisse. Die Mutter sah er weinend am Straßenrand, sein Herz pochte angstvoll in seiner Brust. Überlaut drangen grausam freudentrunkene Schlachtrufe der künftigen Kameraden an sein Gehör.
Er jedoch hätte am liebsten geweint. Die Anwesenheit des Vaters hingegen ließ seine Miene nur zu einer unbewegten Maske erstarren. Schwäche war ihm nicht gestattet.
So fuhren sie durch die Stadt, von vereinzelten Mündungsfeuern aus Hauseingängen begleitet. Der Krieg zeigte bereits sein grausames Gesicht. Aus der Ferne hörte er das laute Mahlen von Panzerketten, die sich Millimeter um Millimeter durch das trockene Gelände fraßen.
Die staubige Plane der Pritsche hielt der glühenden Sonne kaum stand und verwandelte das Innere des Lasters in einen schweißstinkenden Brutofen.
Das monotone Brummen des Motors versetzte den Jungen in stumpfsinniges Grübeln. Die Fahrt erschien ihm wie eine Reise zur Ewigkeit. Angst würde von jetzt an sein ständiger Begleiter sein. Sie half Khalil Sherman, zu überleben.
~ Eden ~
Kinder bergen manch Wissen in ihren kleinen Seelen, doch sollte Wissen nicht schmerzhaft sein. Mit ihren wachen Augen sehen sie die Dinge, die um sie herum geschehen und verarbeiten sie auf ihre ureigenste Weise. Der Zauber in ihren kleinen Herzen ist so alt wie die Welt und geht im Verlauf ihres weiteren Lebens oftmals verloren.
Eden barg die Geheimnisse eines anderen Menschen in sich, sie sah mit fremden Augen und erlebte Visionen, die ihren Eltern verborgen blieben. Träume waren es nicht, vielmehr erlebte sie den Schrecken dieser anderen Welt mit jeder Faser ihrer verwundbaren Seele fast plastisch.
Wie alles begann:
Eden war das einzige Kind von Rahel und Gabriel Abel und lebte mit ihren Eltern in einer idyllischen Kleinstadt. Die ersten fünf Lebensjahre verliefen völlig normal, nichts wies darauf hin, dass sich die Kleine anders als andere Kinder entwickeln könnte.
Rahel und Gabriel gaben ihr alles an Liebe, was sie zu geben hatten, war sie doch das lang ersehnte Wunschkind, welches ihnen viele Jahre versagt geblieben war. Niemand hätte damit gerechnet, dass Rahel nach diagnostizierter Sterilität schwanger werden könnte. Edens Eltern waren nicht mehr ganz jung, als eine Änderung im Hormonhaushalt der Mutter eintrat. Ein Arztbesuch brachte es ans Licht: Rahels Uterus barg ein kindskopfgroßes Myom. Der Verdacht auf Gebärmutterkrebs lag nahe.
Eile war angesagt. In der städtischen Klinik von Crawfordsville/Indiana wurde der Tumor schließlich entfernt, und zwei Monate später wurde Rahel nach langwierigen Nachuntersuchungen entlassen.
Dr. Sanders - der Chefarzt der Klinik - empfahl dem Ehepaar, Rahels geschwächten Gesundheit zuliebe der Stadt den Rücken zu kehren und aufs Land zu ziehen, um Ruhe zu finden. Ein halbes Jahr später hatte Gabriel ein kleines Häuschen gefunden, das ihren Ansprüchen genügte. Also verließen sie den Platz, der von Kindheit an ihre Heimat gewesen war und zogen in einen anderen Staat.
Cedar Rapids in Oklahoma war ein kleiner Ort, von dem sie sich erhofften, dass er dem vom Schicksal gebeutelten Ehepaar Frieden und Gesundheit bescherte.
Der Rat des erfahrenen Arztes erwies sich schlussendlich als Goldeswert: Rahel erholte sich gut. Gabriel pflegte sie aufopfernd und liebevoll. Nachdem sie wieder genesen war, folgten Jahre voller Glück – und diese trugen Früchte, als Rahel und Gabriel Abel ein Alter erreichten, wo mit einer Elternschaft allgemeinhin kaum noch zu rechnen war. Als Eden zur Welt kam, hatte die Mutter ein halbes Jahrhundert knapp überschritten, und Gabriel stand an der Schwelle zum Greisenalter. Nichtsdestotrotz meisterten sie diesen neuen Lebensabschnitt voller Hingabe an das neue Leben, das wie durch ein Wunder problemlos zur Welt kam.
Somit krönte die kleine Tochter ein langes Eheleben voller Liebe, Ehrfurcht und Respekt voreinander. Das Ehepaar Abel vermeinte, im siebten Himmel zu schweben und versäumte nicht, jeden Abend betend zu danken. Die braven Christen gaben all ihre Herzensgüte an das geliebte Wesen weiter und hofften, dass diese in fernen Tagen in Eden weiterleben würde. Die ersten fünf Jahre ihres Lebens entwickelte sich denn auch das Mädchen vollkommen normal. Doch dann schlug das Schicksal der Familie gnadenlos zu!
~ Khalil ~
Die Kindheit wurde dem kleinen Rekruten beizeiten genommen. Seine Kinderseele reifte auf den Blutfeldern der Macht im Zeitraffer heran, während er den Körper eines Knaben behielt.
Mit mittlerweile elf Jahren fühlte Khalil Sherman sich als alter Mann und wollte nur noch eines: Dem Schrecken des Kriegs und seinen Kameraden entfliehen und einen Ort finden, an dem er zur Ruhe käme. Stattdessen musste er mit seiner Division ziehen, von Front zu Front, an der Seite des Vaters, der ihn unermüdlich zu Bestleistungen trieb.
Die Grausamkeit seiner eigenen Taten war ihm noch immer bewusst. Mit jedem Tag hingegen, den er gezwungen wurde, einem Feind gegenüberzutreten, den er selbst nicht als solchen identifizierte, wurde es leichter, den letzten tödlichen Streich auszuführen.
Sein Herz war mit Abscheu erfüllt, vor sich selbst, vor den Kameraden, vor seinem Vater. In Khalil wuchs der feste Entschluss, zu desertieren, ganz gleich, was darauf folgte.
Die Konsequenzen waren Khalil durchaus bewusst. Der sichere Tod seiner selbst hingegen schreckte ihn nicht, er sah ihm ohnehin von morgens bis abends ins Auge. Er selbst wollte indessen kein Todesbote mehr sein, wollte es nie. Das Schicksal ließ ihm jedoch keine andere Wahl, um zu überleben.
Khalil wartete auf seine Chance, doch die Augen des Vaters – der zu seiner Schmach Scharführer war – blieben wachsam. Er erkannte den Fanatismus in ihm, sah, wie leicht es ihm fiel, Todesurteile zu fällen und wusste: Niemals wollte er selbst so werden wie Abdullah Sherman.
~ Eden ~
Weltweit rieselten die blutigen Bilder des Libanon-Kriegs durch die Medien. Längst hatten sie jeglichen Schrecken verloren. Der Nahe Osten deuchte vielen wie eine andere Ära, eine andere Dimension, die den Rest der Menschheit unberührt ließ.
Familie Abel verzichtete weitestgehend auf Mediengebrauch. TV und Internet waren ihnen zeit ihres Lebens unheimlich geblieben. Alles, was sie sich erlaubten, waren ältere Tageszeitungen und Radio. Beides war nach Edens Geburt kaum in Gebrauch und eher per Zufall in ihrem Haushalt. Sogar der Verfolgung aktueller Tagesnachrichten entzogen sie sich, um ihre Tochter so unbeschwert wie möglich aufwachsen lassen zu können. Sie schufen sich ihr Paradies.
Als Eden fünf Jahre alt war, verknüpfte sich ihr Schicksal untrennbar mit Khalils weiterem Lebensweg und stürzte das Glück der Eltern in ein namenloses Nichts voller Grauen. Der Geist ihrer Tochter verdunkelte sich und zog sich zurück in jene andere Welt, zu der weder Wort noch Tat von Rahel und Gabriel Abel jemals Zugang bekamen. Ungeschützt wurden sie vor vollendete Tatsachen gestellt. Nichts konnte Eden mehr retten.
Es begann alles ganz harmlos! "Machen wir am Wochenende eine kleine Wandertour nach Cedar Village? Eden würde sich ganz bestimmt freuen", fragte Rahel am Frühstückstisch.
“Das ist eine vorzügliche Idee”, stimmte Gabriel seiner Frau zu und gab ihr einen Nasenstüber.
Rahel streichelte ihm zärtlich über die Wange und genoss das kratzende Gefühl. "Du hast dich noch nicht rasiert. Das Wetter wäre jedenfalls für einen Ausflug wie prädestiniert. Zeigen wir Eden ihren Geburtsort, und dann machen wir ein Picknick am Rapid's Lake."
Sie drehte sich herum und übersah die Kanne, die nahe am Tischrand stand. Das Porzellan fiel herunter, wobei es scheppernd in tausend Einzelteile zersprang. Erschrocken schaute sie auf den Boden und rief: “Jetzt ist das Hochzeitsgeschenk meiner Mutter hinüber!"
Rahel brach in Tränen aus. Gabriel umarmte seine Frau liebevoll und versuchte, sie abzulenken. “Und wenn schon! Die Hauptsache ist doch, dass sich niemand schneidet, findest du nicht?"
Sie war nicht zu beruhigen: "Ja, aber die Kanne war ein teures Einzelstück. Meine Mutter würde sich im Grab umdrehen, wenn sie es wüsste."
Gabriel zuckte hilflos die Schultern. Von dem Lärm angelockt erschien Eden und kletterte auf seinen Schoß. “Was ist passiert, Daddy?”, fragte sie. Er drückte sie an sich und antwortete schmunzelnd: "Nichts weiter. Deine Mom war nur tollpatschig und hat die Kaffeekanne von Grandma zerdeppert. Und nun ist sie traurig."
Eden zog eine Schnute und blickte abschätzend über den Tisch. Schließlich sah sie Gabriel tief in die Augen und sagte: "Sie darf nicht traurig sein. Ich schau mal, ob ich Mommy trösten kann."
Der Schalk blitzte ihr nur so aus den Augen, und Gabriel wurde es warm ums Herz. Er drückte ihr einen herzhaft schallenden Kuss auf die Wange und sprach zu der Kleinen: "So machen wir es! Du tröstest Mom, und ich putze die Scherben und den Kaffeeteich weg. Ist das ein Deal?"
Eden juchzte, als sie einen scherzhaften Klaps auf ihrem Po spürte und rannte von dannen. An der Tür drehte sie sich noch einmal um und rief: "Ich komme gleich wieder, Mommy. Muss erst etwas holen."
Sie fegte hinaus. Ein paar Minuten später war der Wirbelwind auch schon wieder da und kam mit einer Papierrolle in der Hand zum Frühstückstisch.
Wo auch immer Eden die ganz herkömmliche Tageszeitung her hatte (eigentlich war diese auch schon mehrere Wochen alt): Mit zierlichen Schritten kam sie angetrippelt, warf sich bäuchlings Rahel über den Schoß und streckte sie ihr triumphierend entgegen.
Eden machte sich einen Spaß daraus, mit der zusammengerollten Zeitung auf den Tisch zu hauen, als Rahel versuchte, sie ihr abzunehmen. Ihre Tränen versiegten, und Eden wiederholte das Spiel. "Da, Mommy“, sagte sie kichernd, kitzelte die Mutter damit im Gesicht und entzog ihr immer wieder die Hand, wenn sie erneut danach griff.
"Eden!", mahnte Rahel lachend. "Hörst du wohl auf?" Es war ein drolliges Spiel, sehr zu ihrer Freude. Eden kam jedoch auf die Idee, die Zeitung aufzurollen und zu Boden zu werfen. Wie in Zeitlupe flatterte das Papier rauschend und knisternd zu Boden und landete dort schließlich mit der ersten Seite nach oben.
Ein aufrüttelndes Foto starrte anklagend Rahels und Gabriels entsetzten Augen entgegen: Es zeigte einen Soldaten mit einem Jungen, der nicht viel älter als Eden sein konnte. Auch der Junge trug Uniform, und der Hintergrund zeugte von einem Kriegsgebiet.
Das Foto war nur in Schwarz-Weiß aufgenommen worden und nahm die halbe Zeitungsseite in Anspruch. Obwohl die Aufnahme recht pixelig war – oder gerade deswegen - barg das Bild eine Intensität in sich, der sich niemand ohne eine gewisse Kaltherzigkeit oder Abgebrühtheit entziehen hätte können.
Der Mimik der aufgenommenen Personen konnte man eine Geschichte entnehmen, die alles Andere als erzählenswert war. Zu Füßen der beiden ungleichen Soldaten lagen mehrere undefinierbare Objekte, doch sah man genauer hin, musste man zwangsläufig die Wahrheit erahnen: Der Krieg hatte seine Opfer gefunden.
Das Gesicht des Jungen zeigte Abscheu, Ekel und Schock, und er schien gegen seinen Willen zu etwas gezwungen worden zu sein. In seinen Händen hielt er ein Maschinengewehr, und nun konnte man auch mehrere Einschusslöcher in den Körpern der blutüberströmten Leichen erkennen.
An der Halterung der MG war eine große Hand zu erkennen, die Druck auf die Todeswaffe ausübte. Deren schwarz gähnende Mündung war auf die leblosen Körper gerichtet.
Die Augen des kleinen Soldaten starrten weit aufgerissen in die Kamera – und direkt in die Augen von Eden. Es war ein Foto von Khalil und Abdullah Sherman, in jenen Tagen, als der unselige Bürgerkrieg nahe der syrischen Grenze begann und alles, was kreuchte und fleuchte, mit einbezog.
~ Khalil ~
Wann hatte alles begonnen? Wo war der Anfang, wann kam das Ende? All jene Fragen um Reichtum und Macht, den Weg des Blutes, die trügerische Ehre zu „dienen“, würden sie jemals Antworten finden? Die Maschinerie des Krieges fordert ihren Tribut und bewegt sich rund um die Erde. Längst schon sind auch Menschen zu Maschinen geworden, gefühllose Roboter mit einem sinnlosen Tötungsbefehl. Doch kaum beginnt jemand Fragen zu stellen, bevor sie seine Seele zerstören, wird selbst der eigene Bruder zum Feind. Und sei es nicht der Bruder im Sinne einer Familie, so ist es doch der Blutsbruder vom Anbeginn aller Zeit.
So fragte sich auch Khalil alsbald, was der Vater wohl täte, wenn er nicht gehorchte. Würde er ihn erschießen, so wie all jene, die aus dem Lauf seines Gewehrs die letzte Ölung erhielten? Oft schon hatte er das kalte Glitzern in Abdullah Shermans Augen gesehen, bevor sein Zeigefinger sich krümmte, um den Abzug zu ziehen.
In jenen Momenten lief ihm ein Schauder über den Rücken, und er fürchtete den eigenen Vater. Dass Khalil gezwungen war, an seiner Seite zu kämpfen, rief Ekel vor dem eigenen Tun in ihm hervor. Oft verfluchte er seine eigene Schwäche, dass er es nicht schaffte, dem Bannkreis der Familientradition zu entkommen. Er war des Tötens so müde!
Manchmal war er es auch des Lebens. In solchen Momenten überlegte er sich, es darauf ankommen und sich erschießen zu lassen. Er wusste jedoch, dass es dabei nicht bliebe. Davor hatte er Angst!
Trotz der Greueltaten, die er jeden Tag sah, trotz seiner Jugend und trotz der wachsamen Augen desjenigen, der sein Erzeuger war und nicht nur das, war Khalils Widerspruchsgeist noch wach genug, um jene Fragen an das Leben zu stellen, die ihn davor bewahrten, zu sterben. Stellte er all dies, was um ihn herum tagtäglich geschah - all das Blut, das die Erde unter seinen Füßen ertränkte; all den Donner, welcher seine Ohren betäubte; das grauenvolle Antlitz des Kriegs - nicht mehr in Frage, dann wusste er: Selbst wenn er noch leben würde, wäre er tot. Doch hütete er seine Gedanken – sie laut auszusprechen würde grausamste Strafe bedeuten, eine Strafe, gegen die der Tod jeglichen Schrecken verlor. Oft genug hatte er selbst gesehen, was mit Kameraden, die versuchten, zu flüchten oder auch nur zu meutern, geschah. Deshalb bewahrte er sie als düsteres Geheimnis in seinem Herzen, wohl verschlossen wie in einem Schrein.
Was er nicht ahnte: Es gab ein Wesen, das seine quälenden Geheimnisse kannte. Eine geheimnisvolle Macht hatte sich vor nicht allzulanger Zeit seiner Seele bemächtigt und wirkte wie Balsam auf deren Wunden. Seitdem spürte Khalil ein Sehnen in sich, das weit über den Wunsch, dem Krieg zu entfliehen, hinaus ging. Es war, als befände sich ein Engel in seiner Nähe, um ihn vor allem Unbill zu beschützen.
~ Eden ~
Das Foto, das eine gesamte Familie in die Dunkelheit stürzte, war an den ersten Schreckensstationen von Khalil Sherman entstanden. Sein Schicksal war von jenem Unheil bringenden Tag an mit dem von Eden Abel verknüpft. Der Anblick des Jungen brannte sich in aller Klarheit in ihrem Gedächtnis ein.
Die Reaktion der Eltern erschreckte sie sehr. Schockstarr starrte Rahel zu Boden und führte die Hand erschrocken zum Mund. "Woher hast du diese Zeitung?", fragte sie fassungslos.
Gabriel reagierte am Schnellsten und legte seine Hand schützend über Edens Augen, um ihr den weiteren Anblick zu verwehren. "Schau da nicht hin!", fuhr er sie in barschem Ton an.
Insbesondere das Verhalten des Vaters ängstigte sie. Noch nie war Eden auch nur ein Hauch von Gewalt angetan worden. Nun jedoch presste sich eine starke, schwielige Hand auf ihr kleines Gesicht und sandte sie in die Nacht. Rasselnde Atemzüge stieben stoßweise durch die kleinen Lücken zwischen seinen Fingern hervor, gepaart mit dem Schluchzen von Rahel.
Eden fühlte sich schuldig, dass sie ihrer Mutter Schmerz zugefügt hatte, doch sie wusste nicht, warum. Sie empfand das Handeln ihres Vaters als Strafe. Die endgültigen Zusammenhänge erfasste sie erst, nachdem die Zeitung verschwunden war. Gabriels verzweifelte Blicke zu Rahel hin sah sie nicht, wohl aber hörte sie noch immer ihr Schluchzen und ein Rascheln, das zustande kam, als Rahel sich soweit gefasst hatte, um das gefährliche Schandmal vom Boden aufzuheben und außer Reichweite zu bringen.
Nachdem Gabriel die Hand von Edens Augen genommen hatte, nahm er das mittlerweile laut weinende Mädchen in den Arm. Verwirrt ließ sie den Blick schweifen. Soeben noch konnte sie durch das Küchenfenster ein kleines Feuer im Garten erkennen, das im Begriff war, zu erlöschen.
Schwarz verkohlte Papierfetzen und Aschereste stiegen wie Fledermäuse nach oben. In Edens Seele erklang ein markerschütternder Schrei, dessen Stimme sich nicht zuordnen ließ. Gabriel fühlte, wie sich ihr kleiner Körper in seinen Armen versteifte.
Rahel betrat den Raum und schrie laut auf, als sie das blasse Gesicht ihrer Tochter erblickte: Schaum stand vor ihren Lippen, und Edens Augen hatten sich regelrecht nach innen gekehrt, so dass nur noch das Weiße zu sehen war. Sie stieß blubbernde Laute aus, ihr Antlitz wirkte so starr wie eine Maske.
Angst und Entsetzen standen in Gabriels Augen. Er wusste sich sichtlich nicht mehr zu helfen. Rahel nahm all ihren Mut zusammen und schlug ihrer Tochter mit der flachen Hand ins Gesicht.
Eden kam wieder zu sich. Noch am selben Tag wurde sie nach Tulsa in die nächstgelegene psychiatrische Klinik gebracht. Im Brookhaven Hospital verblieb sie für lange Zeit und musste langwierige Untersuchungen erdulden. Von jenem Tag an war nichts mehr so, wie es gewesen war.
~ Khalil ~
Mittlerweile tobten die Schlachten im Nahen Osten seit Jahrzehnten. Waffenstillstand zwischen den Feindesparteien gab es nur selten, Frieden gar nie. Khalil und sein Vater gehörten zur Palestine Liberation Front (PLF) mit einer Truppen-Stärke von 5000 Kämpfern. Was ihnen an Waffen fehlte, um gegen einen übermächtigen Feind zu bestehen, wurde durch Kampfgeist, Grausamkeit und unbedingtem Gehorsam den Befehlshabern gegenüber wettgemacht. Ihre Aufgabe war, die Grenze zu unterminieren, sich auf die andere Seite in Feindesland vorzuarbeiten und dort unter der Bevölkerung für Unruhen zu sorgen. Dafür war ihnen jedes Mittel recht, und Gnade hatte ebensowenig Platz in ihren Reihen wie Menschlichkeit. Friedenszeiten zwischen den Ländern bedeuteten nichts.
Der kleinste Hauch genügte, um einen neuen Flächenbrand zu entfachen. War es ein Krieg zwischen Religionen, oder ging es um Macht? Niemand konnte dies mit Gewissheit behaupten, nur eines: Vereinbarungen wurden gebrochen. Die einzige Sprache, die beide Seiten verstanden, wurde von tödlichen Waffen gesprochen. Waren die Staatsmänner selbst bestrebt, Frieden zu schaffen, so wurde dies von Untergrund-Einheiten vereitelt.
Dass diese sich nicht aufs Kämpfen verstanden, hatte rein gar nichts zu heißen. Im Verlauf der Jahre knebelte ein Terrornetzwerk die Menschheit rund um den Globus. Mit jedem Anschlag begann alles von vorn, kein Land war vor der Grausamkeit der unzähligen Splittergruppen sicher. In diese kriegerische Zeit wurde Khalil Sherman geboren, nicht ahnend, welch Schicksal das zarte Baby eines Tages erwartet. Noch weniger wurde er nach seinem Willen gefragt!
~ Eden ~
Nachdem Eden die Klinik verlassen und wieder zuhause sein durfte, zog sie sich immer mehr in sich zurück. Sie sprach nicht mehr, aß nur noch unter Zwang. Oft war sie nicht zu bewegen, ihr Kinderzimmer zu verlassen und starrte dort mit entrücktem Blick in eine Ecke.
Kein Spielzeug, kein Bilderbuch konnte sie mehr erfreuen, keine noch so zarte Geste ihrer Eltern wurde von ihr bemerkt. Manchmal jedoch war es, als lausche Eden einer fernen Melodie, und dann stahl sich ein entrücktes Lächeln auf ihre Lippen.
In solchen Momenten schöpften Gabriel und Rahel Hoffnung, ihre Tochter wieder zurück zu gewinnen. Sie sprachen mit ihr, schenkten ihr neues Spielzeug, wichen Eden kaum noch von der Seite. Was auch immer die verzweifelten Eltern versuchten, um das Mädchen aus ihrer Lethargie zu erwecken: Ihre Hoffnung erfüllte sich nicht. Binnen eines Jahres hatte sich der Zustand von Eden verschlechtert. Mehrere Spezialisten wurden zu Rate gezogen. Auch wenn keiner von ihnen eine klare Diagnose abgeben wollte, wurde des Öfteren der Verdacht auf Autismus ausgesprochen. Wann immer jedoch die Abels von einem Foto als Auslöser sprachen, kamen die Ärzte kopfschüttelnd davon ab und erklärten das Ehepaar schlichtweg für verrückt. ... Auch sie waren ratlos!
Das 21. Jahrhundert brachte Gefühlskälte und Gottlosigkeit über die Welt, was nur Ungutes hervor bringen konnte. Es war eine Zeit der Extreme, schwankend zwischen Spaßgesellschaft und Gotteskriegern. Doch die Völker jenseits des Jordans waren scheinbar im alttestamentarischen Zeitalter stehen geblieben.
Brüderschaft gab es schon lange nicht mehr, oder hatte es so etwas überhaupt schon einmal wirklich gegeben?
Untereinander verbunden zu sein, füreinander einzustehen, Hand in Hand schlechte Zeiten zu überstehen - dafür waren wir Mensch. Zumindest dachten wir einmal, deshalb geschaffen worden zu sein, um über allen Dingen stehen zu können. Doch wo ist die Menschheit stattdessen gelandet?
Khalil war ein Opfer der Neuzeit, weil sein Vaterland an alten Zeiten festhielt. Der Westen übte sich in Oberflächlichkeit, moralische Werte gab es im Querschnitt durch eine technisierte Gesellschaft schon lang keine mehr. Zwar begehrte der Eine oder Andere dagegen auf und nahm dazu soziale Netzwerke zuhilfe, doch mehr als ein müdes Lächeln gedachte den mahnenden Stimmen kaum einer zu. Was Wunder also, dass das Sinnbild für das verlorene Paradies ein idealer Nährboden war?
Die Menschheit schafft sich ihre Gefängnisse selbst. Die Opfer, die wir Tag für Tag bringen, berühren uns nicht, solange es nicht die Eigenen sind. Schmerz-Empfinden, das Ja! Das ist etwas, was wir auch und überall kennen. Doch Schmerz-Nachempfinden? Das Nein! So werden Kinder leichtfertig geopfert, Tiere, Artgenossen.
Die Bestie Mensch! Eine Erscheinung der Neuzeit? Wohl kaum, denn stand es nicht bereits in der Bibel geschrieben?
~ Eden ~
Nachdenklich kratzte sich Dr. Sanders an der Nase. Er erinnerte sich noch gut an Rahel und Gabriel Abel. Nun hatte er seine ehemalige Patientin am anderen Ende der Leitung. Sie weinte. "Auf die Ferne kann ich nichts sagen, Mrs. Abel. Könnten Sie es einrichten, mit Eden in unsere Klinik zu kommen? Was sagen die Ärzte vor Ort?"
"In Tulsa neigen sie dazu, uns nicht zu glauben", vernahm er ihre Antwort. Rahel atmete schwer, und er spürte, dass sie kurz vor einem Zusammenbruch stand.
Im Hintergrund hörte er Schritte. Schließlich sprach Gabriel Abel ins Telefon: "Dr. Sanders? Sie haben meine Frau lange und erfolgreich behandelt, und wir hoffen sehr, dass Sie uns noch einmal einen Rat geben können. Der Zustand unserer Tochter wird von Tag zu Tag schlimmer."
"Wieviel Zeit ist seit Edens Zusammenbruch verstrichen?", fragte der Arzt. "Und was haben Sie bereits unternommen, um ihr zu helfen? Wurden Tests durchgeführt?"
Dr. Sanders war schon länger im Bilde. In den Medien war unlängst über den ungewöhnlichen Krankheitsverlauf von Eden Abel berichtet worden. Nun war er froh, dass das Ehepaar sich an ihn gewandt hatte und hoffte, etwas mehr zu erfahren.
Im Gegensatz zu seinen Kollegen nahm er die Informationen der beiden sehr ernst. Die Tendenz zur Diagnose "Autismus" war ihm bekannt, doch hatte er auch Stimmen vernommen, die eher falsche Erziehungsmaßnahmen der Abels hinter Edens Lethargie suchten. Umso mehr war er bestrebt, die Wahrheit zu finden, da er das Ehepaar als fromme Menschen kennen- und schätzengelernt hatte.
"Das sind viel Fragen auf einmal", antwortete Gabriel Abel. "Ich erinnere mich genau an den Tag, als Eden zusammenbrach. Es war der 11. Mai vor einem Jahr."
"Woher kommt es, dass Sie einen solch exakten Zeitpunkt angeben können?", wurde er daraufhin von Dr. Sanders gefragt. Gabriel zögerte. Er hatte die Reaktion verschiedenster Ärzte noch gut in Erinnerung, doch schließlich nahm er sich zusammen und erwiderte: "Wir hatten damals eine ältere Tageszeitung im Haus. Diese berichtete von einem Massaker in einer Flüchtlingssiedlung an der israelitischen Grenze, mit einem Foto zweier beteiligter Kämpfer. Eden sah es und begann zu hyperventilieren. Deshalb werde ich dieses Datum niemals vergessen."
"Ich möchte auf jeden Fall persönlich mit Ihnen sprechen", wiederholte Dr. Sanders noch einmal. "Es wäre schön, wenn Sie es bald einrichten könnten. Mir ist klar, dass Sie eine weite Reise auf sich nehmen müssen, um Eden bei uns untersuchen zu lassen. Ich denke aber, es wird sich lohnen. Ich hoffe, Sie haben nach wie vor Vertrauen zu mir."
"Und ob ich das habe!", betonte Gabriel im Brustton der Überzeugung. "Meine Frau und ich sind uns einig, dass wir viel zu lange damit gewartet haben, Sie zu kontaktieren. Wie geht es dann weiter?"
"Wir werden noch ein paar Tests in unserer neurologischen Abteilung mit Eden machen. Das dauert höchstens zwei Tage. Danach werde ich Ihnen einen Spezialisten empfehlen. Bitte bringen Sie alles an Unterlagen mit, was Sie haben und noch auftreiben können. Je mehr wir wissen, desto schneller können wir eine Therapie anstreben."
Wieder vernahm Dr. Sanders ein lautes Schluchzen im Hintergrund, doch Gabriel Abel klang schließlich erleichtert, als er vorschlug, so bald wie möglich zu kommen.
„Einstweilen setze ich mich mit Dr. Mendoza in Tulsa in Verbindung, um mit ihm weitere Schritte abzusprechen“, informierte Dr. Sanders sein Gegenüber. "Bis wann können Sie es einrichten, Eden zu bringen?“
"Geben Sie uns zwei Wochen“, bat Gabriel. "Meiner Frau geht es nicht gut, die Krankheit unserer Tochter nimmt sie sehr mit. Eden ist zudem in Cedar Village in ambulanter Behandlung. Wir müssen noch Termine wahrnehmen.“
"Gut, Mr. Abel. Geben Sie mir bitte noch einmal Ihre Frau an den Apparat?“ Dr. Sanders hörte ein Schnäuzen. Schließlich vernahm er trippelnde Schritte und ein leichtes Schnaufen. "Verzeihen Sie, Dr. Sanders“, sprach Rahel kurz darauf in den Hörer. "Ich habe kurzfristig die Fassung verloren. Was kann ich tun, um Eden zu helfen?“
"Im Moment sorge ich mich um Ihre Gesundheit, Mrs. Abel“, sprach er in besorgtem Ton. "Ihrer Tochter ist nicht geholfen, wenn Sie nicht auf sich achten und sich aufopfern. Legen Sie ein bisschen Pause ein, bevor Sie mit Ihrer Familie nach Crawfordsville reisen.“
"Wie stellen Sie sich das vor, Dr. Sanders?", fragte Rahel. "Eden braucht fast rund um die Uhr unsere Aufmerksamkeit, weil die Gefahr besteht, dass sie sich verletzt."
Der Arzt horchte auf. Es passte nicht zu dem, was er bisher über vergleichbare Fälle wusste. Also hakte er nach: "Eden verletzt sich selbst? Wie geht das vonstatten?"
Rahel begann wieder, zu weinen. Vor ihrem inneren Auge entstand das Bild jener Nacht, als sie Eden vor einem Spiegel gesehen hatte. Das Mädchen war zu jenem Zeitpunkt - wie fast immer - in sich gekehrt. Ihr Antlitz war schmerzverzerrt, die Augen blicklos.
Es war, als lebte sie in einer anderen Welt. Als Rahel besorgt hinter sie trat und an der Schulter berührte, schlug Eden um sich. Die meisten Hiebe galten ihr selbst, und Büschel von Haaren hielt sie in ihren Händen.
Aus ihrem Mund kamen seltsame Laute, sie wirkten fast wie eine fremde Sprache. Würde Dr. Sanders das glauben? Verzweifelt zögerte Rahel und schwieg.
"Mrs. Abel?", riss sie die fragende Stimme des Arztes aus ihren Gedanken. Was sollte sie ihm jetzt sagen? Würde er sie nicht genauso als sonderbar und zu fantasievoll bezeichnen, so wie seine Kollegen?
Eine Antwort erübrigte sich, denn plötzlich erklang ein Schrei aus Edens Zimmer. Rahels Herz begann zu rasen. Schnell verabschiedete sie sich: "Dr. Sanders, ich kann nicht weiter reden, Eden hat einen Anfall. Wir bringen sie in Ihre Klinik, so zeitnah wie möglich. Auf Wiederhören."
Ohne die Antwort abzuwarten, warf sie den Telefonhörer auf die Gabel und hastete zu ihrer Tochter.
Im Kinderzimmer angekommen, bot sich ihr ein Bild des Grauens. Eden kniete auf dem Boden, mit dem Kopf nach unten. Ihr Körper zuckte. Abgehackte Laute kamen aus ihrem Mund.
Einmal mehr überkam Rahel das Gefühl, eine Fremde vor sich zu haben. Schließlich fühlte sie, wie sie beiseite geschoben wurde. Gabriel betrat den Raum und stürzte zu Eden. Als er ihr die Hand auf die Schulter legte und sie aufheben wollte, schrie sie laut auf: "abi, min fadlik la". Edens Körper wurde beiseite geschleudert, ganz ohne sein Zutun. Noch einmal versuchte Gabriel, seine Tochter hochzuheben, um sie auf ihr Bett zu legen.
Edens zierlicher Leib lag in einer Ecke in Embryohaltung, und leise wimmerte sie vor sich hin. Endlich gelang es ihm, sie in die Arme zu nehmen. Er fühlte den Schmerz seiner Tochter, die Verzweiflung, die sie in sich trug.
Tränen rannen Rahel über ihr gequältes Gesicht. Sie trat zu dem am Boden sitzenden Paar und kniete sich zu den beiden. Sie legte ihre Arme um Vater und Tochter und wiegte sie hin und her.
Gabriel spürte, wie sich der kleine Körper entkrampfte. Ein qualvolles Aufschluchzen drang an seine Ohren - und ein fremder Name, nicht viel mehr als ein Wispern ...
~ Khalil ~
In dem Moment, als Eden das erste Mal den Namen dessen aussprach, der ihren Zustand hervorgerufen hatte, befand er sich in höchster Gefahr. Es war eine Zeit zwischen den Zeiten, zwischen Frieden und Krieg, als die militante Truppe von Abdullah Sherman - und somit auch Khalil - in ein Trainings-Camp in den Bergen geordert wurde.
Mittlerweile war er elf Jahre alt und bereits an mehreren Operationen des Sturmtrupps beteiligt gewesen.
So sehr er sich gesträubt hatte: Bereits am ersten Tag seiner Zwangsrekrutierung wurde er mit dem Handwerk des Todes vertraut gemacht. Dabei war dieses Foto entstanden, das bald darauf rund um die Welt ging. Khalil war an jenem Tag ohne sein Wissen zu zweifelhafter Berühmtheit gelangt.
Gewalt war ihm bisher kaum angetan worden. Möglicherweise hatte ihn der Einfluss seines Vaters davor bewahrt, oder auch sein eigener Überlebensinstinkt.
Er hatte gelernt, sich zu fügen und zu verbergen. In den ersten Monaten hatte er noch Fußtritte kassiert, wenn er es wagte, zu weinen. Doch dann hatte er seine Tränen verloren und versucht, die blutigen Opfer, zu denen der Scharführer seines Trupps - Abdullah Sherman - ihn zwang, zu bringen.
Der Tag des Verstehens hingegen, warum dies so war, lag in weiter Ferne. Er gehorchte wie seine Kameraden auch nur den Befehlen, um zu überleben. Doch eines Tages war es genug, und Khalil sah den Zeitpunkt gekommen, um seinen lang gehegten Wunsch zur Flucht in die Tat umzusetzen. Die Gelegenheit ergab sich nach einem Rückzug im Oktober 2010, als ein kleinerer Angriff die Waffenstillstandsvereinbarungen zwischen dem Libanon und Israel verletzt hatte. Die Aggressoren agierten von der israelischen Seite aus, grenzüberschreitend, und somit sah sich die libanesische Regierung in der Defensive.
Einmal mehr flogen den Grenz-Völkern Israel und Palästina Raketen von beiden Seiten aus um die Ohren. Die Kontrahenten schoben einander den Schwarzen Peter zu, keiner wollte verantwortlich sein.
Obwohl die Hisbollah etliches an Machtanspruch eingebüßt hatten, sahen sie sich veranlasst, ein bisschen mit den Säbeln zu rasseln. Die Verbindungen zu den weltweit verbreiteten Absplitterungen kamen ihnen wie gerufen.
Die Operation Falling Down - ausgeführt von drei einzelnen Sturmtrupps der PLF mit je fünfzig Mann - war von vornherein zum Scheitern verurteilt und forderte viele Opfer. Abdullah und Khalil Sherman zogen sich auf Geheiß mit 20 weiteren Kameraden in die Berge zurück.
Eines Nachts erfuhr der Junge durch Zufall von lebensgefährlichen Plänen: Er war zum Gotteskrieger auserwählt worden. Für Khalil Sherman tickte die Zeit wie eine Bombe!
~ Dr. Adeela Basara ~
"Das Verhalten unserer Stamm-Patientin ist mir ein Rätsel", sprach Debra A. Bowling zu ihrer Kollegin. Sie arbeitete schon seit fünfzehn Jahren im Brookhaven Hospital von Tulsa, doch Eden Abel stellte die erfahrene Oberschwester vor eine echte Herausforderung. Es war kein Herankommen möglich, wenn sie ihre Ausfälle hatte.
Die Angesprochene seufzte. "Mich hat sie gestern gebissen. Wüsste ich es nicht besser, bekäme ich Angst."
Debra lachte. "Ja, du würdest am Liebsten einen Exorzisten bestellen. Dir standen regelrecht die Haare zu Berge, als die Abels uns nun schon das zweite Mal innerhalb eines Jahres beehrten."
"Du hast leicht lachen", entgegnete Ruth Walters. Sie war erst seit zwei Jahren ein Mitglied des Pflegeteams der Station C. Die geschlossene psychiatrische Abteilung wurde nach strengsten Maßstäben geführt, und die ansässigen Patienten standen rund um die Uhr unter Bewachung.
Auf die zweifelhafte Ehre, ausgerechnet das Mädchen als Patientin zu haben, um das Amerikas Medizinwelt sich riss, konnte zumindest Ruth jedoch gern verzichten. So tat sie auch weiterhin ihren Unmut kund: "Ich muss sie füttern, waschen, bespaßen, und du selbst schaust nur hin und wieder herein, um neue Anweisungen zu überbringen, Debra."
"Du übertreibst, Ruth!", wehrte sich ihre Kollegin. "Es ist ein sechsjähriges Mädchen und kein psychopathischer Killer. Mir tut die Kleine mitsamt ihren Eltern nur Leid."
"Pah, die Eltern!", entrüstete sich Ruth mit wegwerfender Handbewegung. "Wer weiß, was die mit ihr machen. Das sind doch auch nur bigottische Spinner, und kannst du vielleicht wissen, wie die so ticken?"
"Nun hör aber auf!", schimpfte Debra mit ihr. "Es ist nicht unsere Arbeit, Mutmaßungen über Kindererziehung zu stellen. Bigottisch kommt mir die Familie Abel im Übrigen ganz bestimmt nicht vor, im Gegenteil: Es sind sehr nette Leute."
"Ach ja, nett mögen sie ja wirklich sein", gab Ruth zu. "Aber ich habe schon Pferde vor der Apotheke kotzen gesehen. Und hast du schon bemerkt, dass die Kleine blaue Flecken hat?"
"Du willst doch wohl nicht andeuten, dass sie Schläge bekommt. Mit solchen Verdächtigungen sollte man vorsichtig sein. Vorstellen kann ich mir das nicht."
"Ach Debra, du bist einfach zu gutgläubig. Sie ist so seltsam! Tagelang starrt sie gegen die Wände, und plötzlich rast sie wie eine Irre. Mir ist das unheimlich."
"Ruth, ich hoffe, du lässt deine unvorsichtigen Äußerungen hier drin", mahnte die Oberschwester. Nachdenklich schenkte sie sich Tee nach und fragte: "Willst du auch noch eine Tasse? Wir müssen demnächst wieder an die Arbeit, die Pause ist in fünf Minuten zu Ende."
"Schau dir nur einmal meine Hand an", klagte Ruth weiter. "Die kleine Abel hat mich so erwischt, dass sie ganz blau ist. Da ist doch kein Wunder, dass ..."
Sie brach mitten im Satz ab, als Dr. Mendoza die Stationsküche betrat. Schuldbewusste Röte überzog das Gesicht der jungen Schwester, und angelegentlich schaute Ruth zu ihrer Kollegin hinüber. Diese ließ sich nichts anmerken und rührte seelenruhig in ihrer Teetasse herum.
"Es hat sich schon einmal jemand totgerührt", sprach der Chefarzt Debra A. Bowling in flapsigem Ton an. "Habt Ihr mir auch noch ein bisschen Tee übrig gelassen?"
"Bedienen Sie sich, Chef", antwortete die Ältere und strahlte ihn an. Sie hatte schon lange ein Faible für ihn. Dr. Mendoza war in ihrem Alter, beide waren sie ledig, und sie arbeiteten schon seit der Zeit Hand in Hand, als er noch ein unbedeutender Assistenzarzt gewesen war.
"Danke, Debra", antwortete Dr. Mendoza, wandte sich an Schwester Ruth und fragte sie: "Was haben Sie denn da mit Ihrer Hand? Die ist ja ganz blau."
"Ich wurde gebissen", erwiderte sie. "Unsere Lieblingspatientin, Sie wissen schon..."
Ruth erhob sich und suchte ihr Heil in der Flucht. Nichts lag ihr ferner, als Ärger wegen ihrer oft unverblümten Meinung zu bekommen. Ihre Vorgesetzte hatte ihr nur allzu deutlich gezeigt, dass sie es übertrieb.
Debra sah auf die Uhr und stand ebenfalls auf. Verabschiedend wandte sie sich an Dr. Mendoza: "Ich muss Sie leider verlassen, die Stechuhr pfeift schon aus den letzten Löchern. Sehen wir uns heute noch einmal?"
"In zwei Stunden ist noch einmal Visite, danach habe ich endlich Feierabend. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie meine Wohnung aussieht", antwortete er. "Wenn Sie später noch da sind, sehen wir uns auf jeden Fall. Sie sind ja bestimmt bei den Rundgängen dabei."
"Ja, bin ich, wie immer natürlich." Debra eilte zur Tür, als ein schriller Sirenenton erklang. "Wie Sie sehen, ich muss...", rief sie ihm über die Schulter zu. Beim Verlassen des Raums stieß sie mit Dr. Adeela Basara zusammen. Die Ärztin wich mit einem erschrockenen "Huch, nicht so stürmisch" zur Seite und ließ Debra passieren.
"Guten Morgen, Dr. Mendoza", begrüßte Dr. Basara den Chefarzt von Tulsa. "Was steht auf dem Programm?" Adeela ging zur Kaffeemaschine und schenkte sich ein.
"Momentan genieße ich nur die Pause", antwortete Dr Mendoza. "Von Zimmer C23 ging soeben der Alarm herunter, doch Schwester Debra kümmert sich darum. Sie wird sich schon melden, wenn sie uns braucht."
Kaum ausgesprochen, war Tumult im Stationsflur zu hören. Dr. Basara sah ihren Gesprächspartner an und sagte: "Oh oh, das hört sich nicht gut an. Ist C23 nicht das Zimmer von Eden Abel? Wäre es nicht besser, wenn wir nachsehen würden, was da wieder los ist?"
Unwillig verzog Dr. Mendoza die Miene. "Ach hören Sie doch auf. Es wird viel zu viel Theater um das Mädchen gemacht, da ist es doch kein Wunder, dass sie des Öfteren Paranoia schiebt. Aber selbstverständlich steht es Ihnen frei, Ihre Neugierde zu stillen. Ich für meinen Teil ..."
Seine Ärztin hatte den Raum schon verlassen, und er sprach mit der leeren Wand. Dr. Mendoza hörte die Rufe seiner Kollegen. Mittlerweile vernahm er auch Kindergeschrei. Es war nicht zu vermuten, dass es der kleinen Abel zuzuordnen war, denn seiner Erfahrung nach war diese meist stumm.
Seufzend erhob er sich und bedauerte, nicht einmal fünfzehn Minuten Pause erfolgreich zu Ende führen zu können. Dr. Basara streckte den Kopf noch einmal zur Tür herein und schrie hektisch: "Kommen Sie, Dr. Mendoza! Schnell!"
Im Stationsflur ordnete er sich mit wehendem Mantel in die fünfköpfige Hilfsgruppe ein und unterwarf sich der Strömung. Er beschleunigte seine Schritte und wandte sich nach links in die Richtung, aus der er nach wie vor Kinderschreie vernahm. Schließlich ließ er seine Kollegen hinter sich und betrat das Zimmer von Eden Abel.
Seine Kollegin stand im Raum und schaute ihn an. "Das Kind spricht arabisch", teilte sie ihm fassungslos mit.
Dr. Adeela Basara war vor einem Jahr zu seinem Team gestoßen. Ihren Heimatort Sabya hatte sie schon vor zehn Jahren aus beruflichen Gründen verlassen und in der USA ein Visum gestellt.
Glücklicherweise waren gut ausgebildete Ärzte immer gefragt, und so hatte sie ihren Fuß in der Tür.
Seitdem hatte sie keine einzige Gelegenheit ausgelassen, um sich weiterzubilden. Tulsa war für sie auch nur eine Zwischenstation. Niemals jedoch hätte Adeela zu träumen gewagt, welche Eindrücke hier auf sie einstürzen würden.
~ Eden ~
Eden Abel krümmte sich auf dem Boden ihres Zimmers und schrie. Unsagbare Schmerzen marterten ihren Magen, arbeiteten sich durch die Speiseröhre nach oben und endeten in einer bräunlichen Masse auf den Fliesen des Raums. Grauen erfasste sie, nachdem sie erblickt hatte, was ihren Schlund da verließ.
Eden würgte noch einmal, und wieder wuselten Hunderte von dunkel glänzenden Leibern um sie herum. Die Skarabäen krabbelten ihr über die Hände, mit denen sie sich am Boden abstützte. Einzelne Tiere arbeiteten sich an ihren Armen nach oben, eroberten sich ihren Hals und suchten erneuten Zugang zu ihrem Mund. Eden röchelte voller Entsetzen.
Schattenhafte Silhouetten standen um sie herum. Wie aus weiter Ferne hörte sie die verängstigten Schreie ihrer beiden Zimmernachbarinnen. Eden nahm sie kaum wahr. In ihrem Genick spürte sie den harten Griff einer Männerhand, und eine laute Männerstimme donnerte auf sie ein.
Was der Mann sprach, konnte sie nicht verstehen, doch ihre Antwort drang für die Umstehenden deutlich hörbar nach außen. Bis auf Dr. Basara konnte allerdings niemand ihre Worte verstehen. Und dieser stellten sich die Haare zu Berge, denn all die Qualen der Kleinen wurden ihr offenbar.
~ Khalil ~
"Vater, keine Käfer!", schrie Khalil im selben Moment in derselben Sprache. Er kniete in einem Verlies und hatte einen Trog voll wimmelnden Lebens vor sich. Abdullah Sherman drückte seinen Kopf erbarmungslos nach unten, hinein in eine braune Masse voller Skarabäen.
Der Junge würgte und versuchte, sich gegen die Eisenklammer in seinem Nacken zu wehren. Ihn packte das kalte Grausen, als er die Mündung eines Maschinengewehrs am Hinterkopf spürte.
"Du solltest dankbar sein, dass du noch lebst", brüllte Abdullah Sherman. "Was hast du dir dabei gedacht? Normalerweise sollte ich dich erschießen, doch dir wird stattdessen auch noch eine unverdiente Ehre zuteil."
"Es ist keine Ehre, unschuldige Menschen zu töten", stammelte Khalil tapfer. Seine Stimme klang dumpf, doch sein Vater verstand ihn auch so. Brutal rammte er ihm den Gewehrlauf zwischen die Schulterblätter.
Khalil warf sich herum und wälzte sich schreiend am Boden. Viel Gelegenheit blieb ihm dazu nicht, denn Abdullah Sherman stopfte ihm mit seinen eigenen Fäkalien und Erde den Mund. Der Junge röchelte und würgte verkrampft. Khalil fürchtete sich vor einem grausamen Erstickungstod.
~ Eden ~
In Tulsa war Eden hintüber gefallen und lag rücklings am Boden. Die Augen quollen ihr fast aus dem Kopf, und ihr Gesicht war voller Qual und Ekel verzogen. Zwei Pfleger hielten sie an Armen und Beinen und versuchten, ihr ein Sedativum zu spritzen.
Eden gurgelte dumpf, Schaum trat ihr aus dem Mund. Doch schließlich war es vorbei, und um sie wurde es Nacht.
Wesentlich später unterhielten sich Dr. Mendoza und seine Kollegin Dr. Basara im Patientensprechzimmer mit den Eltern von Eden. Viele Fragen waren noch offen, und noch mehr taten sich auf. Die arabischsprachige Neurologin eröffnete das Gespräch mit einer Frage: "Haben Sie Ihre Tochter zweisprachig erzogen?"
Überrascht schaute Mr. Abel sie an und verneinte. "Wir können keine Fremdsprachen, insofern dürfte das ziemlich ausgeschlossen sein. Weshalb fragen Sie?"
Hilfesuchend blickte Adeela Basara zu ihrem Chef. Er verstand ihren stummen Hilferuf und übernahm. Behutsam tastete er sich vor: "Mr. und Mrs. Abel, es mag paradox in Ihren Ohren klingen, doch Ihre Tochter spricht öfter mit uns." Dr. Mendoza legte die Hand auf Adeelas Arm und fuhr fort: "Doch nur Dr. Basara kann sie verstehen."
"Was soll das heißen?", fragte Mrs. Abel und knetete nervös ihre Hände. Es war ein Jahr her, seit Rahel das letzte Wort ihrer Tochter vernommen hatte, bis auf die abgehackten Laute bei ihrem letzten Zusammenbruch.
"Das bedeutet ..." Dr. Basara sog peinlich berührt ihren Atem ein und gab daraufhin die Antwort: "Das heißt, Ihr Kind spricht fließend arabisch." Der Chefarzt des Brookhaven Hospital nickte bekräftigend zu ihren Worten.
"Aber das ist doch absurd", brauste Gabriel Abel auf. "Wo hätte Eden diese Sprache erlernen sollen? Sie hat ja noch nicht einmal die Schule besucht. Erst nächstes Jahr wäre sie eingeschult worden, wenn diese ... elende Krankheit nicht wäre. Nein, Sie müssen sich täuschen."
"Hmmm ..." Dr. Mendoza strich sich nachdenklich über das Kinn. "Das wirft ein ganz anderes Licht auf die bisher gestellte Diagnose aller Ärzte, die sich Eden angeschaut haben. Wir täuschen uns nicht, ich glaube den Worten meiner Kollegin. Sie hat es mit eigenen Ohren gehört!"
"Was ist denn genau passiert?", fragte Gabriel. Bisher hatte er nur vage erfahren, dass seine Tochter einmal mehr hyperventiliert hatte.
Wie schlimm Edens neuerlicher Zusammenbruch war, war ihnen bisher jedoch verschwiegen worden. Dr. Juan Mendoza nahm nun kein Blatt mehr vor den Mund und weihte das Elternpaar ein: "Fakt ist, Mr. und Mrs. Abel, dass Ihre Tochter halluziniert. Offenbar befindet sich ihr Geist in einer gänzlich anderen Welt. Meine Diagnose ginge beim aktuellen Stand in Richtung dissoziative Schizophrenie."
"Dr. Mendoza, aber das beantwortet meine Frage nicht", begehrte Gabriel auf. "Was ist passiert? Was ist mit unserem Kind? Wir verstehen nichts von Diagnosen, die Ihr Ärzte so stellt." Er strich sich mit gequälter Miene durch seine grauen Haare und fuhr fort: "Wir wissen nichts von Schizophrenie, und alles in mir weigert sich, unsere Tochter als verrückt abstempeln zu lassen. Alles, was wir wissen wollen: Kann Eden geholfen werden?"
Rahel legte beschwichtigend eine Hand auf seinen Arm und übernahm das Gespräch. "Wir haben sie nach Tulsa gebracht, weil Ihre Klinik die naheliegendste von Cedar Rapids aus war. Doch wenn Sie nichts tun können, sagen Sie uns bitte Bescheid, damit wir weitere Schritte einleiten können. Und nun wollen wir endlich zu unserer Tochter!"
"Selbstverständlich dürfen Sie zu Ihrer Tochter", antwortete Dr. Basara. "Vorher möchte ich Ihnen jedoch gern noch ein paar Fragen stellen, und Sie sollten im Vorfeld auch noch etwas wissen."
Adeela war die behandelnde Ärztin von Eden und hatte das Verhaltensmuster ihrer Patientin seit ihrem neuerlichen Klinikaufenthalt von nunmehr einer Woche beobachten können. Sie stimmte mit den Worten ihres Chefs insoweit überein, dass die Kleine offenbar unter einer gespaltenen Persönlichkeit litt.
In ihrem Herzen begann sie indessen, zu zweifeln. Die Ausfälle von Eden erschienen ihr zu physisch, zu plastisch. Als Adeela ihre Patientin vor ein paar Stunden am Boden liegen sah, sich krümmend und windend, fast erstickend an ihrem Erbrechen: Da war ein kurzer Moment, und Dr. Basara hatte sich als ein Teil von Edens Welt gefühlt. Ihr war, als hätte sie ihre Worte bildhaft vernommen, in jenem Moment, als Eden in Adeelas Sprache irgendetwas von Käfern schrie. Dr. Basara hatte sogar in allen Einzelheiten Scarabäen gesehen. Da war hingegen noch mehr: Ihr schien, als könne sie den zweiten Teil in Edens Geist fühlen, jene Person, welche die Muttersprache der Ärztin beherrschte.
Diese zweite Persönlichkeit empfand Adeela als Jungen. Doch würde sie sich hüten, ihre Empfindungen laut werden zu lassen. Mehr noch, sie tat diese als haltlos ab, da sie zu sehr ins Spirituelle abdriften würden. Das hatte in ihrem Beruf nichts zu suchen. In der Medizin zählten nur Fakten, und diesen wandte sie sich nun wieder zu.
Während ihrer kurzen Geistesabwesenheit hatte Dr. Mendoza das Gespräch mit den Abels fortgeführt. Er hatte die Eltern soeben darüber informiert, dass Eden sediert und fixiert werden müsse. Rahel weinte bei dem Gedanken, ihr Liebstes gefesselt und vollgepumpt mit Medikamenten sehen zu müssen. Sie war kaum zu beruhigen.
Dr. Basara erhob sich und umrundete den großen Tisch. Mitfühlend legte sie den Arm auf ihre Schulter und bat: "Fassen Sie sich, Mrs. Abel. Diese Maßnahme dient nur ihrem Schutz, um Selbstverletzungen so gut wie möglich vermeiden zu können. Diese Maßnahme wird auch nur im Notfall angewandt. Ich bitte Sie, uns noch ein paar Fragen zu beantworten, und dann können Sie zu Ihrer Tochter."
"Was wollen Sie noch alles wissen?", brauste Gabriel auf. "Wir wurden schon von sämtlichen Ärzten in die Mangel genommen, und jeder meinte, er wüsste es besser. Wir wurden belächelt, bespöttelt, gar unter Verdacht gestellt, doch wie es mit Eden weiter gehen soll, sagte uns bisher keiner. Und nun kommen Sie, reden etwas von Fremdsprachen, erzählen uns was von Halluzinationen und haben noch immer nicht genug. Was können wir Ihnen an Informationen bieten, die Sie nicht selbst haben?"
"Nun, zum Einen wäre es sinnvoll, die Aktenlage aus erster Hand zu kennen, und da sind Sie der richtige Ansprechpartner für uns, Mr. Abel." Dr. Mendoza ließ sich nicht beirren. "Fielen Ihnen vor Edens erstem Zusammenbruch Anomalitäten auf? Wie verlief ihre Entwicklung?"
"Eden hat sich bis zu jenem Tag völlig normal entwickelt, das können Sie mir ruhig glauben." Gabriels Stimme war rauh vor Entrüstung, doch er sprach weiter. "Sie lernte ganz normal mit 13 Monaten das Laufen, und mit acht Monaten hatte sie das erste Mal 'Mama' und 'Papa' gesagt."
Erregt erhob er sich und durchmaß den Raum mit weit ausgreifenden Schritten. Besorgt richteten sich die Augen von Dr. Mendoza auf ihn und verfolgten sein Tun.
"War es nicht so, Rahel?", richtete sich Gabriel an seine Frau. "Nun sag' du doch auch mal was und hör' auf mit deiner dauernden Heulerei." Seine Hände fanden den Weg zu seinem Kopf ganz von selbst, und wieder raufte er sich die Haare. Mittlerweile sah er aus wie ein Pudel, doch niemand der Anwesenden wagte es, darüber zu lachen.
Er redete sich immer weiter in Fahrt: "All diese Fragen wurden uns schon tausend Male gestellt, nicht nur von Ihnen. Was, zum Teufel, wollt Ihr denn noch?" Mit anklagend erhobenem Zeigefinger wandte Gabriel sich an Dr. Basara: "Sie sind die behandelnde Ärztin. Ich hoffe, Sie nehmen uns ernst. Vor Allem hoffe ich, dass Sie Eden nicht nur als Versuchskaninchen ansehen. Denn das hatten wir in der Vergangenheit beileibe genug."
"Gabe ..." Rahels Stimme klang wie ein Hauch. "Bitte mäßige deine Erregung. Du versündigst dich." Hilfesuchend griff sie nach der Hand der Neurologin, die sich in ihrem Rücken befand. Ihr Griff war wie eine Klammer. Rahel flehte verzweifelt: "Dr. Basara, Eden war bis dahin ein ganz normales Kind. Sie war fröhlich, lebenslustig und steckte mit ihrem Kopf in den Wolken. So wie es sein sollte. Frau Doktor, wir wollen unsere Tochter wieder zurück."
Adeela Basara griff die Verzweiflung der Mutter ans Herz. Sie selbst hatte sich zugunsten ihrer Arztkarriere zumindest vorläufig gegen Kinder entschieden, doch hatte auch sie die kleine Eden sofort lieb gewonnen. Ein kleines dunkelhaariges Lockenköpfchen, mit den Pausbäckchen eines Kleinkindes noch, wie sehr hätte sie sich gewünscht, dieses Engelchen einmal lachen zu sehen.
Sie bewunderte jedoch auch die Stärke der Eltern, die gegen das Schicksal ankämpften und offenbar alles dafür taten, um ihrer Tochter das Los abzunehmen.
Die arabische Ärztin hoffte sehr, dass sich das Blatt zu Edens Gunsten wenden würde und etwas getan werden konnte. Die Erfahrung zeigte ihr jedoch auf, dass es nicht einfach sein würde. Laut den bisher bekannten Fakten gingen die Meinungen der Mediziner zu sehr auseinander, was nun das Beste sei.
Dennoch kam Adeela auch nicht umhin, einzugestehen, dass die herkömmliche Schulmedizin bisher versagt hatte. Sie nahm sich jedoch vor, etwas dagegen zu tun, wenn sich die Gelegenheit dafür ergab.
Dr. Basara hatte auch schon eine vage Vorstellung davon, was getan werden konnte. Allerdings stieß sie an ihrem hiesigen Arbeitsort mangels Kapazitäten und Kompetenz an ihre Grenzen. In Bälde schon würde sich das jedoch ändern!
~ Khalil ~
Khalil wusste nicht, wie oft die Sonne aufging, um den Morgen zu künden. Um ihn war es Nacht, und es gab keine Zeit. Zwischen den "Mahlzeiten", wie sein Vater es nannte, spürte er feuchten Lehm unter seinen verkrusteten Fingern und lauschte voller Angst auf die Schritte, welche sich von morgens bis abends über seinem Gefängnis unter der Erde befanden. Jedes Mal hoffte er, dass sie sich immer weiter entfernten, und jedes Mal wieder wurde seine Hoffnung enttäuscht. Zu schlafen wagte er selten, aus Angst vor seinem Vater - und vor seinen Träumen.
Wenn die Erschöpfung ihn übermannte, wurde er von übergroßen Skarabäen verfolgt. Sie jagten ihn durch brennende Straßenschluchten und Gassen, und wenn er sich nach ihnen umdrehte, erblickte er auf deren gepanzerten Körpern blutige Gesichter gefallener Menschen.
Schmerz kannte der Junge schon lange nicht mehr. Um nicht vollends wahnsinnig zu werden, zählte er die Ratten, mit denen er sein Verlies teilte. Er hatte versucht, ihnen Namen zu geben, doch da eine wie die andere war, gab er es bald auf. So blieb ihm nichts als die Leere der ewigen Nacht und das Flackern des kleinen Windlichts, das sein Vater ihm überlassen hatte. Das war jedoch die ganze Gnade gewesen, die er seinem Sohn zuteil werden ließ. Khalil wäre vermutlich längst schon zu Tode gefoltert worden, hätten die Rebellenführer keine anderen Pläne für ihn und weitere Milizen in seinem Alter gehabt.
Khalil wusste, was ihm blühte, und es war ihm auch bewusst, dass bei der Auswahl der "Kandidaten" nicht zwingend Gerechtigkeit herrschte.
Grimmig dachte er: 'Oh armer Vater, du denkst, dein Sohnesopfer würde dir zur Ehre gereichen?'
Er würde nicht schweigend hinnehmen, dass er verdammt dazu war, weiterhin ein Todesbote für zigtausend Menschen zu sein. Vorher würde er sein eigenes Leben hingeben, in der Abgeschiedenheit seines Verlieses.
Wie unzählige Male zuvor öffnete sich die Luke über ihm. Voller Furcht vernahm er die schweren Schritte des Vaters. Abdullah Sherman ergrimmte es sehr, dass er die Nahrung verweigerte, und so ließ er ihm ein um das andere Mal diese unsägliche Prozedur angedeihen, die Khalil horrormäßige Alpträume bescherte.
Der Scharführer ließ sich immer neue Schikanen einfallen, um den Willen seines Sohnes zu brechen. "Ich werde dich lehren, zu essen!", schrie er ihn an. "Du hast einen Auftrag, und du wirst mir gehorchen."
Sherman boxte ihn in die Rippen und schleuderte seinen abgemagerten Körper gegen die Wand. Khalil stöhnte auf, des Schreiens nicht mächtig.
"Niemals", entgegnete er mit letzter Kraft. "Soll der Kommandant seinen eigenen Sohn ins Verderben schicken. Du bist so dumm. Ich sterbe lieber hier drin."
Mit seinen letzten Worten traf Khalil auch schon eine eisenharte Faust im Gesicht. "Du nennst mich dumm, Sohn einer Hure!", zischte sein Vater gefährlich leise zwischen den Zähnen hindurch. "Mich, der dich erzeugte."
Den Jungen überlief ein eiskaltes Frösteln, doch er gab nicht auf und erwiderte: "Nennst du mich Sohn einer Hure, beleidigst du deine eigene Frau."
Abdullah Sherman zerrte ihn an den Haaren in die Mitte des Erdlochs, wo er einen Blechteller voll Maisbrei abgestellt hatte. Triumphierend teilte er seinem Sohn mit: "Du kannst dich nicht mehr lang aufmüpfig zeigen. Bald werden sie kommen und dich befreien. Iss, damit du zu gegebenem Zeitpunkt bei Kräften bist."
"Wem willst du was vormachen: Dir selbst? Mir? Deinen irrsinnigen Todesjüngern? Ich denke nicht daran, euch in die Karten zu spielen. Ob ich nun hier sterbe - heute, morgen, übermorgen - oder da draußen; was spielt das für eine Rolle? Ich weiß genau, was Ihr vorhabt. Und du wirfst deinen eigenen Sohn den Wölfen zum Fraß vor." Erbittert kämpfte Khalil um sein bisschen Leben, was ihm noch blieb. Er wusste genau: Je eher er wieder zu Kräften käme, desto näher würde der Zeitpunkt rücken, den die Befehlshaber für ihn als Todeszeitpunkt ausgesucht hatten. Doch er ließ sich nicht täuschen, glaubte auch diesen wahnsinnigen Verheißungen nicht, mit denen sein Vater ihm weismachen wollte, ewig leben zu können, wenn er sich fügte.
Bald darauf war Khalil wieder allein. Es hatte lange gebraucht, bis er sich zu der Aktion aufgerafft hatte, wegen der er in einer Grube unter Folterqualen zum Darben verurteilt worden war. Die Gelegenheit für eine Flucht erschien ihm günstig in jener Nacht, während der er in einem Zwischencamp in der Nähe von Milga Wachschicht gehabt hatte. Sie wäre ihm auch geglückt, wäre er nicht verraten worden, ausgerechnet von einem gleichaltrigen Kameraden, den er bei der letzten Operation seines Trupps davor bewahrt hatte, von einer Mine zerfetzt zu werden.
Khalils Pech war gewesen, dass er Yushua Nazari eingeweiht hatte und ihn mitnehmen wollte. Der Junge war jedoch der Sohn des obersten Kommandanten, und das hatte Khalil zu der Zeit noch nicht gewusst.
Emir Abdul Nazari - dessen Vater - war bisher noch nie in den Reihen der Miliz in Erscheinung getreten, nur die Scharführer waren den Rekruten bekannt. Somit war Khalil wohl auch Opfer seiner eigenen Gutgläubigkeit, oder war es einfach nur Schicksal?
Yushua war es letztendlich auch gewesen, der Khalil den Grund zur sofortigen Flucht gegeben hatte, indem er ihm von dessen naher Zukunft erzählte.
Es war ein teuflischer Plan, den sich Begum Al' Abdad gemeinsam mit seinen Generälen ausgedacht hatte: Bei Rammalah hatte der oberste Rebellenführer einen Tunnel geplant, unter der trennenden Grenzmauer hindurch.
Des Weiteren wurden 200 junge Rekruten aus 50 verschiedenen Trupps ohne deren Wissen zu einem Himmelfahrtskommando bestimmt.
Die Grabungsarbeiten fanden in den Nächten statt und sollten demnächst beendet sein. Bis zu jenem Tag verbargen sich die einzelnen Scharen in Trainingscamps, deren Örtlichkeiten nur eingeweihten Personen bekannt waren.
Einzelne Sturmtrupps begleiteten den Bau mit Überraschungsangriffen, um sowohl Israel als auch die palästinensische Regierung von dem Vorhaben abzulenken. Es spielte schon lange keine Rolle mehr, wer Freund oder Feind. Der Weg war das Ziel, und Hindernisse wurden ohne Rücksicht auf Verluste beiseite geräumt. So war denn auch Khalil dazu auserwählt worden, als "Gotteskrieger" herhalten zu dürfen. Am Tag X sollten all diese jungen Milizen, die Kinder noch waren, gemeinsam mit einer Handvoll Unterführern durch den Tunnel geschickt werden.
Die Scharführer der jeweiligen Truppen hatten bei der Auswahl geholfen und sich nach ganz bestimmten Kriterien gerichtet, wie zum Beispiel Hellhäutigkeit.
Als Touristen getarnt würde ihre Aufgabe sein, sich zum Zielort Tel Aviv vorzuarbeiten, zum Zielobjekt wurde der Ben Gurion Airport bestimmt. Wenn der Plan glückte ...
~ Adeela und Eden ~
Anderenorts war ein kleines Mädchen im Dunkel ihres Geistes gefangen und teilte mit einer leidenden Seele auf der anderen Seite der Erde Schicksal und Leid. Eden Abel spürte jeden einzelnen Schlag, den Abdullah Sherman ihrem Seelenzwilling versetzte.
Das Grauen über Khalils Leiden hatte ihr die Sprache geraubt und ihre Eltern in tiefste Verzweiflung gestürzt. Von jenem Tag an, als sie auf einer Zeitungsseite in seine Augen geblickt hatte, sah sie den Abgrund der Welt.
Es war Eden nicht möglich, sich aus der Tiefe jener Dimension empor zu erheben, um die Pein mit den Menschen zu teilen, die ihr Leben für ihr Kind geben würden. Die Außenwelt war ihr nicht verschlossen, wie von den medizinischen Fakultäten vermutet. Jedes einzelne Wort, das andere über sie sprachen, drang an ihre Ohren. Jeder Blick zu ihr hin war wie ein Stich in ihr Herz. Lachen klang für sie wie grollender Donner, und sie konnte es nicht fassen, dass die Welt nicht mit ihr weinte, weil Menschen andere Menschen verletzten. Doch mit der Zeit lernte sie, zu verstehen, dass ihr Empfinden als Krankheit galt – und sie begriff intuitiv, dass ihr nichts übrig bliebe, als sich damit zu arrangieren. Von jenem Zeitpunkt an wurde sie ruhiger, und ihre Anfälle in Momenten der Panik verminderten sich.
Das Band zwischen Khalil und Eden riss jedoch nie, und sie teilten auch weiterhin die als Ewigkeit erscheinende Zeit in der Dunkelheit. Während dem Jungen lindernde Lichtmomente jedoch verwehrt blieben, fand sie Trost, wenn Dr. Basara ihr Krankenzimmer in Tulsa aufsuchte.
Auch ihre Eltern besuchten sie täglich. Als Eden indes spürte, wie viel Trauer ihre Mutter umgab, hörte sie auf, sich darüber zu freuen und wünschte sich eher, dass sie fortbleiben mochten. Einsamkeit wurde ihr Zufluchtsort.
Mittlerweile waren zwei weitere Wochen vergangen, und Eden Abel befand sich noch auf Station. Dr. Basara war nicht untätig geblieben und hatte sich mit Dr. Mendoza zusammen gesetzt, um mit ihm über ihre Patientin zu reden. Ihr war einiges unklar, und sie stimmte nicht mit ihm überein, was seine Diagnostik betraf.
Adeela hatte lange gezögert, bevor sie den Mut fand, ihm dies mitzuteilen, was sie die ganze Zeit über in Bezug auf Eden beschäftigte. Ihrer Meinung nach war das Mädchen nicht geisteskrank, und das sagte sie ihm.
Das Gespräch hatte sich als schwierig erwiesen. Es war in der Mitte der dritten Woche, nachdem die kleine Abel eingeliefert worden war. Sie hatte Dr. Mendoza ins Sprechzimmer gebeten und ihn gefragt: "Glauben Sie an Medien?“
Er sah sie verständnislos an und antwortete mit einer Gegenfrage: "Welche Medien meinen Sie? Zeitungen? Fernsehen? Internet?“ Wider Willen musste Adeela lächeln. "Nein, natürlich nicht. Ich meine spirituelle Medien.“
Dr. Mendoza lachte schallend: "Sie werden mir doch nicht weismachen wollen, dass es so etwas gibt?“
"Lieber Kollege“, antwortete Dr. Basara, "gerade die Psychiatrie sollte sich solchen Gedankengängen nicht kategorisch verschließen. Wir beide wissen doch, dass die Funktionsweise eines menschlichen Gehirns noch immer nicht zu hundert Prozent erforscht werden konnte. Was wäre, wenn es Menschen gäbe, die überdurchschnittlich stark Schwingungen wahrnehmen könnten?“
"Ich kann Ihnen nicht ganz folgen.“
"Gehen wir davon aus, dass die Kommunikation zwischen Menschen durch energetische Schwingungen zustande kommt“, versuchte sie zu erklären. „Der eine sendet, der andre empfängt.“
"Ich verstehe, was Sie meinen, aber…“
Adeela ließ sich jedoch nicht beirren und fuhr fort: "Was, wenn die Signalverarbeitung der Neuronen nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb des Gehirns wahrgenommen werden kann? Ein Forscher-Team hat dies an Ratten getestet, und diese konnten über tausende Kilometer hinweg kommunizieren.“
"Ich habe von dieser Studie gehört, Dr. Basara“, entgegnete der Chefarzt der psychiatrischen Klinik. "Und ich mache darauf aufmerksam, dass Hilfsmittel zur Verfügung genommen wurden. Die Schwingungen zwischen den interagierenden Gehirnzellen sind viel zu schwach, um ohne verstärkende Instrumente von der Außenwelt wahrgenommen werden zu können. Bei dem von Ihnen erwähnten Experiment wurden Computer-Chips zu Hilfe genommen.“
"Sie bezweifeln also, dass so etwas wie Gedankenübertragung möglich sein kann?“
"Nein, das bezweifle ich nicht, doch gibt es da eine ganz einfache Erklärung. Menschen, die einander besonders gut kennen, können ohne Zuhilfenahme von Sprache miteinander kommunizieren – durch Gesten und Mimik. Durch die Vertrautheit untereinander versteht das Gegenüber auch unbewusste Handlungen, und so entsteht für Außenstehende der Eindruck von Telepathie.“
"Und wie erklären Sie sich, dass zwei Menschen gleichzeitig sprechen, exakt dieselben Worte, die der andere gerade aussprechen wollte?“
Dr. Basara war noch nicht überzeugt. Insgeheim triumphierte sie, als Dr. Mendoza daraufhin die Schultern zuckte und kein Gegenargument anbringen konnte. Beide versanken in Schweigen und dachten darüber nach.
Schließlich setzte er zu einem neuerlichen Erklärungsversuch an: "Der Sprachschatz des Menschen ist begrenzt. Möglicherweise sind das oft angewandte Floskeln, die den Betroffenen gleichzeitig und situationsbedingt passend erscheinen. Da sich ja beide in derselben Sprechsituation befinden, wird dieser Zufall überbewertet. Dadurch entsteht eine Romantisierung menschlicher Beziehungen, die wiederum durch Mundpropaganda verbreitet wird.“
"Mag sein“, gab Adeela zögernd zu. "Doch es gibt so vieles mehr, was auf die Möglichkeit von Seelenverwandtschaft hindeutet. Letztendlich sind wir doch alle Teil des Universums und somit alle darin eingebunden.“
"Liebe Kollegin, dies ist mir zu sehr an den Haaren herbei gezogen. Ich halte mich doch lieber an Fakten, wie es sich für einen Mediziner gehört!“, entgegnete Dr. Mendoza mit Ungeduld in der Stimme. "Nun sagen Sie mir aber bitte, worauf Sie insgesamt hinaus wollen.“
"Also gut, Chef. Ich habe ein paar Nachforschungen angestellt, weil das Ehepaar Abel ihre Tochter gern mitnehmen will. Sie wollen mit ihr nach Crawfordsville, deren Heimatort. In der dortigen Klinik haben sie schon bald einen Termin mit Dr. Sanders“, erklärte sie ihm.
"Darüber bin ich informiert“, antwortete er. "Dr. Sanders hat sich schon mit uns in Verbindung gesetzt. Doch ich halte Eden für eine solch weite Reise für zu instabil.“
"Ja, das dachte ich mir. Deshalb ist sie schließlich bei uns. Doch das ist nicht der Punkt. An das St. Clare Medical Center ist ein Forschungs-Institut angeschlossen, das sich mit alternativen Methoden zur Behandlung von Autismus beschäftigt. Und eventuell können die Eden helfen.“
"Was kann ich nun genau für Sie tun?“, fragte Dr. Mendoza. "Mr. und Mrs. Abel haben doch ohnehin beschlossen, Eden in die Hände von Dr. Sanders zu geben, sobald es möglich ist, dass sie die Klinik verlässt. Ich habe darauf keinen Einfluss.“
Adeela Basara holte tief Luft, bevor sie ihm ihre Entscheidung mitteilte: "Ich möchte Eden begleiten. Zu mir hat sie Vertrauen, und ich habe Zugang zu ihr. Deshalb bitte ich um ein halbes Jahr unbezahlten Urlaub.“
"Sie machen mir Spaß“, fuhr er auf. "Und mit wem soll ich Sie ersetzen? Wie stellen Sie sich das vor?“
Mit allem hätte Dr. Mendoza gerechnet, doch niemals damit, die Neuropsychologin zu verlieren. Fachkräfte mit ihrer Kompetenz waren in Amerika nicht oft vertreten, und es war ein absoluter Glücksfall gewesen, als die Ärztin vor einem Jahr zu seinem Team stieß. Gerade im Umgang mit Kindern hatte sie ein glückliches Händchen bewiesen, und ihre kleinen Patienten mochten sie sehr.
"Betrachten Sie meinen Wunsch einfach als Fortbildungs-Reise“, versuchte Dr. Basara ihren Vorgesetzten zu überzeugen. "Das Forschungsinstitut arbeitet Beschäftigungstherapien aus. Sie setzen mit Hilfe von Kunst auf die Sensibilisierung der Sinne. Ihr Klangprojekt wird sogar in einigen Kliniken angewandt – unter Anderem im St. Clare.“
Dr. Mendoza kam nicht umhin, ein Schmunzeln vor seiner besten Ärztin zu verbergen. Ihr Feuereifer hatte dazu beigetragen, dass sie sich in seinem Team befand, und nun wollte sie neue Wege beschreiten.
Er selbst hatte sich auch schon mit diesen Studien beschäftigt. Es mangelte ihm jedoch an Zeit, um die erworbenen Erkenntnisse in diesem Bereich zu vertiefen. Das Brookhaven Hospital war ein kleineres Klinikum und personell unterbesetzt, insofern sah er sich unabkömmlich.
Selbst seine Jahresurlaube hatte er seit seiner Benennung zum Chefarzt vor fünf Jahren nicht mehr voll ausschöpfen können. Doch das tat ihm nicht leid. Er hatte keine Familie, insofern hatte niemand darunter zu leiden.
Juan Mendoza liebte seinen Beruf. Einerseits sah er in Dr. Basaras Anliegen auch eine Möglichkeit, neue Methoden nach Tulsa zu bringen, doch andererseits würde sie fehlen. Schließlich überwog jedoch die Chance, welche er für die Klinik sah, und so ließ er sie widerwillig ziehen.
"Nun gut“, sagte er. "Ich sehe, Sie sind nicht zu bremsen und zu allem entschlossen. Meinen Segen sollen Sie haben. Aber versprechen Sie mir, wieder zurückzukehren und am Besten uns alle an den gewonnenen Eindrücken teilhaben zu lassen. Ich bin gespannt, was Sie zu berichten haben.“
Erleichtert atmete sie auf. "Ich danke Ihnen, Dr. Mendoza. Natürlich komme ich wieder zurück.“ Nach kurzem Zögern bat sie ihn: "Könnten Sie mir noch einen Gefallen tun?“
Der Chefarzt seufzte auf und fragte: "Was denn noch?“
Adeela antwortete: "Könnten Sie sich mit Dr. Sanders in Verbindung setzen und uns anmelden? In ärztlicher Begleitung dürfte nichts gegen eine baldige Umverlegung von Eden sprechen, finden Sie nicht?“
"Nun gut, Sie gehen reichlich unkonventionell zu Werke“, murrte Dr. Mendoza. "Aber wenn es dem Zweck dient, will ich das gern tun. Ich sage Ihnen rechtzeitig Bescheid.“
~ Die Abels ~
Anders als die gleichnamige Patenstadt in Iowa war Cedar Rapids/Oklahoma klein und ländlich und genau das, was das Ehepaar Abel zum damaligen Zeitpunkt brauchte, als Dr. Sanders im Staat Indiana ihnen aus gesundheitlichen Gründen zum Ortswechsel riet. Sie hatten ihr Bauernhäuschen mit einem Ackergrundstück und Garten jenerzeit günstig erworben, und seitdem war das Städtchen in der Nähe von Tulsa zu einer zweiten Heimat geworden.
In Cedar Village, dem etwas größeren Nachbarort, war Eden schließlich zur Welt gekommen und hatte Rahel und Gabriel viel Freude bereitet – bis zu jenem Tag, als das fünfjährige Mädchen ein Foto, das nicht für ihre Augen bestimmt gewesen war, in einer Zeitung erblickte.
Auf allgemeinen Wunsch hin hatte Dr. Mendoza den Abels zugestanden, Eden für zwei Wochen mit nach Hause zu nehmen, um sie auf die weite Reise nach Crawfordsville vorzubereiten. Sie wurden von Dr. Basara begleitet, voller Vorfreude darauf, ihre Patientin im natürlichen Umfeld erleben zu können. Adeela war in dieser Zeit bei der Familie zu Gast. Beeindruckt erlebte sie den liebevollen Umgang miteinander, und ohne Weiteres wurde sie in das Familienleben mit einbezogen.
Das Häuschen in Cedar Rapids war in eine traumhafte Landschaft eingebettet, inmitten von grünen Hügeln und Feldern. Wanderwege führten in kleine Wäldchen und zu weiteren Gehöften der Nachbarschaft.
Adeela hoffte, in jener Zeit das Vertrauensverhältnis zwischen Eden und ihr unter diesen Idealvoraussetzungen vertiefen zu können. Sie beschäftigte sich viel mit dem nunmehr sechsjährigen Mädchen, ging mit ihr und den Eltern spazieren und wünschte sich nur zwei Dinge: Ein Wort der Kleinen – oder ein Lächeln.
Der Tag der Abreise rückte näher und näher, ohne dass sich einer der beiden Wünsche erfüllte. Erst zwei Tage vor dem bereits gebuchten Flugtermin schöpfte Dr. Basara Hoffnung, dass der Weg nach Crawfordsville nicht vergeblich sein würde. Ein Silberstreif am Horizont zeigte sich, als die gesamte Familie an einem Meeting der Sibling of Light Commonwealth teilnahm und Adeela eingeladen wurde, sie zu begleiten. Die „Geschwister des Lichts Gemeinschaft“ war eine in Cedar Village angesiedelte ökumenische Kommune, und diese zelebrierte Glaubensrituale bevorzugt im Freien.
Veranstaltet wurde ein Friedenskonzert, am Ufer des Rapid's Lake. Adeela hatte die Einladung unter Anbetracht dessen, was Eden in Crawfordsville erwarten würde, mit Begeisterung angenommen und war gespannt, wie ihre Patientin auf Musik reagieren würde. Im Vorfeld hatte sie verschiedene Versuche mithilfe einiger Audio-Dateien auf ihrem Laptop gemacht. Das wurde ihr schließlich von Edens Vater vereitelt, der es ihr kurzerhand untersagte, mit seiner Tochter zu experimentieren.
Die Missstimmung, die daraufhin entstand, war allerdings nicht von langer Dauer, und Dr. Basara nahm schließlich Rücksicht. Somit stand einem harmonischen Familientag nichts mehr im Weg.
Es war einer der letzten schönen Tage des Herbstes 2010, fünf Wochen nach Edens letzter Einlieferung in die psychiatrische Klinik von Tulsa. Rahel und Gabriel kostete es viel Überwindung, um sich mit Eden unter Menschen zu wagen. Sie war jedoch die letzten beiden Tage vor dem Konzert in guter Verfassung gewesen, wenn auch regelmäßig Beruhigungsmittel angewandt werden mussten, um die Gefahr drohender Panik-Attacken zu mindern.
Mittlerweile war Dr. Basara dazu übergegangen, zu homöopathischen Mitteln zu wechseln, um den Organismus des Kindes nicht übermäßig zu belasten. Die Medikation erstellte sie selbst, mit Kräutern aus der Natur. Es war ihr sogar gelungen, Eden bei der Suche mit einzubeziehen und hin und wieder ein Leuchten in ihre Augen zu zaubern. Je mehr Zeit Adeela mit den Abels verbrachte, umso zuversichtlicher wurde sie, dem Kind langfristig helfen zu können.
Umso mehr bekam Adeela jedoch auch Einblick in Edens Welt. Die Ärztin war mehr und mehr davon überzeugt, dass ihr Gefühl sie nicht trog: Eden war weder Autistin noch schizophren. Adeelas ganze Hoffnung beruhte darin, dies beweisen zu können. Doch um dieses Ziel zu erreichen, musste sie erst das Geheimnis ihrer kleinen Patientin entschlüsseln!
~ Adeela und Eden ~
"Adeela, waren Sie schon einmal bei einer Musik-Veranstaltung im Freien?“, fragte Gabriel höflich, als sie die große Rasenfläche des Veranstaltungsortes betraten.
Das gesamte Grünareal war von verschiedenen Baumarten umkränzt. Direkt am Eingang stand ein Pavillon, wo Eintrittskarten verteilt wurden. Flankiert wurde dieser von zwei riesigen Ulmen.
Dr. Basara löste ihre Karte und verneinte die Frage. Beeindruckt musterte sie ein goldenes Schild, das an einer der beiden Ulmen angebracht war. "Gabriel, was hat es damit auf sich?“, wandte sie sich an ihn und deutete auf die Gedenktafel aus Messing mit den gravierten Schriftzügen:
IN MEMORIAM
19. April 1995
Oklahoma City
168
Die einzelnen Text-Elemente waren untereinander geschrieben, und die Ziffer 168 stand abgesetzt und ohne Zusatz am unteren Ende der quadratischen Tafel.
Die Frage war Gabriel sichtlich unangenehm. Er stand neben ihr und kam Adeela vor wie jemand aus einer anderen Welt. Geistesabwesend starrte er auf den Baum und versuchte, sein Unwohlsein vor ihr zu verbergen. Sie hakte nach: "Gabriel? Alles in Ordnung?“
Er strich sich verlegen durchs Haar und schaute sie mit hilflosem Blick an: "Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung. Wir verfolgen keine Nachrichten – Eden zuliebe.“
"Ja, das wusste ich schon“, antwortete Adeela. "Aber denken Sie, das ist der richtige Weg? Sie verlieren ja selbst den Anschluss, wenn Sie sich dermaßen abschotten.“ Zufällig fiel ihr Blick auf den zweiten Baum, auf dem eine etwas schlichtere Tafel angebracht war. "Ich schaue mal schnell, vielleicht steht da noch mehr.“
Sie wandte sich ab und machte zwei Ausfallschritte. In Gedanken versunken betrachtete sie die Inschrift, die ihr die Geschichte der beiden Ulmen erzählte. Sie waren einem Bombenanschlag von 1995 in Oklahoma City gewidmet. Die Zahl 168 bezifferte die ums Leben gekommenen Opfer, und das Friedenskonzert war eine Charity zugunsten der Terrorbekämpfung.
Die Sibling of Light Commonwealth zeichnete verantwortlich für länderübergreifende Seminare, in denen die Bevölkerung über verschiedene radikalistische Orientierungen aufgeklärt wurde. Die Schulungsträger setzten darauf, ihre Mitmenschen zu sensibilisieren, indem sie die Zusammenhänge zwischen Bewegung und Gegenbewegung lehrten. Um die Seminare zu finanzieren, organisierten sie Wohltätigkeitsveranstaltungen verschiedener Art.
Adeela gingen jedoch viele andere Dinge durch den Kopf. Sie nahm sich vor, nach dem Konzert mit den Abels darüber zu reden. Ihrer Meinung nach wurde Eden zu sehr verhätschelt. Diesbezüglich ging sie mit Dr. Mendoza konform.
Mittlerweile war Rahel mit Eden an der Hand bei ihrem Mann angelangt. Adeela gesellte sich wieder zu ihnen und war erschüttert über das, was als Nächstes geschah: Eden riss sich von Rahels Hand los und umklammerte die zweite Ulme mit beiden Armen. Tränen liefen ihr über das Gesicht, und sie hämmerte mit dem Kopf darauf ein.
Gabriel schaltete schnell und hielt seine Hand zwischen Baumstamm und Edens Stirn. Mit unendlich traurigem Blick drehte sie sich zu ihm um und hauchte: "Khalil …“
Rahel ging in die Hocke und schloss ihre Tochter in die Arme. Sie begann, Eden tröstend zu wiegen und sah von unten herauf in Dr. Basaras Gesicht. "Adeela, was hat das zu bedeuten?“, fragte sie. "Dieses eine Wort hörten wir öfter. Sie sagten etwas von Arabisch. Was heißt das?“
Adeela schüttelte ebenso ratlos den Kopf. "Das ist ein arabischer Name. Kennen oder kannten Sie jemanden mit diesem Namen?“ Das wurde von beiden verneint.
Gabriel stellte sich abseits und betrachtete nachdenklich die erste Ulme. Adeelas Frage ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Plötzlich war er sich gar nicht mehr sicher, ob ihm der Name nicht doch schon einmal begegnet war.
Noch einmal rief er den Tag von Edens erstem Zusammenbruch auf. Ihm wurde klar, dass alles, was sein Kind beschäftigen musste, irgendwie mit dieser Zeitung von damals zusammen hing. Diesen Gedanken hatte er bisher zwar immer wieder gehegt, doch letztendlich wies er ihn genauso oft wieder weit von sich weg.
Es konnte nicht sein! Sein Innerstes rebellierte gegen diesen abergläubischen Quatsch. Plötzlich jedoch sah Gabriel die erste Seite jenes Schandpapiers wieder ganz klar vor sich. Zwar hatte Rahel die Zeitung damals sofort verbrannt, doch sein Blick war noch kurz auf den Begleittext gefallen. Er vermeinte, den Namen "Khalil" gelesen zu haben. Flüchtig zwar nur, doch …
Gabriel wechselte seine Beinposition, schüttelte abwehrend den Kopf und wanderte zurück zum zweiten Baum. Dort war Rahel noch immer damit beschäftigt, Eden zu trösten. Das traurige Gesicht seiner Tochter schnitt ihm ins Herz, doch wenigstens weinte sie nicht.
Plötzlich drehte sich Eden aus Rahels Armen und umklammerte die Beine von Dr. Basara. Wieder drangen fremdartige Laute aus ihrem Mund. Hilfesuchend starrte Eden in Adeelas Gesicht.
Gabriel beobachtete, wie die Ärztin eine Hand auf ihren Kopf legte und etwas sagte. Kurz übermannte ihn Eifersucht. Mit aller Macht kämpfte er dagegen an.
Was die Abels nun zu sehen und hören bekamen, konnten beide kaum glauben. Zwischen Eden und Adeela entspann sich ein Dialog.
Die Worte waren nicht zu verstehen. Für ihre Ohren klangen sie wie eine Fantasiesprache. Die Mimik der arabischstämmigen Ärztin verriet es ihnen: Sie verstand jedes Wort.
~ Adeela ~
Es war schwierig, die Abels davon abzubringen, die Veranstaltung sofort zu verlassen. Dr. Adeela Basara wollte sich diese Chance jedoch auf keinen Fall entgehen lassen, um Eden erstens ein bisschen Abwechslung zu bieten und zweitens an Ort und Stelle herauszufinden, wie sie auf musikalische Klänge reagieren würde. Die Eltern waren reichlich erschrocken, als sie mit eigenen Ohren hörten, was ihr Kind sprach. Gabriel fragte Adeela, ob sie ihm sagen könnte, was Eden ihr soeben erzählt hätte. Sie wich indessen aus und behauptete, das Gesprochene auch nicht richtig verstanden zu haben. Er glaubte ihr nicht!
Adeela hatte jedes einzelne Wort, jede einzelne Silbe ihrer Muttersprache erkannt. Einen Reim auf das Gesagte konnte sich Dr. Basara allerdings nicht machen. Edens Worten konnte Adeela entnehmen, dass ein gewisser Khalil Soldat wäre und momentan in Gefangenschaft sei.
"Sein Vater gibt ihm Käfer zu essen“, hatte Eden der Ärztin erklärt und hinzugefügt: "Er soll Bomben zu einem Flughafen bringen. So wie es auf der Tafel da steht.“ Dabei zeigte Eden auf die zweite Ulme. Auf deren Gedenktafel war ein Kurzbericht veröffentlicht worden.
"Hilf ihm“, hatte Eden eindringlich gebeten und sich an ihre Beine geklammert. "Du sprichst doch seine Sprache." Adeela fühlte sich indessen hilflos.
Ihre Vermutung war, dass Eden in einer Fantasiewelt lebte und Geschichten erfand, die sie darin erlebte. Allerdings gab es etliche Ungereimtheiten, die nicht zu ihrer Theorie passten.
Die zentrale Frage war noch immer Edens Kenntnis der arabischen Sprache, und eine weitere Irritation folgte auf den Fuß: Woher wusste das Kind, was auf der Gedenktafel stand? Am Abend sprach Adeela mit den Eltern darüber und gestand, Edens Worte verstanden zu haben.
"Ich konnte es an Ihrer Miene ablesen“, erwiderte Gabriel und begann zu erzählen. Noch einmal erlebte er diesen Tag, als Rahel und er vor einem Jahr am Frühstückstisch saßen, mit einem fröhlichen Kind an ihrer Seite, das nur darauf bedacht war, der Mutter eine spielerische Freude zu machen. Er fühlte Edens zärtliche Hände an seiner Wange, jene kleinen Patschhände, die er seitdem nicht mehr zu spüren bekommen hatte. Nunmehr waren sie oft zu Fäusten geballt und pressten sich auf ihre Augen oder die Stirn.
Er sprach von Edens Mund, der so fröhlich zu lachen verstanden hatte und seitdem meistenteils schwieg. Das kleine Antlitz, einstmals das Gesicht eines Engels und nun oft von Verzweiflung gezeichnet.
Die Zeitung – und Gabriels Magen ballte sich schmerzvoll zusammen. Erst eine Rolle, dann flatterte sie wie ein gefährlicher Drachen zu Boden.
Das Foto – unauslöschlich hatte es sich in seine Erinnerung geprägt, wie auch in die kleine Seele von Eden. Ein kleiner Junge mit einem Maschinengewehr, Leichen am Boden, Blut, überall Blut. "Der andere Soldat: War das der Vater?“, fragte er an dieser Stelle seiner Erzählung. "Welches Monster schickt seinen eigenen Sohn in einen Krieg?“
Rahel war totenbleich. Mit tränenüberströmtem Gesicht sah sie ihren Mann an.
Der Worte war sie nicht mächtig, doch tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, sich näher mit jenem unglückseligen Tag zu befassen. Als sie jedoch hörte, was Gabriel rückblickend erzählte, wurde ihr schlagartig klar: Es gab auch noch eine andere Welt.
Angesichts der Qual, die aus seiner Stimme klang und die ihrige widerspiegelte, krampften sich Rahels Hände haltsuchend an der Tischplatte fest.
Ungeschützt ruhte ihr tränenumflorter Blick auf Adeela. Ernst sah sie aus, sehr ernst. Rahel spürte die Finger der Ärztin auf ihren. Schweigen legte sich über den gemütlichen Bauernsalon in Cedar Rapids. Zum ersten Mal während all der Jahrzehnte, die sie mit Gabriel verheiratet war, sehnte sich Rahel zurück in ihr wohlbehütetes Elternhaus.
Adeela ergriff schließlich das Wort. "Ich kann nur erahnen, welchen Schmerz Sie bisher durchmachen mussten. Ich weiß nicht, ob Sie das tröstet, doch ich denke, Eden ist weder Autistin noch schizophren, wie von Dr. Mendoza vermutet. Doch sie ist ein fantasiebegabtes Kind und spinnt sich ihre Geschichten zusammen. Das Foto hatte bei Ihnen allen einen bleibenden Eindruck hinterlassen, und das mag sie belasten. Deshalb verweigert sie sich, darüber zu sprechen.“ Sie tätschelte Rahel noch einmal mitfühlend die Hand. "Bitte beruhigen Sie sich."
Rahel tastete in ihrem Hemdblusenkleid nach einem Taschentuch und fuhr sich damit übers Gesicht. Zaghaft versuchte sie sogar, zu lächeln, was ihr nicht sonderlich gut gelang. „Das klingt zu einfach“, warf sie etwas gefasster ein. „Weshalb spricht sie immer wieder von einem Khalil?“
"Ich bin mir nicht sicher“, griff Gabriel ihre Frage auf. "Ich glaube, der Junge auf dem Foto hieß so.“
Rahel glaubte ihm nicht. "Woher willst du das wissen? Ich hatte die Zeitung im Garten verbrannt, erinnerst du dich?“ Sie sah ihren Mann an, als spräche sie mit einem Verrückten.
Gabriel stand auf und flüchtete sich in die Sicherheit einer alten Nussbaumkommode im Hintergrund. Sie stammte noch aus seiner Junggesellenzeit. Er lehnte sich schutzsuchend an und verschränkte die Arme. "Ja, das weiß ich", rechtfertigte er sich. "Ich konnte vorher noch einen Blick auf den Artikel werfen, wenn ich auch nicht alles lesen konnte. Die Informationen, die ich bekam, haben mir beim besten Willen gereicht!“ Er war noch immer voll Zorn. Waren sie nun schuldig an Edens Unglück? Wollte Adeela ihnen das die ganze Zeit sagen, so wie die anderen Ärzte, die ihr Kind in Behandlung hatten? Er fragte sie direkt: "Wie denken Sie nun über den Anteil von Rahel und mir? Handelten wir irgendwann falsch an unserem Kind? Haben wir ihre Krankheit womöglich verschuldet?"
"Es fällt mir nicht leicht, Ihnen darauf eine Antwort zu geben“, antwortete Adeela und strich zwei schwarze Haarsträhnen aus ihrer Stirn. "Es gibt keine Pauschallösung, und ich weiß noch zu wenig, um mir ein umfassendes Bild machen zu können. Meine Frage ist, weshalb Sie sich von Internet und Fernsehen so sehr distanzieren. Beides sind wichtige Medien. War das schon vor Edens Geburt so?“
"Wir wollten davon verschont bleiben, ganz einfach“, antwortete Rahel. "Was ist daran falsch?“
„Tja, wie soll ich sagen: Ich fürchte, Eden ist deshalb zu behütet aufgewachsen und entwickelte sich zu einem übersensiblen Kind. Das Foto war für ihre Nerven zu viel und hatte einen Nervenzusammenbruch zur Folge.“
"Und was ist mit Edens regelmäßigen Anfällen?“, fragte Gabriel. "Es ging ja immer so weiter!"
"Spätfolgen, weil nicht erkannt“, gab Dr. Basara knapp zur Antwort. Der Mann setzte ihr zu, ihr wurde heiß. Sie fühlte sich fast wie durch eine Mangel gedreht, doch er war noch nicht fertig: "Und die fremde Sprache, und weshalb kann unser Kind lesen, wie Sie selbst vermuteten? Sonst hätte sie ja den Inhalt der Gedenktafel nicht kennen können.“ Gabriel ließ noch lange nicht locker.
Rahel bemerkte Adeelas Unwohlsein. "Vielleicht hat sie das aus einem Gespräch aufgeschnappt. Es standen ja genügend Menschen um uns herum“, sprach sie eine Vermutung aus. "Sämtliche bisherigen Versuche, herauszufinden, was mit unserer Kleinen los ist, erscheinen mir reichlich absurd." Rahel unterdrückte die Tränen, die erneut in ihr aufsteigen wollten. Bevor Eden zur Welt kam, hatten Gabriel und sie so viel auf sich genommen, um ihre Ehe mit einem Kind zu krönen. Seit ihr Mädchen geistig nicht mehr bei ihnen war, schien für sie keine Sonne mehr.
"Aber warum kann Eden arabisch?“ Gabriel gab sich noch lange nicht zufrieden und hakte eindrücklich nach. Er ging zurück zu den Anderen und setzte sich wieder hin. Drei Augenpaare sahen einander ratlos über den alten Eichentisch, an dem sie nach einem ereignisreichen Familientag saßen, an. Eden war bereits im Bett. Adeela hatte sich zu einem Glas Wein an das Elternpaar angeschlossen, um einiges in Erfahrung zu bringen.
Das Gespräch verlief indes eher unergiebig, und sie stand noch immer vor einem Rätsel. Statt Antworten zu bekommen, hatte sie nur noch mehr Fragen erhalten.
Schließlich räkelte Adeela sich und verabschiedete sich. "Ich möchte noch ein paar Recherchen anstellen und begebe mich deshalb zur Ruhe. Wie ist es mit Ihnen? Sind Ihre Koffer für den Flug schon gepackt?“
Rahel bejahte die Frage. In ihrem Blick flackerte Panik bei dem Gedanken, nach so langer Zeit mit ihrem kranken Kind in einem Flieger zu sitzen und die alte Heimat aufzusuchen. Doch ihr Mann und sie setzten ihre ganze Hoffnung auf Dr. Sanders, dass er imstande wäre, Eden zu helfen.
Die verzweifelte Mutter war froh, dass Edens behandelnde Ärztin sie und ihren Mann in ihrem Vorhaben bestärkte und die Familie begleitete. "Übermorgen ist es soweit“, antwortete Rahel. "Es wird der erste Flug für Eden. Für Gabriel und mich ist es der zweite. Mir ist ein bisschen mulmig. Nun ja, eigentlich sehr mulmig!“
"Haben Sie Flugangst?“, fragte Adeela von der Wohnzimmertür her.
"Nein, das nicht. Ich mache mir eher Sorgen wegen Eden. Bisher hat sie nur Eisenbahnen kennengelernt", antwortete Rahel Abel besorgt.
"Das brauchen Sie nicht", versuchte Adeela, sie zu beruhigen. "Ihr Kind ist stabiler, als Sie denken. Schauen Sie nur einmal, wie sie die Einflüsse des heutigen Tages weggesteckt hat. Sie war nach dem Konzert richtig gelöst.“
Ein warmes Lächeln huschte über das Antlitz der Mutter. "Wir haben Ihnen viel zu verdanken, Adeela. Seit sich Eden in Ihren Händen befindet, ist sie wesentlich ruhiger geworden. Unsere Tochter mag Sie sehr. Wir übrigens auch, nicht wahr, Gabe?“
Um Bestätigung heischend sah Rahel zu ihrem Mann. Gabriel nickte. "Schauen wir mal, was daraus wird. Ohne Sie hätten wir ein ungutes Gefühl, Eden weiteren Untersuchungen zu unterwerfen. Wenn Sie jedoch sagen, dass es sinnvoll ist, vertrauen wir Ihnen. Mehr als Dr. Mendoza.“
"Danke“, antwortete die Ärztin und lächelte das Paar gerührt an. Sie hatte sich mit verschränkten Armen in den Türrahmen gestellt. Nun wandte sie sich endgültig ab und wünschte Rahel und Gabriel Gute Nacht. Danach begab sie sich in das liebevoll eingerichtete Gästezimmer und klappte an dem kleinen Schreibtisch, der sich darin befand, ihren Laptop auf. Da war ein Gedanke, der ließ sie nicht los!
~ Eden ~
Eden kuschelte sich in ihre Kissen und blickte verträumt in das Grausilber der beginnenden Nacht. Hoch oben über ihr bauschte sich ein leichter Organzastoff in einem tiefdunklen Blau. Er war mit goldenen Sternen bestickt.
Ihre Mutter hatte viel Mühe darauf verwandt, den Himmel ihres Messingbetts von Hand zu nähen, um Eden eine Freude zu machen. Vor etwas mehr als einem Jahr hatte das Mädchen noch die Tragestangen des Betthimmels erklommen und bildete sich ein, fliegen zu können. Nunmehr war sie sechs Jahre alt, doch die Freuden der Kindheit hatte sie schon lange hinter sich gelassen.
Heute war für sie ein besonderer Tag: Er hatte Eden etwas geschenkt. In ihren Ohren klangen noch die Laute der Harfe, die ihr viel Glück beschert hatten. Die zarten Klänge hatten ihre Welt der Stille durchbrochen, und das erste Mal seit Langem erfüllte Frieden ihr kleines Herz.
Sie hätte es gern mit ihren Eltern geteilt. Eden würde ihnen gern so vieles erzählen, doch sobald sie zu sprechen versuchte, legte sich ein schwerer Stein auf ihre Brust. Nur durch ihren Freund Khalil konnte sie ihre Stimme benutzen. Sie hatte jedoch bald bemerkt, dass ihre Eltern sie nicht verstanden, und so blieb sie meist stumm.
Lange war sie völlig überfordert gewesen, nachdem sie ihn kennengelernt hatte. Sie hatte ihm nicht von Angesicht zu Angesicht gegenüber gestanden, und dennoch war sie mit ihm im Geiste verbunden. Es war erschreckend für Eden, eine Welt erleben zu müssen, die sonst niemand sah. Die Schmerzen, die sie erleiden musste, wenn die beiden Kinderseelen aufeinander trafen, brachten sie oftmals fast um den Verstand.
Dass sie mit ihrer Pein auf sich gestellt war, hatte sie schnell begriffen. Das machte sie traurig.
Angst hatten ihr auch die vielen Ärzte gemacht. Erst zu der Frau Doktor, die Khalils Sprache verstand, hatte sie Vertrauen gefasst, und seitdem fühlte Eden sich etwas stärker. Doch sie spürte: Ihr kleiner Soldatenfreund war in Gefahr, und Eden würde ihm helfen. Sie wusste nur noch nicht, wie!
~ Eden, der Sonnenschein ~
Der Tag nach dem Friedenskonzert stand ganz im Zeichen des Abschiednehmens. Des Morgens saßen Rahel, Gabriel, Adeela und Eden in trautem Beisammensein am Frühstückstisch. Die Augen des Mädchens waren so klar wie schon lange nicht mehr, sie wirkte glücklich.
Die Sonne sandte ihre güldenen Strahlen durch das Fenster. Eden streckte beide Hände in deren Richtung, als wolle sie das Sonnenlicht fangen und auf alle Zeiten in ihrem Herzen bewahren. In Gedanken sandte sie das gefangene Himmelsgold jedoch weiter zu Khalil.
Ein freudiges Lächeln stahl sich auf Rahels Lippen. Gerührt legte sie die Hand auf Gabriels Arm und deutete mit einem kurzen, innigen Augenspiel in Edens Richtung.
Keiner wagte, zu sprechen – aus Angst, den kurzen Moment des Glücks zu zerstören. Eden pflückte eine weitere Handvoll Sonnenlicht vom strahlendblauen Herbsthimmel und wandte sich ihren Eltern zu. Ganz vorsichtig öffnete sie ihre zierlichen Hände – nur einen Spaltbreit, um die Sonnenstrahlen nicht entwischen zu lassen.
Ein tiefer Atemzug entfleuchte der kleinen Brust. Eden öffnete nunmehr beide Arme ganz weit, um drei Herzen mit Sonnenlicht und Freude zu fluten. "Fangt das Licht, Mommy und Daddy!“, forderte sie ihre vor Rührung fassungslosen Eltern auf.
Mit Tränen in den Augen bat Gabriel seine Tochter, zu ihm zu kommen, und Eden gehorchte. Nach mittlerweile anderthalb Jahren kletterte sie das erste Mal wieder auf seinen Schoß, legte ihre zarten Finger an seine Wangen und fragte: „Warum weinst du, Daddy?“
Liebevoll schloss er sie in seine Arme und schmiegte sein grauhaariges Haupt an Edens Hals: „Weil ich mich freue, mein Schatz!“
Rahel konnte nicht mehr an sich halten. Rasch erhob sie sich, unterdrückte ein Schluchzen und verließ den Raum.
~ Adeela und Rahel ~
Adeela Basara hatte den Abels die Ergebnisse ihrer Recherchen größtenteils verschwiegen. In der Zwischenzeit war sie über das Foto von Abdullah und Khalil Sherman im Bilde und wusste, dass es in der Tat existierte. Sie hatte es am Abend des Konzerts im Web-Archiv der Tulsa World aufgetrieben.
Bei dieser Gelegenheit war sie auf eine weitere, aktuellere Meldung gestoßen. Intuitiv spürte sie, dass es zwischen den beiden beschriebenen Ereignissen einen Zusammenhang gab. Sie nahm sich vor, die Unruhen zwischen Palästina und Israel künftig im Auge zu behalten, auch in der Hoffnung, weiteres über Khalil in Erfahrung zu bringen. Das Schicksal des Jungen hatte sie bis in ihre Träume verfolgt. Darüber hinaus sperrte sie sich nicht länger gegen die Möglichkeit, dass Edens Halluzinationen realen Hintergrund aufweisen könnten. Somit folgte sie ihrem Gespür, das sie von Anfang an auf diesen Weg führen wollte.
Am Nachmittag saß sie mit Rahel auf der Terrasse. Eden hielt ihren Mittagsschlaf, und Gabriel war außer Haus. Die Temperatur war im Lauf des Tages gefallen, doch die Sonne hatte noch genug Kraft, um die letzten Tage vor Einbruch des Winters draußen genießen zu können.
In einem gusseisernen Korb flackerte ein gemütliches Feuer und warf gleich einem lustigen Flammentanz zuckende Schatten gegen die Wand.
Im Lauf der Zeit war eine tiefe Zuneigung zwischen den beiden Frauen entstanden, und sie fühlten sich auch im Schweigen wohl miteinander. Schließlich durchbrach Rahel die beinahe andachtsvolle Stille und fragte: "Ist es wirklich noch notwendig, Eden weiterhin untersuchen zu lassen?“
Adeela hörte die Sorge aus ihrer Stimme. "Es wäre besser, Rahel“, riet sie ihr. "Lassen Sie nicht nach, weil Sie sich nun unsicher sind. Eden wird nichts geschehen.“
Rahel seufzte: "Ihr Wort in Gottes Ohr.“ Nachdenklich schaute sie auf die fallenden Blätter im Garten. 'Wir werden bald Laub rechen müssen’, dachte sie ohne jeglichen Zusammenhang.
Sie wandte sich wieder an Dr. Basara: "Es war Frühling, als Eden das letzte Wort mit uns sprach, und nun ist es Herbst - ein Jahr danach. Wissen Sie, wie es ist, sein Kind zu verlieren?“ Sie legte ihr Strickzeug beiseite, verschränkte die Hände in ihrem Schoß und senkte den Blick. "Glauben Sie mir, Adeela", wisperte Rahel. "Es ist die Hölle!"
"Aber das werden Sie doch nicht, Rahel“, antwortete Adeela, die sie nicht gleich verstand. "Eden ist und bleibt doch Ihr Kind. Niemand will das in Abrede stellen.“
"Das meinte ich nicht, Adeela. Eden wurde uns nicht von menschlichen Händen geraubt. Und doch haben wir sie verloren – an diese andere Welt, in der sie sich befand. Und ich befürchte, dass wir sie wieder verlieren, wenn zu viel herum experimentiert wird.“ Rahel kämpfte gegen die Tränen an, die in ihr hochsteigen wollten. Sie war am Morgen so glücklich gewesen, weil ihr Kind seit Langem wieder Ruhe gefunden hatte und ganz offensichtlich auf dem Weg der Besserung war. Und nun hatte sie Angst!
Adeela konnte sie sehr gut verstehen. Ihr war jedoch bewusst, wie zerbrechlich dieser kurze lichte Moment des Kindes gewesen war. Ihrer Meinung nach war es nur eine Phase, ausgestanden war es noch nicht.
Sie versuchte, die Bedenken der Mutter zu zerstreuen. "Werteste Freundin ...", antwortete sie mit warmer Stimme und legte ihren Arm tröstend um Rahels Schulter. "Ich denke, dass Eden der Aufenthalt in Crawfordsville Spaß machen wird. Die Tests, die Dr. Sanders durchführen will, werden spielerisch gehandhabt. Weder wird sie verletzt noch unter Medikamente gesetzt. Und wenn er es für notwendig befindet: Die weiterführenden Studien sind wie Urlaub. Die Probanden malen zusammen, basteln, sind kreativ. Klänge spielen eine große Rolle bei diesen Tests."
Ernst sah Adeela der älteren Frau in die Augen und mahnte: "Lassen Sie es zu, Rahel, und sperren Sie sich nicht gegen den Fortschritt. Wenn ich ganz ehrlich bin: Damit schaden Sie ihrem Kind mehr, als Sie denken. Und: Ich werde es ebenso wenig zulassen wie Sie, dass Eden Schaden zugefügt werden könnte.“
Schließlich war auch dieser Tag des Zweifelns und Bangens zur Neige gegangen. Edens Zustand war stabil, und offenbar hatte sie ihre Worte wieder gefunden. Des Abends beim Nachtmahl war auch Gabriel wieder zuhause, und in diesem hatte Adeela weiteren Rückhalt gefunden. Er hatte nachdenklich und schweigsam gewirkt.
Späterhin war kurzfristig Besuch von einer Glaubensschwester der Abels gekommen. Diese hatte sich bereit erklärt, das Haus in ihrer Abwesenheit zu bewohnen. Mit warmen Worten und Glückwünschen ließ sie sich den Zweitschlüssel geben und verabschiedete sich von der Familie mit der Zusicherung, Garten und den kleinen Gemüseacker hinter dem Haus zu hegen und zu pflegen.
Als die Sonne unterging, begaben sich alle zur Nachtruhe; voller Erwartung, was die Zukunft wohl brächte. Eden war diejenige welche, die am Unbedarftesten war. Was auf sie zukam, wusste sie nicht.
Sie ahnte jedoch, dass sie viel Neues kennenlernen würde, und sie freute sich auf die Reise. Vielleicht würde Eden ihn in dieser neuen Welt finden: Ihren Freund Khalil.
# Massaker bei Rammalah #
Ein größeres Unglück verhindert?
In den frühen Morgenstunden des gestrigen Tages wurde von einer israelischen Grenzpatrouille eine Entdeckung gemacht, die einmal mehr bewies, dass Frieden zwischen dem Westjordanland und Israel nach wie vor in weiter Ferne liegt.
Im Vorfeld waren über mehrere Nächte hinweg Erschütterungen des Erdreichs zu spüren gewesen, deren Ursache zunächst nicht ausgemacht werden konnte. Einen Zusammenhang zwischen vermehrten Angriffen noch unbekannter Terrorgruppen um die Grenzgebiete herum und kleineren Beben, die offenbar auf palästinensischer Seite ihren Anfang nahmen, sah man zunächst nicht.
Erst nachdem deutlich Explosionen im Erdreich unter der Mauer von Rammalah zu vernehmen waren, schöpften drei israelische Milizen Verdacht und informierten ihre Vorgesetzten. So wurde denn auch sogleich Vorsorge getroffen und dem offensichtlich kurz vor der Fertigstellung stehenden Angriffsstollen entgegengewirkt. Das Erdreich wurde nunmehr von israelischer Seite aus kontrolliert aufgebrochen. Unter Lebensgefahr wurden 200 Milizen dem unsichtbaren Feind entgegen gesandt. Nicht bestätigte Gerüchte reden von insgesamt 100 Toten auf beiden Seiten.
Auszug: Tulsa World/apa/2010/11/23/
~ Khalil ~
Die Zeit dehnte sich für Khalil wie Gummi. Sein Vater hatte sich schon länger nicht mehr sehen lassen – nicht, dass es für ihn wesentlich war. Der Junge hatte nicht einmal mehr die Kraft dazu, Hunger zu spüren. Sein Gefängnis – nicht mehr als ein Bretterverschlag unter der Erde – teilte er nur noch mit seinen unfreiwilligen vierbeinigen Begleitern, den Ratten. Um ihn herum war es finster, denn das kleine Windlicht war schon lange erloschen. Er hatte auch kein Petroleum mehr, um es zu versorgen.
Umso deutlicher nahm er die rotglühenden Augen der Nager um sich herum wahr, und sie erschienen ihm von Mal zu Mal größer. Sein ausgemergelter Körper war mit entzündeten Schwären geradezu übersät.
Die meiste Zeit verbrachte Khalil in komaartiger Ohnmacht, aus der er nur erwachte, wenn Schritte über die verschlossene Luke seines Verlieses hinwegdonnerten. Als er noch besser bei Kräften gewesen war, hatte er es mit Schreien versucht, voller Zorn darüber, was ihm widerfuhr. Mittlerweile war er nicht einmal mehr fähig, zu stöhnen.
Es machte ihm nichts mehr aus. Khalil begrüßte den Tod mit geöffneten Armen und sehnte ihn sogar herbei.
Elf Jahre seines Lebens waren zerronnen im Staub. Seine Muttererde war mit Blut durchtränkt, entnommen seiner eigenen Generation und den vielen Opfern, die Krieger wie er und seinesgleichen erbrachten. Deshalb erschien ihm sein eigenes Leiden mehr als gerecht, unter Anbetracht dessen, wie viel Tod und Elend über die Menschheit gebracht worden war. Er war zur Sühne bereit. Blut gegen Blut, Tod gegen Tod.
In Wirklichkeit wünschte sich Khalil seine Unschuld zurück. Wünschte sich, dem Schmerz zu entfliehen, dem Schmerz in seinem Herzen, gegen den die Pein seines Körpers verblasste. Die Dunkelheit um ihn herum war licht gegen jene, die seine Seele umfasste.
Tränen – Khalil hatte derer viele vergossen, um all diese Menschen, die er nicht kannte und doch töten musste. Und wenn er sich geweigert hatte, zu gehorchen, wurde die Waffe von seinem Vater geführt, tausendmal grausamer, als er selbst es hätte jemals ausführen können.
So hatte der kleine Rekrut das Morden gelernt: um den Opfern des väterlichen Irrsinns letzte Gnade durch schnellen Tod zu gewähren. ... Mord im Auftrag des Staates …
~ Abdullah Sherman ~
Khalils Vater war zum Zeitpunkt des Dienstantrittes „nur“ ein Soldat unter vielen gewesen. Binnen eines Jahres hatte Abdullah Sherman es jedoch verstanden gehabt, seine Ressourcen zu nutzen.
Nicht zuletzt mit Hilfe von Khalil erwarb er sich den Respekt seiner nicht minder fehlgeleiteten Kameraden. Sie fürchteten ihn, ebenso wie der eigene Sohn, der von seiner Grausamkeit nicht verschont geblieben war.
Eines Tages hatte er seine eigene Schar von fünfzig Mann und sandte sie von Pontius bis Pilatus, um Tod über vermeintliche Feinde zu bringen. Die Scharen der PLF – zu der sie gehörten – agierten vordergründig im Auftrag des Glaubens, doch in Wirklichkeit erhielten sie Geld für ihre „Dienste“.
Natürlich nicht der kleine Soldat, der nur gehorchte, weil es sich so gehörte. Doch all die Khans und Begums, die das Kriegshandwerk und das Ausbilden der Söldner finanzierten, schmückten sich mit Orden und Villen und hielten sich darüber hinaus eher bedeckt.
„Freiheit“ hatten sie sich auf die Fahne geschrieben, doch in Wirklichkeit war das Motto die Knechtschaft des Todes. Grenzen niederreißen, um überall leben zu können – die Wahrheit jedoch war, dass SIE leben wollten.
Leben im Paradies, das ihnen so verheißungsvoll schien, um es mit siebzig Jungfrauen teilen zu können. So zumindest waren die Versprechen, die Gotteskrieger erhielten. Doch um das Paradies erreichen zu können, mussten sie ehrenvoll sterben – im Sinne des Staates, im Sinne des Glaubens. Sie mussten töten, denn Allah hatte es so bestimmt.
~ Khalil ~
Khalil kam nicht umhin, diesen Allah zu hassen. Es gab eine Zeit, als er noch an ihn geglaubt hatte, an all die göttlichen Wunder der Mutter Natur.
Zu jener Zeit sah er ihn noch als einen himmlischen Vater, voll der Gnade und Güte, der seine Schöpfung vor Bösem bewahrt. Es war eine Zeit voller Liebe und Märchen gewesen, als er noch in den Armen seiner Mutter lag und Geborgenheit fand. Khalil wurde jedoch schon früh das Erwachsenwerden bestimmt, und er lernte die Sprache der Waffen, die Abdullah Sherman und seine beiden anderen Söhne schon lange beherrschten. Khalil hatte seine Brüder kaum kennengelernt, er erinnerte sich nicht mal mehr an ihre Namen. Alles, was er über sie wusste, war, dass sie kaum älter als er gewesen waren, als es sie erwischte. Khalil wusste nicht, lebten sie oder waren sie bereits tot!
~ Khalil und Eden ~
Traumbilder manifestierten sich hinter seinen geschlossenen Lidern. Sein Körper suchte, den Geist zu übertrumpfen, um zu seinem Recht zu gelangen und gemahnte Khalil, zu leben. Er weigerte sich, die schützende Hülle der Dunkelheit zu verlassen.
Khalil spürte einen stechenden Schmerz in der Wade, der ihn zu Bewusstsein brachte. Er kämpfte sich mit flatternden Lidern an die Oberfläche einer zähen Glibbermasse, die ihn zu umfangen schien.
Als er erwachte, lag er inmitten seines eigenen Kots. Der Gestank um ihn herum nahm ihm die Luft zum Atmen. Khalil drohte, wieder bewusstlos zu werden.
Er spürte eine Bewegung an seiner Wange und wandte den Kopf in deren Richtung. Zwei funkelnde Augen sahen ihn an und brachten ihn endgültig ins Leben zurück.
Etwas war anders! Verwirrt versuchte der Junge, das nicht Greifbare zu greifen. Es war diese Stille, die ihn irritierte. Die Alltagsgeräusche, das Knirschen des Wüstensandes unter den schweren Stiefeln der Krieger, das Donnern der Marschschritte direkt auf der Luke seines Bretterverschlags, die knappen Befehle der Scharführer, das aufrührerische Kampfgebrüll zwecks Motivation: All das war so plötzlich verschwunden, dass ihm die Ruhe lauter als alles Andre erschien. Die Erinnerung eines schrillen Pfeifens drängte sich in sein Unterbewusstsein, begleitet von lautem Donnern, das jedoch weit entfernt von ihm war. Vermutlich hatte Khalil es im Tiefschlaf vernommen – oder hatte er es geträumt? Er wusste es nicht.
Auf seiner Brust fühlte er einen seltsamen Druck, der ihn in Panik versetzte. An seiner linken Schulter floss ein warmes Rinnsal entlang. Khalil konnte dessen Zugehörigkeit nicht orten und tastete mit der rechten Hand nach seinem Arm. Seine Hand griff in eine zähklebrige Masse.
In dem Moment spürte er auch den Schmerz! Entsetzt riss Khalil die Augen auf und starrte nach oben. Ein lautes Ächzen entrang sich seiner Brust.
Mit aller Kraft versuchte er, sich von der Steinlast, die auf ihm ruhte, zu befreien. Seine Bemühungen waren vergeblich, und Panik bemächtigte sich seiner.
Orientierungslos sah er sich um und entdeckte einen größeren Spalt in dem Trümmerhaufen, der ihn umgab. Überrascht von der plötzlichen Helligkeit um sich herum erblühte die Hoffnung in ihm, seiner aussichtslos scheinenden Lage entfliehen zu können.
Er stemmte sich noch einmal gegen den Widerstand, der seinen Körper ringsum gefangen hielt. Ein Adrenalinstoß durchflutete ihn. Khalil schaffte es tatsächlich, sich zu befreien. Mit der übermenschlichen Kraft des Überlebenwollens warf er seine Last ab und kroch aus dem Steinhaufen hervor. Staub reizte seine Schleimhäute. Er keuchte.
Hustend robbte Khalil durch den engen Raum. Alle paar Zentimeter griff er in schlammige Masse. Voller Ekel spürte er, wie eine Ratte über seine Hand huschte und schrie auf.
Als er auf einen größeren Widerstand stieß, tastete er sich daran entlang und versuchte, sich zu erheben. Nach mehreren Versuchen stand er das erste Mal seit Langem wieder auf seinen eigenen Beinen.
Nun hieß es, sich neu zu orientieren. Khalil lehnte sich gegen die Wand und sah sich in seiner für ihn neuen Umgebung um. Dort, wo die Öffnungsluke seines Verlieses sein musste, klaffte ein riesiges Loch.
Größere Holztrümmer lagen direkt darunter, vermischt mit Gestein und rieselndem Feinstaub.
Khalil wandte den Kopf nach rechts und stieß einen entsetzten Schrei aus: Vor ihm lag der leblose Körper seines Vaters im eigenen Blut.
Vorsichtig tastete er sich auf dem unebenen Boden in seine Richtung und beugte sich über ihn.
Der zertrümmerten Schädeldecke zufolge kam für Abdullah Sherman jede Hilfe zu spät. Khalil kämpfte gegen die Erleichterung an, die ihn übermannte. Er war frei!
Im nächsten Moment fühlte er sich jedoch nur noch leer. Der junge Kämpfer wich zurück gegen die Wand und ließ seinen Körper daran herabgleiten. Er fühlte sich wie unter einer Glasglocke gefangen.
Aus der Helligkeit des Tages, die er so kurz nur durch die zerstörte Decke des Erdlochs erblickt hatte, wurde das Dunkel der Nacht.
Khalil kauerte in Hockhaltung in seiner Nische, die Beine gestreckt, den Rücken gekrümmt, als erwarte er jeden Moment den Hieb seines Peinigers, der tot vor ihm lag. Die Kraft, um seine Freiheit zu nutzen, war ihm wieder abhanden gekommen. Doch tief in sich drin spürte er Freude.
So saß er eine Ewigkeit da und teilte seine Gedanken nur mit der Nacht. Den Blick hielt er nach oben gewandt, und durch die offene Luke schien silbern der Mond. Das Stückchen Himmel dort über ihm wandete Khalils Seele in diamantdurchwirkten, nachtblauen Samt.
Mehr und mehr fand er zu sich zurück. Er hatte sich so lange schon verloren geglaubt.
Vor Khalils innerem Auge manifestierte sich plötzlich ein Bild, und er vernahm die Klänge einer Harfe. Sie wurde von einem Engel gespielt, mit dunklen Locken und kindlichem Blick. Tränen liefen ihm übers Gesicht, er wähnte sich sterbend. Die Nacht schwand, der Tag brach heran. Sonne durchflutete sein finsteres Loch, und eine Stimme riet ihm, sich zu erheben.
„Khalil“, vernahm er ein Raunen. „Nimm deine Beine und geh, weil ich dich brauche. Das Sonnenlicht soll dich leiten, und wir werden einander finden. Eines Tages bin ich bei dir.“ Und seine verwundete Seele badete in ihrer Liebe.
~ Eden und Mr. Squintie ~
Am Tag der Abreise – es war am 27. November 2010 – kam zu Edens großer Freude Adeelas quietschgelber Mini-Cooper zum Einsatz.
Verschlafen quetschte sich Gabriel um 5:30 Uhr morgens mit seiner Tochter zusammen auf die hinteren Sitze, während Rahel das Vorrecht als Beifahrerin hatte. Im Gegensatz zu ihren Eltern war Eden recht aufgedreht. Als Adeela auf dem Fahrersitz Platz nahm, tippte sie ihr auf die Schulter und fragte: "Warum hat dein Auto eigentlich Schiel-Augen?“
Adeela drehte sich zu ihr um und grinste sie an: "Die sind cool, nicht wahr? Deshalb habe ich Mr. Squintie gekauft.“ Sie schaute nach vorn auf die Straße und startete den Motor. Eden lachte lauthals: "Das hört sich nach bösem Husten an. Du hast aber ein witziges Auto.“
Adeela warf einen verstohlenen Blick zu Rahel und sah ein glückliches Lächeln auf ihren Lippen. Das Herz ging ihr auf bei dem Gedanken, dass für die Familie alles gut ausgehen konnte. Sie hoffte sehr, dass ihr gutes Gefühl sie nicht trog. Schließlich antwortete sie dem kleinen Mädchen: "Pass mal auf, was Mr. Squintie noch alles kann.“
Adeela drückte auf die Hupe und ließ ein lautes Muhen erklingen. Gabriel zuckte neben seiner Tochter erschrocken zusammen, was Eden wiederum dazu veranlasste, fröhlich zu kichern. "Du sollst doch nicht schlafen, Daddy. Bist du jetzt wach?“, fragte sie und stupste ihn in die Seite.
Gabriel brummte und drückte seine Tochter an sich. Wohlig kuschelte sich Eden in seine Arme.
Wenig später fielen auch ihr trotz aller Aufregung die Augen zu, und so verlief die Restfahrt zum Flughafen von Tulsa relativ ruhig. Nur Rahel seufzte hin und wieder besorgt vor sich hin und starrte zum Fenster hinaus. Alles in ihr sträubte sich, ihr einziges Kind aus den Händen geben zu müssen, doch blieb eine andere Wahl?
Adeela erkannte die Sorgen der Mutter und legte ihr tröstend die rechte Hand auf den Arm. "Alles wird gut“, raunte sie ihr leise zu. "Sie müssen nur fest daran glauben. Eden ist stark und hochintelligent. Sie wird es gut überwinden.“ Rahel gab keine Antwort und warf ihr stattdessen einen dankbaren Blick zu. Sie lehnte ihren Kopf gegen das Fenster und erwartete in Gedanken versunken das Ende der Fahrt. Bald verließen sie die ländliche Gegend und fuhren wenig später über den Highway.
Eden murmelte im Schlaf vor sich hin. Es erschien der liebenden Mutter wie ein Wunder, endlich wieder Sprechlaute aus dem Mund ihrer Tochter vernehmen zu können und zu sehen, wie gelöst und zufrieden sie war.
Um fünf Uhr befanden sie sich schließlich in Tulsa. Adeela hatte beschlossen, den Wagen an ihrem Arbeitsort abzustellen, und so würden sie gezwungen sein, den Rest des Weges per U-Bahn zu nehmen.
Einen Großteil der Koffer hatte Gabriel am Tag vorher schon per Post versandt, und so reisten sie nur mit leichtem Handgepäck. Etwas wehmütig parkte Adeela ihr Auto beim Hintereingang und wandte sich an ihre Begleiter: "Wir sind da. Seid Ihr wach?“
Eden rieb sich die Augen. "Wo sind wir hier?“, fragte sie verschlafen.
"Wir sind am Krankenhaus, Eden“, antwortete Gabriel und öffnete seine Tür. Er war im Begriff, auszusteigen, doch Eden hielt ihn davon ab. Fest zog sie sie an seinem Jackenärmel. "Aber ich will hier nicht sein!“ Tränen stiegen ihr in die Augen. "Ihr hattet mir eine Reise versprochen.“
Rahel stieg aus und umrundete Adeelas Cooper. Bedrückt öffnete sie an Edens Seite die Wagentür, ging in die Hocke und sah ihrer Tochter in die Augen. "Du musst hier nicht hin, sei unbesorgt! Nur das Auto bleibt hier. Wir werden fliegen, wie versprochen.“
Eden klammerte sich an die Hand ihrer Mutter und fragte: "Aber wo fliegen wir hin? Und warum?“
Allmählich machte sich doch Angst in ihr breit. So mutig, wie Eden am Vortag noch vorgegeben hatte zu sein, war sie nicht. Sie hatte seit dem Friedenskonzert so hart an sich gearbeitet, um ihre normale Sprache wiederzufinden, weil sie sich etwas davon versprach. Alles, was Eden wollte, war Khalil zu finden, und dazu brauchte sie die Hilfe von Erwachsenen. Wenn sie jedoch niemand verstehen würde: Wie könnte sie diese dann führen?
Rahels Herz zog sich zusammen, als sie die Furcht im Gesicht ihrer Tochter erkannte. Der Grat, den sie alle gemeinsam erklommen, um Eden zu helfen, erschien ihr gefährlich. Es war so schwer gewesen, das Vertrauen des Kindes zurückzugewinnen, nicht auszudenken, was geschähe, wenn Eden dieses wieder verlor. Sie beantwortete ihre Geste durch ein Umfassen der kleinen Hände und antwortete: "Wir fliegen nicht weit, nur an einen Ort, der uns allen guttun wird. Wir sind bei dir.“
Eden rutschte vom Sitz herunter, stellte sich aufrecht und fragte fordernd: "Werden wir auch alle zusammen sein?“ Ihr Blick ließ keinen Zweifel daran, dass sie sich nicht an der Nase herumführen ließe.
"Ich verspreche es dir, Eden. Du bist niemals allein. Und nun komm, wir müssen los.“
Eden ließ sich überreden. Sie rannte um Mr. Squintie herum und legte beide Hände auf die Kühlerhaube. "Schade, dass du nicht mit kannst“, sprach sie mit bedauernder Miene. "Hoffentlich musst du nicht frieren.“
Es klang so drollig, dass Adeela, Gabriel und Rahel gar nichts anderes übrig blieb, als darüber zu lachen. Jeder mit einer Reisetasche bepackt, verließ die Gruppe schließlich den Parkplatz und überquerte die Straße.
Direkt gegenüber befand sich die U-Bahn-Station. Wie ein dunkler Schlund gähnte ihnen gierig der Eingang entgegen. Eden fand schnell Vergnügen an dem gläsernen Fahrstuhl, der sie zwei Stockwerke tiefer zu den Bahnsteigen beförderte.
Das Rauschen der einfahrenden Züge drang gedämpft an ihre Ohren und wurde lauter, als sie die Kabinen verließen. Eden klammerte sich ängstlich an die Hand ihres Vaters. "Daddy, hier ist es so laut. Ich habe Angst.“
"Du brauchst keine Angst zu haben, Darling. Wir fahren nur ein bisschen Zug, und dann sind wir auch schon am Flughafen.“
"Ist ein Flugzeug so wie ein Vogel?“, fragte Eden.
"Es fliegt wie ein Vogel, aber es ist viel größer. Es passen viele Leute in dessen Bauch.“
"Aber Daddy, werden wir von diesem komischen Flugzeug gefressen?“ Eden war ganz entsetzt. Sie hatte zwar schon öfter diese riesigen Metallvögel am Himmel gesehen, doch hatte sie immer gedacht, das seien Drachen.
Niemals hätte sie sich träumen lassen, dass sie eines Tages mit einem solchen Ding würde fliegen können. Sie hatte die Nachricht, zu reisen, mit Begeisterung aufgenommen gehabt, weil sie gern Eisenbahn fuhr.
Es hätte ihr Spaß gemacht, aus dem Fenster zu schauen und so wie gewohnt die Landschaft an sich vorüberhuschen zu sehen. Doch wie war das in einem Flieger? Eden wollte es wissen, und so fragte sie ihren Vater: „Kann ich da aus dem Fenster schauen? Gibt es am Himmel auch Wiesen?“
„Nein, Eden. Aber wir werden über den Wolken schweben. Es wird dir ganz bestimmt gefallen, Kleines!"
Sie standen mittlerweile an der Bahnsteigkante und warteten auf die einfahrenden Triebwagen, die alle zehn Minuten durch die riesige Halle brausten und den Menschen in dem tunnelartigen Gewölbe mit unsichtbaren Fingern die Haare zerzausten. Dabei brüllten sie angsterregend. Eden hielt sich die Ohren zu und versuchte, den Lärm der Züge mit ihrer Stimme zu übertönen. Währenddessen musste sie lachen, und so wechselten sich ihr Kreischen und Kichern miteinander ab.
Den Eltern fiel ein Stein vom Herzen. Offenbar gab es keinen Grund, sich Sorgen zu machen, wie sie es am Vortag noch taten. Ihre Tochter nahm das Abenteuer mit Begeisterung auf. Schließlich hielt eines der fahrenden Ungetüme mit lautem Zischen vor ihnen. Die Türen öffneten sich und spien eine Unmenge Menschen vor ihre Füße. Rahel, Adeela und Gabriel wichen zur Seite und nahmen Eden schützend in ihre Mitte. Sie schaute mit großen Augen auf das Gewimmel um sich herum und sog die neuen Eindrücke voller Neugierde in sich auf. Schließlich ermöglichte eine größere Lücke in dem Menschenstrom, der nicht abzureißen schien, den Einstieg, und ein paar Sekunden später saßen sie auch schon auf einer der roten Sesselgruppen im Innenbereich. Ruckelnd und zischend fuhr die Bahn an und raste bald darauf in halsbrecherischem Tempo davon. Künstliches Licht tauchte den Innenbereich in gespenstisches Neongelb.
Eden war noch nie U-Bahn gefahren. Sie hatte kaum jemals die ländliche Gegend, in der sie bis dato aufgewachsen war, verlassen - außer in der Zeit ihrer Krankheit, in der sie in Tulsa im Krankenhaus lag. Doch davon hatte das kleine Mädchen kaum noch etwas in Erinnerung, es war, als wäre sie der weltlichen Dimension entwichen gewesen.
Gewissermaßen mochte das sogar stimmen - sie hatte ihre Innere Welt oft mit Khalil geteilt und war mit ihm über immense Entfernungen gereist, an Orte, die nicht nur für Kinderaugen voller Grausamkeit und Gräueln waren. Die Verbindung zu ihm war etwas schwächer geworden, was Eden im Moment nicht viel Kummer bereitete.
Im Gegenteil: Intuitiv spürte sie, dass ihr kleiner Soldatenfreund einer großen Gefahr entkommen war. Sie fühlte sich seit Langem in sich selbst geborgen, war sogar glücklich. Möglicherweise nahm Khalil Anteil daran. Eden wünschte sich so sehr, ihn auf Dauer befreien zu können, aus jener Welt, die sich ihr vor einem Jahr offenbarte. Seit dem Konzert am Rapid's Lake reiften verschwommen Bilder in ihr heran, die Eden einen Weg weisen wollten.
Noch konnte sie die Bedeutung nicht orten, doch Eden spürte, dass etwas Besonderes mit ihr geschah! Auf dem Konzert war ein Mädchen gewesen wie sie, nur etwas älter, und sie hatte ein Lied auf einem großen, geschwungenen Holzrahmen mit goldenen Drähten gespielt.
Es war Eden so erschienen, als wäre die Musik nur für ihre Ohren bestimmt. Das Mädchen war so schön wie ein Engel gewesen. In der gestrigen Nacht hatte Eden davon geträumt, Flügel zu haben und Musik in die Welt hinaustragen zu können.
Sie hatte Menschen in brennenden Städten gesehen, die ihrer ansichtig wurden und glücklich waren. Weit über ihnen war sie geflogen, mit einem herzförmigen Musikinstrument aus purem Gold. Es hatte Saiten aus Engelshaaren gehabt. Ihre Finger hatten daran gezupft, und Eden hatte dazu gesungen. Und überall, wo sie war, herrschte keine Grausamkeit mehr, sondern nur Frieden.
Selbst da, wo erbitterte Kämpfe tobten, waren sich die Soldaten in den Armen gelegen, als sie ihre Stimme vernahmen. Bereits verflossenes Blut war zu einem Meer voller Tränen geworden, dem wunderschöne Nixen entstiegen. Als Eden erwachte, lag sie in ihrem Zimmer, den künstlichen Organza-Himmel ihres Bettes weit über sich, und der Mond schimmerte durch ihr Fenster. Für einen Moment war Edens Herz wieder schwer geworden. Es war nur ein Traum.
~ Adeela ~
Adeela hätte sich bestätigt gefühlt, könnte sie erahnen, was in Eden in jenem Moment vorging. Die Besonderheit des Kindes hatte sie schon lange erkannt.
Ein leises, melodisches Summen durchbrach das Rauschen des fahrenden Zuges. Die Herkunft dessen war nicht gleich zu orten, doch als Dr. Basara zu ihrer Patientin schaute, erkannte sie, dass Eden sang.
Adeela schien es, als öffnete sich ihr das Tor zu einer anderen Welt. Einen ganz kurzen Augenblick nahm sie Anteil an den Bildern, die jene kleine Seele beherrschten. In der Scheibe des Waggons manifestierte sich silhouettenhaft ein Kindergesicht. Es war hingegen nicht das von Eden.
Verwirrt schaute sich die Ärztin um und musterte die Passagiere der gegenüberliegenden Sitze. Nirgends sah sie eine Person, die dem Schemen auch nur annähernd ähnelte. Es waren Jugendliche, ältere Leute und Paare – ein weiteres Kind war nicht unter der Menschenmenge zu finden.
Noch einmal schaute Adeela zum Fenster, gerade rechtzeitig, um das Antlitz vor dessen Verblassen noch einmal sehen zu können. Sie ahnte: Eden hatte ihr soeben ermöglicht, Khalil kennenzulernen.
Der Zug wurde langsamer, und eine weibliche Computerstimme kündete den nächsten Halt am Berg Sinai an.
Das Neonlicht des Tunnels wechselte zu strahlendem Sonnenlicht, und aus den Tunnelwänden wurde ein Gebirgsmonument. Adeela erwachte wie aus einem hundertjährigen Schlaf, als die Bahn hielt und die Schattenfigur im Fenster verblasste. Im nächsten Moment war der Spuk auch schon vorbei, und sie befanden sich kurz vor der letzten Station.
Geschäftiges Treiben kündigte den baldigen Stopp am Tulsa International Airport an. Stimmengewirr und das Rascheln von Stoff vermischte sich mit scharrenden Geräuschen von Füßen und Koffern.
Das künstliche Schummerlicht an der Decke erlosch, und kurz darauf wurden die Waggons in gleißende Helle getaucht. Anonyme Gesichter huschten an den Fenstern vorbei. Die Fahrt verlangsamte sich, Glockentöne erklangen, und mit einem plötzlichen Ruck kam die U-Bahn zum Stehen. Insgesamt hatte die kurze Reise nur drei Minuten gedauert, doch für Dr. Adeela Basara war zwischen Abfahrt und Ankunft ein gefühltes Jahrtausend vergangen.
~ Khalil ~
Der dumpfe Klang einer Glocke drang an Khalils Ohren und vermischte sich mit monotonen Gesängen in einer ihm fremden Sprache. Über seinem Kopf bellte ein Hund und riss den Jungen aus seiner tranceähnlichen Meditation. Er blickte auf und sah eine unversehrte Leiter, die ihm das erste Mal auffiel.
Zwischen dem leuchtenden Himmel über ihm und dem Körper des struppigen Tieres entdeckte er ein dunkles Männergesicht und eine Hand, die sich ihm entgegen streckte. Eine tiefe Stimme redete ihn mit gutturalen Lauten an. Was der Mann sprach, verstand Khalil nicht, doch hoffnungsvoll erkannte er die Geste als Aufforderung, sein Verlies zu verlassen. Der Unbekannte klang freundlich, und so beschloss er, seinem Glück zu vertrauen.
Zögernd erhob er sich und schleppte sich in Richtung der Leiter. Alle Knochen taten ihm weh, und seine Haut spannte sich vor lauter Schmutz. Verkrustetes Blut lag auf seinem Gesicht und ließ es wie mit Kriegsbemalung versehen erscheinen.
Khalil war durchaus bewusst, welchen Eindruck er hinterlassen würde. Einen kurzen Moment lang schämte er sich, in seinem erbärmlichen Zustand Menschen gegenübertreten zu müssen. Doch dann siegte sein Überlebenswillen, und er nahm die helfende Hand an.
Mit der Unterstützung seines unbekannten Retters erklomm er die Leiter und trat kurz darauf mit weichen Knien ins Freie. Als Khalil festen Boden unter seinen Füßen spürte, wurde ihm schwarz vor den Augen. Geblendet vom Sonnenlicht bedeckte er sein Gesicht mit beiden Händen und senkte den Kopf.
Ein starker Arm legte sich stützend um Khalils Schultern, und eine Hand strich ihm über die Haare. Wieder vernahm er Worte in einer fremden Sprache, doch deren Klang taten ihm wohl.
Der Junge sammelte sich, nahm die Hände von seinem Antlitz und hob den Blick seinem Gegenüber entgegen. Vor ihm stand ein Mann in mittlerem Alter. Er trug eine dunkle Kutte, und sein Haupt war mit einem kreisrunden Käppi bedeckt. Schwarze Locken kräuselten sich unter der Kopfbedeckung hervor, und braune Augen musterten ihn.
Der Hund, welcher Khalil gefunden hatte, war sichtlich eine Mischung aus Dingo, Wolf und Schakal und bot einen etwas seltsamen Anblick. Seine magere Brust war mit gelblichen Fellbüscheln bedeckt, während sein nackter Hinterleib offenbar dem Erbgut einer Hyäne entsprang.
Die Kopfform war länglich, und braungraues, wolfsähnliches Fell wuchs zwischen seinen spitzigen Ohren bis zum Nacken hinab. Seine Hinterläufe waren länger als seine Vorderbeine, was den Jungen an ein Känguru denken ließ.
Der Mischling drängte sich gegen die Beine seines Herrn und wedelte mit seinem kurzen Stummelschwanz, als Khalil ihm seinen Handrücken zum Abschnuppern reichte.
Voller Schaudern warf der Junge einen Blick in die Tiefe und zupfte seinen Retter behutsam am Ärmel. Stammelnd versuchte er, ihm zu erklären, dass dort unten auch die Leiche seines Vaters lag, doch der Mönch sah ihn nur verständnislos an. Khalil zeigte mit dem Finger nach unten und fuhr mit der Handkante über seine Kehle, in der Hoffnung, dass er seine Geste verstand.
Der Mönch starrte hinab, drehte den Kopf und ließ einen lauten Ruf erklingen. Das Läuten der Glocke verstummte, und weitere Mönche eilten herbei. Während zwei der Männer in sein ehemaliges Gefängnis hinabkletterten, um seinen Vater zu bergen, setzte sich Khalil auf einen Felsen und versuchte, sich zu orientieren. Er hatte keinerlei Ahnung, wo er sich befand. Das, was nun vor seinem Blick lag, ließ ihn vor Entsetzen erstarren, und er war kaum fähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
Wohin sein Auge reichte, war Wüstenei, nur von ein paar roten Felsen umgeben. Die Sonne brannte herab auf das riesengroße Gebiet und warf ihr unbarmherziges Feuer über das Land. Sand- und Staubgefilde waren über und über mit Blutlachen bedeckt, größtenteils bereits im trockenen Wüstenboden versickert.
Khalil erblickte Gliedmaßen und tote Körper von Menschen, die einst seine Kameraden gewesen sein mochten. Mehrere Ochsenkarren, mit je zwei Zugtieren bespannt, kreisten inmitten diesem Chaos. Sie wurden von jungen Männern, die mit braunen Armeehosen und einer Joppe aus Sackleinen bekleidet waren, geführt. Deren Füße steckten in derben, halbhohen Stiefeln.
Während ein Großteil dunkel gewandeter Männer damit beschäftigt war, die Opfer zu bergen und auf die mitgeführten Transportmittel zu werfen, wurde Khalil von fünf Mönchen umringt. Von allen Seiten redeten sie auf ihn ein, in dieser fremden Sprache, die er zuvor schon von seinem Retter vernommen hatte.
Verzweifelt versuchte er, sich zu erinnern und sich einen Reim auf das Geschehen zu machen. Das Stimmengewirr um ihn herum raubte Khalil fast den Verstand.
In seinen Eingeweiden tobte nach langer Zeit des Darbens Hunger und Durst. Zwei der Männer traten an ihn heran, umklammerten seine Arme und versuchten, ihn mit sich zu nehmen. Ängstlich begann Khalil, zu schreien und bettelte um sein Leben. Eine befehlende Stimme sagte etwas zu ihm, was er nicht verstand.
Drei weitere Männer traten näher und redeten immer eindringlicher auf ihn ein. Khalil barg seinen Kopf zwischen den Armen, ließ sich zu Boden fallen und rollte sich schutzsuchend zusammen.
Die Mönche wichen betroffen zurück, doch sie blieben in direkter Nähe. Erst als der Mann, der den Jungen gefunden hatte, zu ihnen trat und etwas zu den Umstehenden sagte, lichtete sich der Kreis um ihn herum. Er reichte ihm eine Feldflasche und einen kleinen Laib Fladenbrot.
Worte des Dankes murmelnd setzte Khalil sich wieder auf, schluckte gierig das leicht brackig schmeckende Wasser und ließ dabei die Hälfte wieder aus seinen Mundwinkeln rinnen. Mitleidige Blicke begleiteten seine Nahrungsaufnahme. Als der erste Durst notdürftig gestillt war, widmete er sich seinem Fladenbrot und schlang es zur Hälfte hinunter. Von Krämpfen geschüttelt unterdrückte Khalil ein Würgen. Begütigend legte der ältere Mann, der es ihm gegeben hatte, die Hand auf seinen Arm und bedeutete ihm in Zeichensprache, langsamer zu essen.
Schließlich versuchte sein Retter, mit dem Jungen ins Gespräch zu kommen. Der Mönch deutete mit dem Zeigefinger auf seine eigene Brust und sagte in schleppendem Tonfall: „My name is Rafael.“
Khalil hatte in seinem ganzen Leben noch keine Schule besucht und beherrschte nur die eigene Sprache. Er verstand indessen die internationale Geste des Mannes und antwortete durch Benennung seines Namens. Die erste Hürde zur Verständigung war somit genommen. Der Junge hatte begriffen, dass niemand ihm Böses wollte.
Vielmehr erkannte er, dass ihm sein Gefängnis tief unter der Erde das Leben gerettet hatte. Je mehr er von seiner Umgebung sah, umso bewusster wurde ihm, was geschehen war. Zwischen Geröll und blutigen Leichenteilen lagen torpedoartige Geschosse, und Khalil war lange genug dabei gewesen, um sich einen Reim darauf zu machen: Das Zwischenlager, in dem sie auf der Reise zum Trainingscamp Rast gemacht hatten, war ausgebombt worden. Fast triumphierend dachte er: ‚Sie hatten zu lange gezögert.' Den Tod seines Vaters bedauerte er nicht. Allzu lange war er von Abdullah Sherman als Werkzeug benutzt worden, auf seinem rücksichtslosen Weg, in dessen Verlauf er sich zum Scharführer erhoben hatte.
Khalil unterdrückte ein sarkastisches Lachen bei dem Gedanken, dass sein Peiniger nun wohl kaum in den Genuss von zweiundsiebzig Jungfrauen käme. Doch dann schämte er sich und gedachte seiner armen Mutter in der Heimat, die nicht einmal gewusst hatte, welche Schandtaten ihr Gemahl in der Ferne an Mensch, Tier und gar den eigenen Söhnen beging. Ob er sie wohl jemals wiedersähe?
Schließlich trugen sie Abdullah Sherman an ihm vorbei. Mit Schaudern betrachtete er den Leichnam und war dankbar dafür, dass die beiden Träger seinen Kopf abgedeckt hatten. Khalil wandte den Blick ab und erhob sich aus seiner sitzenden Position. Er trat zurück, sprungbereit und mit Panik in den Augen wie ein waidwundes Tier.
Khalil bahnte sich einen Weg durch die Menschen um ihn herum und rannte wie von Furien gehetzt in die Wüste hinaus. Im Unterbewusstsein nahm er das Wiedereinsetzen des Glockengeläutes und der Klanggebete der Mönche wahr. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, wandte er sich in Richtung des Gebirgsmonuments, welches er im Hintergrund sah. Er rannte, rannte, rannte … den Sonnenstrahlen entgegen, die ihn vom Gipfel des Bergs begrüßen zu schienen.
Zwischen Findlingen brach er entkräftet zusammen, im Ohr noch immer den tragenden Trauergesang der Mönche, von dem Läuten einer Handglocke begleitet. Endlich driftete Khalil hinüber in die Dämmerung eines heilsamen Schlafs.
Auszug Tulsa World/apa/2010/11/28/:
Ein kleiner Sieg gegen den Terror?
Nur wenige Tage nach Vereitelung des Baus eines Angriffstunnels unterhalb der Grenzmauer von Rammalah wurde in der Nähe von Milga ein Terroristennest ausgehoben. Das erste Mal seit Langem arbeiteten die untereinander verfeindeten Länder zusammen.
Die Verteidigungsministerien von Israel, Ägypten, Palästina und Syrien stellten jeweils eine Fliegerstaffel mit je fünf Kampfbombern zur Verfügung und setzten somit ein Zeichen. Die Operation „Friedenstaube“ wurde unter strengster Geheimhaltung geführt.
Ein Wermutstropfen ist die Zerstörung der nördlichen Flanke des in der Nähe liegenden Katharinenklosters. Die zwischen die Fronten geratene Bevölkerung von Milga ließ es sich dennoch nicht nehmen, sich an den Bergungsarbeiten im Camp, das dem Erdboden gleichgemacht wurde, zu beteiligen. Überlebende des Trupps, der anhand der sichergestellten Uniformierung als der PLF zugehörig vermutet wird, waren bei Redaktionsschluss nicht zu erwarten.
gez. Michael Bench
Auslandsreporter
Spezialgebiet:
Nahost-Konflikt
Verantwortlicher Redakteur:
Jonas Calvaros
~ Adeela und Marvin ~
Der Flug nach Indianapolis verlief ohne gravierende Zwischenfälle. Am Flughafen in Tulsa hatte es zwar eine kurze Schrecksekunde gegeben, bei der zu befürchten war, dass Eden wieder einen Anfall bekäme.
Zugrunde lag die Begegnung mit zwei Soldaten in voller Bewaffnung. Eden dachte sofort wieder an Khalil, doch ihr eiserner Wille, ein normales Leben führen zu können, war stärker. Sie wurde für ihre Disziplin denn auch belohnt, als sie im Flugzeug saßen.
Gabriel hatte beim Ticketkauf in der Woche vor der Abreise darauf geachtet, dass ihre Sitzplätze nicht allzu weit voneinander entfernt lagen, und so konnte er zwei Sitzgruppen hintereinander ergattern. Eden hatte einen Fensterplatz linkerseits, und neben ihr saß Adeela.
Mit großen Augen verfolgte sie den Steigflug und genoss es, von der Fliehkraft in ihren Sitz gepresst zu werden. Als sie in der Luft waren, sah Eden durch das runde Bullauge hinab zur Erde, die sie soeben zurückgelassen hatten. Sie wunderte sich, wie klein alles war.
Als der Flieger die Stadt hinter sich ließ, befanden sie sich über den Wolken. Begeistert klatschte Eden in die Hände und freute sich, als die vielen Menschen um sie herum in ihren Applaus einfielen. Sie entdeckte einen Monitor über ihrem Sitzplatz und sah das erste Mal in ihrem Leben Fotos, die sich bewegten. So verging die Zeit im Nu, und es gab für sie viel zu sehen.
Zwei Stunden später war die erste Etappe der Flugreise auch schon vorbei. Auf dem Flughafen von Jacksonville/Atlanta hatten die Passagiere der TUL Fluggesellschaft Zwischenstopp. Familie Abel und Adeela nutzten die Zeit für ein erstes Frühstück.
An einem Kiosk sprang Dr. Basara die aktuellste Schlagzeile einer Tageszeitung ins Auge. Sie wurde von einer unerklärlichen Unruhe erfasst, doch um den Begleitartikel in vollem Umfang zu lesen, fehlte die Zeit.
Adeela wischte ihre Besorgnis beiseite wie eine lästige Fliege und begab sich zurück zu den Abels. Vor ihrem Inneren Auge manifestierte sich Khalils Gesicht, das sie jetzt kannte. Er würde sie von nun an öfter begleiten.
Am frühen Vormittag befanden sie sich bereits wieder hoch über den Wolken und flogen der Sonne entgegen. Sie hatten die Fluglinie gewechselt.
Es waren voraussichtlich noch zweieinhalb Stunden Reisezeit zu erwarten. Mittlerweile hatten sie die Sitzplätze getauscht, doch Eden bekam nach beharrlichem Bitten wieder ihren Stammplatz am Fenster. Neben ihr saß ihre Mutter, Gabriel und Adeela teilten sich eine Reihe davor.
Eden machte sich einen Spaß daraus, Wolkenbilder zu formen und bezog die Erwachsenen in ihr Spiel ein.
Als sie über dem Meer waren, bekam Eden ganz große Augen angesichts dieser Weite. An Schlaf war nicht zu denken, sie hielt alle auf Trab. Die Zeit verging wie im Flug. Als die Sonne am Zenith stand, befanden sie sich am Ziel.
Für die Zeit ihres Aufenthaltes hatte Gabriel einen Ferienbungalow in Crawfordsville organisiert. Das Bestreben aller war, für die Zeiten außerhalb der stationär angelegten Studien Eden eine zweite Heimat zu bieten.
Alles in Allem war ein Zeitrahmen von zirka einem halben Jahr vorgesehen. Glücklicherweise waren die Abels beruflich nicht örtlich gebunden, weil Gabriel seit seinem 62. Lebensjahr eine Art vorgezogene Rente bezog.
Bis dahin war er lange bei bei einer Herstellerfirma für Ohrenstöpsel mit Sitz in der Hauptstadt von Indiana beschäftigt gewesen. Die E*A*R Corporation stellte einen global agierenden Konzern dar, der auch heute noch die Welt mit gelben Ohrenstöpseln beliefert. Mittlerweile führen sie auch noch andere Farben in ihrem Programm.
Gabriel hatte die Ehre gehabt, die Gründerzeiten in den Siebziger Jahren miterleben zu dürfen und hatte ein Stück weit amerikanische Entwicklergeschichte verfolgt. Nach dem Umzug nach Cedar Rapids hatten sich die Abels auf eigene Beine gestellt und belieferten die Wochenmärkte der Umgebung mit Gemüse, Getreideprodukten, Obst und Salat. Zusätzlich zu den Altersbezügen wurde der Familie dadurch ein erträgliches Einkommen ermöglicht.
Bis zu ihrer Rückkehr würde sich eine House-Sitterin weiterhin um alles kümmern. Gabriel hatte ihr den Familientransporter zur Verfügung gestellt und sich mit seiner Familie in Mr. Squintie, Adeelas schielenden Mini-Cooper, gepresst – sehr zur Freude von Eden.
Dr. Basara hatte sich von Anfang an – seit Fassen ihres Beschlusses, die Abels nach Crawfordsville zu begleiten – ausführlich mit den zu erwartenden psychologischen Studien befasst. Sie war gespannt, welches Medium Eden sich aussuchen würde. Die Tests an den Probanden wurden unter Zuhilfenahme von Hypnose geführt, bei Einsetzung eines Simulators, der die Auslösesituation für die zugrundeliegenden Symptome der jeweiligen Krankheitsbilder nachahmen würde. Diese fachlichen Details hatte sie den Abels jedoch verschwiegen, zum Einen, weil sie die genaue Vorgehensweise selbst noch nicht kannte, und zum Andern befürchtete sie, dass Rahel und Gabriel daraufhin von der Untersuchung ihrer Tochter Abstand nähmen.
Ihr süßes Autolein vermisste sie sehr. Am Liebsten hätte Adeela Mr. Squintie in den Rucksack gepackt und sich auf den Rücken geschnallt. Da das jedoch nicht möglich war, hatte sie beschlossen, sich in Indianapolis ein günstiges Ersatzauto zuzulegen, um auch der Familie Abel, die ihr Obdach gewähren würde, eine gewisse Mobilität verleihen zu können. Die junge Ärztin hatte eine Vorliebe für verrückte Fahrzeug-Designs. Dieser Umstand schlug eine weitere Brücke zu Eden.
Nachdem die Abels den Checkout am Flughafen von Indianapolis abgeschlossen hatten, redete Eden von nichts Anderem mehr. Schwärmerisch plapperte sie an Rahels Hand vor sich hin und beschrieb in plastischen Worten, was ihr an Mr. Squintie so sehr gefiel.
Am Meisten war Eden von den zweiteiligen Scheinwerfern beeindruckt, die kugelrund waren und wie nach innen gerichtete Augen aussahen. Zusammen mit der sonnengelben Farbe und den schwarzen Rallye-Streifen war der viertürige Cooper glatt zum Verlieben.
Nach Verlassen des Flughafens bestieg die Gruppe den Stadtbus in Richtung Southeastern Avenue. Dort wartete der Autoverkäufer Marvin Beard in einem Kassenhäuschen auf einem abgelegenen Parkplatz seit Stunden auf Kundschaft. Das Grundstück gehörte zur Jerry Steeles Autosales Company.
Adeela hatte sich bereits in Cedar Rapids über das Internet kundig gemacht und war auch fündig geworden. Mit ihrem nostalgischen Hang zum Skurrilen stach ihr die einfache Machart der Webpage ins Auge – und es stand für sie fest: Nur dort würde sie IHR Auto finden.
Als sie mit den Abels bei dem Gebrauchtwagenhändler ankam, sah sie ihre Erwartungen in jeglicher Hinsicht erfüllt. Die Autogarage erinnerte an die Fünfziger Jahre. Das Kassenhäuschen war schlicht, in freundlicher weißer Farbe gehalten und rundum verglast.
Auf der linken Seite war der Firmenschriftzug in Blau eingraviert, darunter stand in einer rotprotzigen Zierschrift: "Buy, Sell or Trade“. Sie war schon darauf gefasst, im Inneren Elvis Presley zu finden, doch dann erinnerte sie sich: Dieser war 1977 gestorben, und sie befanden sich im 21. Jahrhundert. Trotzdem konnte Adeela eine gewisse Hoffnungshegung nicht unterdrücken, dass der Autoverkäufer wenigstens ein Double desselben war.
Grinsend über ihre eigenen verrückten Erwartungen wandte sie sich an Eden: "Wir gehen da jetzt rein, und ich kaufe ein neues Auto. Kommst du mit?“
Neugierig starrte Eden durch die Fensterscheibe in den Innenraum und fragte: "Adeela, wo sind da die Autos? Ich sehe keine.“
Gabriel stand hinter ihnen und bog sich vor Lachen. "Aber Eden ...“, japste er. "Die Autos stehen doch bestimmt auf einem Parkplatz.“ Rahel boxte ihren Mann auf den Arm und rügte ihn: "Hörst du auf, unsere Tochter hier auszulachen?“ Eden feixte: "Haaah, haahh, ich habe euch drangekriegt. Das weiß ich doch selbst. Ich habe nur Spaß gemacht.“
Rahel wuschelte ihrer Tochter die Haare: "Du kleiner Frechdachs! Das hätte ich mir denken können.“ Sie wandte sich an Adeela und fragte: "Ist es wirklich notwendig, dass Sie sich einen Zweitwagen zulegen? Es wäre auch eine Möglichkeit gewesen, dass wir ihn bezahlen und Sie darüber verfügen können, wie Sie ihn brauchen.“
"Das ist schon in Ordnung“, antwortete Dr. Basara. "Bevor wir zurück nach Cedar Rapids reisen, stoße ich ihn wieder ab. Es ist nur für ein paar Monate, und ich habe genug auf der Hohen Kante, um mir diese Anschaffung leisten zu können. Selbstverständlich können Sie oder Ihr Mann das Auto auch benutzen. Aber es ist besser, als auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen zu sein.“
"Nun gut, wie Sie wollen, Adeela.“ Gemeinsam betraten sie das Häuschen, dessen nostalgisches Interieur sich auch im Innenraum fortsetzte.
Statt einer Ladeneinrichtung erwartete sie das Mobiliar einer Bar, mit Stehhockern aus geschwungenen Metallgestellen und weißen Ledersitzen. Diese waren malerisch um eine halbrunde Theke aus Mahagoni drapiert.
Auf dem vordersten Hocker lümmelte sich ein Highlander-Verschnitt mit langen Haaren und frechem Grinsen. Trotz des frischen Herbstklimas trug er ein Muskel-Shirt zu stylisch zerrissenen Jeans. Adeela unterdrückte ein Frösteln und den Drang, dem Kerl die Zunge zu zeigen.
Sie hatte jedoch die Rechnung ohne Eden gemacht. Sie trippelte selbstbewusst auf den Mann zu, zupfte an seiner Jeans und sagte: "He, du. Wir wollen ein Auto kaufen. Hast du so was?“ Keck blitzten ihre grünen Augen ihn an, und Edens Gesichtchen leuchtete geradezu vor lauter Eifer. Verdutzt richtete sich der Blick des Mannes nach unten, und er fragte: "Nanu, wen haben wir denn da? Hast du überhaupt einen Führerschein?“
"Ein … was?“
Marvin Beard amüsierte sich köstlich. Da hatte ihm das Schicksal ja eine witzige Begegnung beschert. Die kleine Göre gefiel ihm. Sie erinnerte ihn an seine Schwester, als sie klein war. Mittlerweile tummelte sie sich allerdings in den Straßen der Bronx und hatte ihre Berufung als Streetworkerin gesucht und gefunden. Geduldig antwortete er: "Einen Führerschein. Den brauchst du zum Fahren.“
"So ein Quatsch“, antwortete Eden und sah ihn an, als hätte sie einen Irren vor sich. "Wir brauchen ein Auto. Und zwar so eines wie Mr. Squintie.“
"Wer ist Mr. Squintie?“, fragte Marvin neugierig und unterdrückte ein Lachen. Verstohlen wanderte sein Blick zu der dunkelhäutigen Frau, die hinter der Kleinen stand. Er fragte sich, in welchem Verhältnis die beiden zueinander standen und überlegte, ob es sich lohnen würde, die Dame näher kennenzulernen. War das die Mutter? Dann würde sie bestimmt verheiratet sein, und außerdem sahen die beiden einander kein bisschen ähnlich.
Marvin richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Eden. Sie antwortete mit einem strahlenden Lächeln: "Das ist ein Auto. Vielleicht hat er ja einen Bruder, und der wohnt bei dir? Wo sind denn deine Autos?“
Im Hintergrund kämpfte Gabriel mit einem Erstickungsanfall. Es fiel ihm schwer, sich seriös zu verhalten und das in ihm aufkeimende Gelächter zu unterdrücken. Rahel warf ihm mahnende Blicke zu und hoffte, dass er sich beherrschte. Woher Eden ihr sonniges Gemüt hatte, war für sie sonnenklar. Sie wähnte sich mit gleich zwei Sonnen in ihrem Leben als glückliche Frau, doch manchmal war sie von den beiden schlicht und einfach geblendet.
Adeela schaltete sich ein und wandte sich ihrerseits an den Mann, der ungefähr in ihrem Alter sein musste. Sie war irritiert. Hier sah es nach Allem aus, nur nicht nach Autoverkauf. Zwar hingen an einer getäfelten Wand hinter der Bar Reklameschilder mit abgebildeten Oldtimern und Versicherungstafeln, aber die Örtlichkeit selbst sah eher nach Pub denn nach Autohaus aus.
Sie machte ihrer Irritation Luft und fragte ihn: "Sind wir hier schon bei einem Gebrauchtwagenhändler?“
Marvin Beard strich sich eine lange Strähne aus seiner Stirn, grinste sie herausfordernd an und deutete mit dem Daumen nach hinten. "Die Autoschilder hängen nicht umsonst da. Sind Sie die Mutter von Mr. Squintie?“
Adeela zeigte auf ihre braunen Wildlederstiefel und konterte: "Sehe ich aus, als hätte ich Reifen?“
Marvin ließ den Blick über sie schweifen, zwinkerte schelmisch und musterte sie demonstrativ von oben bis unten. "Na, immerhin haben Sie ein ansprechendes Fahrgestell.“
Eden trat einen Schritt zurück und stellte sich trennend zwischen die beiden. Ihre Arme hielt sie resolut auf die Hüften gestemmt. Ihre Miene war ein einziges Fragezeichen, und der Blick wanderte zwischen den beiden Erwachsenen hin und her. Verwirrt fragte Eden sich, von was Adeela und dieser Mann da eigentlich sprachen.
Gabriel sah die Reaktion seiner Tochter und räusperte sich. "Darf ich euer Balzritual kurz unterbrechen? Wir wollten eigentlich nicht übernachten.“ Zwei Köpfe fuhren zu ihm herum, und Adeelas Teint nahm einen leichten Bronze-Ton an. "Ääähhhmmm …“, stammelte sie und fuhr in etwas festerem Tonfall fort: "Ich für meinen Teil bin keine balzende Pute. Sind Sie ein Puter?“
Mit dieser Frage wandte Adeela sich lächelnd an Marvin und fuhr fort: "Wie Sie von Eden erfahren haben, suchen wir ein Auto. Mr. Squintie ist ein rasender Mini-Cooper, der auf einem Krankenhausparkplatz in Tulsa auf seine Besitzerin wartet. Wir brauchen Ersatz.“
Erheitert lachte Marvin sie an. Der unerwartete Verlauf eines bisher langweiligen Tages gefiel ihm, ebenso wie die junge Frau. Dass ihre Haut etwas dunkler war, störte ihn nicht, doch er fragte sich, woher sie kam. Er tippte auf eine orientalische Rose, wobei ihr Selbstbewusstsein untypisch war. Sie musste schon lange in Amerika leben.
"Daddy, was ist ein Balzritual?“, krähte Eden dazwischen. Stellvertretend für ihren Gemahl wechselte Rahels Gesichtsfarbe in ein zartes Rosé.
"Kannst du nicht ein bisschen sorgfältiger mit deiner Wortwahl umgehen?“, fragte sie und sah ihn vorwurfsvoll an. "Nun schau zu, wie du das deiner Tochter erklärst.“
Gabriel ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Trocken antwortete er seiner Tochter: "Tiere balzen, wenn sie heiraten wollen.“
"Was ist der Mann denn nun für ein Tier?“, fragte Eden. "Und was bist du für eines, `ne Kröte?“, schaltete sich Marvin in das Gespräch zwischen Vater und Tochter. Aus seiner Stimme klang Ungeduld, die er nur schlecht mit einem etwas gezwungen wirkenden Schmunzeln verbrämte.
"Nun machen Sie aber mal halblang, Mister!“, fuhr Adeela ihn an. "Das ist ein Kind, und Kinder stellen nun einmal Fragen. Das ist beileibe kein Grund, sich auf den Schlips getreten zu fühlen.“
Eden wandte Marvin den Blick zu und fragte: "Warum bist du böse auf mich? Ich habe doch Daddy nur gefragt, was du bist. Willst du Adeela heiraten?“
"Nein, eigentlich wollte ich ihr nur ein Auto verkaufen.“ Marvin sah seiner potentiellen Kundin offen in die Augen und fragte: "Wie sieht es nun damit aus? Soll ich Ihnen unsere Gebrauchtwagen zeigen?“
"Ich bin mir gar nicht mehr so sicher, ob ich eines von Ihnen will. Ihr gesamtes Auftreten ist nicht gerade sehr vertrauenerweckend, ebenso wenig wie Ihr seltsames Geschäftslokal.“ Adeela konnte nur schwer ihre Wut vor ihren Begleitern verbergen. Nicht genug, dass dieser Mensch in ihren Augen ein Chauvi war, nein, er beleidigte auch noch ein Kind. Sie wandte sich an die Abels und sprach: "Kommt, wir schauen woanders nach einem Auto. Dieser Herr hier sieht nicht sehr geschäftstüchtig aus.“ Adeela war schon im Begriff, das Ladenlokal zu verlassen, doch Marvins Stimme hielt sie zurück. "Wow, die Rose hat Dornen!“, rief er ihr nach. "Nun warten Sie doch, ich wollte der Kleinen bestimmt nicht zu nahe treten. Ich bin auch nicht sauer.“
Adeela drehte sich wieder um, hielt die Eingangstür jedoch offen. "Haben Sie nun etwas zu verkaufen, oder produzieren Sie nur Heiße Luft? Ich habe keine Zeit zu verschwenden.“
Ohne eine weitere Antwort nahm der Autoverkäufer eine abgewetzte Lederjacke vom Haken, warf sie sich lässig über die Schultern und begab sich an die Seite der jungen Frau. "Kommen Sie mit!“, forderte Marvin sie auf. Schwungvoll riss er die halb geöffnete Tür auf, drängte sich an Adeela vorbei und stürmte hinaus in den Hof, ohne zu schauen, ob seine Kundschaft ihm folgte.
Rahel schüttelte entrüstet den Kopf. Gemeinsam mit Eden und Gabriel verließ sie ebenfalls den Geschäftsraum. Marvin führte die vier hinter das Haus und überquerte eine unbefahrene Straße. Der rissige Teerbelag wies riesige Schlaglöcher auf und war offenbar schon länger nicht mehr ausgebessert worden.
Auf der anderen Straßenseite öffnete Marvin einen rostigen Schlagbaum und betrat ein gekiestes Grundstück. Adeela war als erste bei ihm und schaute zweifelnd auf die Werbefläche über dem Eingang. Primitiv war der Firmenschriftzug mit Graffiti auf ein Bettlaken aufgesprüht und an zwei Stangen befestigt worden. Das Banner flatterte nun knatternd im Herbstwind.
Der Hof sah Adeelas Meinung nach mehr nach Schrottplatz denn nach Verkaufsfläche aus. Allmählich wäre es an der Zeit, dass der Autokauf zu einem Abschluss kommen würde. Sie hatten noch einen langen Tag vor sich, und bis zum Einzug in ihr Übergangsdomizil wäre noch etliches zu erledigen. Doch so wie sich alles bisher anließ, hatte sie jetzt schon die Nase voll. Adeela beschloss, noch etwas Zeit bis zum Reißen ihres Geduldsfadens verstreichen zu lassen. Es fiel ihr allerdings schwer!
Eine kleine Kinderhand schlängelte sich zwischen ihre Finger und riss sie aus ihren Gedanken. Mit leichtem Ziehen machte Eden auf sich aufmerksam.
Als Adeela das Mädchen anschaute, zeigte sie in eine Richtung am anderen Ende des Platzes. "Schau mal, da drüben, da ist ein Auto mit Pferden.“ Eden bewies eindeutig Geschmack. Ein metallicblauer Toyota Liftback mit blutroten Felgen funkelte und blitzte sich direkt in ihr Herz. An einer ihnen zugewandten Seitentür war ein großes Bild mit Folie aufgeklebt. Darauf war eine Pyramide zu sehen, vor der in unglaublicher Detailtiefe schneeweiße Pferde im Wüstensand galloppierten. Ein schwarzer Hengst bäumte sich vor ihnen auf, eine sonnengoldene Gloriole umkränzte sein Haupt. Adeela fragte Marvin, der wie festgeklebt neben ihr stand: "Ist dieses Auto da hinten zu haben?“
Während Gabriel und Rahel sich auf dem Grundstück umsahen, setzte Marvin sich in Bewegung und bat Adeela, ihm zu folgen. Er führte sie und Eden durch Berge von Autoschrott und Reifen über den Platz.
"Dieser Toyota gehörte einmal Xavier de Maistre“, erzählte er ihr unterdessen. "Kennen Sie ihn?“
"Ja, ich habe von ihm gehört“, antwortete Adeela. "Er ist der berühmteste Harfenmusiker der Welt, nicht wahr?“
"Stimmt. Darf ich Sie fragen, woher Sie stammen?“
"Aus Sabya. Ich bin jedoch schon seit zehn Jahren in Amerika.“ Sie war beeindruckt. Normalerweise hätte Adeela den Autoverkäufer eher für einen Kunstbanausen gehalten, doch offenbar musste sie in dieser Hinsicht ihr voreiliges Urteil revidieren. Nun war sie neugierig, welche Überraschungen sie von diesem … Er hatte sich ihr noch nicht vorgestellt. Als sie vor dem Auto standen, strich Adeela nachdenklich eine Strähne aus ihrem Gesicht und sah ihn an. "Ist das Ihr eigenes Geschäft? Wie kommen Sie an den Wagen einer solchen Berühmtheit?“
Er lachte sie an. "Um Ihre erste Frage zu beantworten: Ich bin nur Teilhaber von Jerry. Mein Partner ist mittlerweile steinalt und hat es schon lange nicht mehr nötig, selbst zu verkaufen. Seine Kette ist in Amerika ein Begriff. Doch hier fing alles an. Mein Name ist Marvin Beard. Und wie heißen Sie, wenn ich fragen darf?“
"Ich bin Adeela. Und wie war das nun mit dem Auto?“
Mittlerweile hatte Eden ihre Nase an die Fensterscheibe des Wagens geklemmt und starrte in dessen Frontbereich. Am Innenspiegel hing ein kleiner Anhänger in Form einer Harfe und entlockte ihr einen wahren Begeisterungssturm. "Schau mal, Adeela“, machte sie darauf aufmerksam und zeigte mit ihrer kleinen Kinderhand hin. "So etwas will ich haben, aber in groß. Als wir am See waren, hat ein Mädchen Musik gemacht. Sie hatte Engelsflügel, und ich will auch Engel sein.“
Adeela sah mit einem warmen Leuchten in den Augen auf Eden hinab und streichelte ihr zärtlich über den Kopf. "Du bist ein Engel, auch ohne Flügel."
Eden stellte sich breitbeinig vor Marvin, hob den Kopf und blickte ihm von unten herauf ins Gesicht. Als sie merkte, dass er sie ansah, streckte sie ihm die Zunge heraus und kicherte: "Siehst du, und du hast gesagt, ich sei eine Kröte. Dabei habe ich noch nicht einmal gequakt.“
Marvin lachte. "Für mich bist du zumindest ein Bengel. Als Engel bist du zu frech.“ Er schaute mit einem schnellen Seitenblick zu Adeela und fragte: "Ist das Ihre Tochter? Und wer sind die Leute, die Sie begleiten?“
Adeela antwortete: "Nein, das ist nicht meine Tochter. Sie ist meine Patientin. Das Paar, das Sie meinen – das sind die Eltern. Nun erzählen Sie mir endlich etwas über das Auto. Oder wollen Sie womöglich gar nicht verkaufen?“
Marvin war überrascht und beeindruckt. Er wollte mehr wissen. Die junge Frau gefiel ihm außerordentlich gut, und er konnte sich gut vorstellen, die Bekanntschaft zu ihr zu vertiefen. "Es kommt ganz darauf an“, antwortete er auf ihre Frage und blickte Adeela tief in die Augen. "Dieser Toyota hat eine Geschichte und will nicht zu jedem. Wir schauen uns unsere Kundschaft ziemlich gut an."
Er machte ihr einen Vorschlag: "Wie wäre es, wenn ich Ihnen nun nur die Hauptdaten gebe und Ihnen die Story von dem Maestro bei einem Abendessen erzähle? Ich wickle Ihnen auch die Anmeldung ab, und dann bringe ich Ihnen die Papiere vorbei.“
Marvin gratulierte sich selbst zu seinem genialen Coup und wartete gespannt auf ihre Antwort.
Diese kam prompt und fiel keineswegs so aus, wie er es gern gehabt hätte. "Wenn das so ist, wie Sie sagen“, erwiderte Adeela herausfordernd und warf schwungvoll ihre langen Haare zurück, "dann wundert es mich, weshalb dieser Wagen auf einem Schrottplatz steht. Ein erfolgreiches Autohaus sieht ehrlich gesagt anders aus. Kommt noch der leere Parkplatz auf der anderen Seite der Straße dazu. Haben Sie außer einen Haufen Schrott und drei bis vier ältere Autos hier drüben nichts Andres zu bieten?“
"Pure Nostalgie“, antwortete Marvin. "Die anderen Filialen von Jerry Steeles Autosales Company sehen wesentlich moderner aus. Drüben ist es gerade leer, weil morgen eine Lieferung Neuwagen kommt. Auch über Ihre Zweifel könnten wir ein andermal reden.“ Er sah sie erwartungsvoll an und legte all seinen Charme in den Blick.
"Nun geben Sie Ihrem Herzen schon einen Stoß und nehmen das Angebot an“, unterbrach eine sonore Stimme das Gespräch. Gabriel stand schon eine ganze Weile lang hinter ihnen und hörte zu. Er und seine Frau hatten sich überflüssig gefühlt. Allmählich wollten sie nur noch in ihr künftiges neues Zuhause. Sie waren nun schon seit einer Stunde hier, und es zeichnete sich noch immer kein Erfolg bei dem geplanten Autokauf ab. Er war verärgert und versuchte, es sich nicht allzu sehr anmerken zu lassen.
Adeela war feinfühlig genug und hörte den unterschwelligen Vorwurf aus seiner Stimme. Sie wollte den Corolla Liftback ja ohnehin, falls er zu haben sei. Sie schwenkte ein, bestand jedoch auf einer Probefahrt und die Erneuerung der jährlichen Sicherheitsuntersuchung.
Das schnittige Coupé war erst vier Jahre alt. Rahel, Gabriel und sie waren verblüfft über den günstigen Preis von 2000 $.
Marvin und Adeela wurden sich einig. Der Toyota – einstens das Eigentum eines berühmten Harfenisten – wechselte zum dritten Mal den Besitzer. Gemeinsam begaben sie sich wieder zurück in die Nostalgiewelt von Marvin Beard auf der anderen Seite der Straße.
Die restlichen Formalitäten wurden unkonventionell abgewickelt: Adeela zückte in einem Hinterraum des Pubs ihre Kreditkarte. Marvin erklärte sich bereit, das Fahrzeug anzumelden und am Abend nach Crawfordsville zu überführen. Adeela füllte die notwendigen Vollmachten aus und nahm sein Angebot, einen Leihwagen zu mieten, an.
Noch einmal führte Marvin sie hinter das Haus, um ihr ein paar Modelle zu zeigen. Adeela entschied sich für einen goldfarbenen Camaro und freute sich schon darauf, damit über den Highway zu brausen. Eine Stunde später hatten die Abels und sie ihren neuen Wohnort erreicht. Im Verlauf des Nachmittags tätigten Adeela und Rahel die ersten Alltagsgeschäfte, während Gabriel das Restgepäck beim Paketdienst abholte. Der gemietete Bungalow war vollmöbliert, und außer der Beschaffung von Lebensmitteln und sonstigen Gebrauchsgegenständen war nichts mehr zu tun.
Rahel genoss es sichtlich, nach mehr als zehn Jahren wieder in der alten Heimat zu sein. Hier hatte sie ihren Mann kennen- und liebengelernt, war ihm berufsbedingt in die Großstadt gefolgt, um aus gesundheitlichen Gründen mit ihm gemeinsam nach Cedar Rapids zu ziehen.
Erst in Oklahoma hatten Gabriel und Rahel den Gipfel des Glücks zusammen erklommen - durch Edens Geburt. Und nun trieb sie die Sorge um ihre Tochter wieder in die Heimat zurück. Was hielt das Schicksal hier für sie bereit?
~ Alina ~
Spendenmarathon der J.S.N.Y. ein voller Erfolg!
Am 27.05.2006 erfüllte sich für eine junge Frau aus Indianapolis ihr sehnlichster Wunsch. An diesem Tag wurde ihr von einer berühmten Kunst-Universität in New York eine Konzertharfe aus dem Hause Salvi überreicht. Der Erwerb wurde durch den Erlös von 50000 Dollar aus einem Spendenaufruf möglich gemacht.
Initiiert wurde dieser von Xavier de Maestre, Gewinner des USA International Harp Competition im Jahr 1998.
Mittlerweile ist der weltbekannte Harfensolist aus Frankreich Dozent für Musikgeschichte an der Juilliard School of New York. Der Hintergrund des Spendenmarathons entbehrt nicht einer gewissen Tragik: Die Empfängerin der 47-saitigen Doppel-Pedalharfe – Alina McIntosh aus Indianapolis – leidet an Leukämie im Endstadium. Die Gelder für das Instrument kamen u.a. durch Versteigerung von Sachwerten aus dem Privatbestand der an der Juilliard School unterrichtenden Professoren zustande.
Archiv: An Artist’s World
Indianapolis/apa/ 2006/05/29
~ Marvin ~
Marvin bereitete alles vor, um Adeelas neues Auto von Indianapolis nach Crawfordsville zu überführen. Die noch offenen Formalitäten hielten ihn nicht allzu lang auf, er erledigte sie an Ort und Stelle.
Nachdenklich schloss er am frühen Nachmittag das Geschäft ab, setzte sich in den Toyota, der ihm nun nicht mehr gehörte, und fuhr Richtung Heimat. Während der Fahrt durch die Stadt glitt sein Blick immer wieder zu der etwa fingernagelgroßen Harfe, die am Rückspiegel hing. Der Anhänger war ein Andenken an Alina McIntosh.
Von Kindheit an kannte er sie. Als Nachbarkinder waren sie unzertrennlich gewesen. In Alinas Elternhaus ging er aus und ein, ebenso wie sie in seinem. Als Teenager hatten sie sich ineinander verliebt. Marvin war Alinas erster Mann gewesen. Diese Erfahrung war für ihn wie ein Geschenk, ebenso wie all die Jahre, die er an ihrer Seite verbrachte. Es waren viel zu wenig gewesen, das Schicksal hatte Alina viel zu früh von seiner Seite gerissen.
Marvin kämpfte gegen die Trauer in seinem Herzen an und versuchte, sich auf den Verkehr zu konzentrieren. Normalerweise erledigte er die tägliche Fahrt von seiner Autogarage bis zu sich nach Hause im Schlaf, und auch das übliche Getöse rings um ihn herum machte ihm nichts mehr aus. Heute jedoch verlangte ihm der Berufsverkehr auf der Illinois Road, die quer durch die Stadt lief, alles ab. Als vor ihm einer bremste, konnte er nicht mehr an sich halten und fiel in das Gehupe mit ein. Genervt verließ Marvin an der nächsten Ausfahrt die Hauptverkehrsader, befuhr eine Seitenstraße und nahm einen Umweg in Kauf. Fast augenblicklich ließ der Lärm um ihn herum nach.
Ein Geschäftsviertel mit beschaulichen Ladenhäuschen tat sich vor ihm auf. Einem Impuls folgend fuhr er rechts ran und hielt vor einem Blumenladen. Das Schaufenster war reich mit Ernteschätzen geschmückt. Vor dem Verkaufsraum standen Kübel mit Blumen.
Marvin stellte den Motor ab und blieb noch einen Moment sitzen. Sein Blick fiel auf Alinas Foto, das in der Mitte seines Cockpits in einem Magnetrahmen angebracht war. Mit dem Zeigefinger strich er zärtlich dessen Konturen nach. "Ich vergesse dich nie."
Alinas sanfter Blick brannte sich in ihm fest. Als sie noch lebte, hatte sie den Löwen in ihm gezähmt und ihn oft vor der einen oder anderen Dummheit bewahrt, die er beging, weil er dachte, er müsste sie schützen.
Dennoch war sie immer die Stärkere als er gewesen. Nur gegen den Tod hatte sie keine Chance gehabt ...
Marvin entfernte das Foto vom Cockpit und steckte es in seine Brusttasche. Sein Herz pochte schmerzvoll dagegen. Er öffnete die Autotür, schwang seine langen Beine heraus und schlug die Tür machtvoll hinter sich zu. Wie ein Flüchtender hetzte er über die Straße. Vor seiner Pein gab es kein Entkommen, Marvins Zorn hatte nicht mal ein Ziel.
Vor dem Blumenladen angekommen, fragte er sich, was er hier tat. Ein Rosenbukett erweckte seine Aufmerksamkeit, es war jedoch nicht nach seinem Geschmack. Marvin trat ein, begleitet von einem feurigen Blick aus dunklen Augen. Nun wusste er, was ihn hergeführt hatte. "Gibt es schwarze Rosen?", fragte Marvin eine ältere Frau, als er an der Theke ankam. Mit einem verbindlichen Lächeln sah sie ihn an und band in aller Seelenruhe einen Strauß aus weißen Lilien. "Die gibt es durchaus", erwiderte sie. "Weil sie aber selten sind, ist unsere Black Baccarat nicht günstig für Sie."
Gleichmütig zuckte Marvin die Schultern. "Was auch immer sie kosten, das ist es mir wert. Ich brauche nur eine." Sein Blick folgte dem Fingerzeig der Floristin. "Eine Rose für eine Rose", erklärte er ungefragt. "Und eine ganz besondere für eine Schwarze Rose des Orients."
Die Verkäuferin trat zu einer einsam stehenden Vase im Eck und strahlte ihn an. "Das muss eine bemerkenswerte Frau sein. Sie sind der erste Kunde, der nach unseren Kostbarkeiten verlangt." Sie entnahm eine der edlen Rosen, ging zurück zum Tresen und schlang sie in Seidenpapier. "Lang unterwegs sein dürfen Sie damit nicht. Es wäre schade, wenn sie verdorrt."
Marvin lächelte die Floristin freundlich an. "Sie kommt noch heute an ihren Bestimmungsort." Er deutete mit dem Kopf nickend zu ihrem fertig gebundenen Lilienstrauß: "Sind die auch zu verkaufen oder sind die schon reserviert?"
"Wenn Sie sich dafür interessieren, binde ich Ihnen einen eigenen Strauß", erwiderte sie. "Der hier ist reserviert. Mrs. McIntosh holt ihn gleich ab."
Marvin zuckte zusammen. Alinas Mutter ... Er hatte ganz vergessen, dass sie in der Nähe wohnt. Ihn übermannte das schlechte Gewissen. Er hatte sich nach Alinas Tod nicht mehr um sie gekümmert, obwohl er bei ihren Eltern fast schon zuhause gewesen war. Mrs. McIntosh hatte nicht nur ihre Tochter verloren, sondern nur ein Vierteljahr später auch ihren Mann. Seitdem war sie allein und hatte das Haus verkauft. Marvin wollte ihr nicht begegnen.
"Nein, lassen Sie nur", lehnte er ab. An einem anderen Tag, heute war der Tag der Rose. Er nahm die Baccarat entgegen, bezahlte eine astronomische Summe dafür und ging zur Tür. "Übermitteln Sie Ihrer orientalischen Rose unseren Gruß", rief die Verkäuferin hinter ihm her. "Und vergessen Sie nicht, zu leben. Ihre Alina hätte das so gewollt!"
Marvin fragte sich nicht lang, woher die Floristin es wusste. Vielleicht stand es ihm ins Gesicht geschrieben. Vielleicht hatte sie aber auch nur sein Zusammenzucken bemerkt, als sie den Namen ihrer nächsten Kundin genannt hatte. Das Naheliegendste war jedoch, dass sie ihn kannte. Marvin war oft genug an Alinas Seite gewesen, wenn ihr Schicksal durch die Zeitungen ging.
Er ließ die Eingangstür wieder zufallen, kehrte an die Theke zurück und holte seinen Geldbeutel aus der Hosentasche. "Ich nehme noch einen Schwung Blumen von draußen mit", sagte er Bescheid, nickte weisend in Richtung Tür und legte ihr 50 Dollar hin. "Das müsste genügen."
"Haben Sie es sich überlegt?" Ohne ein Wimpernzucken legte die Blumenverkäuferin den stattlichen Betrag in ihre Kasse, trat vor und begleitete Marvin nach draußen. Mehrere Blumensorten in verschiedenen Farben waren über fünf große Eimer verteilt. Er entschied sich für Schlichtheit, wählte einen Armvoll Margheriten und entnahm sie, ohne lange zu zaudern.
"Reicht das Geld, was ich Ihnen gegeben habe?", fragte er die Floristin. Sie nickte. "Längst. Dafür hätten Sie noch viel mehr mitnehmen können." Sie fing die schwarze Baccarat auf, die seinen Händen entglitt und hielt sie Marvin entgegen. Die Rose wirkte von dem Beinahe-Sturz schon etwas geknickt, als es zu nieseln begann. Regentropfen glitzerten wie Diamanten auf ihren nachtschwarzen Blättern.
Unbeholfen versuchte Marvin, zu verhindern, dass er seine Margheriten verlor. Aus unerfindlichen Gründen zog es ihn auf den Friedhof. Deshalb hatte er sie gekauft.
"Warten Sie!", bat er die Floristin. "Passen Sie einen Moment darauf auf, ich packe das Unkraut hier weg." Ihr entsetzter Blick ließ ihn schmunzeln.
Marvin ließ die Verkäuferin stehen, überquerte die Straße und schlenderte zu seinem Auto. Den riesigen, etwas zerzausten Margheritenstrauß packte er auf den Rücksitz und ging wieder zurück, um seine kostbare Rose zu holen. Als es hinter ihm krachte, zuckte er erschrocken zusammen, drehte sich um und fluchte lauthals.
Er hatte vergessen, die Wagentür wieder zu schließen. Ein Fahrradfahrer war dagegen geknallt und lag schimpfend am Boden. Hastig riss Marvin der Verkäuferin die schwarze Rose aus ihren Händen, rannte über die Straße und stieg über Fahrrad und Fahrer darüber hinweg.
Sorgsam legte Marvin die Baccarat zu den Margheriten dazu, drehte sich um und kümmerte sich um den Mann. "Haben Sie sich verletzt?"
"Sie sind vielleicht lustig!", maulte ihn der Verunfallte an. "Haben Sie in der Fahrschule nicht gelernt, dass man keine Autotüren offen lässt? Schauen Sie mal meinen Anzug an, der ist hinüber." Die helfend dargebotene Hand lehnte er ab und rappelte sich von selbst wieder hoch. "Sie haben etwas verloren." Er reichte Marvin Alinas verschmutztes Foto. Es musste ihm beim Bücken aus seiner Brusttasche gefallen sein. "Danke. Es tut mir leid, ich bin heute etwas zerstreut", erklärte Marvin. Trotz seines schlechten Gewissens konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen. "Im Yuppie-Style sollte man halt auch nicht Fahrrad fahren. Wo ist Ihr Rolls Royce?" Er drehte sich um und legte den Magnetrahmen auf die Margheriten.
Endlich knallte Marvin die hintere Wagentür hinter sich zu. Ein Graffiti-Pferd hatte auch etwas abgekriegt. Die Flanke einer weißen Stute war leicht angekratzt, doch es war nur ein Riss in der Folie. Mit dem Daumennagel strich er ihn glatt, trat zurück und begutachtete kritisch sein Werk. "Gut", nickte er. "Das müsste gehen."
"Sie werden mir meinen Anzug bezahlen!", riss ihn eine barsche Stimme hoch. Marvin drehte sich um und musterte sein unfreiwilliges Opfer von oben bis unten.
Mittlerweile war aus dem Nieseln ein Guss geworden. Beide Männer waren klitschnass.
"Meinen Sie nicht, dass es Sie ohnehin erwischt hätte?", machte Marvin den Radfahrer darauf aufmerksam. Er kramte noch einmal seinen Geldbeutel aus seiner durchnässten Jeans und drückte ihm tausend Dollar in die Hand. "Dafür können Sie sich einen neuen Anzug und ein neues Fahrrad kaufen", schlug Marvin vor. "Oder Sie kommen zu mir. Ich verkaufe auch Autos."
Ohne sich weiter um ihn zu kümmern, drehte er sich um, stieg in den Toyota und brauste mit quietschenden Reifen davon. Sechs Augenpaare starrten Marvin vom Straßenrand aus entrüstet und kopfschüttelnd hinterher.
Das stimmte ihn heiter, als er es im Rückspiegel sah. Marvin spitzte die Lippen und pfiff eine Melodie vor sich hin. Eine elegante Silberblondine winkte ihm vom Straßenrand her. Seine gute Laune war wieder dahin, weil es Theresa war. Alinas Mutter war die Letzte, mit der er jetzt reden wollte. Marvin fühlte sich zerrissen wie niemals zuvor!
Zögernd nahm er den Fuß vom Gaspedal und winkte zurück. Er wäre gern weiter gefahren, doch Theresa McIntosh querte die Straße und kam direkt auf ihn zu, ohne auf den Verkehr zu achten. Sein Herz blieb fast stehen, als ein Auto sie beinahe erwischte. Marvin würde gezwungen sein, mit ihr zu reden, bevor sie überfahren wurde.
Die Angst um sie machte ihm die Entscheidung leicht, und er hielt an. Einladend öffnete Marvin die Beifahrertür, ließ das Fenster an seiner Seite herunter und rief ihr zu: "Ich will auf den Friedhof. Kommst du mit?"
Theresa umrundete sein Auto, schüttelte den Regen aus ihrem halblangen Haar und sah für einen Moment aus wie ihre Tochter. Ihr Anblick versetzte Marvin einen weiteren Stich. Sie schaute durch die offene Tür. "Ich muss erst Blumen holen. Lass gut sein, ich gehe zu Fuß. Ich wollte dich nur begrüßen. Wir haben uns schon lang nicht mehr gesehen." Theresas Blick glitt auf den Rücksitz zu dem Bilderrahmen und dem Strauß Margheriten. "Was machst du mit Alinas Foto? Hast du eine andere Frau, dass du es weggemacht hast?"
Marvin schüttelte abwehrend den Kopf. "Ich habe den Toyota verkauft. Nur deshalb."
Abschätzend sah sie ihn an. "Ich hätte nicht gedacht, dass du dich davon einmal trennst. Brauchst du Geld?"
"Nein. Es musste so sein." Angelegentlich starrte Marvin zum Fenster an seiner Seite hinaus. Was sollte er ihr auch sagen? Theresa war schließlich die Mutter, und er wusste selbst nicht so genau, weshalb er all seine Handlungen des heutigen Tages vollzog. Er wusste auch nicht, wie er mit dem steten Ziehen in seinem Herzen umgehen sollte, das schlimmer geworden war, seit eine Familie aus einem anderen Staat in sein Leben getreten war. Den dumpfen Schmerz der Trauer hatte er zu orten gewusst, doch nun kam Sehnsucht hinzu. Sehnsucht nach Leben ...
"Nun gut, du musst selbst wissen, was du tust", hörte Marvin Theresas Stimme. "Grüße an Jerry, wenn du ihn wieder siehst." Sie boxte ihn auf den rechten Arm. "Lass dich mal sehen, Verräter. Vielleicht begegnen wir uns ja nochmal am Grab meiner Tochter." Theresa McIntosh schloss die Beifahrertür und hastete durch den strömenden Regen.
~ Theresa ~
Marvin griff in sein Handschuhfach, holte eine CD heraus, legte sie ein und fuhr wieder an. Harfenklänge rissen ein weiteres Loch in seine Seele. Alina hatte kurz vor ihrem Tod mehrere selbst komponierte Werke im Studio der Juilliard School aufgenommen und sie ihm geschenkt. "Damit ich immer bei dir sein kann ..."
"Du hast dein Versprechen gebrochen." Er sprach es laut aus, sah ihr Gesicht ganz klar vor sich, es spiegelte sich in der Scheibe. "Bin ich nun an das meine gebunden?"
Alinas Silhouette wurde von dunklen Augen verdrängt. Wie hieß sie noch gleich? Adeela? War es Schicksal, dass beide Namen denselben Wohlklang hatten? Würde Alina eine neue Frau an seiner Seite dulden oder ihren Platz in seinem Herzen bis an das Ende seiner Tage besetzen?
Frustriert schlug Marvin gegen das Armaturenbrett und drehte anschließend die Musik ein bisschen lauter, mit dem Ergebnis, dass das schlechte Gewissen ihn noch stärker packte. Er fühlte sich, als würde er Alina betrügen. Verzweifelt klammerte er sich an das Schmeicheln der Harfe, als ob er sie dadurch zurückholen könnte.
Der vor ihm liegende Stau ließ ihm jede Menge Zeit für trübe Gedanken. 'Ich bin ein Narr', schalt er sich selbst. 'Wer sagt, dass sich Adeela für mich interessiert?'
Jemand klopfte gegen die Scheibe auf der Beifahrerseite. Er schreckte hoch und blickte hinüber. Schon wieder Theresa. Ließen Marvin die Gespenster der Vergangenheit überhaupt nicht mehr los?
Alinas Mutter riss die Tür auf und ließ sich auf den Sitz fallen. "Du bist ja immer noch da!" Sie triefte vor Nässe. In ihrem Arm hielt sie ein Lilienbouquet, das ebenso mitgenommen aussah wie sie.
"Tür zu!", blaffte Marvin sie an, als ihn ein Guss Wasser traf. "Ich habe heute schon geduscht."
Theresa schnappte entrüstet. "Du hast auch schon bessere Manieren an den Tag gelegt!", rügte sie ihn, schloss aber die Tür. Offenbar war sie entschlossen, Marvin nicht so schnell wieder aus ihren Griffeln zu lassen. Sie warf ihr Bouquet zwischen den beiden Vordersitzen hindurch neben die Margheriten, tastete nach Alinas Foto und nahm es an sich. "Ich kann es nicht fassen, dass du meine Tochter so achtlos behandelst." Mit Tränen in den Augen bettete Theresa den Rahmen auf ihren Schoß.
"Du machst Alina nicht wieder lebendig, wenn du mir Vorwürfe machst", wehrte sich Marvin. "Ich habe sie genauso geliebt und habe sie durch ihr Leben begleitet bis auf ihr Totenbett. Im Gegensatz zu dir sah ich sie sterben." Er war von sich selbst überrascht, dass er imstande war, so mit Theresa zu sprechen. Sie hatte jedoch keine Ahnung, wie es ihm das Herz zerrissen hatte, als Alina noch vor ihrem Tod immer weniger wurde und von ihm schwand. Schließlich hatte er mit ihr zusammengelebt!
"Was soll ich von dir denken?" Theresa klammerte sich am Türgriff fest, als es endlich weiter ging. Der Stau löste sich nach und nach auf, und Marvin gab Gas. Er legte seine ganze Wut in seinen Fuß, bog an der nächsten Ausfahrt ab und befand sich im Nirgendwo.
Vor Geistern gibt es jedoch kein Entkommen, das merkte er schnell. "Was du von mir denkst, ist mir egal", entgegnete er. "Ich habe auch schon besser von dir gedacht, sah dich als liebevolle Mutter und Fast-Schwiegermutter. Du hast genauso gewusst, wo ich bin und hieltest es nicht für nötig, mal nach mir zu sehen."
Marvin streifte sie mit einem Blick. In ihrem Gesicht glänzte noch immer der Regen, doch das lenkte nicht von den Falten des Kummers ab. 'Sie ist gealtert', dachte er. 'Trotzdem ist sie noch immer ihr Spiegelbild.' Zu Lebzeiten Alinas war sie für ihre ältere Schwester gehalten worden, und oft genug hatten sie zu dritt etliche Pubs unsicher gemacht. Mit Theresa hatte man einst viel Spaß gehabt, und Alina war stolz auf ihre Mutter gewesen.
'Was ist aus ihr geworden?' Marvin fragte sich, ob das seine Zukunft sein würde: Eine mahnende Stimme im Rücken mit der Forderung, Alina nicht loszulassen. Wäre das aber auch deren eigener Wille? Er glaubte es nicht.
Marvin wurde bewusst, dass Theresa etwas gesagt haben musste. Er wusste nicht was, sah nur die Verbitterung in ihrem Gesicht und einen verzerrten Mund, der sich bewegte. Sie war ihm so fern. "Theresa, du warst einmal schön", konnte er sich nicht enthalten. "Genauso schön wie Alina. Sie hatte deine Schönheit geerbt. Ihr kostbarstes Gut trug sie in ihrem Herzen. Wie ist es mit dir?"
"Was wirfst du mir vor?", fragte sie ihn. Theresa wandte den Blick von ihm ab und sah aus dem Fenster. Riesige Bäume glitten vorbei, doch die Umgebung kannte sie nicht. "Wo fährst du hin?", schob sie verwirrt hinterher.
"Zu mir nach Hause", entgegnete Marvin. "Es war auch das Heim deiner Tochter." Er griff zu ihr hinüber und entwand ihr Alinas Foto. "Das gehört mir. Ich habe nicht so viele Erinnerungen an sie wie du selbst." Er steckte den Rahmen zurück in seine Jacke.
"Dann halte es auch in Ehren und stoße Alina nicht von dir weg." Theresa klammerte sich an seinem Arm fest. "Ich wollte zu ihrem Grab", forderte sie mit Nachdruck.
"Ich zeige es dir. Es gibt ein noch viel größeres Grab", erwiderte Marvin. "Es ist ein Haus voll mit Geistern und Einsamkeit, aber auch mit ihrer Musik." Durch den Regenvorhang hielt er Ausschau nach den Eisenbahnschienen, die ihm zeigen würden, ob er hier immer noch richtig war. Zwangsläufig verringerte er deshalb sein Tempo.
"Theresa, ich werfe dir nur vor, was du aus dir machst", sprach er nach einer Weile des Schweigens. "Du warst eine schöne Frau und hast zugelassen, dass du zerbrichst. Weder Alina noch dein Mann hätten das gewollt."
"Warum bist du nach Theodors Tod nie gekommen und hast mich besucht?", fragte Theresa. "Hast du vergessen, wo ich wohne? Zum ersten Mal in meinem Leben hätte ich jemanden gebraucht, der mich versteht und den Schmerz mit mir teilt. Ich hatte gehofft, das wärest du. Für uns warst du fast wie ein Sohn. Marvin, du bist reichlich undankbar."
Erleichtert entdeckte Marvin den hinteren Waldweg zu seinem Haus. Er hatte sich also doch nicht wie befürchtet verfahren. Er hatte sich für die Annäherung an sein Shotgun House von hinten entschieden, um Theresa zu zeigen, wie seine Art der Trauer aussah.
Ganz abgesehen davon hatte er noch etwas vor, und wenn er sie schon nicht loswerden konnte, nähme er sie kurzerhand mit. Die Dame war jedoch ganz schön sauer auf ihn, das hatte er mittlerweile kapiert. "Ich muss nach Hause, Theresa", gab er ihr Bescheid. "Ich zeige dir, wie ich nach Alinas Tod lebte. Vielleicht kannst du dann verstehen, weshalb ich mich nicht bei dir blicken ließ."
Marvin wunderte sich, wie leicht es ihm plötzlich fiel, darüber zu sprechen. Ein klitzekleiner Riss in seinem Herzen war zugewachsen, die Wut in ihm ließ ein wenig nach. Der Regen prasselte laut gegen die Fenster, seine Scheibenwischer kamen kaum noch hinterher. Am Rand der unbefestigten Straße flossen kleine Rinnsale entlang. Ein Zug fuhr links an ihnen vorbei, der Lokführer grüßte mit einem Tuten. Marvin hupte zurück und wünschte sich, er könnte Theresa zum Lächeln bringen. Konflikte mochte er nicht.
"Bist du zufrieden mit deiner Wohnung?", fragte er sie. "Es muss eine gehörige Umstellung gewesen sein im Vergleich mit einem Haus."
Theresa blickte ihn an. Sie wusste, Marvin versuchte auch nur, das Eis zwischen ihnen zu brechen. Es fiel ihr schwer, die innerlichen Vorwürfe an ihn fallenzulassen. Zu sehr erinnerte er sie an das, was sie verloren hatte.
'Vielleicht geht es ihm ja ebenso', dachte sie das erste Mal und konnte Marvin ein wenig besser verstehen. Sie legte eine Hand auf seinen Arm. "Es tut mir leid, ich war unfair. Theodor und Alina fehlen mir so sehr, und ich ließ es an dir aus." Sie fuhr sich durchs Haar, das fast trocken war. Kleine Kringel fielen ihr in die Stirn. Marvin sah es und kam nicht umhin, darüber zu lächeln. So kannte er sie!
"Ich habe mich die letzten Jahre mehr in Hostels herumgetrieben als in meinem eigenen Bett", gestand er ihr. "Unser Häuschen ist zwar kein Vergleich zu Eurem, doch mir kam es vor wie eine Gruft. Bestimmt ging es dir ebenso."
Sie nickte. "Ja. Deshalb wollte ich das Haus auch nicht behalten, nachdem Theodor beschlossen hatte, unserer Tochter zu folgen. Es hat mich so wütend gemacht."
Theresa sah aus dem Fenster. Der Regen ließ nach und machte einer schwummrigen Dämmerung Platz. Sie hoffte, dass noch ein bisschen Zeit bis zum Nachteinbruch war. "Weshalb nimmst du mich mit?", fragte sie.
"Weil ich dir etwas zeigen will", erwiderte Marvin. "Du kennst nur den Weg von vorn, aber wenn wir das Haus von hinten anfahren, erlebst du ein Wunder."
"Ich habe es schon gesehen", antwortete sie. "Ein Märchenwald." Der Toyota glitt mühelos über einen gepflasterten Weg durch bizarr geformte Laubbäume hindurch. Neugierig schaute Theresa nach vorn und erblickte ein achteckiges Steingebäude.
Links davon blitzte die grüne Farbe von Marvins Häuschen zwischen einer Gruppe Tannen hindurch. Marvin hielt darauf zu, stellte den Motor ab und stieg aus. Er ging zur Beifahrerseite und öffnete Theresa die Tür. "Komm!", forderte er Alinas Mutter auf und reichte ihr eine helfende Hand. Theresa ergriff sie und folgte ihm.
Er führte sie zu dem Steingebäude. Es war aus unbehauenen Blöcken erbaut und hatte ein spitziges Dach. Ein rundes Holztor verwehrte ihnen den Eingang. Marvin kramte einen großen Eisenschlüssel aus seiner Jacke und schloss es auf. Nachdem er linkerhand eine Schalttafel bedient hatte, flammten ringsherum Kerzen auf.
Klassische Musik erklang. Theresa liefen die Tränen übers Gesicht, als sie die Harfenklänge ihrer Tochter erkannte. Marvin führte sie zwischen einfachen Bänken hindurch einen Gang entlang.
An dessen Ende bildeten Alinas kostbare Salvi-Harfe und eine Keltische Harfe ein doppelflügeliges Arrangement. Die beiden Harfen in unterschiedlichen Größen waren der Rahmen für ein überlebensgroßes Porträt ihrer Tochter.
"Ich habe es selbst gebaut!", erklärte Marvin, überließ sie ihrer Andacht und ging nach draußen.
Einen Moment später kam er mit den Margheriten und der schwarzen Baccarat wieder zurück und legte beides vor Alinas Porträt. "Diese Rose steht für einen Neuanfang."
~ Jerry ~
Eine Stunde später war Marvin endlich unterwegs zu seinem eigentlichen Tagesziel. Mit Theresa war er im Reinen. Er fuhr sie nach Hause, und sie richtete erneut Grüße an Jerry aus. Somit hatte sie unwissentlich noch einmal Öl ins Feuer gegossen. Das konnte Marvin ihr jedoch unmöglich sagen. Er wusste es selbst erst seit zwei Tagen, was mit seinem Kompagnon los war.
Jerry Steeles Krankheit war nicht das einzige Geheimnis, das er vor Theresa verborgen hatte. In seinem Kofferraum lag eine der Kostbarkeiten, die Alina ihm hinterließ. Sie hatte eine ganze Sammlung von Harfen gehabt, und heute würde davon eine gehen. Die Keltische Harfe war ein Geschenk von Jerry an Alina gewesen, ebenso wie der ersteigerte Toyota an ihn. Das Auto hatte Adeela gekauft, und die Harfe würde das kleine Mädchen bekommen. Marvin hatte gehört, wie sehr sie sich danach sehnt.
Er befuhr die Michigan Bridge und dachte darüber nach, wie sehr sich dank Jerry sein Leben verändert hatte. Niemals hätte Marvin sich träumen lassen, dass er einmal Anteilseigner von Jerry Steeles Autosales Company sein würde. Mit dem Gedanken, was von ihm erwartet wurde, wenn Jerry nicht wieder auf die Beine käme, war er jedoch glatt überfordert. Der Konzernchef hatte ihm alles vermacht!
~ Eden ~
Der Mietbungalow, für den Gabriel und Rahel sich entschieden hatten, lag im Südwesten von Crawfordsville in der Nähe einer alteingesessenen Universität, dem Wabash College. Durch die traumhafte Hügellandschaft ringsum war die Thornwood Road eine der begehrtesten Wohnadressen der Kleinstadt, knapp 50 Meilen von Indianapolis entfernt. Das Panorama wurde von einer alten Baumart bestimmt, die den Namen der etwas weiter entfernten, doch überregional bekannten Umgebung begründete: Sycamore Hills. Ein Golfclub war in der ländlichen Gegend ebenso ansässig wie exklusive Ferienanlagen.
Crawfordsville bildete mit anderen Kleinstädten zusammen ein verzweigtes Netzwerk um die unzähligen Hügel herum, von denen einige bereits zu anderen Staaten gehörten. Insofern wäre das gewählte Ferienhaus auch nicht gerade sonderlich billig zu mieten gewesen, doch im Vergleich zu anderen amerikanischen Städten glich sich das wieder aus. Abgesehen davon hatte die Familie Rabatt. Somit hatten die Abels einen Glücksgriff gemacht.
Der Sycamore Drive zog sich wie ein Kreis rings um das College. Die Allee, welche all die Städte, die sich an die Sycamore Hills anschmiegten, miteinander verband, war auf beiden Seiten von Bäumen umsäumt.
Rechterhand zweigte die Jennison Street ab und verlief an der Bahnlinie entlang. Wenn man ihr folgte, befand man sich mitten im Wald, überquerte die Schienen und hatte schließlich am Ende der Straße ein Stadion in altrömischer Bauweise vor Augen: ein Miniatur-Kollosseum.
Linkerhand zog die Allee einen Bogen, machte am Ende der Straße eine Kehrtwende, und zwischen zwei Büschen versteckt - kurz vor einem Rondell - lag die Abbiegung zur Thornwood Road.
Den Unterschied zwischen Jennison Street und jener sah man schon am Straßenbelag. Während Erstere eine Asphaltstraße war, deren Fahrspuren von einem gelbschmutzigen Streifen voneinander getrennt wurden, war die Thornwood Road mit Kopfsteinpflaster bestückt.
Beiderseits waren in größeren Abständen gepflegte Gärten und Laubbäume zu sehen. Die Grundstücke waren weit genug voneinander entfernt, um von der Nachbarschaft unbehelligt leben zu können. Die meisten Häuser waren abgesetzt von der Straße hinter kunstvoll gedrechselten Gitterstäben aus Gusseisen versteckt. Hier war der Wohlstand zu Hause, und man konnte es sehen.
Die Thornwood Road war eine Sackgasse. Das Haus der Abels stand ganz am Ende und schloss quer den Straßenverlauf ab. Bis zum nächsten Nachbarn waren es auf beiden Seiten gut zweihundert Yards Entfernung. Vor dem Grundstückseingang standen mehrere große Eichen, deren Kronen so dicht bewachsen waren, dass sie einander berührten und einen natürlichen Torbogen bildeten. Eingebettet zwischen den Stämmen – längs der Straße hüben und drüben - waren vier mit Rasenstein gepflasterte Parkbuchten.
Der Mietvertrag für den Bungalow war aufgrund der weiten Entfernung blind zustande gekommen. Abgeschlossen wurde er über die Siblings of Light Commonwealth, jene Quäkerkommune von Cedar Rapids, die das Friedenskonzert zwei Tage vor der Abreise am Rapid's Lake veranstaltet hatte. Eine Fügung des Schicksals wollte, dass einer Glaubensschwester dieses Häuschen gehörte.
Das Los der Familie hatte die ältere Frau veranlasst, kurzerhand zu ihrer Tochter zu ziehen und ihnen das Haus zu überlassen. Seit zwei Wochen wartete es nun auf seine neuen Besitzer. Im Frühling und Sommer blitzte es bei schönem Wetter lichtweiß und pastellgrün zwischen den Alleebäumen hindurch, zur Erntezeit leuchtete das Grundstück in den buntesten Farben.
Nur in den seltensten Fällen lag im Winter Schnee, meistens dauerte der Herbst bis zum nächsten Frühling.
Bei Ankunft der Abels lag Crawfordsville diesmal allerdings im Regen verborgen, und es war feuchtkalt.
Mittlerweile war es Ende November. Die Schaufenster der Geschäfte im Zentrum wechselten zwischen Vorweihnachtszeit und Thanksgiving-Dekoration, einige Häuser waren bereits mit Tannengirlanden geschmückt.
An dem einen oder anderen Ladeneingang standen Drehorgelspieler und leierten Weihnachtslieder herunter, doch von alldem bekamen weder die Abels noch Adeela Basara allzu viel mit. Das Stadtzentrum hatten sie während der Anreise gar nicht berührt und es weitläufig umfahren. Das Navigationsgerät des Camaro geleitete Adeela sicher zum Zielort. Eden begutachtete mit großen Augen die neue Umgebung und stellte ihre typisch kindlichen Fragen.
In der Thornwood Road wollte sie wissen, weshalb die Menschen hier in Gefängnissen lebten. Damit meinte Eden Häuser mit vergitterten Fenstern.
Gabriel starrte daraufhin nachdenklich zum Wagenfenster hinaus und ließ das Bild auf sich wirken. Insgeheim erneuerte er seine Einstellung, dass Reichtum nicht zwingend erstrebenswert sei und wünschte sich in sein einfaches Zuhause in Cedar Rapids zurück.
Einmal mehr bereute er nicht, mit Rahel gemeinsam dem Staat Indiana den Rücken gekehrt und dem Moloch entflohen zu sein. 'Der Mensch schafft sich seine Gefängnisse selbst', dachte Gabriel bitter. 'Hier stinkt es geradezu nach Geld und Korruption.’
Tief in ihm brodelte Zorn, ohne dass er ihn zuordnen konnte. Bangen Herzens erwartete er das Ende der Fahrt und ignorierte das Zupfen seiner kleinen Tochter, die auf dem Rücksitz neben ihm saß und eine Antwort auf ihre Frage erhoffte. Was sollte er ihr darauf auch sagen, wenn er die Abgründe der menschlichen Seele selbst nicht verstand?
Der Anblick, welcher sich ihm ein paar Minuten später bot, versetzte ihn allerdings in Begeisterung. Am Ende der Straße schälten sich alte Eichen wie heilige Monumente zu Anbeginn aller Zeit aus dem Regen und erweckten Ehrfurcht in ihm. Gabriel legte den Kopf auf die hintere Ablage des Camaros und wirkte in seinem Erstaunen fast kindlich. Ein feucht glänzendes Blätterdach wölbte sich dicht an dicht über seinem Blickfeld, fast wie die Kuppel eines gotischen Doms. Eden kletterte auf das Brett, neugierig darauf, was ihr Vater da sah. Freudig klatschte sie in die Hände.
Adeela parkte den Wagen in der letzten Parkbucht, und die Abels betraten mit ihr gemeinsam zum ersten Mal das neue Zuhause. Der große Vorgarten lag weit und frei vor ihren Augen, nur von einer kniehohen Zypressenhecke begrenzt. Zum Haus hin führte ein breiter, sauber geharkter Kiesweg und endete unter einem griechischen Säulenbogen aus weißem Eschenholz.
Rahel bestieg die drei Stufen zum Eingang und stand beeindruckt in einem halbkugelförmigen Vorbau aus rotem Sandstein. "Das ist erstaunlich“, bemerkte sie. "Es ist wie eine andere Welt.“ Adeela schlenderte über den Rasen und begutachtete ihr Übergangsdomizil für die nächsten Monate. Die Vorderfront des Hauses bestand bis ungefähr Hüfthöhe aus roten Ziegeln, der obere Teil war mit quadratischen Eschenholztafeln versehen. Drei große Bogenfenster waren in die Wand eingelassen und führten direkt auf eine rund um das Haus verlaufende Holzterasse.
"Dieser Stilmix ist hochinteressant. Das ist multikulturelle Architektur in Amerika!", rief Adeela Gabriel zu.
Eden hüpfte zu ihr hinüber und klammerte sich aufgeregt an ihre Hand. "Das ist ja riesig", staunte sie. "So viel Platz zum Spielen habe ich zuhause nicht." Eden schüttelte sich wie ein nasser Hund das Wasser vom Körper. "Der Regen ist kalt", beschwerte sie sich. "Schade, ich hätte so gern viel mehr gesehen."
Gabriel und Rahel standen bereits wartend am Eingang. "Kommt endlich ins Haus!", rief sie zu Adeela und Eden hinüber. Die beiden gehorchten. Einträchtig wie zwei Schwestern rannten sie lachend über den Rasen. "Sie werden eine wundervolle Mutter abgeben", lobte Gabriel galant, als sie bei ihnen ankamen.
Eden blickte mit einem seltsam wissenden Blick von unten herauf in Adeelas Gesicht. "Vielleicht macht dir ja der Mann, von dem das Auto da ist", sie deutete zum Parkplatz hinüber auf den Camaro, "heute abend ein Kind. Wenn du eines bekommst und es ist ein Junge: Nenne es Khalil. Bekommst du ein Mädchen, soll es so heißen wie ich."
Gabriel verschluckte sich an unterdrücktem Gelächter, Rahel errötete aufgrund dieser Peinlichkeit. Mit dem Versuch, abzulenken, drehte sie sich zur Tür und steckte mit zitternden Händen den Schlüssel ins Schloss. Sie wagte es kaum, Adeela anzusehen.
Hustend schob Gabriel seine Frau auf die Seite, stieß die Tür ganz auf und warf zwei Koffer ins Eck. Eden rannte kichernd an ihm vorbei. Ihr war sehr wohl bewusst, dass sie ins Fettnäpfchen getreten war. Trotzdem war sie davon überzeugt, dass es so kommen musste. Sie hatte beobachtet, wie der Mann Adeela ansah. Ihr Daddy sah ihre Mommy auch manchmal so an, und Mommy ihn auch. Dass aus solchen Blicken Kinder entstehen, wusste sie längst!
~ Rahel ~
Später am Abend kam Marvin vorbei und brachte Adeela ihren Toyota. Als sie ihm die Tür öffnete, war sie angenehm überrascht. Hatte sie ihn beim ersten Kennenlernen eher für einen chauvinistischen Möchtegern-Rocker gehalten, so stand vor ihr nun ein gepflegter Mann. Die langen rotbraunen Haare hatte er im Nacken mit einer dunklen Samtschleife zusammen gebunden. Er sah aus wie ein Musketier: Groß, verwegen, ein markantes Gesicht, braungebrannt, sportlich. Zur Feier des Tages trug er eine cognac-farbene Bundfaltenhose und dazu ein burgunderfarbenes Jacket. Als I-Tüpfelchen hatte er ein schwarzes Satinhemd gewählt, als Accessoire eine weiße Lederkrawatte. Dazu trug er schwarze Slippers, auf Hochglanz poliert.
Der Zeitpunkt für ein Date hätte nicht ungünstiger fallen können. Nach Ausgehen stand Adeela überhaupt nicht der Sinn. Dem Abend war ein stressiger Tag vorangegangen, mit Einräumarbeiten, Kofferauspacken, Behördengängen und so vieles mehr. Zeit für sich selbst hatte sie bisher noch nicht viel aufgebracht.
Ihn einfach so nach Hause zu schicken, brachte sie nicht übers Herz. Da sie jedoch keine Lust mehr hatte, sich in Schale zu werfen und in einer wildfremden Stadt auf Touristin zu machen, lud sie Marvin zum Bleiben ein, mit dem Angebot, ihm einen kleinen Snack zuzubereiten. "Wir hatten den ganzen Tag Stress“, erklärte Adeela ihm noch an der Tür. "Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus.“
Wider Erwarten hatte Marvin Verständnis und bestand nicht auf Einlösung ihres lose verabredeten Dates. "Ich habe Hunger wie ein Bär“, antwortete er schmunzelnd. "Woher ich etwas zu essen bekomme, ist mir egal.“
"Könnten wir zuerst die restlichen Formalitäten bezüglich des Autos abwickeln?“, fragte Adeela. „Haben Sie alle Papiere dabei?“
Als Antwort klimperte Marvin nur mit den Schlüsseln und nickte. Sie bat ihn in das nächstgelegene Wohnzimmer und wies einladend zu einer Club-Garnitur aus den Sechziger Jahren. "Setzen Sie sich!“, forderte sie ihn trocken auf. "Sitzgelegenheiten gibt es ja genug.“
Marvin legte eine schwarze Aktentasche aus Leder auf dem runden Glastisch ab und setzte sich auf einen der Sessel. Er öffnete sie und zog ein paar Dokumente hervor. "Die Eigentümer-Lizenz wird Ihnen noch zugesandt“, erklärte er und zeigte Adeela die Stellen für ihre Unterschrift. Sie setzte sich ihm gegenüber und unterschrieb. Die Durchschläge der Formulare steckte er ein und überließ ihr die Originale.
"Als Postadresse habe ich die angegeben, die Sie mir nannten. Wie lange wollen Sie in Crawfordsville bleiben?“ Neugierig sah Marvin sie an und gestand sich selbst ein, dass ihn dies nicht nur wegen den notwendigen Formalitäten interessierte.
Adeela spürte den Blick aus diesen unglaublich blauen Augen wie sanfte Federn auf ihrer Haut und schluckte. Er machte sie nervös, womit sie rein gar nicht umzugehen wusste. Nach einer kurzen Verlegenheitspause antwortete sie: "Schätzungsweise bis nächstes Jahr Mitte Mai. Danach geht es wieder zurück in meine Heimat.“
"Sie wollen wieder zurück in Ihr Land?“, hakte er nach.
„Nein, nein!“, wehrte Adeela mit einem heftigen Kopfschütteln ab. "Meine Heimat ist Amerika und wird es auch bleiben, auch wenn ich hier nicht geboren bin. Ich meinte, dass wir im Mai nach Oklahoma zurückkehren werden.“
"Sie haben mir noch gar nicht erzählt, was Sie hier tun. Und wer ist 'Wir'?“, bohrte Marvin weiter.
„Was ich hier tue, ist einfach: Ich gehe meinem Beruf nach. Und meiner Berufung“, antwortete Adeela mit einem gewissen Stolz in der Stimme. Temperamentvoll warf sie ihren Kopf in den Nacken. Ihre langen Haare glänzten wie Teer. Marvin fühlte, wie sich ein Knoten in seiner Brust löste und bereute nicht, gekommen zu sein. 'Sie ist umwerfend schön', dachte er. Laut erwiderte er: "Ja, ich weiß, Sie sind Ärztin. Gibt es nicht Ärzte wie Sand am Meer? Was ist anders, dass Sie Ihren Beruf als Berufung bezeichnen? Und warum hier, in Indiana und nicht dort, wo Sie waren?“
Adeelas Blick wurde traurig. "Sie haben Eden bereits kennengelernt. Ich sagte Ihnen, sie ist meine Patientin. Wegen ihr bin ich hier. Sie hat ein ganz spezielles Problem."
"Eden – ist das die Kleine, die bei Ihnen war? Ein rotzfreches Gör“, zog Marvin sie grinsend auf. Wie erwartet fuhr Adeela auf: "Sie ist nicht frech, und wir alle sind froh, wenn sie überhaupt spricht. Sie haben keine Ahnung, was sie durchgemacht hat. Urteilen Sie immer so schnell?“
Marvin wurde einer Antwort auf ihre Attacke enthoben, als Gabriel das Zimmer betrat. "Wen haben wir denn da?“, fragte er burschikos. „Habt Ihr euch schon geeinigt?“
Adeela erhob sich und stellte die beiden Männer einander vor. Danach verkündete sie, ihrem Gast etwas zu essen zu machen und floh in die Küche. Dort werkelte Rahel an den Küchenschränken herum und räumte Geschirr ein. "Soll ich Ihnen helfen?“, bot sie sich an.
"Lassen Sie nur!“, wehrte Rahel ab. "Kümmern Sie sich um Ihren Gast.“ Adeela bedankte sich und machte sich daran, Marvin etwas zuzubereiten. Viel anzubieten hatte sie nicht, weil bisher nur die Grundversorgung beschafft worden war. Mit Rahels Hilfe zauberte sie ein kleines Menü aus Hühnerbrustfilet auf dreierlei Blattsalat-Sorten. Adeela schob noch zwei große Pellkartoffeln in den Salamander und fragte, ob Rahel und Gabriel mitspeisen wollten.
Rahel lehnte ab, mit dem Argument, dass ihr ein Abendessen genügte.
Während der gemeinsamen Arbeit fragte Adeela nach Eden. "Sie ist schon im Bett“, antwortete Rahel. "Heute war sie wieder sehr seltsam. Erst hyperaktiv, neugierig und fröhlich, so richtig goldig, so wie wir sie kennen. Plötzlich saß sie in einer Ecke und starrte nur noch vor sich hin. Ich hoffe nicht, dass ihr Verhalten einen Rückfall ankündigt.“
"Vielleicht war sie einfach nur müde, Rahel.“ Adeela versuchte, sie zu beruhigen. "Es sind viele Eindrücke auf sie eingestürmt, und obwohl Eden ein eher fröhliches Kind zu sein scheint, denkt sie viel nach. Meiner Meinung nach ist sie ihrem Alter weit voraus, und möglicherweise ist sie dadurch überfordert.“
Rahel deckte einen kleinen Tisch am Fenster für Adeela und Marvin und wiegte zweifelnd den Kopf. "Ich weiß nicht. Vor Kurzem war sie fast wieder so, wie wir sie vor ihrem Zusammenbruch kannten. Gerade mit diesem starren Blick wurde es immer schlimmer, und plötzlich kam dieser … Name ins Spiel. Sie war gar nicht mehr bei sich.“
"Viele Kinder haben einen imaginären Freund, Rahel. Das ist nicht zwingend besorgniserregend. Gefährlich wird es erst, wenn sie sich selbst Schaden zufügen.“ Adeela verschwieg ihr, was sie selbst noch in der Klinik miterlebt hatte. 'Glücklicherweise …' - dachte sie - 'war sie nicht dabei.'
Rahel richtete schweigend die fertigen Gerichte an und stellte sie auf den Esstisch. In ihr tobte wieder die Angst um ihr Kind, zumal morgen der erste Untersuchungstag bei Dr. Sanders war.
Mit Edens Ärztin konnte sie zum momentanen Zeitpunkt darüber nicht reden. Rahel fühlte sich unverstanden.
Adeela spürte die aufkommende Missstimmung, trat zu ihr und legte ihr eine Hand auf den Arm. "Rahel, mit zuviel Umsorgung ist Eden nicht gedient. Behandeln Sie Ihr kleines Mädchen normal, und sie wird am Schnellsten wieder gesund.“
Rahel stiegen die Tränen in die Augen. "Sie sagen das so einfach. Und Sie sind auch nicht die Erste, die uns das Gefühl gibt, auf irgendeine Art und Weise versagt zu haben. Doch was schiefläuft: Das sagt uns niemand!“
"Zu lieben ist kein Versagen. Machen Sie sich keine Vorwürfe, weil Eden anders ist als andere Kinder. Sie ist hochintelligent, und dadurch hat sie es schwer genug. Doch wenn sie spürt, dass Sie sich wegen ihrem … wie soll ich es sagen?“ Adeela rang um die richtigen Worte, strich sich eine Strähne zur Seite und sah Rahel direkt in die Augen. "Sie zerfleischen sich selbst vor lauter Sorgen, doch das brauchen Sie nicht. Ihr Kind ist stärker, als Sie denken."
Als sie Luft holte und etwas einwenden wollte, hob Adeela abwehrend die Hand. "Warten Sie!", forderte sie Rahel auf. "Hören Sie sich an, was ich zu sagen habe." Nachdem sie widerwilliges Einverständnis in ihren Augen erkannte, fuhr sie fort: "Eden ist wie eine kleine Erwachsene. Sie macht sich Gedanken über ihr Umfeld, was sich heute bestätigt hat, als wir ankamen. Sie bezeichnete die Straße, in der Sie jetzt wohnen, als ein Gefängnis. Sprechen Sie doch einmal mit Ihrem Mann, denn dieser teilt dieses Empfinden scheinbar mit ihr.“
"Das wundert mich nicht“, entgegnete Rahel. "Eden hat eine starke Bindung an ihren Vater.“
Plötzlich waren die beiden Frauen nicht mehr allein. Als ob sie Gabriel herbeizitiert hätten, stand er mit verschränkten Armen im Türrahmen und beobachtete sie. "Was dauert bei euch beiden so lang?“, fragte er. Sein Blick glitt zu Adeela, und er rügte sie: "Ihr Gast wird allmählich ungeduldig, obwohl ich mich nach Leibeskräften bemühe, ihn bei Laune zu halten. Worüber habt Ihr gesprochen?“
Ein inniges Leuchten trat in die Augen von Rahel, als sie ihn ansah. "Über das Wichtigste in unserem Leben, Love. Wir reden später darüber. Wenn wir allein sind.“
Gabriel lächelte etwas verlegen und brummte: "Nun gut. Aber Adeela soll mich von ihren Gastgeberpflichten entbinden. Schließlich ist das ihr Loverboy.“
Adeela lachte über seine kauzige Art. "Sie können ihn gern hereinschicken, Gabriel. Wir essen hier, auch wenn Marvin nicht mein Loverboy ist.“
"Er will Ihnen vor dem Essen noch etwas zeigen, hat er gesagt. Das sollte ich Ihnen ausrichten.“ Gabriel grinste verschmitzt. "Holen Sie ihn ruhig selbst.“
Adeela seufzte: "Schön! Dann will ich mal schauen, was mich erwartet.“ Mit diesen Worten verließ sie den Raum und begab sich zu ihrem Gast. Dort angekommen, saß Marvin mittlerweile lässig auf einer Couch und hatte Eden auf seinem Schoß. "Ja hallo“, begrüßte Adeela sie. "Ich dachte, du bist im Bett?“
"Daddy und der hier …“, damit fuhr Eden mit ihrem Daumen in Marvins Gesicht, "sie haben so laut gelacht. Da wollte ich sehen, was sie so lustig finden.“
"Der hier!“ Marvin schnappte nach Luft, blies die Wangen auf und begann, das Kind zu kitzeln. "Eigentlich gehören kleine Kröten in ihr Seerosenbett. Und freche erst recht.“ Eden kicherte und wand sich in seinen Armen. "Du sagst ja schon wieder ‚Kröte’ zu mir. Ich mag das nicht.“ Sie boxte ihn mit ihrer kleinen Faust spielerisch auf den Schenkel. "Daddy hat gesagt, du seiest Adeelas Frosch, der gern ein Prinz werden will. Stimmt das?“
Marvin lachte schallend. "Wenn dein Daddy das sagt, muss das ja stimmen. Väter haben immer recht.“ Aus den Augenwinkeln sah er Adeela erröten.
'Schau einer an', dachte er. 'Da geht noch was!' Auf den Rest des Abends freute er sich jetzt schon. Die Familie, bei der er gerade zu Gast war, gefiel ihm ausnehmend gut.
~ Adeela und Marvin ~
Nach einem köstlichen Abendessen waren Adeela und Marvin allein. Rahel und Gabriel hatten sich in ihren Wohnbereich zurückgezogen, Eden war mittlerweile wieder im Bett. Rundum zufrieden saßen sie einander gegenüber und spielten Schach.
Nebenbei umspielten Marvins Finger einen golden glänzenden Schlüsselanhänger. Die kleine Harfe war ein Andenken von Xavier de Maestre und hatte vier Jahre lang am Innenspiegel seines Toyotas gehangen. Er wollte sie gern behalten und hatte sie bei der Übergabe gegen etwas Anderes getauscht.
Heimlich warf Marvin einen Blick zur Seite und lächelte mysteriös. In einer Ecke neben der Tür stand ein unförmiger Gegenstand, der noch mit einer dunkelblauen Samtdecke abgedeckt war. Noch wusste niemand außer ihm, was sich darunter befand.
Er fragte sich, ob Adeela etwas ahnte. Sie war dabei gewesen, als er sein Geschenk hereingebracht hatte. Bisher hatte Marvin auch noch nichts davon verraten, wem sein kostbares Mitbringsel zugedacht war. Auf ihre Frage hin schlug er im Scherz vor, dass sie vor Enthüllung eine Runde Schach spielen sollten. Ihre dunklen Augen blitzten vergnügt, als sie seine Herausforderung annahm.
Wenn sie gewinnen würde, dürfte sie das Paket auspacken. 'Würde sie hingegen verlieren, dann … nun, da würde sich als Pfand bestimmt etwas finden', sagte er sich.
Gedankenverloren starrte Marvin auf das Schachbrett, ohne die Konstellation der Schachfiguren bewusst erkennen zu können. Seine Handlung fühlte sich seltsam richtig an. Den Grund und die Tragweite seiner Entscheidung verstand er jedoch immer noch nicht. Es war bestimmt nicht alltäglich, dass eine Harfe auf Wanderschaft ging. Trotzdem fühlte er sich von einem Moment auf den anderen frei für etwas Neues.
Adeelas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. "Schach“, sagte sie triumphierend an und zog ihre Dame auf G1.
"Oh nein, nicht mit mir!“ Er zog seinen Läufer von H3 auf F1 und gab ihn verloren. Sein König stand auf E1. Wenn sie darauf hereinfiele, wäre sie die Königin los.
Adeela rettete sich jedoch auf der Linie und überquerte das Brett. Rückzug ins eigene Schloss, und die Karten waren wieder zu seinen Gunsten verteilt. Er überlegte, wie er sie ausspielen konnte.
Der Zeiger einer antiken Standuhr wanderte tickend voran. Marvin fragte sich, um was sie eigentlich spielten: Um seine Zukunft? Um eine verlorene Liebe oder um das Schicksal von einem Kind?
Adeela hatte ihm zwischen Dinner und Schachspiel alles über Eden erzählt, was sie für sich verantworten konnte.
Aufgewühlt schickte Marvin einen Bauern an die gegnerische Front und übersah, dass er die Deckung seiner eigenen Dame aufgab. Die schwarze Königin wurde unter den Hufen eines weißen Springers zermalmt.
"Touché“, raunte er zärtlich in Adeelas triumphierendes Lächeln hinein. Seine Stimme war seltsam rauh, zwischen Begehren und Sehnsucht, zwischen Wachstum und Abwehr gegen das, was zwischen ihnen geschah.
Sekundenlang umschlangen ihre Blicke einander und tauchten hinab bis auf den tiefsten Grund ihrer Herzen. Die Zeit war plötzlich stehengeblieben. Marvin und Adeela befanden sich in der Ewigkeit.
Als der Gong der alten Standuhr schlug, kehrten sie widerstrebend zurück in ihre Zeit und widmeten sich ihrer dramatischen Schachpartie. Marvin erschien es, als hielte Adeela sein Leben in ihren Händen: mit jedem Zug.
Eine halbe Stunde später war alles vorbei. Sein Schloss war von vier Bauern umringt, und zwei Läufer nahmen seinen König gefangen. Adeela hatte zur Absicherung noch einen Turm vor seine Linien gestellt, doch das war gar nicht mehr nötig. Fassungslos starrte Marvin auf die gegnerische Front und fragte sich, was er falsch gemacht hatte.
"Nun kannst du mir ja zeigen, was du mitgebracht hast“, klang ihre Stimme mit melodischem Timbre in die Stille hinein. Ein ungewohntes Vertrautsein war zwischen ihnen entstanden. Er lachte befreit. "Ich hätte es dir sowieso noch gezeigt. Vielleicht hast du es ja auch schon erraten.“
Mit einem merkwürdigen Blick sah sie ihn an. "Wie sollte ich? Du hast noch nicht viel über dich erzählt.“ Verlegen wandte er sich von ihr ab. "Auch ich habe eine Geschichte. Wie auch das, was sich dort unter dieser Decke verbirgt. Es ist sozusagen dieselbe.“
Adeela spürte intuitiv, dass er eine schmerzvolle Vergangenheit vor ihr verbarg. Das brachte sie eher noch näher zu ihm, wie sie sich selbst eingestand. Sie erhob sich und ging zu dem geheimnisvollen Paket.
Marvins Blick folgte bewundernd jeder Bewegung von ihr. Adeelas rückenfreies Satinkleid glänzte im Licht und umspielte ihre hochgewachsene Gestalt wie eine Kombination aus Feuer und Wasser. 'Derselbe Widerspruch ruht auch in ihr', dachte er insgeheim.
Am Ziel angelangt, strichen Adeelas Finger wie liebkosend über den Samt. "Wenn das, was sich darunter verbirgt, so kostbar ist wie dieses Gewebe, dann weiß ich nicht, ob ich es annehmen kann.“ Langsam zog sie an der Decke, doch plötzlich wurde sie unterbrochen.
"Warte!“ Marvin stand hinter ihr und legte beide Hände auf ihre Schultern. Geistesabwesend streichelte er über ihre samtene Haut. "Bevor du es auspackst, muss ich dir erst etwas sagen.“
Adeela wandte sich zwischen seinen Armen um und sah ihn fragend an. "Was ist dein Geheimnis? Hast du es unter dieser Decke versteckt und willst es noch eine Weile länger behalten?“ Ihre Stimme klang heiser und etwas lasziv, ihre fast nachtschwarzen Augen hielt sie hinter einem unsichtbaren Schleier verborgen.
'Was geschieht hier?', fragte sich Marvin. 'Es ist wie ein Zauber, der mich umfängt, wie ein orientalisches Märchen.'
Statt eine direkte Antwort zu geben, stellte er ihr eine Frage: "Wie wichtig ist dir dein kleiner Schützling?“ Überrascht sah Adeela ihn an. Er spürte förmlich, wie sie sich innerlich von ihm entfernte und nannte sich selbst einen Esel. Marvin preschte weiter voran und betonte eindringlich: "Es ist wichtig für mich.“
Adeela entwand sich seinen Armen und trat einen Schritt zurück. "Ich dachte, das hätte ich dir bereits erklärt. Seltsam, dass du gerade jetzt danach fragst. Sie ist mir sehr wichtig, und das nicht nur, weil sie meine Patientin ist. Auch, weil Eden alles an Liebe verdient, die sie bekommen kann.“ Ihre Augen blitzten ihn empört an.
Marvin atmete hörbar auf und deutete mit dem Kopf zu dem verhüllten Objekt. "Dann ist es ja gut. In dem Fall kannst du den Stoff nun entfernen.“
"Du machst es spannend, mein Lieber“, antwortete Adeela. "Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.“ Sie wandte sich um und begann, den Samt zu entfernen.
Plötzlich weiteten sich Adeelas Augen voller Erstaunen und Ehrfurcht. Vor ihr stand eine Keltische Harfe aus Nussbaum. Der geschwungene Holzrahmen war mit kostbarsten Schnitzereien versehen, und an den drei Eckkanten war sie mit Blattgold verziert. Sie reichte ihr bis zur Hüfte und war mit Messing-Saiten bespannt.
Ergriffen drehte sie sich zu Marvin um. "Was hast du dir dabei gedacht?“, fragte sie. "Woher hast du ein solch kostbares Instrument?“
"Das werde ich dir alles erzählen, wenn es an der Zeit ist. Doch nun werde ich mich allmählich auf die Heimfahrt begeben. Die Harfe ist für deine kleine Patientin.“
"Ich kann dir auch das Sofa herrichten“, schlug Adeela vor und wies auf eine Couch. Es war weit nach Mitternacht, und sie wusste, dass er noch eine weite Fahrt vor sich hatte. "Ich glaube nicht, dass jemand etwas dagegen hätte.“
"Ich fürchte, das wäre keine gute Idee“, antwortete er. "Es könnte sein, dass ich versehentlich schlafwandeln und in deinem Bett landen würde.“ Sein Blick wurde weich, als er die Enttäuschung auf ihrem Antlitz sah. Zart strich er ihr über die Wange. "Wir haben noch so viel Zeit füreinander. Sei nicht enttäuscht! Ich komme wieder.“
Adeela zuckte die Schultern. "Damit hätte ich schon umzugehen gewusst.“ ... Wie, ließ sie offen.
In Marvins Gesicht arbeitete es. Ihre zweideutige Ansage machte ihm deutlich zu schaffen, und er hoffte, dass sie ihren Blick nicht zufällig senkte. Sie bedachte ihn hingegen mit einem unschuldigen Augenaufschlag, verließ den Raum und kam wenig später mit dem Schlüssel des Mietwagens zurück. Ohne sich ihren Anflug von Wehmut anmerken zu lassen, legte Adeela ihn auf den Tisch.
'Es hätte ohnehin keinen Sinn', sagte sie sich. 'Wir haben rein gar nichts gemeinsam, außer dass er Eden offenbar mag.'
Seine großherzige Geste hatte sie gelinde gesagt mehr als überrascht. Die Fragen, die sie an ihn hätte, waren jedoch nicht geringer geworden.
Marvin nahm die Autoschlüssel an sich. Adeela geleitete ihn bis zur Tür. Im warmen Licht der Deckenlampe im Iglu-förmigen Vorbau des Hauses standen sie sich befangen gegenüber und sahen einander lang in die Augen.
Keiner wusste, was noch zu sagen war. Dennoch erschien keinem der Beiden das Schweigen erdrückend. Marvin ergriff beide Hände von ihr und drückte sie voller Wärme. "Du bist eine tolle Frau, Adeela“, sagte er. "Wie du in deiner Aufgabe aufgehst, kann mancher noch von dir lernen. Ich auch.“
"Du hast mich heute ebenfalls überrascht. Und vor Berge voller Fragen gestellt“, antwortete Adeela traurig. "Ich hoffe, dass ich auf diese eines Tages Antwort erhalte … und dass wir uns wiedersehen.“
"Wir sehen uns wieder. Sei ganz gewiss. Du bist wie ein Magnet, der mich zu dir ziehen wird.“ Marvin beugte sich zu ihr hinüber und streifte mit seinen Lippen leicht ihre Wange. "Schlaf gut, meine schwarze Rose des Orients.“
Er wandte sich ab und eilte mit ausgreifenden Schritten den Kiesweg entlang. Seine Haarpracht schimmerte wie flüssiges Kupfer im Laternenlicht.
Adeela sah ihm noch lang hinterher. Erst, als die Rücklichter des Camaros im Dunkel der Nacht verschwanden, ging sie ins Haus. Sie fühlte sich plötzlich sehr einsam.
~ Khalil ~
Beim Anblick seines toten Vaters floh Khalil nach seiner Befreiung durch die Mönche entsetzt in die Wüste. Dort brach er entkräftet zusammen.
Nach Einbruch der Dunkelheit kam er wieder zu sich und zog weiter, ohne zu wissen, wohin. Seitdem irrte der kleine Rekrut einsam und verwirrt durch die Nacht.
Wie weit er sich von seinem Ausgangspunkt entfernt hatte, wusste er nicht. Dort hätte Khalil vielleicht noch einmal Hilfe gefunden, doch sicher war er sich nicht.
Bei Tageslicht orientierte er sich an den Bergen und hielt darauf zu, in der Hoffnung, dort ein Versteck zu finden.
Nun – in einer weiteren wolkigen Vollmondnacht – sah die Wüste ganz anders aus. Dunkle Schatten staken am Horizont groß und bedrohlich gen Himmel. Die Berge schienen näher zu rücken und ihn erdrücken zu wollen.
Obwohl er sie bei Tag als einzigen Zufluchtsort gesehen hatte, fürchtete er sich mittlerweile vor ihnen. Sie erschienen ihm wie Stätten des Todes, voller Geister aus der Vergangenheit.
Je länger er wanderte, umso öfter kam er an den immer gleich aussehenden Felsblöcken vorbei. Khalil drehte sich bereits seit zwei Tagen im Kreis. Die Zunge klebte ihm am Gaumen vor Durst. Der Junge war nackt und über und über mit Sand bedeckt.
Irgendwann – er wusste nicht einmal mehr, wann - im Laufe des ersten Tages hatte sich Khalil seiner verdreckten und zerrissenen Uniform entledigt und sie in einem verdorrten Gebüsch liegengelassen. Einzig seine Stiefel hatte er bei sich behalten, um sich gegen die kommenden Gefahren seines einsamen Marsches zu schützen.
Angeekelt von seinem eigenen erbarmungswürdigen Zustand wälzte er sich im Wüstensand. Bereits verheilte Wunden, die ihm sein Vater zugefügt hatte, brachen dadurch wieder auf.
Als Khalil sich zum hundersten Mal - so kam es ihm vor - an einem Felsportal, das er sich als markanten Orientierungspunkt hatte merken können, vorbei schleppte, ließ er sich zwischen zwei Steinsäulen sinken und beschloss, das nächste Tageslicht abzuwarten. Er erschlug einen Skorpion und schlang dessen Fleisch würgend hinunter. Aus ein paar dürren Farnen aus seiner Nähe zog er die letzte Flüssigkeit. Ohne Hoffnung legte Khalil sich schlafen.
Bei Sonnenaufgang vernahm er aus der Ferne vielstimmigen Männergesang. Das Klangritual wurde wieder von einer Glocke begleitet.
Die Melodie klang wie von Trauer getragen, düster, so geheimnisvoll wie aus den Tiefen der Zeit. Khalil wähnte sich noch immer träumend, doch als die Stimmen immer näher kamen, kehrte er zurück in die Realität.
Siedendheiß wurde ihm seine Nacktheit bewusst. Zerrissen zwischen dem Wunsch, gefunden und gerettet zu werden, und einem urtümlichen Fluchtinstinkt kauerte er sich tiefer in den Schutz der kleinen Höhle, die sein Versteck war.
Zu den Klanggebeten gesellten sich mahlende Geräusche hinzu, und wenig später vernahm er auch das laute Rascheln von Kleidung. Vereinzelt war das Brüllen eines Ochsen zu hören, begleitet von Hundegebell.
Schließlich siegte seine Müdigkeit, sich weiterhin einer aussichtslosen Situation stellen zu müssen. Khalil besann sich auf die Rituale seiner Religion, kniete sich in Gebetsstellung zu Boden und begann, das erste Mal seit Langem zu Allah zu beten. Er hörte sie kommen!
Als er gefunden wurde, verharrte er noch immer in derselben Position. Khalil spürte eine große Männerhand auf seiner Schulter, doch sie war sanft und voller Trost.
~ Eden ~
Zarte Klänge drangen des Morgens durch die Gärten in Crawfordsville. Es war kurz vor Sonnenaufgang. Die Menschen, welche in der Thornwood Road lebten, rieben sich erwachenderweise verwundert die Augen.
Eine bekannte Melodie war nicht zu erkennen, es war nur ein Streicheln der Seele, so zart wie das Zirpen einer einzelnen Grille. Begleitet wurden die seltsamen Klänge von dem glockenhellen Gesang eines Kindes. Es klang wie das Jubeln eines Engels, voller Lebensfreude und Ehrfurcht, voll der Dankbarkeit und des Wunderns über den überaus kostbaren Fund eines vom Himmel erhaltenen Schatzes.
Marvin Beard aus Indianapolis hatte sich als ein Bote erwiesen, der Wünsche erahnte, bevor sie die Empfängerin seiner Gaben selbst kannte.
Es war wie ein Zauber in jener Nacht, als zwei Herzen sich für ein paar Stunden vermählten. Nachdem Marvin gegangen war, konnte Adeela lange nicht schlafen. Wach lag sie in ihrem Bett und starrte hinaus in die Nacht. Noch wehrte sie sich gegen das, was in ihrer Seele wie eine Blüte erwuchs, doch als sie endlich einschlief, war ihr Herz so leicht wie niemals zuvor.
Auf diesen Moment hatte Eden gewartet. Nachdem das Licht in Adeelas Zimmer erloschen war, löste sich eine kleine Gestalt in weißem Nachthemd vom Treppengeländer und schlich leichtfüßig die Wendeltreppe im Haus der Abels hinab. In der Hand hielt das Menschlein eine hübsche Kindertaschenlampe in Pink. In der sich ankündigenden Morgendämmerung warf sie flackernde Lichtkreise gegen die Wand, in denen sich ein kindlicher Schatten vervielfältigte. Hin und wieder hielt Eden inne und lauschte.
Im Erdgeschoss angelangt, tastete Eden sich an der Wand entlang und betrat das Wohnzimmer, in dem die Harfe abgestellt war. Nachdem sie sich noch einmal vergewissert hatte, dass es im Haus ruhig blieb, schaltete sie das Deckenlicht an und trat freudestrahlend zu dem abgedeckten Instrument. Sie hatte im Schlaf noch gespürt, dass etwas Besonderes geschehen war!
Vorsichtig lupfte Eden die Decke ein Stück und äugte neugierig durch den kleinen Spalt. Ihre Hände folgten. Begeistert fuhr sie die Konturen des Instruments nach. Eden fand eine der tieferen Tonsaiten der Harfe und zupfte mit einem Finger probeweise daran.
Erschrocken vernahm sie den Klang und dämpfte die Schwingung mit der anderen Hand. Dann war sie nicht mehr zu halten. Sie zerrte und zog an der Samtdecke, bis sie zu Boden fiel. Ihre Augen wurden größer und größer. Edens Mund formte ein lautloses "Oooohhhh!“, als sie die Keltische Harfe in voller Größe und Schönheit erblickte. Mutiger werdend, pickte sie mit zwei Fingern an den Saiten herum und genoss die Töne, die daraufhin entstanden.
Vom Übermut übermannt ließ sie großflächig ihre Hände über die Harfe gleiten. Edens Kehle entstieg ein jubilierender Schrei. Dieser setzte sich fort in kindlichem Trällern.
Selbstvergessen blickte sie durch das unverhüllte Fenster gen Himmel und sandte musikalische Grüße hinaus in die Welt. Am Horizont zeigte sich ein goldener Streifen.
Zugleich stimmten die ersten gefiederten Morgensänger in Edens Lied ein. Die erwachende Sonne erhob sich aus ihrem Bett und übergoss die Wolkengebirge am Firmament mit zarter Glut.
Edens Herz pochte laut voller Freude. Sie schloss die Augen und genoss die Melodie, die ihre Seele erfüllte.
Schnelle Schritte über ihrem Kopf deuteten auf ein jähes Ende des kindlichen Glücks. Wenig später platzte Gabriel im Schlafanzung und mit den Worten "Was ist denn hier für ein Krach?" ins Zimmer. Wie vom Donner gerührt blieb er - die Klinke noch in der Hand - stehen, als er seine Tochter an der Harfe erblickte.
Eden schreckte zusammen und wandte den Kopf. "Daddy, sieh mal!", rief sie mit sich überschlagender Stimme, als sie ihn sah: "Ein Engel war da und hat mir das mitgebracht." Zur Bestätigung strich sie noch einmal über die Saiten.
Kurze Zeit später standen auch Rahel und Adeela im Raum. Beide waren noch im Nachtgewand und wirkten verschlafen. Gabriel machte sich seinen Reim auf die Anwesenheit des kostbaren Musikinstruments und wandte sich an Adeela: "Ich denke, Sie sind mir eine Erklärung schuldig."
"Marvin hat die Harfe gebracht, und sie gehört Eden. Mehr kann ich dazu auch nicht sagen", erklärte Adeela.
"Ich weiß zwar nicht, was ein solches Musikinstrument kostet, doch billig ist es bestimmt nicht“, schaltete sich nun auch Rahel ein. "Wir können das nicht bezahlen.“
"Da kann ich Sie beruhigen, Rahel. Es ist ein Geschenk für Ihre Tochter.“
"Jemand verschenkt doch nicht einfach so eine Harfe“, warf Gabriel misstrauisch ein.
"Es wird seinen Sinn haben, und Marvin hatte bestimmt seine Gründe.“
Eden schaute ängstlich zwischen den Erwachsenen hin und her und verfolgte deren Gespräch. Plötzlich kullerten Tränen über ihre Wangen. Sie rannte zu ihrem Vater und klammerte sich an seine Beine. "Bitte Daddy, nimm mir die Harfe nicht weg. Ich will auch gut darauf aufpassen.“
Gabriel strich seiner Tochter liebevoll über den Kopf. "Keine Angst, Eden. Du kannst deine Harfe behalten. Aber trotzdem müssen wir uns noch mit Adeela und Marvin unterhalten, weil wir ein paar Dinge nicht verstehen. Deshalb brauchst du dich aber nicht zu grämen.“
Er wandte sich wieder an Adeela und fragte: "Hat Ihr Freund und Gönner eine Telefonnummer dagelassen? Ich würde vorschlagen, wir laden den guten Mann noch einmal zu uns ein, um ihm ein bisschen auf den Zahn zu fühlen. Ich traue dem Burschen nicht über den Weg.“
Adeela lächelte. "Ich glaube nicht, dass er irgendwelche krummen Geschäfte betreibt, wenn Sie das meinen. Wir sollten uns eher ganz andere Gedanken machen. Aber ich für meinen Teil gehe erst noch zwei Stunden ins Bett. Wir haben heute noch etwas vor, erinnern Sie sich?“
"Wie lange war Ihr Loverboy überhaupt da?“, fragte Gabriel neugierig. "Wir haben beizeiten geschlafen und bekamen nicht mehr viel mit.“
Adeela stöhnte. "Auf jeden Fall viel zu lang, ich habe kaum geschlafen. Ich glaube, es war gegen 2:00 Uhr, als wir mit unserer Schachpartie fertig waren. Danach hat er mir die Harfe gezeigt, mich vor vollendete Tatsachen gestellt und ist ohne Erklärung gegangen.“
Rahel fragte: "Mögen Sie ihn?“ Adeela sah ihr in die Augen. Ihr Blick wirkte ratlos, doch sie gestand: "Er hat auf jeden Fall bleibenden Eindruck hinterlassen.“
Gabriel lachte: "Das müsste auf Gegenseitigkeit beruhen, sonst würde er keine solch teuren Geschenke machen.“
"Die Harfe gehört Eden, nicht mir. Sie war von vornherein für sie vorgesehen.“
"Nun denn, sei es, wie es ist. Wir sollten in der Tat noch ein bisschen schlafen. Es ist fünf Uhr früh, und um zehn Uhr haben wir Termin bei Dr. Sanders.“ Gabriel wandte sich an seine Tochter. "Eden, du darfst noch ein bisschen in unser Bett schlüpfen und kuscheln. Kommst du mit?“
Eden zog einen Schmollmund. "Ich will lieber noch ein bisschen spielen. Darf ich?“
Rahel antwortete: "Nichts da, es ist noch ziemlich früh. Später, wenn du noch ein bisschen geschlafen hast.“
Gabriel nahm Eden auf den Arm. Widerwillig fügte sie sich. Wenig später war der Raum leer. Das war der Beginn des Tages, der Eden wieder eine neue Wendung in ihrem Leben bescherte. Es würde nicht die letzte sein, und auch das Leiden hielt sich nicht fern. Während Khalil sich mit seinen Rettern – den Mönchen von Milga – auf eine beschwerliche Reise begab, um endlich einen Platz zu finden, der ihm Ruhe und Frieden bescherte, hatte Eden ein Verlustgefühl befallen, das ihr Herz lähmte. Zwar fand sie seit dem Konzert in Cedar Village mehr und mehr zurück in die Realität, doch lieber noch wäre sie bei dem Jungen geblieben, von dem sie nur das Gesicht und seine Seelenwelt kannte. Mit den Klängen der Harfe hatte sich ihr Herzensfreund von ihr entfernt!
~ Dr. Sanders ~
Pünktlich um zehn Uhr nahmen die Abels gemeinsam mit Eden und Adeela den Termin im St. Clare Medical Center wahr. Schon bei ihrer Ankunft standen die anstehenden Untersuchungen unter keinem guten Stern. Eden hatte eine regelrechte Phobie gegen Krankenhäuser entwickelt. Kaum sah sie, wo sie hingebracht wurde, wehrte sie sich mit Händen und Füßen dagegen, das rote Sandsteingebäude in traditionell architektonischer Kolonialbauweise zu betreten.
Das medizinische Zentrum von Crawfordsville bestand aus einem Komplex von fünf Gebäuden und erstreckte sich über mehrere Straßenzüge. Das Hauptgebäude befand sich auf einem großen Rasengrundstück und war fächerartig von gepflegten Parkflächen umgeben.
Der Grundstein des St. Clare Medical Center wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von einer Frauen-Gemeinschaft gelegt. Auch in den Folgejahrzehnten wurde es in konservativ-religiösem Stil weitergeführt. Bis in das 21. Jahrhundert hinein erlebte das Fundament des hiesigen Gesundheitswesens noch etlichen Wandel, der es ermöglichte, so unabhängig und breitgefächert wie notwendig zu agieren. Trotz Status als Kleinstadt war Crawfordsville medizinisch ungewöhnlich fortschrittlich gerüstet. Das Hauptgebäude des St. Clare Medical Center selbst stammte noch aus der Gründerzeit, wurde im Lauf der Jahre renoviert und um weitere Flügel erweitert. Das war das Klinikum Franciscan St. Elisabeth Health.
Die zentrale Klinik umfasste ein breites Behandlungs-Spektrum. Mit 88 Betten war sie nicht allzu groß, doch schwierigere medizinische Fälle – wie zum Beispiel Krebspatienten oder psychiatrische Fälle - wurden ohnehin in die daran angeschlossenen Spezialkliniken verlegt.
Walter Sanders war ein Mann im gesetzten Alter von 55 Jahren und ein erfahrener Arzt. Seit 20 Jahren leitete er das Franciscan St. Elisabeth Health und sorgte gemeinsam mit einem gut ausgebildeten Ärzte-Team dafür, dass die medizinische Versorgung von Crawfordsville mit den Großstadt-Kliniken Amerikas mithalten konnte.
Während seiner Studienzeit hatte er sich auf Frauenheilkunde spezialisiert und promovierte als Gynäkologe. Sein Ehrgeiz erforderte es, weiterzumachen. Späterhin war er zudem Chirurg und hatte noch nicht genug. Da es für ihn ganz klar gewesen war, wo er hin wollte, erweiterte er seinen medizinischen Wissensstand, schrieb mit knapp dreißig eine Dissertation mit Schwerpunkt Onkologie und strebte die Leitung einer Klinik an. Er scharte die richtigen Leute um sich, und fünf Jahre später erreichte er auch dieses hochgesteckte Ziel.
Er hatte nichts geschenkt bekommen. Jahre harter Arbeit lagen zu diesem Zeitpunkt hinter ihm. Vertrauensvorschuss bekam er nicht. Mittlerweile war er hauptsächlich mit dem Management des Centers beschäftigt und hatte bis auf die obligatorischen Minimal-Einsätze in Form von Visiten bei wichtigen Patienten oder Beistand bei schwierigen Operationen kaum noch Zeit für seinen eigentlichen Beruf als Mediziner.
Sein Fleiß brachte jedoch nicht nur Gutes hervor: Die Familie blieb auf der Strecke. Walter Sanders' beiden erwachsenen Töchter strebten ebenfalls den Arztberuf an und waren noch am Studieren. Vor sieben Jahren hatte seine Frau die Scheidung eingereicht, sein Sohn wandte sich von ihm ab und wurde Schreiner. Finanziell hatte er sich mit seiner Ex-Gattin auf eine ansprechende Abfindung geeinigt, und seitdem mied er jeden Kontakt.
Ein Jahr nach der Scheidung ging er eine lose Beziehung mit einer Ärztin ein und stürzte sich noch mehr in die Arbeit. Elisabeth Owens arbeitete in der Psychiatrie und unterstützte Dr. Sanders, wo es nur ging. Sie ergänzten sich hervorragend, und nach einiger Zeit arbeitete er an seinem nächsten Projekt: eine experimentelle Station für Studien zugunsten der Jugendpsychiatrie. Sein Ziel war, alternative Heilmethoden zu finden, die ermöglichen sollten, verhaltensauffällige Trauma-Patienten auch ohne Medikation in ein halbwegs würdiges Leben zu führen.
Anfangs war sein Plan recht umstritten, weil er in diesem Medizinbereich nicht genug Wissen aufbieten konnte. Es waren Fortbildungen notwendig, und letztendlich brauchte er einen Stab von Spezialisten, die bereit waren, neue Wege zu gehen.
Das größte Hindernis bestand jedoch aus ethischen Grundsätzen innerhalb der strenggläubigen Kommunalgemeinde, die sich weigerte, an Menschen Experimente durchführen zu lassen. Hierbei stieß sich die Gesellschaft am meisten an der Planung von Hypnose-Anwendung.
Dr. Sanders war allerdings kein Mann, der einen eingeschlagenen Weg auf halber Strecke verließ. Es gelang ihm, eine deutsche Koryphäe in Person von Professor Dr. phil. Rafael Mann für seine Pläne zu gewinnen. Der Professor entwickelte ein Konzept, das auch Skeptiker letztendlich überzeugte. Im Jahr 2008 war es schließlich soweit: Die neue Station konnte eröffnet werden und wurde an die psychiatrische Klinik angeschlossen. Dr. Mann erhielt leitende Funktion und freie Hand für den weiteren Aufbau.
~ Adeela ~
Das Studienprojekt, an dem Eden Abel teilnehmen sollte, wurde nun schon das zweite Mal durchgeführt. Das St. George Hospital – die an das St. Clare’s angeschlossene Psychiatrie – setzte bei den angestrebten Ergebnissen mehr auf psychologische Effekte denn auf die herkömmlichen Wege der Schulmedizin. Die Zielgruppen waren junge Patienten, die entweder autistische oder schizoide Züge in ihrem Verhalten aufwiesen.
Eden war aufgrund ihrer Vorgeschichte eine begehrte Probandin. Während ihres ersten Klinik-Aufenthaltes in der psychiatrischen Klinik von Tulsa hatten sich Ärzte und Esoteriker mitsamt Fachmedien um sie gerissen.
Sie selbst war zu sehr in ihrer Welt gefangen gewesen, um den Trubel um sie herum zu bemerken, doch Rahel und Gabriel waren bis aufs Äußerste schockiert.
Auch der Umstand, dass keine feste Diagnose gestellt werden konnte, erschütterte das Vertrauen der Abels in die Medizin. Letztendlich war es dennoch ihre eigene Entscheidung, eine weitere medizinische Fakultät hinzuzuziehen und auf Dr. Sanders zu bauen. Nun standen Familie Abel in Begleitung von Dr. Adeela Basara kurz vor dem Ziel. Das imposante Gebäude vor ihren Augen flößte Ehrfurcht ein, und nicht nur in Edens kleiner Seele sträubte sich alles dagegen, es zu betreten.
Die eleganten Parkanlagen konnten nicht darüber hinweg täuschen, was sich hinter diesen ehrwürdigen alten Mauern verbarg. Linkerhand war inmitten von Blumenrabatten und einer großen Rasenfläche ein rundes Beton-Areal eingelassen. Darauf prangte ein überdimensionaler Äskulap-Stab.
Vom Hubschrauber-Landeplatz aus führte eine breite Auffahrt zur Notaufnahme der Klinik. Reges Treiben fand vor deren Toren statt. Vier Ambulanzen parkten mit blinkendem Alarmlicht davor. Aufgeregte Stimmen erfüllten den Hof und zerstörten den vorgetäuschten Eindruck einer Idylle. Eine Menschengruppe stand etwas weiter entfernt am Rand der geteerten Steigung und gaffte.
Auf der einen oder anderen Bank am Wegesrand lümmelten sich Jugendliche und rauchten. Manch einer stand abseits und schien Selbstgespräche zu führen, doch sah man genauer hin, entdeckte man kleine Kopfhörer an Kabeln. Es wirkte skurril, wie Menschen in freier Natur ganz allein mit sich selbst in ein Mikrofon sprachen.
Hier war jedoch nicht die Psychiatrie. Vielmehr standen die Abels vor dem Hauptgebäude des Klinikkomplexes und versuchten, Eden zum Betreten des Eingangs zu bewegen. Sie machte ihren Körper stocksteif und blieb unbeirrt stehen. "Ich will hier nicht hin“, jammerte sie. "Gehen wir wieder nach Hause.“ Ein älterer Mann im Schlafanzug und mit von Krebs zerfressenem Gesicht schlurfte an ihnen vorbei und blickte die Neuankömmlinge neugierig an. Wie hypnotisiert starrte Eden zurück und bestaunte dessen durchlöcherte Nase. "Tut das nicht weh?“, fragte sie ihn.
Betreten wandte Rahel den Blick in eine andere Richtung und stupfte ihre Tochter an. "Komm, Eden. Wir müssen gehen. Dr. Sanders wartet auf uns.“
"Lassen Sie nur“, schaltete sich der Kranke ein. "Ich bin das Anstarren gewöhnt, und die Kleine spricht wenigstens aus, was sie denkt.“
"Es tut mir leid“, entschuldigte sich nun auch Gabriel für seine Tochter. "Andererseits sind wir stolz darauf, dass sie so aufgeweckt ist.“
"Das können Sie auch. Sie wird sich wohltuend von unserer verlogenen Gesellschaft abheben, wenn sie sich so weiter entwickelt. Ich habe auch Kinder, aber die sind schon groß.“ Sein Blick wurde traurig. "Sie gehen nicht gut damit um, dass sie bald ihren Vater verlieren.“
Rahel und Gabriel sahen betroffen zu Boden und wussten nicht, was darauf zu sagen war.
Eden hatte alles gehört und sah seinen traurigen Blick. Sie löste sich von der Hand ihres Vaters und trat auf den Mann zu. "Du bist wohl sehr krank, nicht wahr?“, fragte sie und blickte mitfühlend zu ihm auf. "Und was machen deine Kinder mit dir, dass du so traurig bist?“
"Ich fürchte, das kannst du noch nicht verstehen“, sprach der Patient. Eine zitternde Hand bewegte sich auf Edens Haupt zu und berührte sanft deren Haar. "Du scheinst ein kleiner Engel zu sein“, fuhr er fort. "Mir geht es besser als vorher.“ Er wandte sich an die Abels und fragte: "Warum seid Ihr hier? Wollt Ihr jemanden in der Klinik besuchen?“
Gabriel war über den Themenwechsel erleichtert und antwortete: "Wir bringen unsere Tochter zu einer Routine-Untersuchung. Sie war lange krank.“
Mittlerweile stieß auch Adeela wieder zu ihnen. "Hast du schon einen Freund gefunden?“, fragte sie und fügte mahnend hinzu: "Wir sollten uns ein bisschen beeilen, sonst ist Dr. Sanders verärgert.“ Sie hatte die Formalitäten bereits für die Abels erledigt, und sie wurden erwartet.
Rahel nahm ihre Tochter an die Hand und entschuldigte sich bei dem Mann. "Wir müssen los. Es war nett, Sie kennengelernt zu haben.“ Gabriel gab seinem Gegenüber die Hand und fügte hinzu: "Vielleicht sieht man sich ja noch einmal, und dann können Sie uns alles erzählen.“
Dank der Ablenkung durch das kurze Gespräch ließ sich Eden anstandslos führen. Gemeinsam mit Adeela betraten die Abels den Eingang der Klinik und begaben sich zu den Fahrstühlen.
Vier Stockwerke höher öffneten sich die verspiegelten Lift-Türen mit einem melodischen Glockenton. Eine weibliche Computerstimme kündigte die Stationsebene an und bat die Insassen, den Fahrstuhl jetzt zu verlassen. Sie befanden sich nun im obersten Stockwerk, die Etage, in der Dr. Sanders persönlich regierte.
Ein weicher nachtblauer Veloursamtteppich schmiegte sich an ihre Sohlen und ließ sie beinahe darin versinken. Die Wände des riesigen Saals waren mit cremefarbenem Marmor verkleidet. In die getäfelte Eschenholzdecke waren unzählige kleine Lampen eingelassen und ließen den Raum in warmen, beruhigenden Lichttönen erstrahlen.
Adeela schulterte resolut ihre Lederhandtasche und schritt auf das gegenüberliegende Thekenrund zu. Ein großer Mann mit graumelierten Haaren sah direkt zu ihnen herüber und erwartete sie. Als sein Blick auf das Ehepaar fiel, setzte der Arzt sich in Bewegung und durchquerte mit weitausgreifenden Schritten den Raum. Eden drängte sich zwischen ihre Eltern und klammerte sich an deren Hände. Ihre Körperhaltung war auf Abwehr getrimmt.
Auf halbem Weg trafen Adeela und er aufeinander. Forsch fragte sie ihn: "Sind Sie Dr. Sanders? Wir haben einen Termin.“
Der Herr im weißen Arztkittel, der sie um fast eine ganze Kopfeslänge überragte, lächelte auf Adeela hinunter und antwortete: "Und Sie müssen die Leibärztin meiner künftigen Patientin sein. Ich habe schon viel von Ihnen gehört.“
Amüsiert lachte sie auf: "Leibärztin – so habe ich das noch gar nicht gesehen. Die Idee gefällt mir.“ Sie reichte Dr. Sanders die Hand und stellte sich vor: "Ich bin Dr. Adeela Basara. Von Ihrer Studie habe ich schon viel gehört und möchte gern dabei sein.“
"Ihr Vorgesetzter hat mich schon informiert. Und Sie haben dafür extra unbezahlten Urlaub genommen? Soviel Engagement lobe ich mir.“ Walter Sanders wandte sich ab und begrüßte das Ehepaar Abel. Als er seiner neuen Patientin ansichtig wurde, ruhte sein Blick etwas länger und nachdenklich auf ihr.
Eden machte sich zwischen ihren Eltern ganz klein und wäre am liebsten im Boden versunken. Trotzig hob sie ihren Kopf und sah ihn neugierig an. Fragen standen in ihren Augen, Fragen an den Ort, an dem sie sich befand, Fragen an das Leben, Fragen an ihn.
Der Blickwechsel zwischen Eden und ihm rührte ihn an und schnitt tief in sein Herz. Dr. Sanders hatte schon viele verwundete Seelen gesehen, doch hier wartete etwas in einer unglaublichen Intensität darauf, freigelassen zu werden und fliegen zu lernen.
Der lebenserfahrene Arzt erkannte die Wachheit des kleinen Geistes in ihr, und er hoffte, dass sein Kollege Dr. Mann und sein Team dabei behilflich sein könnten, Eden auf dem Weg zu sich selbst zu unterstützen.
Dr. Sanders entriss sich ihrem Zauber und bat die Abels und Dr. Basara, mit ihm zu kommen. Auf der Rückseite der fast unbesetzten Informationstheke passierten sie eine Glastür und betraten einen langen Gang. Geschmackvolle Kunstdrucke hingen beiderseits an den weißgetünchten Wänden.
Am Ende des Flurs befanden sich die Räumlichkeiten von Dr. Sanders, die aus zwei Sprechzimmern und drei Behandlungsräumen bestanden. Er drehte sich um und bat die Abels, noch einen Moment auf einer der bequemen Ledergarnituren Platz zu nehmen und dort zu warten.
"Professor Mann möchte gern mit Ihnen sprechen“, erklärte er auf Adeelas fragenden Blick hin. "Bitte folgen Sie mir.“ Dr. Sanders öffnete eine Tür an der Stirnseite des Ganges und betrat mit ihr gemeinsam den Raum.
Adeela sah sich neugierig in dem geschmackvoll eingerichteten Sprechzimmer um und konnte einen leisen Anflug von Neid nicht vermeiden. 'So sieht also Erfolg aus’, dachte sie und verglich die eher gediegen wirkenden Räume des Brookhaven Hospitals mit dem vor ihren Augen liegenden Ambiente der Moderne.
Der Platz an der rechten Wand wurde fast vollständig von einer schwarzen Schrank-Regal-Kombination eingenommen. Die Regalböden waren in der Waagrechte nierenförmig geschnitten und mit medizinischen Fachbüchern, Enzyklopädien und Atlanten gefüllt. Rechterhand und linkerhand wurde das Bücherregal von zwei Glasvitrinen flankiert, worin sich Medikamente und sonstiges medizinisches Zubehör befanden. Die untere Hälfte der Schrankwand bot zusätzlichen Stauraum in vielzähligen kleinen Schubladen, ähnlich wie ein Medizinschrank.
Oberhalb schloss die Kombination mit einem elegant geschwungenen Rand ab. Gegenüber der Tür stand ein weißer Schreibtisch in L-Form. An dessen verlängertem Schenkel saß ein Mann um die vierzig und sah die Hereinkommenden an. "Ah, das ist bestimmt unsere hochgeschätzte Kollegin aus Tulsa.“ Er lächelte freundlich.
Dr. Sanders betrat direkt hinter Adeela den Raum und stellte vor: "Dr. Basara, das ist Professor Dr. phil. Rafael Mann, der Chefarzt unserer psychiatrischen Klinik und Leiter des Experiments, weswegen Sie hier sind.“
Der Professor wies einladend auf einen Sessel ihm gegenüber und bat Adeela, Platz zu nehmen. Während sich Dr. Sanders auf die andere Seite des Schreibtischs begab und sich ebenfalls setzte, eröffnete er das Gespräch: "Es freut mich, Sie mit Ihrem Schützling im St. Clare Medical Center willkommen heißen zu dürfen. Eine Frage im Vorfeld: Haben Sie sich schon mit den Möglichkeiten unseres Projekts auseinander gesetzt?“
"Was ich bisher weiß, ist nicht viel. Nur, dass Ihre Klinik ergotherapeutische Methoden ausarbeitet und dazu Klänge und Farben benutzt. Des Weiteren wurde mir gesagt, dass Sie ihre Studien unter Hypnose durchführen. Wie muss ich mir den genauen Ablauf vorstellen?“, fragte Adeela.
"Nun, erst in der zweiten Etappe der Studie werden die Probanden in der Anfangsphase in Hypnose-Schlaf versetzt, um ihr Unterbewusstsein mit stressauslösenden Faktoren zu konfrontieren“, erklärte Professor Mann. "Das wird gemacht, um jedem Patienten einen Klang oder eine Farbe zuweisen zu können, oder auch beides. Die Studienteilnehmer werden in zwei Gruppen aufgeteilt. Nach dem Erwachen aus der Hypnose werden der ersten Gruppe im Erregungszustand Farbtafeln gezeigt, der zweiten Klänge von Musikinstrumenten vermittelt. Der Patient sucht sich aus, was ihn am Meisten beruhigt. Darauf bauen wir auf."
Adeela war skeptisch. "Verraten Sie mir etwas detaillierter, was mit den Patienten während der Hypnose geschieht? Sind diese Methoden nicht etwas umstritten?“
Dr. Sanders antwortete anstelle des Professors: "Das kommt auf den Patienten selbst an, mit welchen Mitteln die Stresssituationen ausgelöst werden. Meistens konfrontieren wir sie mit Bildern aus der Vergangenheit. Das ist nicht außergewöhnlich und wird auch von anderen Spezialisten angewandt, um herauszufinden, was die Patienten in Panikzustände versetzt oder Psychosen ausgelöst hat.“
"Kann ich meine Patientin während der Studie betreuen und bei den Experimenten dabei sein? Ich möchte mir zu Lernzwecken ein eigenes Bild verschaffen.“ Adeela strich sich eine lockige Welle aus der Stirn und sah von Einem zum Andern. "Es gibt da einige Dinge, die Sie über Eden Abel wissen sollten.“
"Deshalb haben wir Sie zu diesem Gespräch hergebeten. Sagen Sie uns zuerst, worauf wir zu achten haben.“ Professor Mann schob seine Hornbrille hoch und beugte sich vor. Eindringlich sah er sie an. "Sie brauchen nicht zu fürchten, dass wir der Kleinen Schaden zufügen. Wir arbeiteten in der Vergangenheit schon mit Probanden, die psychopathische Züge aufwiesen und regelmäßig ausfällig bis gewalttätig wurden. Es funktioniert! Nicht wenige verfolgten nach der Studie den eingeschlagenen Weg weiter und begannen eine Künstlerkarriere.“
"Meiner Einschätzung nach hatte Eden vor einem Jahr einen Nervenzusammenbruch, der nicht ausheilen konnte. Sie war zwei Mal in der Psychiatrie von Tulsa, nachdem sie halluzinierte und begann, sich selbst zu verletzen. Auf Letzteres bitte ich Sie, Ihr besonderes Augenmerk zu richten, insbesondere dann, wenn Sie in der zweiten Phase des Experiments angelangt sind. Deshalb habe ich auch meine Zweifel, ob Hypnose der richtige Weg ist“, erklärte Adeela. "Für die Arbeit mit Farben und Klängen dürfte sie im Übrigen genau die Richtige sein, und ich ahne auch bereits, in welcher Gruppe Eden gut aufgehoben sein wird.“
"Damit wären wir beim nächsten Problem“, hob Dr. Sanders an, verflocht seine schlanken Chirurgenhände wie im Gebet miteinander und legte sie vor sich auf den Schreibtisch. Mit um Verständnis heischenden Blick sah er Adeela direkt in die Augen. Mit gewählten Worten fuhr er fort: "Sie äußerten den Wunsch, bei den Studien dabei zu sein. Ich fürchte, das könnte sich kontraproduktiv in Bezug auf die gewonnenen Erkenntnisse auswirken. Wie soll ich sagen? Ihre Patientin sollte unbeeinflusst auf das Experiment eingehen können.“
"Soll das heißen, eine Zusammenarbeit mit mir ist nicht erwünscht?“ Entrüstet wandte sich Adeela direkt an den Professor. "Ich fürchte, in dem Fall könnte es Probleme mit meiner Patientin geben. Sie kennen den Hintergrund nicht.“
"Nicht so voreilig, junge Kollegin“, versuchte Professor Mann, sie zu beschwichtigen. "Zumindest in der Kennenlernphase sollte es möglich sein, dass wir uns selbst ein Bild machen können. Selbstverständlich ist Ihnen der Zugang zu dem Kind nicht verwehrt. Aber insbesondere die Aufwach-Phase aus der Hypnose sollten wir ohne Ihr Beisein oder auch das der Eltern durchführen können. Gerade das ist die wichtigste Etappe unserer Studie, weil die Probanden ohne Hilfe von außen ihr Medium aussuchen sollen."
"Wissen Sie, wie schwierig es war, Edens Vertrauen zu erringen, um weitere Zusammenbrüche zu verhindern?“ Adeela erhob sich und durchmaß mit energischen Schritten den Raum. Temperamentvoll schleuderte sie ihre schwarzen Haare nach hinten, drehte sich auf den Absätzen um und starrte die beiden Ärzte grimmig an. "Können Sie auch nur annähernd die Intensität ihrer Halluzinationen ermessen?“
Vor ihr Inneres Auge schob sich die Szene in Tulsa, als sich Eden am Boden wand, voll im Glauben, den Mund voller Käfer zu haben. In etwas ruhigerem Ton fuhr sie fort: "Mir geht es vor Allem um die Phase, in der sie hypnotisiert werden soll. Ich halte es für falsch, sie mit dem zu konfrontieren, was zu ihrem Zusammenbruch führte. Wenn es unumgänglich ist, sollte ich zumindest dabei sein, um das Schlimmste verhindern zu können.“
"Sie trauen uns offenbar nicht allzu viel zu“, warf Professor Mann ihr entgegen. "Merken Sie nicht, dass Sie im Begriff sind, uns Kompetenz abzusprechen? Ich fürchte, dass ich ein paar mehr Jahre Berufserfahrung als Sie aufweisen kann, Ihr Engagement in allen Ehren. Wenn Sie mit uns zusammenarbeiten wollen, dann sollten Sie etwas mehr kooperieren. Ihre Reaktion zeigt mir nur, dass meine Bedenken bezüglich Ihrer Person nicht unberechtigt waren.“ Seine Gesichtszüge entgleisten. Hinter seinen Brillengläsern funkelte ein strenger Blick, der auch Ungeduld und eine gewisse Herablassung nur schwer verbarg.
Adeela baute sich vor seinem Schreibtisch auf und verschränkte die Arme. "Was soll das heißen?“ Konsterniert sah sie ihn an.
Müde winkte er ab. "Die Begleitung Ihrer Patientin zeigt doch schon, dass Sie uns nicht vertrauen.“
"Das ist doch Quatsch!“, verteidigte Adeela sich. "Ich habe Eden begleitet, weil ich die Einzige bin, die zu ihr Zugang bekam, als es am Schlimmsten um sie stand. Sogar ihre Eltern waren den Symptomen ihres Zusammenbruchs gegenüber hilflos. Sie haben ja gar keine Ahnung.“
"Wie dem auch sei!“, antwortete Professor Mann harsch und erhob sich ebenfalls von seinem Platz. Gekränkt trat er an ein Panoramafenster an der Stirnwand des Raums und schaute hinaus. Das hatte er noch nie erlebt: Sich von einem Grünschnabel vorschreiben zu lassen, wie er seine Arbeit zu tun hätte. Und er würde nicht damit anfangen, es heute zu dulden, nach all den Jahren, in denen er verschiedenste Kategorien von Menschen kennengelernt hatte und bestimmt wusste, was zu tun war.
Dr. Sanders fühlte sich hilflos. Eine angespannte Atmosphäre erfüllte den Raum. Er kannte den Professor nun schon seit ein paar Jahren, und er schätzte ihn als einen kompetenten Kollegen. Doch war er mehr als nur das: Rafael Mann war auf seine Art Künstler in seinem Metier, stetig den Kopf gefüllt mit neuen Ideen, mit Strategien. Es gab keine Statistik, die ihm unbekannt war, kaum eine Behandlungsmethode, vor der er sich scheute. Dabei blieb er seinen Mitmenschen gegenüber stets feinfühlig und war normalerweise nicht sonderlich sensibel.
Dass Dr. Mann so vehement auf die junge Ärztin aus Tulsa reagierte, war Dr. Sanders ein Rätsel. Eine Antwort darauf sollte er jedoch auch nicht bekommen. Das Gespräch mit Dr. Adeela Basara verlief im Sand, mit äußerst unbefriedigendem Ergebnis. Ein Klopfen an der Tür beendete die unglückselige Situation.
Auf sein Geheiß streckte die Empfangsdame den Kopf herein und wollte wissen, wie lange die Abels noch warten sollten. Der Professor drehte sich um und erklärte die Zusammenkunft für beendet. Dr. Basaras wütenden Blick ignorierend, gab er Anweisung, die Familie in den Testraum zu schicken und dort alles vorzubereiten. Leise schloss die Sekretärin die Tür.
Adeela dachte jedoch im Traum nicht daran, sich abspeisen zu lassen. Während Professor Mann bereits im Begriff war, mit wehendem Arztkittel den Raum zu verlassen, stellte sie sich vor ihn und sah ihn herausfordernd an. "Was denken Sie, wenn Sie vor sich haben? Ich bin keine rotznasige Göre, die sich von Ihnen abkanzeln lässt. Und ich bin keine Studentin, die von Tuten und Blasen keine Ahnung hat. Wir haben denselben Beruf, gehen nur unterschiedliche Wege. Deshalb erwarte ich von Ihnen Respekt!“ Sie versuchte, ihren Zorn zu unterdrücken, doch das Funkeln in ihren Augen zeigte, wie schwer ihr das fiel.
"Gehen Sie mir aus dem Weg!“, knurrte ihr Gegenüber sie an. "Oder besser noch: Gehen Sie zurück in Ihre Heimat und helfen Ihren Landsmannen und Glaubensgenossen dabei, die Menschheit zu missionieren. Doch glauben Sie mir eines: Wir brauchen euch nicht!“ Noch bevor Dr. Sanders vermittelnd einschreiten konnte, rüttelte beide Männer ein Klatschen auf. Dr. Manns Wange brannte wie Feuer, und selbst die Attentäterin schien erschrocken zu sein.
Ohne noch ein Wort zu sagen, starrte der Geohrfeigte Adeela fassungslos ins Gesicht, schubste ihren Körper zur Seite und knallte die Tür hinter sich zu. Betreten sah sie zu Dr. Sanders und stammelte: "Verzeihen Sie, doch das war jetzt zuviel.“
"Ich verstehe das nicht“, antwortete Dr. Sanders, um Fassung ringend. "So kenne ich meinen Kollegen gar nicht. Normalerweise ist er ein Gemütsmensch, duldsam und stets höflich. Vielleicht ist es besser, wenn Sie zumindest für heute die Klinik verlassen. Ich werde mit ihm reden.“
"Unter den gegebenen Umständen dürfen Sie mir nicht verübeln, wenn ich den Abels abrate, Eden in den Händen dieses … Mannes zu lassen. Er ist ein krasser Rassist.“
"Urteilen Sie nicht voreilig. Auch wenn ich Ihren Zorn verstehe: Hinter seiner Feindseligkeit Ihnen gegenüber steckt bestimmt mehr.“ Dr. Sanders streckte ihr die Hand hin und sagte abschließend: "Es tut mir jedenfalls leid. Ich muss nun zu meinem Kollegen. Die ersten Kennenlerngespräche führen wir stets zu zweit. Heute darf Eden ein bisschen spielen, und wir werden sie dabei beobachten. Im Spiel geben Menschen viel von sich preis.“
"Nun gut!“ Adeela reichte ihm die Hand und sagte zum Abschied: "Richten Sie den Abels aus, dass ich in der Cafeteria auf sie warte. Ich habe sie hergebracht und nehme sie auch wieder mit. Ich kann mich nur noch einmal entschuldigen, vielleicht war ich selbst ja auch etwas rüde. Goodbye, Dr. Sanders.“ Gemessenen Schrittes verließ sie den Raum.
Dr. Sanders fasste den Entschluss, seinen Kollegen jetzt und sofort zur Rede zu stellen. Er wartete hinter der geschlossenen Tür, bis Adeelas Schritte verklangen.
Als es ruhig im Flur wurde, verließ er türenknallend den Raum. Er wusste den Professor im Testraum, dort auf ihn wartend, um mit der Arbeit beginnen zu können. Dr. Sanders wandte sich in dessen Richtung und riss die Tür ohne zu klopfen auf. Vier Augenpaare starrten ihn erschrocken an.
Dr. phil. Rafael Mann erhob sich von seinem Sitzplatz am Runden Tisch, kam ihm entgegen und baute sich vor ihm auf. Noch immer voller Entrüstung fuhr er seinen Kollegen und Vorgesetzten an: "Was ficht Sie an, wie eine Furie den Raum zu betreten?“
Dr. Sanders trat einen Schritt zurück und sah ihm fest in die Augen. "Bevor wir hier loslegen, möchte ich erst etwas klären. Unter vier Augen!“ Aufgewühlt entschuldigte er sich bei den Abels: „Verzeihen Sie, wenn ich Professor Mann noch einmal entführe. Aber da gibt es etwas, das keinen Aufschub duldet.“ Im Unterbewusstsein nahm er eine kindliche Stimme wahr, die quengelte, endlich nach Hause zu wollen. Ohne sich davon beirren zu lassen, sprach er seinen Kollegen noch einmal an: "Ich warte auf Sie in meinem Büro.“ Er stürmte mit langen Schritten davon, ohne sich zu vergewissern, ob der Professor ihm folgte.
Wenige Minuten später standen sich die beiden Männer erneut gegenüber. Dr. Sanders hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich zu setzen. Seine hochgewachsene Gestalt erfüllte den Raum, in dem noch vor Kurzem der Zusammenprall der jungen Ärztin aus Sabya und dem Professor aus Deutschland stattgefunden hatte. Der Chefarzt war fest entschlossen, das Verhalten von Professor Mann auf keinen Fall hinzunehmen, auch nicht aufgrund der Tatsache, dass er ihn brauchte. So zögerte er auch nicht lange.
Als Dr. Mann das Zimmer betrat, wutentbrannt und fern jeglicher Einsicht, dass er die Ohrfeige von Dr. Basara heraufprovoziert hatte, nahm Walter Sanders kein Blatt vor den Mund: "Was um Himmels Willen ist mit Ihnen los? Wie konnten Sie sich so weit gehen lassen und einer honorierten Kollegin auf diese Art und Weise entgegentreten?“
"Honorierte Kollegin!“, schnaubte der Professor zur Antwort. "Meine beiden Brüder liegen am Ground Zero begraben!“ Er wandte sich ab und versuchte, seinen Gefühlsaufruhr vor Dr. Sanders zu verbergen. Mit erstickter Stimme fuhr Dr. Mann nach einer kurzen Gedenkpause fort: "Beide saßen im ersten Flugzeug und wollten ebenso wie ich in Amerika einen Neuanfang machen. Joachim war gerade 25 Jahre alt und frisch verliebt. Martin, der Ältere, hinterließ seine Frau und drei Kinder. Er wollte sie nachkommen lassen. Nun sind sie im sozialen Auffangnetz von Deutschland gefangen. Sie können gar nicht ermessen, was das für eine Familie bedeutet."
Dr. Sanders trat auf seinen Kollegen zu und legte ihm begütigend eine Hand auf den Arm. "Ich verstehe Ihren Schmerz. Das wusste ich nicht, Sie haben nie davon erzählt. Aber was hat das mit unserer Kollegin zu tun?“
Er durchquerte den Raum und schaute zum Fenster hinaus. In Schweigen verharrend betrachtete er die herbstlichen Parkflächen, die ein buntes Panorama darboten. Nebel legte sich am Scheitelpunkt seiner Fokussierung über die Bäume und zugleich auf seine Seele. 'Die Menschheit hat noch nicht aus ihren Fehlern gelernt’, dachte er betrübt. Nach einer Weile drehte er sich wieder um und sprach es laut aus: "Was in den Köpfen so vieler Menschen abläuft, ist falsch. Die Ideologie der Sippenhaft ist ebenso idiotisch wie der Versuch, die eigenen Vorstellungen bezüglich Ethik, Religion und des eigenen Weltbildes auf Andre zu reflektieren." Er stockte und fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
Als Dr. Sanders fortfuhr, war sein Blick in weite Ferne gerichtet und schien doch bis auf den Grund der Seele seines Gegenübers zu sehen. "Ein einziger Mensch kann viel Gutes bewirken", sprach er. "Doch ein einziger Mensch kann auch viel Schaden anrichten. Hass vergiftet die Seele und führt nur dazu, dass die Menschheit sich selbst ausrottet. So zivilisiert, wie wir erscheinen: Unser Stellenwert innerhalb des natürlichen Kreislaufs ist verschwindend gering. Allzu viel Intelligenz macht allem Anschein nach dumm.“
"Das sagen Sie MIR“, antwortete Professor Mann. "Der menschliche Geist ist mein Beruf, und nichts ist mir fremd. Doch verzeihen Sie mir, dass ich mich hinreißen ließ. Die Ohrfeige habe ich offenbar wirklich verdient und würde mich bei Dr. Basara gern entschuldigen.“
"Sie sitzt in der Cafeteria und wartet auf die Abels“, klärte Walter ihn auf. „Ich kümmere mich gern solange um die Familie. Sprechen Sie sich ruhig ehrlich mit ihr aus.“
Professor Mann befolgte seinen Rat. Während sein Kollege von dannen eilte, begab sich Dr. Sanders zu den Abels in den Testraum zurück. Eine Assistentin war gerade dabei, einen Spiele-Parcours zu erstellen und beschäftigte sich nebenbei mit der kleinen Patientin.
Eden hatte nach ersten Anfangsschwierigkeiten ganz offenbar Spaß und war ganz begierig darauf, der älteren Dame zu helfen. Tamara Itchmandow stammte aus Usbekistan und war schon viele Jahre im Dienst der Klinik beschäftigt. Als sie Dr. Sanders ansichtig wurde, grüßte sie freundlich und sagte: "Ich glaube, wir haben heute eine kleine Nachwuchs-Krankenschwester gefunden.“ Vielsagend nickte sie in Richtung des Kindes.
Eden untersuchte soeben mit Hilfe eines kleinen Arztköfferchens eine Puppe auf einem Miniatur-Operationstisch. Dennoch hatte sie den lieb gemeinten Einwurf von Tamara vernommen und wehrte sich vehement: "Nein, ich will nicht in einem Krankenhaus sein. Reisen will ich, weit um die Welt mit meiner Harfe. Singen will ich, vor ganz vielen Menschen.“ Sie ging zu Dr. Sanders, zupfte ihn am Arztkittel und plauderte mit kindlicher Stimme weiter: "Meine Harfe habe ich gestern bekommen. Nun muss ich nur noch lernen, zu spielen. Kannst du mir dabei helfen?“
Dr. Sanders schaute gerührt auf sie herab und antwortete schmunzelnd: "Ich fürchte, dass ich nicht sehr musikalisch bin. Aber vielleicht können deine Eltern einmal schauen, wer es dir beibringen kann.“
Etwas später öffnete sich die Tür, und Professor Mann trat herein. Im Schlepptau hatte er Dr. Basara. Walter Sanders war hocherfreut und fragte erleichtert: "Habt Ihr eure Differenz beigelegt?"
Der Professor hatte Adeela unter dem Ellenbogen gefasst und führte sie in fast ritterlicher Manier zum Runden Tisch. Sie ließ es sich offenbar gern gefallen und lächelte Rafael an. Ein mitleidiger Blick streifte sein Antlitz.
Dr. Basara wusste seine Ehrlichkeit in der Cafeteria zu schätzen und ahnte, wie schwer es ihm gefallen sein musste, sie um Verzeihung zu bitten. Er hatte sich selbst nicht geschont und auch nicht um Verständnis für seinen Ausfall gebeten. "Bitte denken Sie nicht, dass ich Ihnen gegenüber feindlich gesinnt bin“, hatte er sich ihr erklärt. "Ich habe meine Familie durch die Hand von Menschen verloren. Menschen, die Ihren Glauben dazu benutzen, eine andersgläubige Welt zu reglementieren und dabei über Millionen von Leichen gehen. Seitdem ist alles, was mit Ihrer Nation zu tun hat, für mich wie ein Rotes Tuch. Nicht nur meine Welt wurde damals in ihren Fugen erschüttert, das ist mir bewusst. Und ich versuche auch, zu verzeihen und zu vergessen, welch teuflische Machenschaften Irrglauben hervorrufen kann. Bitte geben Sir mir eine Chance, die Welt wieder mit anderen Augen zu sehen. Helfen Sie mir, indem Sie mir vergeben, was ich zu Ihnen sagte.“
"Jede Religion hat ihre Leichen im Keller, nicht nur die Meine. Doch ich kann Sie verstehen, Professor. Ich vergebe Ihnen, wenn Sie mir die Ohrfeige verzeihen.“ Adeela und er reichten sich die Hände und schwiegen, bis Dr. Mann zum Aufbruch mahnte und sie bat, ihn zu begleiten.
Während sie sich in den Testraum begaben, wagte sie noch einmal einen Vorstoß und bat, dabei sein zu dürfen, wenn die zweite Etappe der Studie begann. Doch in dieser Hinsicht ließ er sich nicht erweichen. Nachdem er ihr noch einmal die Gründe dargelegt hatte, gab sie schließlich nach und beschloss, ihm zu vertrauen.
Als Kompromiss räumte er Adeela bei allen Entscheidungen zu weiterführenden Behandlungsmethoden ein gewisses Mitspracherecht ein. "Es wird ohnehin noch eine Weile dauern, bis wir die zweite Testphase beginnen“, versuchte Professor Mann, sie zu beruhigen. "Es geht lediglich um die Phase, wenn wir die Probandin hypnotisieren. Danach können Sie an allen weiteren Tests mit Ihrem Schützling teilnehmen. Mehr noch: Sie können sich selbst einbringen und mit ihr arbeiten. Und wenn es gut läuft, dann binden wir Sie vielleicht auch bei den anderen Probanden mit ein. Würde Ihnen das womöglich gefallen?“
Adeela musste sich selbst eingestehen , dass sich das verlockend anhörte. Professor Rafael Mann war in der Psychiatrie-Medizin nicht unbekannt, und von ihm zu lernen, würde ihr neue Welten eröffnen. Insgeheim bewunderte sie seinen Mut, sich über Konventionen hinwegsetzen zu können und seine eigenen Wege zu gehen.
Auch sie selbst suchte sich immer weiter zu entwickeln und entfernte sich oft genug von althergebrachter, doch selten erfolgreicher "Schulmedizin“. Insbesondere war es ihr ein Arges, dass es noch nicht viele Möglichkeiten gab, Psychiatrie-Patienten ohne Pharmazie zu behandeln.
Trotz Kenntnis darüber, welche Schäden insbesondere Antidepressiva und Tranquilizer anrichten konnten, gingen viel zu viele ihrer Kollegen lieber den einfachen Weg. Was daraus erwuchs, waren Adeelas Meinung nach gefühllose Zombies, die dazu verdammt waren, in Trance ihr tristes Dasein zu fristen. Das Kennenlernen von Eden hatte sie darin bestärkt und ihr gezeigt, dass liebevoller Zuspruch und Verständnis bei einem kranken Menschen wahre Wunder bewirkte. Es drängte sie danach, auch darüber mit dem Professor zu sprechen.
'Alles zu seiner Zeit', sagte sie sich, nachdem Adeela mit ihrem Begleiter an dem runden Besprechungstisch aus dunklem Kastanienholz angelangt war. Zuvorkommend rückte Professor Mann ihr den Stuhl zurecht und setzte sich neben sie. Rahel Abel und ihr Mann saßen direkt gegenüber. Bisher hatten sie geduldig geschwiegen und das Geschehen am Rande verfolgt, doch nun wollte Gabriel wissen: "Wie geht es nun weiter? Es wäre an der Zeit, dass wir auch aufgeklärt würden. Schließlich geht es vor Allem um das Wohlergehen unserer einzigen Tochter.“
"Das ist mir bewusst.“ Dr. Sanders nahm ebenfalls Platz und schob ein Bündel bereits vorbereiteter Dokumente in die Mitte des Tischs. "Die fachlichen Details werden Sie von meinem Kollegen erfahren. Im Vorfeld habe ich hier zwei Fragebögen und einen Probanden-Vertrag, den Sie bitte als Erziehungsberechtigte von Eden lesen und unterschreiben. Wenn Sie selbst Fragen haben, stehen wir Ihnen selbstverständlich gern mit Rede und Antwort zur Seite.“
"In erster Linie würden wir gern erfahren, was mit unserer Kleinen geschieht. Vorher unterschreiben wir nichts.“ Gabriel sprach mit entschlossener Stimme und war unerbittlich. "Auch wenn wir Ihnen vertrauen, Dr. Sanders, erwarten wir Auskunft über jeden einzelnen Schritt, wie diese Studie durchgeführt wird. Und zwar nach Möglichkeit, bevor wir überhaupt etwas Andres besprechen und Details über Edens Krankheitsverlauf preisgeben.“
"Sie werden alles erfahren, was mit Ihrer Tochter geschieht, Mr. Abel.“ Professor Mann entnahm dem Bündel ein mehrseitiges Formular und schob es dem besorgten Elternpaar zu. "Hier ist Schritt für Schritt aufgeführt, wie und in welchem Zeitfenster die einzelnen Etappen der Untersuchung stattfinden werden. In der ersten Woche ist es noch nicht notwendig, die Probandin stationär zu belassen. Sie besuchen uns jeden zweiten Tag, stellen uns Ihr Kind zur Verfügung und nehmen es noch am selben Tag wieder mit.“ Mit einem Kugelschreiber zeigte er auf dem Dokument einzelne Zeitabläufe auf und fuhr fort: "Heute werden Sie schon die ersten Vorbereitungen miterleben können. Wie Dr. Basara bereits mitgeteilt wurde, darf Ihre Tochter mit unserer Assistentin Tamara Itchmandow ein paar spielerische Übungen machen. Dr. Sanders und ich beobachten Edens Verhalten im Spiel und machen ein paar Notizen. Es handelt sich unter Anderem um Geschicklichkeitsspiele zum Zweck, ihre Feinmotorik zu testen.“
Der Professor erwies sich mittlerweile als ein Ausbund an Geduld, was Adeela angenehm überraschte. Sie schob ihre anfänglichen Bedenken beiseite und gab ihm seine Chance!
~ Khalil und Eden ~
Am Ende des Tages keimte in dem deutschen Spezialisten das erste Mal der Verdacht auf, dass seine Kollegen sich irrten. Bei Einsichtnahme der Krankenakte von Eden Abel war Raffael auf drei unterschiedliche Diagnosen gestoßen, die von verschiedenen Koriphäen abgegeben worden waren. Allesamt enthielten sie etliche unwägbare Faktoren, die im Rahmen von Untersuchungen innerhalb größerer Zeitabstände zustande gekommen sein mussten.
Des Weiteren hatte er noch eine Prognose von Adeela Basara im Ohr, die seine Probandin als gesund auswies. Zwar war sich die junge Ärztin nicht sicher gewesen, doch nach den ersten Stunden mit Eden Abel war er geneigt, ihr zu glauben.
Etwas war allerdings sonderbar an seiner Probandin: Wenn Eden sprach, erschien sie wie ein ganz gewöhnliches Mädchen mit einem altersgemäßen Sprachschatz. Bei Logiktests, die mithilfe eines Zauberwürfels und einigen Rechenspielen gemacht worden waren, erwies sie sich als verblüffend flink und hatte in Rekordzeit die Lösung gefunden. Offenbar war Eden Abel hochintelligent, und auch ihre Konzentrationsfähigkeit war außergewöhnlich.
War das Mädchen hingegen im Spiel vertieft, war alles anders. In dem Moment entrückte Eden über das träumerisch-kindliche Normalmaß hinaus in eine andere Welt. Auch hatte Professor Mann eine unerklärliche Melancholie in ihren Augen gesehen, die seiner Meinung nach nicht in eine Kinderseele gehörte.
Im Verlauf des Nachmittags hatte Eden einen Zinnsoldaten in einer Ecke des Testraums gefunden. Behutsam hob sie die kleine, verstaubte Figur hoch und stellte sie auf ihre Handfläche. Dr. Manns Beobachtungen zufolge verfiel sie in einen stummen Monolog, und ihr Blick wirkte plötzlich wie der einer Blinden.
Ein enervierendes Summen erfüllte den Raum. Edens gesamter Körper schien zu vibrieren wie der einer schnurrenden Katze. Faszination ergriff ihn und Dr. Sanders, sie wagten es kaum, zu sprechen. Beinahe war es gespenstisch.
Die monotone Melodie wurde lauter und gipfelte in seltsamen Lauten, die Professor Mann an urchristliche Gesangsrituale gemahnten. Bei einem eher zufälligen Seitenblick zu Adeela Basara sah er die Ärztin lächeln. Ihr Blick war auf Eden gerichtet, voller Liebe und Stolz, doch auch voller Erkennen. Das Geschehen war ihr scheinbar nicht fremd, und der Professor begann sich zu fragen, was diese zwei Menschen miteinander verband. Plötzlich sagte Adeela Worte in ihrer Sprache zu dem geistesabwesenden Kind, die er nicht verstand.
Überraschenderweise reagierte das Mädchen darauf und erwiderte etwas in ihm ebenso unverständlicher Weise. Es klang, als ob sie die Muttersprache der arabischen Kollegin beherrschte.
Als er Adeela bei einem späteren Gespräch unter vier Augen nach deren Einschätzung fragte, gab sie eine erstaunliche Antwort: "Sie werden noch viele Wunder mit diesem Mädchen erleben, Professor.“
Noch unter dem Einfluss des bisher Erlebten stehend, glaubte er ihr das unbesehen. Rückblickend fragte er sich abends das erste Mal, ob er Eden Abel nicht besser aus seinen Fängen entließ. Er hatte das dumpfe Gefühl, dass sie sein gesamtes Weltbild auf den Kopf stellen könnte.
Der Alltag zog bald darauf in Crawfordsville ein. Liebevoll bauten Rahel und Gabriel für ihre kleine Tochter ein gemütliches Nest, so dass sie sich auch in der Fremde wohlfühlen konnte. Zudem bereiteten sie alles auf Weihnachten vor und kamen ihrer wichtigsten Verpflichtung nach, die da war, Eden regelmäßig in die Klinik zu bringen.
Doch bald sollte es nicht mehr notwendig sein. Bereits die erste Woche brachte eine Entscheidung hervor. So schwer es Professor Mann fiel, kam er doch davon ab, Eden Abel als Probandin in sein Programm aufzunehmen. Adeela Basara war darüber erleichtert, und sie bewunderte ihn in höchstem Maße für diese kluge Entscheidung.
Nichtsdestotrotz hegten sowohl Dr. Sanders als auch der Professor den Wunsch, weiterhin ein Auge auf die Familie zu haben, um Edens weitere Entwicklung verfolgen zu können. Den Eltern wurde geraten, sie auf einer Hochbegabten-Schule fördern zu lassen, doch davon wollten beide nichts wissen. Stattdessen fassten die Abels eine baldige Rückkehr nach Cedar Rapids ins Auge und zogen als Zeitpunkt das nächste Jahr in Betracht. Am Liebsten wären Rahel und Gabriel sofort wieder nach Hause geflogen, doch in stillem Einverständnis kamen sie überein, Eden noch ein bisschen zu schonen. Adeela würde dennoch an ihrer Seite verbleiben und mit ihnen gemeinsam Weihnachten feiern.
Schnell vergingen die letzten vier Wochen des Herbstes, und der Winter zog ein. Das Haus wurde von jeglichen weihnachtlichen Düften durchzogen, und Eden hatte größte Freude daran, mit Rahel und Adeela gemeinsam zu backen. An schöneren Tagen wanderten sie gemeinsam den Sycamore Drive entlang und sammelten Zweige für die Weihnachtsdekoration. Die junge Ärztin genoss die Atmosphäre und fühlte sich wohl im Schoß der kleinen Familie.
Eden hatte von Tag zu Tag größere Fortschritte auf dem Weg zur Genesung gemacht und schien ihr Trauma des letzten Jahres vergessen zu haben. Ihr ganzer Stolz war die Keltische Harfe, die ihr von Marvin Beard eines Nachts als Geschenk überbracht worden war.
Wann immer es ihr möglich war, saß sie davor und entlockte ihr vereinzelte Töne. Doch war ihr Spiel recht dilettantisch – es war eben nur Spiel.
Dennoch war sie mit Feuereifer dabei, was die Erwachsenen dazu veranlasste, sich über ein besonderes Weihnachtsgeschenk Gedanken zu machen. Es war jedoch nicht einfach, diesen Herzenswunsch zu erfüllen und eine Musikschule zu finden, die Harfenunterricht gab. Eines Tages schließlich – es war die dritte Vorweihnachtswoche – kam Adeela von Einkäufen zurück und legte den Eltern eine DVD auf den Tisch. "Das ist ein Konzert von Xavier de Maestre“, erklärte sie. "Wenn Sie es genehmigen, würde ich es Ihnen und Eden gern zeigen.“
Weder Rahel noch Gabriel zeigten sich sonderlich begeistert und wehrten ihr Ansinnen ab. "Sie wissen, wie wir zu den Medien der heutigen Zeit stehen“, warf Edens Vater in den Raum. "Das hat sich nicht geändert.“
"Weshalb verweigern Sie sich vehement dem doch notwendigen Fortschritt?“, fragte Adeela. "Wenn Sie wollen, dass Ihre Tochter zu einer stärkeren Persönlichkeit wird, dürfen Sie sich selbst nicht verschließen. Eines Tages zieht sie hinaus in die Welt und ist komplett überfordert, weil sie das Leben nicht kennt. Ein Konzert ist beileibe harmlos.“ Eden betrat das kleine Wohnzimmer, in dem sich Rahel, Gabriel und Adeela befanden. Bis soeben hatte sie sich mit ihrer Harfe beschäftigt, doch nun hatte sie Hunger. Sie trat an den Tisch und schnappte sich die DVD, auf deren Cover der Künstler mit einer Konzertharfe abgebildet war. "Was ist das?“, fragte Eden neugierig.
Rahel und Gabriel warfen einander bedeutungsvolle Blicke zu und schwiegen, doch Adeela ließ sich nicht beirren und erklärte es ihr: "Das ist etwas, womit man Bilder lebendig machen kann. Man nennt es DVD.“
"Ist das so etwas, wie ich im Flugzeug gesehen habe?“, fragte Eden weiter.
"Ja, so in der Art. Man kann sich die DVD im Fernsehen oder auf meinem Laptop anschauen.“
Eden wandte sich an ihre Mutter: "Mommy, ich habe Hunger. Wann gibt es etwas zu essen?“ Sie drehte die Plastikhülle in ihrer Hand und betrachtete sie von allen Seiten. Wie gern würde sie wissen, was dieses seltsam anmutende Behältnis enthielt, schon weil das Abbild einer großen Harfe ihre Neugier erweckte.
Zögernd öffnete sie die Hülle und tastete vorsichtig über den Inhalt. "Darf ich die Scheibe herausnehmen?“, bat sie ihren Vater. Bisher konnte sie sich unter den erhaltenen Informationen nicht sehr viel vorstellen, und ihr knurrte der Magen. Zwischen Neugierde und dem elementaren Bedürfnis, ihren Hunger zu stillen schwankend, schossen ihre Gedanken in sämtliche Richtungen davon und stolperten über einen neuen Begriff.
Eden legte ihre Beute zurück auf den Tisch und zupfte Adeela am Ärmel. "Was ist ein Let-Stop?“, wollte sie wissen.
Die Ärztin stutzte. Was meinte das Kind? Schließlich fiel es ihr ein: Vermutlich bezog Eden sich auf ihren Laptop. Gabriel grinste, als er ihre Verlegenheit sah. Er war gespannt, wie sie sich da herauswinden und Eden diesen neumodischen Schnickschnack erklären wollte. Adeela hielt sich jedoch nicht lange mit Erläuterungen auf, erhob sich und verließ hocherhobenen Hauptes den Raum.
Rahel stand ebenfalls auf und folgte ihr mit der flüchtig dahin geworfenen Erklärung "etwas zu essen zu machen“. Eden und Gabriel starrten den beiden Frauen verdutzt hinterher. Viel Zeit, sich zu wundern, blieb ihnen allerdings nicht, denn kaum zwei Minuten später kehrte zumindest Adeela wieder zurück. Sie hatte sich ihren ganzen Stolz – ein apfelgrünes Blueberry – unter die Achseln geklemmt und trat damit an den Tisch.
Gabriel schwante nichts Gutes und versuchte, sie mit einem Räuspern davon abzuhalten, was sie zu tun gedachte. Plötzlich rannte Eden wie von einer Tarantel gestochen davon. Er hörte, wie ihre kleinen Füßchen die Treppe hinauftrappelten und fragte sich, was sie wieder ausheckte.
So schnell, wie sie verschwunden war, stand sie auch schon wieder vor ihm. Voller Stolz streckte sie ihm ein kleines Kinderfernrohr entgegen und fragte: "Daddy, ist das ein Fernseher?“ Er konnte nicht anders: Die ganze Absurdität der Situation wurde ihm schlagartig bewusst. Genau zwei Sekunden hielt er es aus, das brüllende Gelächter, was in ihm aufsteigen wollte, zu unterdrücken.
Weitere fünf Sekunden, und er hätte sich am Liebsten auf dem Boden gerollt.
Nach einer Minute wurde die Wohnzimmertür mit einem Ruck aufgerissen, und Rahel starrte entgeistert in die Mitte des Raums. Irritiert betrachtete sie ihre Familie und diese Person, die ihr ganzes Leben auf den Kopf stellen wollte. Was sie sah, gefiel ihr nicht wirklich: Ihr Gemahl mit rotem Gesicht und sich biegend vor Lachen, die kichernde Ärztin – und ihre Kleine stand mit großen Augen vor ihnen und wusste offenbar nicht, wie ihr geschah.
Gabriel warf einen Blick zur Tür und versuchte, mit ballonartig aufgeblasenen Wangen seinen Lachkrampf zu stoppen. ... Vergeblich!
Er brauchte nur die großen Augen seiner Frau anzuschauen, das fragende Gesicht seiner Tochter und Adeelas schelmischen Blick: Schon ging’s wieder los!
Unbewusst rückte Gabriel den Holzstuhl, auf dem er gerade saß, zur Seite, prustete weiter und schlug sich auf die Schenkel. Keuchend lehnte er sich aus Versehen nach hinten, schaukelte und musste aufpassen, nicht von seinem Sitzplatz herunterzufallen. Geistesgegenwärtig griff Adeela ein, trat hinter ihn und schwenkte mit beiden Händen seinen Stuhl, der zu kippen drohte, wieder zurück.
Das brachte ihn zur Besinnung. Seine sprachlose und entsetzt dreinschauende Gemahlin fand ihre Stimme wieder und fragte: "Was ist hier eigentlich los?“
Gabriels Mundwinkel zuckten. "Nichts weiter“, antwortete er. "Eden hat uns nur gerade ihren Fernseher gezeigt.“ Er wandte sich an seine Tochter und forderte sie auf: "Zeig ihn Mommy doch auch!“
Eden zog jedoch eine beleidigte Schnute und wandte sich ab. Mit voller Kraft warf sie das Fernrohr auf den Tisch, drängte sich an ihrer Mutter vorbei und flüchtete sich die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Kurz darauf hallten die Klänge ihrer Harfe durchs Haus. Rahel – die Klinke noch in der Hand – wandte den Kopf in deren Richtung und lauschte ergriffen. Ein sonderbarer Zauber schwebte zu den drei Ohrenzeugen herab. Die einzelnen Töne schienen zu tanzen, wirbelten und tirilierten, wanden sich schmeichelnd wie Feen um ihre Seele.
Obwohl Eden noch nie vorher mit der Magie ihres Instruments in Berührung gekommen war, schien sie über ein intuitives Gespür für harmonische Klanggebilde zu verfügen. Kein Griff ging daneben, kein Misston war vom oberen Stockwerk des Bungalows aus zu vernehmen.
Edens Gesang vermählte sich mit den Klängen. Ihre Worte waren fremdartig, doch voller Inbrunst und gen Himmel gerichtet. Es war keine Melodie, die es bereits gab, und sie kam tief aus ihrem Herzen.
Rahel rannen Tränen über die Wangen, und Gabriel saß wie erstarrt. Plötzlich schien sich Edens Stimmung zu wandeln, und sie sang voller Trauer. Ihre Stimme wurde ganz tief, und die Saiten der Harfe begleiteten sie mit dramatisch klingenden Lauten.
Gabriel schreckte auf und erhob sich hektisch. Adeela, die mittlerweile neben ihm saß, erkannte seine Panik und legte ihm beschwichtigend ihre Hand auf den Arm. Auch Rahel war im Begriff, zu ihrer Tochter zu stürzen, doch die Stimme der jungen Ärztin hielt sie zurück.
"Wartet!“, hielt Adeela Edens Eltern zurück. Als sie sich ihrer Aufmerksamkeit gewiss war, fuhr sie fort: "Es wäre ein Fehler, Eden aus ihrer Versunkenheit zu reißen. Macht euch keine Sorgen, sie nimmt nur Abschied von einem Freund. Wartet, bis eure Tochter von selbst zu euch kommt.“
Rahel fuhr verunsichert über ihre mattbraune Lockenfrisur, ließ die Klinke aus ihrer Hand und setzte sich neben Adeela. Zerstreut drehte sie eine vergessene Kaffeetasse im Kreis herum und wisperte zaghaft: "Woher wissen Sie so gut Bescheid, was Eden bewegt?“
Liebevoll tätschelte Dr. Basara die Hand der älteren Frau. Längst schon war Rahel trotz des großen Altersunterschieds zu einer Freundin geworden. Fast schon hätte sie sich gewünscht, dass diese herzensguten Menschen ihre Eltern wären.
Sie konnte sich gut einfühlen und verstand Rahels Angst. Es wurde jedoch Zeit, dass sie erkannte, wann es besser war, Edens Geist fliegen zu lassen. So beantwortete sie ihre Frage: "Sie hat es mir gesagt. Im Krankenhaus, am ersten Tag. Eden hat Khalil verloren, und das macht sie traurig.“
Gabriel hörte gespannt zu und erinnerte sich vage an den kleinen Zinnsoldaten in Edens Hand. Verzweifelt versuchte er, das Bild vor seinem Inneren Auge detaillierter erstehen zu lassen und zu verstehen, was in solchen Momenten mit Eden geschah. Nur in einem war er sich sicher: In ihren Trancezuständen war seine Tochter immer mit Gegenständen in Berührung gekommen, die Grausamkeit und Krieg symbolisierten. War sie in diesen Momenten an einem Ort, zu dem niemand außer ihr selbst Zugang hatte? Teilte sie diese schmerzhaften Augenblicke mit diesem … Kindersoldaten? All diese Fragen schossen ihm durch den Kopf, doch er wagte es nicht, sie laut werden zu lassen. Je länger Gabriel indessen darüber nachdachte, umso mehr festigte sich in ihm die Entscheidung, so wie bisher weiterzuleben und alle negativen Einflüsse der heutigen Gesellschaft von Eden fernzuhalten.
'Wenn das bedeutet, auf das eine oder andere verzichten zu müssen’ – so dachte er: 'Nun denn, dann möge es eben so sein.’ Ihm war durchaus bewusst, dass ihre Lebensweise von Außenstehenden als Weltfremdheit und vielleicht sogar Naivität angesehen wurde, doch so war es nicht. Er kannte sehr wohl die Gefahren, die der Forschergeist und die Machtgier der Großstaaten mit sich brachten.
Auch und gerade die Grausamkeit einer seiner Meinung nach blutrünstigen Gesellschaft war ihm nicht fremd; er hatte selbst einen Krieg miterlebt und war sogar ein wesentlicher Part innerhalb dessen gewesen.
Zwar hatte Gabriel nie zu den Kämpfern gehört, davor hatten ihn sowohl das Schicksal als auch sein Glauben bewahrt. Während der Kubakrise hatte er sich allerdings bei drei kurz aufeinanderfolgenden Militäraktionen als Sanitäter zur Verfügung gestellt, gemeinsam mit etlichen seiner Glaubensgenossen. Zu jener Zeit hatte er etliche Schreckensbilder gesehen, und diese würde er niemals vergessen. Schließlich war er selbst bei einem Sturmangriff auf das Sanitätszelt getroffen worden. Dieser Umstand hatte ihn letztendlich aus den blutigen Fängen des Guerillakrieges entlassen.
Dem Großteil seiner Kameraden war nicht so viel Glück beschieden worden. Kaum einer hatte den Vorstoß der Rebellen überlebt und konnte in die Geborgenheit der Familie zurückkehren. Ihre martialischen Schmerzensschreie gellten manchertage noch heute in seinen Ohren, und blutige Bilder verfolgten ihn oftmals in seinen Träumen.
Zurückgekehrt in seine Heimat – noch fast ein Junge, schwerverletzt und bar jeglicher Träume einer friedlichen Welt – lehrten ihn seine Eltern, nicht zu verlernen, zu lieben und seine Mitmenschen zu respektieren. Ihr Glauben half ihm, nicht in Bitterkeit zu verfallen und den Menschen nicht zu verdammen. Doch erst Rahel gab ihm das Lachen zurück! Das Schicksal hatte ihm die Liebe seines Lebens beschert und ihn für alles Grauen entschädigt.
Warm legte sich eine Hand auf seine Schulter. Hinter ihm stand seine Frau. "Gabriel, ist alles in Ordnung?“, fragte Rahel. Er legte seine Finger darüber und drehte sich zu ihr um. Besorgt sahen ihre braunen Augen ihn an.
Er verbarg seine ungeweinten Tränen hinter einem wehmütigen Lächeln. "Du weißt gar nicht, wie sehr ich dich liebe“, raunte Gabriel heiser vor lauter Bewegung.
~ Rahel ~
Rahel war noch sehr jung gewesen, als sie ihren Mann kennenlernte, zarte achtzehn Jahre, scheu und zerbrechlich wie eine Elfe. Ihr Leben war bis dato behütet gewesen.
Mit Vater und Mutter, zwei älteren Schwestern und einem Bruder zusammen hatte sie in einer kleinen Quäkerkommune am Rande von Crawfordsville ihr noch junges Leben verbracht. Ihre Eltern waren altmodisch und konservativ, strenggläubige Quäker, und der Vater regelte das Familienleben mit eiserner Hand.
Der familiäre Tagesablauf war dem Glauben und den Zusammenkünften der Glaubensgenossen gewidmet. Als Selbstversorger – wie es in damaligen Zeiten innerhalb Quäkersiedlungen noch üblich war - hatten sie beinahe spartanisch gelebt. Das junge Mädchen von damals hatte gelernt, Haushaltsangelegenheiten so einfach wie möglich in die eigenen Hände zu nehmen, dass eine intakte Familie das wichtigste im Leben sei und eine Frau dafür zu sorgen hatte, dass es so blieb. Vonseiten ihrer Eltern wurde Liebe mit Strenge und Gerechtigkeit gleichgesetzt, keines der vier Kinder wurde bevorzugt. So hatte der Schoß ihrer Mutter aus der Saat ihres Vaters gesunde Keime geboren, und kein einz'ger ging fehl.
Jugendrebellionen, wie es heute so üblich war – oh ja, Rahel wusste Bescheid – hatte es weder innerhalb ihrer Familie noch in bekanntem Umfeld gegeben. „Wehret den Anfängen“, hatte der Vater immer gepredigt und sich auch dran gehalten.
Schläge? Gewalt? Nein, das hatte sie niemals kennengelernt. Die Sanktionen der Eltern hießen Arbeit und trocken Brot. Es war für sie wie ein Glaubensbekenntnis.
"Wer den Hunger kennt, weiß, wie er gestillt werden kann“, hatte die Mutter oft gesagt, wenn ihr Klagen zu Ohren kamen. So hatten vier Kinder gelernt, sich zu fügen und zu verdienen, was zum Überleben notwendig war.
An Liebe hatte es ihr nicht gemangelt, nicht dass sie wüsste. Trotz aller Strenge der Eltern wuchsen sie und ihre Geschwister liebevoll auf. Die Liebe kam von allen Seiten, nicht nur aus der Familie. Sie äußerte sich anders als durch Hätscheleien, eher in Form von Gebeten und von Gesängen, in Form von Familientagen, von gemeinsamen Unternehmungen. Ihr fehlte an nichts, so dachte sie, doch dann hatte Rahel den Mann mit dem Erzengelsnamen kennengelernt.
~ Eden ~
Im Raum war es ganz still. Auf ihrer Erinnerungsreise miteinander vereint, sahen sich die Abels liebevoll an. Adeela beobachtete leise weinend das Paar und wünschte sich, eines Tages eine solch große Liebe erleben zu dürfen, wie sie sich hier offenbarte. Ohne es zu wollen, flogen ihre Gedanken durch das Universum zu Marvin. Ein fast unspürbares Ziehen im Herzen ließ sie erahnen, wo sie ihr Ganzes fand.
Auch die Klänge der Harfe waren verstummt, ohne dass es einer von ihnen bemerkte. Die Geister der Nacht versammelten sich in den Straßen der Stadt und überbrachten das weiße Dämmerlicht des grüßenden Winters. Die drei Menschen im Raum vernahmen weder das Knistern der Flammen noch das Ticken der Uhr.
Einen Moment war es, als befänden sie sich gemeinsam auf einer Reise durch die Dimensionen der Zeit, und es gäbe kein Morgen.
Adeela schrak auf, als sie aus den Augenwinkeln wie aus dem Nichts einen Schatten vor sich auftauchen sah.
Eden stand vor ihr und legte beide Hände auf ihre Knie. Große Augen sahen ihr ins Gesicht, so grün wie Smaragde, von langen Wimpern ummantelt. Im Blick des Mädchens lag Trauer und eine Weisheit, so alt wie die Welt. "Khalil ist in Sicherheit“, flüsterte sie in der Muttersprache der Ärztin. "Er braucht mich nicht mehr. Nun bin ich allein.“ Adeela schaute Eden nur in die Augen und schwieg lange Zeit. Kein Kind stand vor ihr. Ihr war, als tauchte sie tief hinab ins Meer der Zeit, bis hin zu den ersten Weisen auf den Pfaden der Menschheit in uralten Tagen. Schließlich antwortete sie in selbiger Sprache: "Du bist nicht allein, du hast deine Eltern. Sie lieben dich über alles.“
Das Mädchen seufzte, und auch dieser Laut klang wie aus dem Herzen einer erwachsenen Frau. "Das ist nicht dasselbe, sie verstehen mich nicht. Tief in mir drin bin ich einsam. Ich wünsche mir einen Bruder.“
"So einen Jungen wie Khalil?“, fragte Adeela. "Warum redest du nicht mit ihnen darüber?“
"Weil ich es nicht kann“, entgegnete Eden mit müde klingender Stimme. "Nur du verstehst Khalils Sprache.“
"Dann sprich mit deinen eigenen Worten“, riet ihr Adeela. "Sie werden verstehen, doch du brauchst Geduld. Sie fürchten sich vor dem, was in dir ist. Erzähl ihnen von Khalil, und was du mit ihm erlebtest.“ Ihre Stimme wurde eindringlich. "Nimm sie mit auf deine Reisen, dort auf die andere Seite. Zeig ihnen Khalils Welt aus deinen Augen.“
"Ich kann es nicht mehr“, klagte Eden. "Ich habe den Schlüssel zu seiner Seele verloren.“ Tränen rannen dem Mädchen über die Wangen, dem Kind, das wie eine Erwachsene sprach. Adeelas Herz flog ihr voller Liebe zu und krampfte sich mitleidsvoll und schmerzhaft zusammen.
Aus den Augenwinkeln sah sie Rahels gepeinigten Blick auf sich gerichtet. Eifersucht sprach aus ihm heraus. Adeela sah ihr fest in die Augen. Ihrem Impuls folgend, formten ihre Lippen lautlos die Worte: "Alles wird gut! Ich bringe eure Tochter wieder zu euch zurück. Sie ist schon auf dem Weg.“
Die junge Neuropsychologin aus Sabya vermutete nicht, dass die ältere Freundin sie verstanden hatte, doch dann glitt ein erleichtertes Lächeln über Rahels Gesicht. Adeela erwiderte es und spürte plötzlich zwei weiche Kinderarme um ihren Hals. "Ich liebe dich“, sprach Eden auf Arabisch zu ihr. "Auch wenn Khalil nicht mehr in mir ist.“
Sie wandte sich dem Kind wieder zu. Adeelas Blick wurde traurig. "Liebe mich nicht allzu sehr, denn bald schon muss ich dich verlassen. Schenk deine Liebe Mommy und Daddy, sie warten darauf. Doch ich liebe dich auch."
~ Khalil ~
In einer kleinen Zelle – weit weg vom Ort des zentralen Geschehens – lag ein Junge auf einer ärmlichen Pritsche. Die Härte des rauen Holzes störte ihn nicht, er war härtere Unterlagen gewohnt. Hinter ihm lag eine Zeit der Verdammnis, da gab es kaum Schlaf, nur abgrundtiefe Erschöpfung bis zur vollständigen Bewusstlosigkeit nach langen Perioden der Wachsamkeit, um nicht vom Grauen des Krieges überrascht zu werden. In jeder Sekunde seines bisherigen Lebens hatte der Tod ihn begleitet. Er war ihm mit vielen Gesichtern erschienen, angefangen vom Antlitz des Vaters bis hin zu den entsetzten Mienen gefallener Kameraden.
Von ehemaligen Soldaten sagte man gern "Er ist ein gebrochener Mann“. Er jedoch war mehr als gebrochen, Khalil war innerlich tot.
Es war anzunehmen, dass es jedem, der den Krieg hinter sich ließ, nicht anders ging, doch er war noch ein Kind.
Es war nicht so sehr dies, was ihm selbst angetan worden war, was ihn innerlich ausbluten ließ. Vielmehr würde er die Opfer niemals vergessen, die durch die Hände des Terrors – ja, auch durch ihn – ihr Leben ließen. Es waren Kinder darunter gewesen, Kinder wie Khalil. Es waren Kameraden gefallen, wobei: "Kameraden?“, lachte er bitter in sich hinein, als er da so lag und die Wände seiner Kammer anstarrte. "Kameraden des Todes, die den Tod brachten, die darüber lachten, die Gräueltaten verübten. Blutskameraden!“ Zorn hatte sich seiner Seele bemächtigt, doch diese immense Wut tat ihm gut. Alles war noch besser als diese innere Leere. Verrat vonseiten der eigenen Familie, die Hand des Vaters, die ihn zum Töten erzog! All diese Bilder zogen an ihm vorüber wie dunkle Wolken am Horizont.
Unter der Erde war er gefangen gewesen, weil sein Vater … welch ein Hohn: der eigene Vater … den Tod des Sohnes beschlossen hatte, für ein Ideal? Wirklich für ein Ideal?
"Neeiiinnnnn!“, brach sich Khalils verzweifelter Schrei an der Decke des Raums. Er ballte die Faust und schlug sie gegen die Wand, schlug sich die Knöchel blutig, bis ihn der eigene Schmerz in den Abgrund der Erschöpfung trieb.
Durch ein vergittertes, rundes Fenster ohne Scheiben – kaum mehr als ein Guckloch – stahlen sich Sonnenstrahlen in seine Kammer hinein und tanzten über die unbehauenen Steine der Innenmauern. Leise öffnete sich eine Tür.
Khalil wandte den Kopf und sah undeutlich eine Silhouette neben sich stehen. "Du musst zur Ruhe kommen“, sprach Bruder Rafael mit gütiger Stimme, wohlwissend, dass der Junge ihn nicht verstand. Er nahm sich vor, dessen Sprache zumindest in den Grundzügen zu lernen. Der Mönch ahnte, dass Khalil noch einen langen Weg vor sich hatte, um den inneren Frieden seiner Seele wiederzufinden.
War doch Ägypten einmal der ideale Puffer und Zufluchtsort innerhalb der Unruhen im Nahen Osten, so hat sich dies im Jahr 2014 schlagartig geändert.
Dem Katharinenkloster am Fuße des Sinai, Symbol des Friedens zwischen den verschiedenen ansässigen Religionen in Nahost – Mahnmal und Erinnerung an den heiligen Ursprung zugleich – droht, vonseiten der ägyptischen Regierung seine Autonomie zu verlieren. Haltlose Vorwürfe, die an Verfolgungswahn grenzen, werden als Ausrede benutzt, wie zum Beispiel das Hissen der griechischen Nationalflagge, Zusammenarbeit mit dem israelitischen Geheimdienst und Dienen als Aufnahmestätte für Menschen anderer, angeblich feindlich gesinnter Nationen. Zwar hat sich die Lage wieder entspannt, doch wie lang wird das dauern?
Political Correctness/German Edition
dpa/09.03.2014
© Walter Immerswald
Außenkorrespondent
Ostern 2014
In Cedar Rapids hatte sich eine kleine, illustre Gesellschaft um die ovale Tafel im Haus der Abels versammelt. Der Sonntagstisch war traditionell mit einer weißen Tischdecke gedeckt. Orangefarbene Ornamente betonten den Saum, und in der Mitte lag ein handgehäkeltes Spitzendeckchen in selbiger Farbe. Links hatte der Herr des Hauses seinen Platz eingenommen und schaute recht feierlich drein. Neben ihm saß seine Frau.
Sieben Platzdeckchen – stilgerecht in zartgelber Farbe, passend zu den Margeriten in einer bauschigen Vase – beherbergten ebenso viele Kaffeegedecke aus Porzellan.
Fröhliches Gelächter klang durch den Raum. In der Mitte der Tafel lag ein großer Hefezopf mit buntgefärbten Eiern zwischen den dicken Flechten, noch duftend wie frisch aus dem Ofen. Er reichte fast über die ganze Länge des Tischs und war von Rahel - gemeinsam mit den Backfrauen von Cedar Rapids - im Backhaus geflochten und anschließend in dem riesigen Steinbackofen des Ortes gebacken worden.
Es war ein alljährlicher Brauch in der kleinen Stadt von Oklahoma: Morgens um acht Uhr zogen Kinder in Osterhasenkostümen durch die Straßen und sammelten bunte Eier von den Familien, die sie besuchten.
Um elf Uhr brachten sie ihre Beute zum Marktplatz, wo sie anschließend von den Backfrauen in große Hefezöpfe eingebacken wurden. Sie wurden backfrisch verkauft.
Der Erlös erfüllte jedes Jahr einen anderen Spendenzweck. Dieses Jahr war es das Brookhaven Hospital, als Beitrag für eine erweiterte Kinderstation unter der Leitung von Dr. phil. Adeela Basara M. Beard.
Edens "Leibärztin" hatte sich nicht sehr verändert in den vier Jahren, die seit ihrem Kennenlernen der Abels vergangen waren. Sie hatte jedoch in der Zwischenzeit einen kleinen Sprung auf der internen Karriereleiter des psychiatrischen Klinikums von Tulsa gemacht.
Zwei Semester Nachstudium waren dafür vonnöten gewesen. Adeela hatte sie in Indianapolis absolviert, mit anschließendem Praktikum im St. Clare Medical Center unter der Obhut von Professor Mann.
In dieser Zeit hatte sie sich regelmäßig mit Marvin getroffen. Familie Abel kehrte mit Eden nach Cedar Rapids zurück, wo sie im darauffolgenden Jahr eingeschult wurde. Adeela übernahm für die Zeit ihres Studienaufenthalts den gepachteten Bungalow und hielt weiter Kontakt mit ihrem Schützling. Alle sechs Monate war sie bei den Abels für eine Woche zu Gast.
Mr. Squintie wurde gezwungenermaßen verkauft. Adeela hätte es niemals ertragen, ihn auf dem Krankenhausparkplatz in Tulsa bis zu ihrer Rückkehr vor sich hinrosten zu lassen. Eine junge Frau aus dem Hinterland hatte das Auto erworben, und Adeela hatte geahnt: Bei Vanessa A. Vega würde ihr schielender Mini-Cooper in besten Händen sein.
Nachdenklich drehte sie eine schwarze Rose in ihrer Hand und warf einen gerührten Blick zu dem Mann an ihrer Seite. Sanft entwand Marvin sie ihren Fingern und strich ihr damit über die Wange. "Meine schwarze Rose des Orients", flüsterte er zärtlich. "Und meine Frau." Seine Worte waren nur für ihre Ohren bestimmt. Sein intimer Blick ließ sie erröten. Noch immer brachte Marvin sie aus der Fassung. Ob sich das jemals ändern würde? Sie hoffte nicht. Noch nie hatte sich Adeela so lebendig gefühlt.
Ein verlegenes Lächeln legte sich auf ihre Lippen, als sie sechs Augenpaare erwartungsvoll auf sich ruhen sah. Scheinbar hatte Adeela irgendetwas verpasst. Die Gespräche am Tisch waren verstummt. Hilfesuchend wandte sie sich an ihren Mann: "Was starren mich alle so an?"
Eden lachte sie an. "Du warst gerade vertieft. Wir warten auf deine Rede."
"Und du wolltest noch etwas erzählen. Alles Gute zum Hochzeitstag", pflichtete Rahel ihrer Tochter bei.
Adeela nahm ihre schwarzlederne Handtasche von der Rückenlehne ihres Stuhls, stellte sie vor sich auf den Tisch und kramte darin herum.
Nachdem sie gefunden hatte, wonach sie suchte, stellte sie eine Schachfigur neben Marvins Gedeck. Es war der Schwarze König. "Erinnerst du dich? Ich glaube, den Anfangspart unserer Geschichte erzählst besser du."
Marvin nahm die Figur in die Hand. "Ich bin ein guter Schachspieler", wandte er sich an die Tafelgesellschaft. "Ich hatte es von Jerry gelernt. Leider ist er heute nicht an unserer Seite." Sein Blick wurde traurig, das soeben noch liebevoll strahlende Antlitz verschloss sich. "Adeela hat er nie kennengelernt." Er schaute seine Frau wieder an. "Ich glaube aber, er wäre verrückt nach ihr."
Sein altvertrautes freches Grinsen kehrte wieder zurück. "Wie ich." Marvin gab ihr einen innigen Kuss. "Sie hat mich nicht nur beim Schach besiegt", fuhr er anschließend fort.
"Anfangs sah es nicht so aus, als ob Ihr jemals zusammen kommt", warf Gabriel ein. Rahel stupste ihn mahnend in die Seite. "Was denn?", fragte er seine Frau. "Es ist doch wahr!" Ungehalten brummelnd nippte er an seiner Tasse und sah Marvin an: "Pass auf, dass Adeela dich nicht auch so unter den Pantoffel stellt, wie es die Meine versucht." Grinsend fuhr er fort: "Was ihr nicht gelingt."
Eden folgte dem Gespräch der Erwachsenen mit einem erheiterten Lächeln. Ein Sonnenstrahl fiel durchs Fenster, spielte mit ihren Haaren und malte eine goldene Strähne auf Mahagoni. Aus dem niedlichen Engelchen war ein hübscher Teenie mit schulterlangen Locken geworden.
Neben ihr saß ein schwarzhaariger Junge und schaute sie unverwandt an. "Von was reden die?", fragte Khalil in seiner Muttersprache. "Das übliche Geplänkel zwischen meinen Eltern", antwortete Eden. "Was sich neckt, das liebt sich."
Ihr Blick glitt zum Fenster. Ein großer, vogelähnlicher Schatten hatte soeben die Sonne verdunkelt. Edens Lächeln fror ein, und sie erbleichte. "Es ist etwas passiert", flüsterte sie. "Theresa ..." Für den Bruchteil einer Sekunde spiegelte sich das Gesicht einer Frau in der Scheibe.
Im selben Moment klingelte das Handy von Marvin. Er nahm das Gespräch an, erhob sich und verließ den Raum.
~ Theresa ~
Besorgt betrachtete Rahel das abwesend wirkende Gesicht ihrer Tochter. Wieder hatte Eden einen Namen genannt, den niemand kannte. Ihr Blick suchte den von Adeela. Deren Mimik verriet ihr, dass sie mehr darüber wusste. "Eden?", fragte sie und bemühte sich um Gelassenheit. Mittlerweile hatte Rahel begriffen, dass Panik nicht weiter half. Dennoch war sie drauf und dran, sich zu erheben und zu ihr zu eilen, doch eine Geste Gabriels hielt sie davon ab. "Eden kommt klar", flüsterte er in ihr Ohr. "Schau!"
Verstohlen tasteten sich Edens Finger über den Tisch und umklammerten Khalils Hand. "Siehst du es auch?", fragte sie ihn auf Arabisch. Der Junge nickte und strich ihr beruhigend über den Arm. "Endlich kann ich für dich da sein", gab er zur Antwort. "Deine Mutter macht sich jedoch Sorgen."
"Ich weiß", seufzte Eden. "Ich bin gespannt, ob Marvin uns von Theresa erzählt. Ich muss es ihm sagen, wenn er zurück kommt." Khalil fragte nicht weiter nach. Seitdem Marvin ihn und seine Mutter nach Cedar Rapids geholt hatte, ging er mit Eden zur Schule und hatte gelernt, mit ihren Besonderheiten zu leben.
Manchmal bekam er sogar die Chance, sie mit ihr zu teilen. In solchen Momenten wurde ihm klar, welche Schmerzen Eden durchlitten hatte, als er für sie nur ein Geist war. Seine Zeit auf den ältesten Kriegsfeldern der Welt war ihre gemeinsame Vergangenheit.
Wenige Minuten später kehrte Marvin wieder zurück. Er wirkte geschockt. "Du hattest recht", sprach er Eden an. "Es ist etwas passiert. Woher hast du es gewusst?" Sie antwortete ihm nicht direkt. "Sie hat es nicht überlebt, oder?" Ein trauriger Glanz schimmerte in ihren Augen.
Marvin nickte. "Theresa wurde soeben gefunden. Sie lag in der Ruine. Am Grab von Alina." Leise schloss er die Tür, durchquerte den Raum und ging zum Fenster. Ein sonniger Frühlingstag wurde plötzlich von neuen Schatten der Trauer in seinem Herzen verdunkelt. Nun war sie also tot ...
Eden ignorierte das entsetzte Keuchen ihrer Mutter, stand auf und stellte sich neben ihn. "Es ist besser so." Tröstend umarmte sie ihn. "Sie wollte dich umbringen, und Theresa hätte es immer wieder versucht."
"Könnte mir mal irgendjemand erklären, was hier eigentlich vorgeht?", fragte Gabriel barsch. "Wer ist diese Theresa, und was hat sie mit Eden zu tun?"
Marvin setzte sich zurück an den Tisch. "Mit Eden ...", erwiderte er, "nichts. Mit mir ... alles. Sie hätte mich fast getötet!" Adeelas Hand klammerte sich schmerzhaft um seinen Arm. Er spürte es kaum, anders als die Blicke der Abels. In ihren Augen spiegelten sich Fragen über ihr Mädchen, es waren dieselben, die auch sein Herz durchbohrten. Wieviel hatte Eden gewusst? Würden die neuen Visionen ihr schaden, so wie es vor Jahren zwischen ihr und Khalil gewesen war? Zu verantworten hätte es dieses Mal er ...
"Hör' auf, dich selbst zu zerfleischen", vernahm er Adeelas Stimme. Dankbar sah er sie an. "Ich möchte nicht, dass es wieder von vorne beginnt", erwiderte Marvin. "Es war für alle Beteiligten schwer genug, klarzukommen und ... ihr ... zu helfen." Er vermied es, Edens Namen laut auszusprechen. Sie stand noch immer am Fenster und blickte hinauf in die Wolken, es schien, als wäre sie gar nicht da.
Plötzlich kehrte das Leben in den grazilen Körper des Mädchens zurück. Marvin spürte ein Kribbeln in seinen Gedanken und drehte sich zu ihr um. Fasziniert sah er, wie auf der großen Fensterscheibe ein Szenario entstand. Seelenruhig hauchte Eden die Scheibe an und malte Bilder aus seinem Leben. ... Die Flammen jener Nacht wurden lebendig.
~ 2010/2014 ~
Theresa hatte ihn unwissentlich begleitet, als er von Alina Abschied nahm. Am selben Tag hatte er Adeela kennengelernt. Sie war neu in der Stadt und kaufte seinen Toyota. Entgegen seinen üblichen Gepflogenheiten hatte er die Überführung in das neue Zuhause der Abels selbst übernommen. In Marvins Gedächtnis war es "der Tag der Rose", wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit.
Unwillkürlich glitt sein Blick nach draußen, so deutlich hörte er das Trommeln des Regens. Theresas Gesicht spiegelte sich in der Scheibe, klatschnass klebten ihre Haare am Kopf. Im Hintergrund war jedoch Sonnenschein.
Marvin atmete auf: Es war Imagination, nach wie vor saß er in Cedar Rapids bei Tisch und nicht in seinem Wagen.
Die gespannte Atmosphäre im Raum nahm er fast körperlich wahr. Alle warteten darauf, dass er sprach, doch er wusste nicht, was noch zu sagen war. Hilfesuchend umklammerte er seine Schachfigur und warf einen Blick zu der Baccharat, die vergessen neben Adeelas Teller lag.
Eden kam ihm zu Hilfe. "Es wäre gut, wenn wir alle wüssten, wie der Brand zustande kam. Eine Tote brauchst du nicht mehr zu schützen, erst recht nicht eine Frau, die dich vernichten wollte." Selbstbewusst stand sie nun für ihre Gabe ein. Und für die Wahrheit! Von den besorgten Blicken ihrer Eltern ließ sie sich nicht irritieren. Die Reise in andere Welten, die sie nicht betrafen, schmerzte nicht mehr. "Mom, es ist gut", sagte Eden denn auch zu ihrer Mutter. "Marvin braucht meine Hilfe, sonst verfolgt Theresa ihn bis ans Ende der Tage."
Marvin lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und nahm den Faden auf. "Ihr erinnert euch an den Tag, als ich das erste Mal bei euch war?", fragte er und blickte dabei Rahel und Gabriel an. "Als Eden in dieser Klinik war?" Befriedigt registrierte er ihr gemeinschaftlich stummes Nicken. "Dass Adeela nicht die erste Frau in meinem Leben war, das wisst Ihr auch. Theresa war Alinas Mutter."
"Warum hast du uns nie von ihr erzählt?", warf Rahel ein. "Über Alina konntest du sprechen, weshalb nicht über sie?" Erwartungsvoll sah sie ihn an.
Marvin senkte den Blick. "Ich weiß es nicht. Es war zu erbärmlich. Vermutlich auch, weil ich niemanden beunruhigen wollte." In jener ersten Nacht hatte er das Haus in Crawfordsville sehr spät verlassen. Genau genommen war er geflohen: Vor Adeelas Anziehungskraft, vor Alinas Geist, vor seiner Erinnerung, vor seinen Wünschen, für die er noch nicht bereit war. Vier Jahre waren vergangen seit Alinas Tod, Jahre voller Einsamkeit, randvoll mit Arbeit gespickt, seine Art, den Schmerz zu vergessen.
Nomadenjahre, jede Nacht in einem anderen Bett. Jahre ohne Zuhause, weil seines (ehemals auch das von Alina) voller Gespenster war. Marvin hätte Theresa als sein Gewissen ganz gewiss nicht gebraucht, doch sie war da!
"Jedes Jahr um die Zeit hatte sie auch mich auf dem Schirm", ergänzte Adeela. "Sie hat sogar unsere Hochzeit gecrasht." Ihr stellten sich sämtliche Haare zu Berge bei der Erinnerung an den Tag ihres Autounfalls. Die Bremsschläuche waren durchtrennt, und wäre sie nicht so geistesgegenwärtig gewesen und auf ein Feld ausgewichen, hätte Adeela nicht überlebt. In dem Fall hätte Marvin umsonst auf sie gewartet. Somit hatte Theresa ihr Ziel fast erreicht.
"Warum?", fragte Gabriel. Marvin gab keine Antwort. Eden verließ ihren Standort am Fenster und setzte sich zurück an den Tisch. Ihr gemaltes Szenario verblasste bis auf ein paar Flammen, die sich festgebrannt hatten. "Es liegt auf der Hand", schaltete sie sich ins Gespräch. "Marvin gehörte Alina, und Alina war ihre Tochter. Deshalb konnte Theresa nicht ertragen, dass er eine andere nahm."
Bewundernd hing Khalils Blick an ihren Lippen. Er konnte zwar mangels Zusammenhang nicht alles verstehen, was sie von sich gab, doch er fand Eden tough und wünschte sich, er hätte etwas mehr von ihrer Leichtigkeit.
Die ganze Geschichte von Adeela und Marvin interessierte ihn brennend. Für ihn war diese Verbindung nur schwer zu fassen, weil seine kulturelle Erziehung eine andere war. Seine Mutter trug noch immer Schleier und hielt daran fest, obwohl er sie öfter ermutigt hatte, darauf zu verzichten. Wie würde sie reagieren, wenn sie wüsste, wen er begehrte? 'Eden ist noch zu jung', bremste Khalil seinen Gedankengang. Trotzdem hätte er sie gern geküsst ...
Ertappt wandte er sich ab, als er ein wissendes Glitzern in Edens Augen sah. Was hatte das zu bedeuten? Wusste sie gar, was er dachte? Sich wünschte, seit jenem Tag, als er ihr das erste Mal in der realen Welt gegenüber stand? Hätte Khalil sich das jemals zu träumen gewagt?
'Wir haben Zeit', hörte er wispernde Worte in seinen Gedanken. 'Du bist für mich wie ein Bruder, für mehr bin ich noch nicht bereit. Ich habe noch zuviel vor!' Eden malte ein Bild in seinem Kopf. Khalil sah einen großen Platz vor einem Palast, den er nicht kannte. 'Da will ich hin', suggerierte sie ihm. 'Für unseren Frieden. Vielleicht bist du ja dabei.'
"Unsere kleine Kröte wird langsam erwachsen", warf Marvin in Khalils Versunkenheit und in den Raum. Eden stand auf und haute ihn auf den Kopf. "Du hast es noch nicht gelernt, oder? Ich mag es nicht, wenn du mich so nennst. Ganz abgesehen davon bist du uns noch was schuldig." Herausfordernd blitzten ihre Augen ihn an.
"Was ist nur aus meinem kleinen Mädchen geworden?", seufzte Rahel halblaut vor sich hin. Es war nicht geplant gewesen, dass es jemand hörte. Als Glucke gelten wollte sie nicht, das hatte Adeela ihr mehr als einmal bewusst gemacht. Fast schuldbewusst entzog sie sich der Atmosphäre, murmelte etwas von "ich muss in die Küche" und ging.
~ Marvin ~
Als die Tür klappte, nutzte Marvin die Gunst der Stunde und machte sich aus dem Staub. Er musste allein sein, um die Hiobsbotschaft von Theresas Tod zu verdauen. Von ihr sprechen wollte er nicht, aber es war genau das, was die Anderen wollten: Antworten auf ihre Fragen.
Als er den Raum querte, um auf Rahels Spuren in den Garten zu fliehen, spürte er Adeelas besorgten Blick in seinem Nacken, doch sie hielt ihn nicht auf. Er wusste, dass sie ihn verstehen und ihm den Rücken freihalten würde, wenn man sie fragte. Auf seine Frau konnte er sich verlassen, wahrscheinlich mehr als auf sich selbst. Dennoch hatte er die Geschehnisse in jener Nacht selbst ihr nicht erzählt.
Marvin steckte beide Hände in die Hosentaschen und schlenderte den Pfad zum nächstgelegenen Wäldchen entlang. Links und rechts davon waren ordentliche Beete angelegt. Die Sonne schien, es könnte ein herrlicher Tag sein. Blumen blühten, Insekten summten, ein leiser Wind zerzauste singend die Kronen der Bäume.
Für ihn als ehemaliges Großstadtkind war es eine andere Welt, die er erst in vollem Umfang kennengelernt hatte durch seine Frau. Nach Jerrys Tod war er Adeela gefolgt und hatte es nie bereut. Ihr gemeinsames Zuhause in Cedar Village war dem der Abels sehr ähnlich, nur einen kleinen Tick größer. Den Wald hatte er schon immer geliebt ...
Er querte eine Lichtung und setzte sich auf einen Baumstumpf. Alinas Antlitz drängte sich vor sein Inneres Auge. Auch mit ihr zusammen hatte er ein Haus inmitten eines märchenhaften Dickichts gehabt. Nach ihrem Tod hatte er es nicht mehr ertragen, allein darin zu leben. Manchmal schlief er sogar im Geschäft.
Das Haus in Indianapolis gab es nicht mehr. Es war Opfer der Flammen geworden, ein Brand, von Theresa gelegt. Es war nur Zufall, dass er noch lebte.
Noch einmal sah Marvin die Bilder vor sich von jener Nacht: Er hatte es nicht übers Herz gebracht, das Haus zu betreten und schlief im Auto. Zwischen Bäumen bei dem von ihm errichteten Waldmausoleum stand es versteckt. Er hatte nur noch einmal Alinas Nähe gesucht, entschlossen, das Haus zu verkaufen ...
Vage hatte er sogar im Kopf gehabt, es Theresa anzubieten, damit sie in der Nähe der Gedenkstätte war ...
Aufgewacht war er von Brandgeruch und dem Geheule von Rauchmeldern. Neben ihm brannten Bäume, Theresa stand vor seinem Wagen. Sie hatte einen Benzinkanister in ihrer Hand, die Augen weit aufgerissen, die Haare zerzaust, die Kleidung angekokelt ... Sie schrie ...
Ihr Antlitz leuchtete bleich in die Nacht. Er hatte gedacht, sie wäre verletzt, doch das war es nicht. Theresa hatte ihm durch die Scheibe all ihren Zorn auf ihn und Adeela entgegengeschrien, das hatte er begriffen, auch ohne dass er ihre Worte verstand. Woher hatte sie gewusst, wo er gewesen war? ... Sie war ihm gefolgt, wie er später erfuhr.
~ Khalil und Eden ~
Als Marvin eine Stunde später noch immer nicht zurückgekehrt war, wurde Adeela unruhig. Eden hatte in der Zwischenzeit alle darüber aufgeklärt, welche Nachricht ihn aus dem Haus getrieben hatte.
Somit wussten auch die Abels und die Shermans darüber Bescheid, was mit Theresa geschehen war. Adeela erfuhr erst jetzt von ihrem Brandanschlag.
Gemeinsam mit Samira und Rahel räumte sie die üppige Tafel ab, Gabriel und Khalil hatten sich in den Salon verzogen und hörten Radio. Ein Weltempfänger war das erste Zugeständnis der Abels an eine Außenwelt. Der Anschaffung eines Fernsehers oder sonstigen Medien wie zum Beispiel das Web hatten sich jedoch beide bisher erfolgreich entzogen, trotz Druck der Schule, auf die Eden ging.
Zwei Jahre lebte Khalil mittlerweile in Cedar Rapids, in Edens direkter Nachbarschaft. Zwei weitere Jahre - im Vorfeld - hatten Marvin und Adeela gebraucht, ihn und seine Mutter zu finden. Bis dahin hatte Khalil in einem Kloster gelebt und dort die amerikanische Sprache gelernt. Trotzdem war es noch immer schwierig für ihn, mit anderen Menschen zu reden. Dieser Umstand hatte ihn und Eden noch mehr zusammen geschweißt, zumal sie seiner Sprache mächtig war. Adeela hätte sie unterrichtet, wie sie ihm erklärte. Verblüffenderweise hatte sie noch hinzugefügt: "Und etwas lernte ich auch von dir."
Kurz darauf erfuhr Khalil von ihr und Adeela, wie sie ihn "sah". In diesem Moment hatte er geahnt: Ohne Eden hätte er nicht überlebt. Und er war verliebt! Er täte alles für sie ...
"Habt Ihr euch gut eingelebt?", fragte Gabriel den Jungen, während Retromusik im Radio lief. Khalil nickte. "Meine Mutter hat noch Probleme." Gedankenverloren betrachtete er den gemütlichen Raum und lehnte sich etwas unbeholfen im Sessel zurück. Er fühlte sich unwohl in der Gesellschaft des soviel älteren Mannes, der Edens Vater war. So, als würde er wie eine seltene Spezies seziert ...
Sein eigener Vater hatte ihn nur gequält und aufs Schlachtfeld geschickt. Kurz bevor er starb, sogar fast in den Tod. Eden hatte Khalil ein Zeichen gesandt ...
Er dachte daran zurück, wie er Abdullah Sherman unter den Trümmern fand. Noch einmal spürte er die Erleichterung, dass es vorbei war. Seine Alpträume waren es noch lange nicht, doch immerhin war er in Sicherheit.
Fast erleichtert sprang Khalil auf, als Eden ihn rief. "Wir müssen Marvin suchen", fügte sie noch hinzu und schaute zur Tür herein. "Kommst du mit?"
"Ist er immer noch nicht da?", fragte Gabriel und stand ebenfalls auf. Er wollte den beiden folgen, doch Eden hielt ihn davon ab. "Lass nur, Daddy, Khalil und ich finden ihn schon. Wir gehen allein." Sie nahm ihren Freund bei der Hand und zog ihn aus dem Raum. "Ich weiß, wo er ist", flüsterte Eden ihm zu. "Ich möchte dir noch so vieles zeigen." Ungeduldig quetschte sie sich an Adeela und ihrer Mutter vorbei, die im Begriff waren, das Haus zu verlassen. "Ihr macht euch zu viele Sorgen", sagte sie. "Wir holen ihn. Marvin ist nichts passiert, er wollte nur ein bisschen allein sein." Burschikos zog Eden an Khalils Hand. "Komm!"
Zielstrebig führte sie ihn auf denselben Weg, den auch Marvin genommen hatte. Erst, als sie die ersten Bäume erreichten, verlangsamte sie ihren Schritt.
Ein Kaninchen hoppelte vor ihren Füßen entlang, woraufhin Khalil zusammenschrak. Eden drückte ihm beruhigend die Hand. "Ich glaube, du hast schon andere Monster gesehen, oder nicht?"
Er entzog sich ihrem Griff. "Hast du wirklich Käfer gekotzt?", fragte er sie. Adeela hatte es ihm und seiner Mutter erzählt, wie die schlimmste Phase in Edens Leben damals begonnen hatte, bis ins kleinste Detail.
Vor Allem das beschäftigte ihn schon sehr lang, doch erst jetzt traute er sich, sie damit zu konfrontieren. Khalil war nur selten mit ihr allein, und er hatte sehr wohl bemerkt, dass ihre Eltern sie mit Argusaugen bewachten. Er hatte allerdings auch schon miterlebt, dass sie eine kleine Rebellin war und sich nichts gefallen ließ.
"Ich weiß das nicht mehr", antwortete Eden. "Ich war ja noch klein. Aber ich kannte dein Gesicht schon, bevor ich dich das erste Mal sah." Sie blieb stehen und drehte sich zu ihm um. "Und du? Wirst du jemals vergessen, was du erlebt hast? Denkst du noch an deinen Vater?"
Khalil spürte, wie sich eine unsichtbare Faust um sein Herz ballte. Ihm wurde schlecht. Als er es nicht mehr aushielt, ließ er sich fallen und schloss seine Augen. Einer Antwort war er nicht mächtig: Plötzlich war er wieder in seinem Verlies. Grashalme, die seine Nase kitzelten, wurden zu Schnurrhaaren von Ratten, das Summen von Bienen zu Geheule von Kampfjets.
Sein keuchender Atem mutierte zu donnernden Schritten, die über seinem Kopf zu sein schienen. Er krümmte sich und erbrach sich vor Edens Füße.
Sie wich zurück und beugte sich auf seiner anderen Körperseite zu ihm hinunter. Tröstend legte Eden ihm die Hand auf den Kopf. "Es tut mir leid, ich hätte es wissen müssen, dass meine Frage dich umhaut." Sie streichelte Khalil über die Wange. "Du bist hier sicher."
Er setzte sich auf und war ihrem Gesicht plötzlich ganz nah. Besorgt sah Eden ihn an. "Du hast grüne Augen", stellte er fest. "Fast wie eine Katze. "
"Ach ja?", erwiderte Eden leicht spöttisch. "Ich hätte das jetzt gar nicht gewusst."
Sie wollte zurückweichen, doch Khalil griff nach ihrer Hand und zog sie näher an sich heran. Schwer atmend legte er seine Stirn gegen ihre. "Ich weiß nicht, was mich mehr umhaut: Meine Erinnerungen oder nun du."
"Khalil!" Ein vorwurfsvoller Ruf schreckte ihn auf. "Was treibt Ihr beiden denn da?" Es war Marvins Stimme, der soeben aus dem Wald zurück kam.
Eden wandte sich ihm zu. "Wir wollten dich suchen und haben uns unterhalten. Was denkst denn du?"
Marvin näherte sich ihnen und wäre fast in Khalils Drecksbrühe hineingetreten. Ein leiser Aufschrei des Jungen warnte ihn vor. "Ihr seid mir ja zwei Früchtchen. Was war denn da los in meiner Abwesenheit? Habt Ihr gesoffen?" Er deutete vor sich hin auf den Boden. "Sowas kenne ich nur aus meinen Sturm - und Drangzeiten." Er trat drei Schritte zurück, riss ein paar Büschel Gras aus und deckte es zu. "Nicht, dass das jemand sieht." Obwohl Marvin nicht gerade zum Lachen war, musste er grinsen.
Eden schüttelte entrüstet den Kopf. "Ich finde das nicht komisch, wenn es jemandem schlecht geht. Natürlich haben wir nicht gesoffen", schalt sie und setzte das letzte Wort mit ihren Fingern in symbolische Anführungszeichen. "Es ist ja nicht jeder wie du."
Khalil erhob sich und klopfte sich sauber. "Deine Frau ist bestimmt auch gleich hier", lenkte er ab. "Sie macht sich Sorgen." Beschämt fragte er: "Hast du mir ein Taschentuch? Mir bekam die Sonne nicht gut."
Khalil war froh, dass Marvin gekommen war und ihn vor einer gewaltigen Dummheit bewahrte. Beinahe hätte er seinem Wunsch nachgegeben und Eden geküsst.
Marvin griff in seine Jackentasche und reichte Khalil ein sauberes Tuch. Dankbar ergriff er es und wischte sich damit übers Gesicht. "Es tut mir leid, was dir passiert ist", sagte er beiläufig. "Auch wenn ich Theresa nicht kannte."
"Wie ist sie gestorben?", fragte Eden. "Ich sah sie nur auf dem Boden liegen."
"Überdosis, so wie man mir sagte", erwiderte Marvin. "Es kam jede Hilfe zu spät." Er zögerte und sah sie prüfend an. "Und du? Geht es dir gut?" Er war zwiegespalten. Es war das erste Mal, dass er in Direktkontakt mit Edens Visionen kam. Er fragte sich, warum er plötzlich ihr Zielobjekt war. Hatte das was zu bedeuten?
Sie legte die Hand auf seinen Arm und schmiegte sich an seine Schulter. "Es ist alles in Ordnung", erwiderte Eden weich. "Ich habe mich daran gewöhnt." Durch Adeelas Begleitung, aber auch dank Professor Mann und dessen Team hatte sie gelernt, mit ihrer seltsamen Gabe zu leben und sie sogar zu kanalisieren. Auch ihre Musik half ihr dabei. Nach wie vor hatte sie einen Traum, doch den behielt Eden vorerst für sich. Mit Khalil hätte sie ihn gerne geteilt ...
Marvin drückte sie kurz. "Dann ist ja gut." Er wandte sich in Richtung Haus. Adeela lief ihm entgegen. "Du warst so lange weg", rief sie schon von Weitem. Atemlos kam sie bei ihm an und fiel ihm um den Hals. "Bist du okay?"
Er gab ihr einen flüchtigen Kuss auf den Mund und nickte. "Ich musste das nur verdauen." Er verschlang seine Finger mit ihren und führte sie von Khalil und Eden weg. Hand in Hand schlenderten sie den Weg zurück, wo ihnen Rahel und Samira entgegen kamen. "Wir haben uns Sorgen gemacht", begrüßte ihn Rahel vorwurfsvoll.
Khalils Mutter hielt sich zurück. Samira Sherman beherrschte die Landessprache noch nicht so gut. Nur mit Hilfe von Khalil und Adeela war sie imstande gewesen, sich einigermaßen in die Dorfgemeinschaft einzufügen. Ihr Blick glitt suchend den Pfad entlang. Wo war ihr Sohn?
Als sie zwischen Sträuchern und Bäumen Khalil und Eden in fröhlichem Spiel miteinander entdeckte, raffte sie ihre langen Röcke und eilte auf die beiden zu. "Die Ziegen müssen gemolken werden", gab sie Order an Khalil. "Wir müssen nach Hause."
Samira besann sich auf ihre Manieren. "Möge die Sonne deine Augen liebkosen", sprach sie, knöpfte ihren Schleier beiseite und küsste Eden drei Mal auf ihre Stirn. Mit einem zärtlichen Lächeln nahm das Mädchen die Hände der älteren Frau, knickste und erwiderte das Ritual mit einer ähnlichen Floskel. "Deine Schönheit ist unvergleichlich", fügte sie noch hinzu. "Möge sie für alle Welt sichtbar sein." Aus den Augenwinkeln bemerkte Eden ein listiges Funkeln in Khalils Augen. 'Was heckt er aus?', fragte sie sich.
Sicherheitshalber entfernte sie sich und suchte sich ein Versteck. In dem Moment, als sie sich in ein Gebüsch warf, flitzte Khalil an Samira vorbei und riss ihr den Schleier weg. Mit Gezeter im Rücken rannte er damit zwischen die Bäume, die derart Gefoppte im Schlepptau.
Kichernd verschränkte Eden ihre Beine zum Schneidersitz und beobachtete das Fangespiel von Mutter und Sohn. Samira versuchte vergeblich, Khalil seine Beute wieder abzujagen. Das glänzende Stück Stoff wehte hinter ihm her wie ein Banner.
Er rannte noch ein paar Schritte weiter und hüllte sich darin ein. "Eden, komm schon, mach mit!", rief er ihr zu. Schwungvoll sprang sie auf und gesellte sich zu ihrem Freund. Er griff nach ihrer Hand und zog sie weiter.
Beim Rennen verhedderte sich Khalil immer wieder in dem dunklen Satinschleier, den er sich um die Hüfte geschlungen hatte wie einen Piratengürtel.
"Was hast du vor?", fragte Eden keuchend während ihrer hastigen Flucht. Sie warf einen Blick zurück und sah, wie Samira gelassen zwei unterschiedlich lange Röcke auszog. Ihr nun entblößtes Gesicht war das einer sehr schönen Frau mit schwarzen Locken und graziler Figur. Samira war groß, hatte ebenmäßige Züge und mandelförmige Augen.
"Meine Mutter braucht ein bisschen Zerstreuung", erwiderte Khalil. "Zuhause versinkt sie in Arbeit, grübelt und grübelt und geht mir auf die Nerven. Dafür ist sie zu jung." Er dirigierte Eden hinter eine alte, knorrige Tanne und vergewisserte sich, dass sie außer Sichtweite waren. Mit dem Zeigefinger auf seinen Lippen bat er um Schweigen und tastete suchend den Doppelstamm nach Vertiefungen ab. Khalil wies mit den Augen nach oben. "Da gehen wir rauf", flüsterte er. "Ich will wissen, ob sie uns findet."
Ohne Zögern zog Eden Schuhe und Strümpfe aus und krempelte ihre Hosen hoch. Anerkennend wanderte Khalils Blick über ihre schlanke Gestalt. "Du gehst voraus", schlug er vor. "Wenn du fällst, kann ich dich beschützen."
Eden kraxelte den Stamm hoch wie eine Katze, setzte sich auf den erstbesten dickeren Ast und feixte triumphierend. "Du denkst wohl, Mädchen können nicht klettern? Ich bin wahrscheinlich schon auf mehr Bäumen gewesen als du. Wo bleibst du denn?"
Sie ließ ihre Beine herunter baumeln und sah dabei zu, wie Khalil ihr folgte. Ein paar Minuten später saß er neben ihr, den erbeuteten Schleier in seiner Hand. "Darf ich mal was versuchen?", fragte er und winkte mit dem dunklen Tuch. "Ich möchte sehen, wie du damit aussiehst."
Unter seinem Gezappel begann der Ast, zu schaukeln. Eden wehrte sein Gefummel an ihr herum ab. "Hör auf damit, wir fallen runter!", schimpfte sie. "Und eines sag ich dir gleich: Verschleiern würde ich mich für einen Mann nie." Sie stupste ihn an. "Komm, gehen wir noch ein bisschen weiter nach oben. Hier sehen wir ja gar nicht, was deine Mutter macht." Sie wies zwei Stockwerke höher.
Zu seiner Überraschung entdeckte Khalil dort so etwas wie eine Höhle. "Da ist ein Baumhaus", stellte er staunend fest. Vorsichtig erhob er sich und balancierte auf seinem aktuellen Standort herum. Der Ast wippte und knackte verdächtig. "Wenn du so weiter machst, liegen wir wirklich gleich unten", warnte ihn Eden. Er beeilte sich, klammerte sich mit einem Arm an den Stamm und reichte ihr seine Hand. Eden wehrte sie ab, robbte nun auch ein Stückchen weiter nach vorn und scheuchte ihren Freund weiter. "Du musst zuerst, sonst kann ich nicht aufstehen", wies sie ihn an. "Das Baumhaus ist übrigens meins."
Ein langgezogener Ruf seiner Mutter erinnerte Khalil daran, weshalb sie hier oben waren. Einer nach dem Anderen erklommen sie die nächste Etage. Bäuchlings robbten sie an eine Stelle, wo sie bessere Sicht darauf hatten, was unten geschah.
Eden steckte ihre Nase als Erste zwischen den Zweigen hervor und kicherte gnomenhaft. "Deine Mutter hat auch noch Pumphosen an. Wie kann man sich nur hinter so viel Kleidern verstecken? Noch dazu ist es warm."
"Es ist einfach Brauch in dem Dorf, aus dem sie und ich stammen", verteidigte Khalil Samira. "Als Mädchen in deinem Alter wurde sie mit meinem Vater verkuppelt. Sie wurde auch nicht lange gefragt, ob sie das wollte."
"Und ich dachte schon, meine Eltern seien zu streng. Das sollte mein Vater mal mit mir versuchen. Mir vorzuschreiben, mit wem ich zusammen sein darf ..."
Während sie sprach, hangelte sich Eden bis hinauf in die mittlere Krone. Der Stamm gabelte sich weitläufig. Zwischen den beiden Hälften hatte sie sich ein Baumhaus gebaut, wovon ihre Eltern nichts wussten. Sie winkte Khalil zu sich und deutete auf die eckige Öffnung. "Es ist nicht gerade groß, aber wenn wir uns quetschen, passen wir beide rein." Mit drei Klimmzügen schwang sie sich auf die davorliegende Plattform, stellte sich auf und testete durch leichtes Wippen, ob die Planken noch trugen. Erst, als sie zufrieden war, reichte sie dem Jungen die Hand und half ihm hinauf. "Du bist ganz schön stark", sprach Khalil bewundernd. "Hast du das wirklich allein gebaut?"
"Marvin hat mir dabei geholfen", gab Eden zu. "Trotzdem hat er mich noch nie verraten. Adeela und er sind meine Freunde. Sie sind einfach super."
Khalil schaute nach unten und verkniff sich ein Lachen. Seine Mutter tappte gerade barfuß um ihren Baum herum. Er fragte sich, ob sie nur so tat, als ob sie nichts wüsste. Leise zog er Samiras Schleier aus seiner Hosentasche, faltete ihn auseinander und ließ ihn schweben.
Eine Windböe bauschte den Satin auf und trug ihn hinfort. Das Tuch bildete die Form eines Vogels, befreite sich aus seinem Blattwerkgefängnis und wirbelte im Frühlingswind über Samiras Kopf dahin. Sie schaute nach oben und versuchte, es zu erhaschen, was ihr nicht gelang. "Khalil? Ich weiß, wo Ihr seid. Komm runter und halte mich nicht länger zum Narren!", rief sie auf arabisch.
Zur Antwort bekam sie fröhliches Gelächter der beiden Kinder. Dann raschelte es in den Zweigen, und Eden sprang als Erste vor ihre Füße. "Sei ihm nicht böse", bat sie. "Er will auch nur, dass du ein bisschen glücklich bist."
Zärtlich lächelte Samira das Mädchen an. "Das weiß ich. Du brauchst keine Angst um ihn zu haben. Ich liebe ihn viel zu sehr, um ihn zu bestrafen." Sie ergriff Edens Hände. "Wenn ich in deine Augen schaue, wünsche ich mir, dass er dich niemals verliert. Du hast ihm und mir soviel Gutes getan. Nur durch dich hat er wieder zu spielen und lachen gelernt. Das möchte ich niemals missen." Samira streichelte sanft ihre Wange. "Khalil und ich: Wir beide mögen dich sehr."
Mittlerweile purzelte auch er aus den Zweigen und strahlte. "Ich bin froh, dass du Eden magst", sagte er zu seiner Mutter, griff sie bei der Hand und führte sie etwas abseits. "Ich werde sie heiraten", flüsterte er ihr ins Ohr. "Was sagst du dazu?"
Samira lachte. "Was sagt Eden dazu?"
"Sie weiß es noch nicht", erwiderte Khalil. "Vielleicht kannst du mir ja helfen?"
"Deine Freundin lebt in einer völlig anderen Welt. In unserer Kultur werden Ehen von den Eltern gestiftet, du weißt ja, wie ich mit deinem Vater zusammen kam. Aber hier? Ich fürchte, da habe ich keinen Einfluss darauf."
"Vielleicht kannst du mir helfen, dass sie sich in mich verliebt?" Vorsichtig spähte Khalil um sich, besorgt, dass Eden das Gespräch mitbekam. Hastig flüsterte er: "Reden wir zuhause darüber." Angelegentlich räusperte er sich und kehrte zu ihr zurück. "Ich muss langsam heim", gab er Bescheid. "Die Pflicht ruft."
Samira trat hinzu, sammelte ihre abgelegte Kleidung und Schuhe ein und zog sie wieder an. Lächelnd sah Eden zu. "Das solltest du öfter tun", riet sie ihr. "Dich einfach aus deinem Kokon befreien."
Khalils Mutter errötete. "Es ist ungewohnt, dass eine Frau ihre Schönheit in deinem Land zeigen darf. Aber ich gebe mein Bestes, mich daran zu gewöhnen."
"Wie alt warst du, als du geheiratet hast?", fragte Eden neugierig. Samira sah sie nachdenklich an. "Nicht viel älter als du. Meine Eltern haben mir den Mann ausgesucht." Verstohlen blickte sie zu ihrem Sohn hinüber. "Aber wir müssen jetzt los. Ich möchte alles, was die letzten Jahre geschah, nur noch vergessen. Khalils Vater ist tot, und es ist gut so. Durch seinen Fanatismus habe ich auch meine beiden älteren Söhne verloren. Ich bemühe mich, ihn nicht zu hassen. Aber an ihn denken will ich nicht mehr."
Einträchtig gingen Samira und Eden nebeneinander her. Als sie Khalil passierten, griff Eden nach seiner Hand. Er ließ es sich gern gefallen, legte den Arm um Samiras Schultern und schlenderte mit ihnen gemeinsam in Richtung Haus. "Wir sollten uns noch verabschieden", sagte er zu seiner Mutter. "Heute ist viel passiert bei den Abels." Er blickte Eden an. "Bestimmt würden es deine Eltern nicht erlauben, dass du noch mit zu uns kommst. Ich möchte noch so vieles wissen. Von dir, deiner Familie, von Marvin und Adeela. Die zwei sind ein Traumpaar."
Eden lächelte weich. "Das sind sie. Aber einfach hatten sie es nicht. Ich bin froh, dass sie einander haben."
"Manchmal habe ich das Gefühl, dass du Marvin nicht magst", erwiderte Khalil. "Du schimpfst oft mit ihm."
"Das sieht nur so aus." Eden pflückte einen Strauß Marghariten am Wegesrand. "Für meine Mutter", erklärte sie ihren beiden Begleitern. "Vielleicht macht sie sich dann weniger Sorgen um mich."
Als sie um die Ecke bogen, stand Rahel wie auf Kommando vor ihnen. Resolut stemmte sie beide Arme in die Hüfte und starrte Eden vorwurfsvoll an. "Ich dachte, Khalil und du wollten nur Marvin suchen? Er hat Probleme, und Ihr treibt euch rum. So haben wir uns das Osterfest nicht vorgestellt", schalt sie. Ihr Blick glitt zu Samira. "Und Sie unterstützen sie noch?"
"Ich glaube nicht, dass sie versteht, warum Sie sich aufregen, Mrs. Abel", schritt Khalil ein und umschloss seine Mutter ein bisschen fester. "Wir haben geredet, und Eden hat uns den Wald gezeigt. Das ist alles. Wir haben nichts angestellt." Er ließ Edens Hand los. "Wir müssen jetzt sowieso gehen und uns um unsere Tiere kümmern."
"Sehen wir uns morgen?", fragte Rahel. "Ihr seid herzlich eingeladen. Sorry, dass ich so streng bin. Eden ist unser einziges Kind, und sie hat viel durchgemacht." Sie legte um Verzeihung bittend die Hand auf Khalils Schultern. "Aber das weißt du ja selbst. Sie war ein Teil von dir."
Er nickte. "Ich weiß, und es tut mir leid, was Ihr erlebt habt. Ich kann es selbst oft kaum glauben."
Eden streckte ihrer Mutter die Blumen entgegen und umschlang ihren Hals. "Wir haben es gut, leben in unserer Welt und in Freiheit. Dafür sollten wir dankbar sein. Khalil jedoch ging durch die Hölle. Sorgen wir dafür, dass er vergisst!"
An jenem denkwürdigen Ostersonntag im Jahr 2014 verlief rein gar nichts nach Plan. Zu diesem Schluss kamen sowohl Gastgeber als auch die geladenen Gäste am Abend, als die letzten sich trennten.
Der unsichtbare Gast an der Tafel der Abels - Theresa - begleitete die Verbliebenen bis hinein in die Nacht wie die dreizehnte Fee. Nur Eden schien gegen ihren Schrecken immun zu sein. Sie wusste ja auch nicht, was bei dem Brand alles zerstört worden war, das wusste nur Marvin.
Die Narben auf seinem Rücken würden ihn bis ans Ende seines Lebens begleiten. Deren Abstammung hatte er Adeela bisher erfolgreich verschwiegen, doch nun kam auch das Letzte ans Licht.
Brandmale, die Marvin mittlerweile fast als Stigmata ansah. Sie waren die Symbole eines gescheiterten Rettungsversuchs der Artefakte, die Alina ihm hinterließ. Eines davon war ihm unersetzlich und ein Teil von Edens Lebenstraum!
~ Samira und Khalil ~
Es war das erste größere Fest, das sie im Hause der Abels erlebten. Rahels Idee war es gewesen, die Shermans an den gedeckten Tisch der Familie zu laden, doch dann waren sie die ersten, die gingen. In Anbetracht der Umstände fiel es kaum auf.
Zwei Stimmungsbilder prägten den restlichen Sonntag. Da war Khalil, der Eden noch nie so nahe gekommen war wie an jenem Nachmittag, als er gemeinsam mit ihr auf die Suche ging. Sein Herz war so leicht wie schon lange nicht mehr, als er sie gemeinsam mit seiner Mutter verließ. Dementsprechend flott ging ihm die Arbeit mit den Tieren von der Hand, es schien ihm sogar, als gäben seine fünf Ziegen mehr Milch als jemals zuvor. Dankbar nahm er jede davon in den Arm und stellte sich vor, es sei Eden.
Auch Samira war voller Heiterkeit. Während er molk, pflegte sie ihre Beete, beobachtete ihn aus den Augenwinkeln und freute sich über das Licht der Liebe in seinem Gesicht. Er hatte sich gewünscht, dass sie Hosen trug, ihren Hijab hatte Khalil mit den Worten "Du kriegst ihn nicht wieder" versteckt.
Sie ließ ihn gewähren und tröstete sich selbst damit, dass in ihrem eigenen Garten sie ja doch niemand sah. Nach getaner Arbeit kochte Samira ihm sein Lieblingsgericht, deckte den Tisch und machte Tee. Einträchtig verbrachten sie den Rest des Abends bei Kerzenschein und spielten Karten. Khalil erzählte von seinem Tag, schwärmte von Eden und kam noch einmal auf seine Bitte zurück. "Was denkst du, kann ein Mädchen mich lieben? Hast du meinen Vater geliebt? Wie ist es, zu lieben?"
Nachdenklich sah Samira ihn an. "Ich kenne die Liebe zwischen Mutter und Kind, das ist die Liebe zu dir. Habe ich deinen Vater geliebt? Das weiß ich nicht, aber auf jeden Fall hatte ich mich an ihn gewöhnt. Ich habe ihn aber auch nicht vermisst, als er ging und dich mitnahm. Ich vermisste deine Brüder und dich. Nein, ich glaube, ich liebte ihn nicht."
Khalil dachte an die Mädchen in seiner Schule. Etliche hatten schon versucht, sich ihm anzunähern. Schmachtende Blicke während des Unterrichts waren ihm nicht ganz fremd, Pärchen gab es ebenfalls. Die meisten waren in seinem Alter, schlenderten Hand in Hand über den Campus und drückten sich gemeinsam in dunklen Ecken herum. Was sie da taten, hatte ihn bis jetzt nicht interessiert. Nun jedoch stand er vor der Frage, ob das schon Liebe war. In dem Fall war diese vermeintliche Himmelsmacht fast schon vulgär. Mädchen geizten nicht mit ihren Reizen.
Er kam zu dem Schluss, dass Eden anders war. Ob das an ihrem Alter lag oder an ihrem Charakter, konnte er nur vermuten, doch es machte seine Freundin besonders. "Die oder keine, Mutter!", fasste er seine Wünsche in Worte. "Und wenn ich alt dabei werde, um sie zu kriegen."
Samira lächelte zärtlich. "Ja, mein Sohn, ich glaube, du bist verliebt. Ich gönne dir dieses Mädchen." Sie legte ihre Karten weg und nahm seine Hand. "Glaub jedoch nicht, dass es einfach wird. Eden ist fast noch ein Kind."
Khalil schaukelte mit seinem Stuhl, verschränkte die Arme und schaute sie an. "Was rätst du mir also?"
Samira stand auf, räumte den Tisch ab und lehnte sich gegen ein altes Küchenbüfett. Ihr Blick ruhte auf ihrem Sohn, während sie überlegte. "Sei ihr ein Freund", erwiderte sie nach längerem Schweigen. "Du wirst Gefühle kennenlernen, die nichts mehr mit Freundschaft zu tun haben werden. Du wirst begehren." Sie ging zu ihm und nahm ihren Sohn in den Arm. "Gib diesem Begehren nicht nach, sonst wirst du Eden verlieren. Warte, bis sie bereit ist."
Khalil hörte mit Schaukeln auf und sah zu ihr hoch. "Mir wird heiß, wenn sie in meiner Nähe ist. Ist das schon Begehren?"
"Das kann ich dir nicht genau sagen, ich bin kein Mann. Aber vielleicht fängt es tatsächlich so an", bestätigte sie.
"Ich wollte sie küssen", gestand er. "Das war für mich neu." Er wurde rot. "Bestimmt hätte Eden mir eine geklatscht!" Khalil erinnerte sich nur dunkel an die Küsse seiner Mutter, als er noch klein war.
Seit sein Vater ihn mit in den Krieg nahm, hatte kein anderer Mensch mehr in zärtlicher Absicht seinen Körper berührt. Er hatte nur Schläge und Grausamkeiten kennengelernt. Seit seiner Rückkehr ins normale Leben hatte sich bis auf Samiras mütterliche Umarmungen nicht viel geändert, es fiel ihm noch immer schwer, sie überhaupt zuzulassen. Adeela hatte sich dahinter geklemmt, dass er regelmäßig in Therapie ging. Seitdem wurde es besser, und allmählich fühlte Khalil sich wieder normal.
Manchmal hatte er jedoch Angst vor sich selbst, dass er so würde wie all die Männer, die sein bisheriges Leben begleitet hatten. Khalil hatte auch schon gesehen, wie Soldaten im Krieg mit Frauen umgingen, und das stieß ihn ab.
~ Eden ~
Ein paar Häuser weiter war die Stimmung des restlichen Tages gedrückt. Gabriel tigerte aufgewühlt durchs ganze Haus und war kaum zu beruhigen. Es war lange her, dass Eden querschoss zum Einen und zum Anderen kam er nicht damit klar, dass es wieder losging. Nichtsdestotrotz war es an ihm, Stärke zu zeigen und die Angst seiner Frau zu zerstreuen.
Er sah es ihr an, als sie mit Eden zur Tür hereinkam. Rahels Gesicht war kreidebleich, Schweiß stand ihr auf der Stirn und Eden musste sie stützen. "Was ist geschehen?", fragte er vom Ende des kleinen Korridors aus und bekam keine Antwort. Stattdessen verschwanden die beiden die Treppe hinauf. Ein lautes Türenknallen zeigte ihm an, dass mindestens eine von ihnen ziemlich entrüstet war. Er vermutete mal, es war seine Frau.
Marvin und seine verehrte Gemahlin schossen geeint und erschrocken aus dem Salon, starrten nach oben und Adeela anschließend ihn vorwurfsvoll an. "Was habe ich damit zu tun?", schnauzte Gabriel. "Spar dir deine Blicke."
"Nein, nicht die Harfe!", erklang ein Schrei aus Edens Zimmer. Zu dritt rannten sie die Treppe hinauf und kamen gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Rahel tobte. Das Zimmer sah aus wie ein Schlachtfeld, ein Fenster war zerbrochen. Gabriel stürzte durch den Raum und fiel seiner Frau in den Arm, als sie ganz offenbar im Begriff war, das Instrument in den Garten zu werfen. Eden saß schluchzend in einer Ecke und bot einen Anblick, der ihm ins Herz schnitt und böse Erinnerungen in den Anwesenden weckte.
Gabriel umklammerte mit beiden Armen Rahels sich sträubenden Leib und blickte wild und hilflos um sich. Es fiel ihm schwer, nicht zu schreien. Marvin kam ihm zu Hilfe und nahm Rahel die Harfe weg.
Fast augenblicklich verstummte Edens stoßweises Schluchzen. "Ich weiß nicht, was sie hat", piepste sie mit einer ganz zarten Kleinmädchenstimme, die ganz und gar nicht nach Eden klang. "Ganz plötzlich begann Mommy, mit mir zu schimpfen und wie ein Holzfäller zu fluchen."
Adeela fiel auf, dass aus "Mom" wieder "Mommy" geworden war, was ihr zu denken gab. Während Marvin und Gabriel damit beschäftigt waren, die gruselige Furie in Rahel zu zähmen, setzte sie sich neben Eden und nahm sie in den Arm. "Kannst du mir sagen, was genau deine Mom so geärgert hat?" Das Mädchen kuschelte sich an ihre Brust und zuckte mit Schmollmund die Achseln. "Ich weiß es nicht sicher, aber ich glaube, es ist wegen Khalil."
Für Rahel schien dieser Name ein Stichwort gewesen zu sein. Mit erstaunlicher Kraft befreite sie sich aus der Umklammerung der beiden Männer, stemmte die Hände in die Hüfte und glotzte Marvin erbost ins Gesicht. "Dein Schützling macht sich an unsere Tochter heran", klagte sie den Sünder vorwurfsvoll an. "Du hast ihn hergebracht."
Eden schmiegte sich noch enger an und hätte sich wohl gern irgendwohin verkrochen, wo sie niemand fand. Fahrig strichen ihre Hände ihrem menschlichen Kuschelkissen über den Leib, fast schien es, als ob sie etwas suchte. Plötzlich krähte eine freche Kinderstimme durch den Raum und ließ alle vergessen, was vorher war: "Adeela ist schwanger." Eden giggelte haltlos. "Ein Babieeee ..."
Schlagartig änderte sich die Atmosphäre. Fassungslos plumpste Marvin auf Edens Bett und fuhr sich durchs Haar. Seine Musketiermähne löste sich auf, ein Haargummi schoss durch den Raum und landete fast auf Rahels Nase.
In Gabriels Magen bildete sich ein Klumpen, und er wurde rot. 'Nein, du darfst jetzt nicht lachen', sagte er sich. Weil er sich nicht anders zu helfen wusste, befahl er seiner Tochter: "Du räumst jetzt erst mal dein Zimmer auf!"
Eden sprang mit geballten Fäusten auf und sah aus, als wollte sie sich mit ihm prügeln. "Ha! Das mache ich ganz bestimmt nicht. Mom hat den Saustall gemacht, sie räumt ihn auch auf!" Sie schnappte sich ihre Harfe, schleppte sie durch den Raum und warf sie sich auf die Schulter. Rebellisch starrte sie ihre Mutter an. "Nur damit du es weißt: Ich geh’ jetzt zu Khalil! Das lasse ich mir nicht verbieten."
Wie eine Rachegöttin stand sie in der Tür. Ihre Smaragdaugen blitzten, ihre langen Locken fielen hinab bis zur Taille und glänzten wie rotes Gold. Bekümmert dachte Gabriel: 'Oh liebe Frau, bitte kapier es: Eden wird groß.'
Fürsorglich nahm er seine Frau in den Arm. Rahel stand kurz vor der Explosion, war knallrot im Gesicht und ihre ansonsten gepflegte graubraune Duttfrisur stand vom Kopf ab, als stünde sie unter Strom.
Eden erlaubte sich prompt die nächste Frechheit: "Du siehst aus wie eine Hexe", drehte sich auf den Hacken um und ward gesehen. Dass Marvin und Adeela in ihrem Schatten das Haus verließen, bekam er nur noch am Rande mit.
~ Rahel ~
Zuerst hatte sie sich nichts dabei gedacht, als Khalil und Eden Hand in Hand wie ein altes Ehepaar auf sie zuspaziert kamen. Schließlich hatte er ja auch seine Mutter im Arm, was zudem ihr Wohlwollen fand.
Ihr Nervenkostüm war ganz schön angespannt. Rahel hatte geackert wie schon lange nicht mehr, und das Gastgebertum war sie nicht gewohnt. Dann nahm auch noch der Tod an der Tafel Platz, Eden meditierte und visionierte für Marvin, und hatte sie es nicht da schon bemerkt? Allerdings musste sie zugeben: Zu dem Zeitpunkt ging es von Eden aus.
Beim Abschied bemerkte sie Khalils hungrigen Blick, den er Eden zuwarf, und der Groschen fiel: Der Junge hatte mehr als ein brüderlich-freundschaftliches Auge (von was sie bisher ausging) auf ihr kleines Mädchen geworfen. Mit letzter Kraft hatte Rahel ihre Contenance zusammen gekratzt, hörte sich die salbungsvollen Worte ihrer doch ach so netten Tochter an und nahm den Jungen sogar noch in den Arm. Kaum hatte er mit seiner Mutter das Grundstück verlassen, wurde ihr von Eden eröffnet: "Khalil wird irgendwann mal mein fester Freund."
Diese paar Worte zerstörten binnen Sekunden ihr ganzes Weltbild. Rahel begriff, dass Eden kein Baby mehr war und obendrein stärker als von ihr vermutet. Ihr bisheriges Gluckendasein war just für den Arsch, und nicht ihr Kind war die Schwache, sondern eigentlich sie. ... Das war ihr zuviel!
Eine Schneise der Zerstörung skizzierte ihren Zusammenbruch, angefangen auf dem gepflasterten Zugang zum Haus. Erbarmungswürdig braungerandete Margaritenblätter säumten den Weg, Abstammung: Edens Wiesenblumenstrauß als Liebesbeweis, der Rahel auch nicht hatte beruhigen können.
Dass sie zum Jähzorn neigte, war für sie neu. Dass ihre Tochter sie beinahe tragen hatte müssen, desgleichen. Rahel wusste nicht einmal mehr, ob sie grob zu Eden gewesen war, sie kapierte nur noch das, was sie sah. War das wirklich sie gewesen?
Entsetzt musterte sie das Chaos in Edens Zimmer, kaum spürte sie den stützenden Arm ihres Gemahls auf ihrer Schulter. Roboterhaft stelzte sie über Papierfetzen, Glasscherben und sämtlichen Klimbim, der ihr unter die Griffel gekommen war. Dumpf klangen irgendwelche Worte an ihr Gehör, Worte, die sie nicht verstand.
Rahel stützte sich auf das Bein eines Tischs, der umgedreht auf dem Boden lag, richtete sich auf und schaute blicklos zur Tür. Da war doch gerade noch ihre Tochter gestanden? Hatte Eden sie tatsächlich eine Hexe genannt? Sie erinnerte sich daran, dass sie nicht ganz allein war und flüsterte abgehackt: "Wo ... ist ... sie?"
"Sie hat gesagt, sie geht zu Khalil", erwiderte Gabriel, ließ sie los und fing an, aufzuräumen. "Wie wäre es, wenn du mir hilfst? Wenn sie zurück kommt, hat sie nicht einmal ein Bett. Und wo ist Rahel?"
Sein jämmerlicher Anflug von Galgenhumor veranlasste sie nur zu einem kraftlosen Schlucken, doch immerhin fiel ihr wieder ein, dass sie verheiratet war.
Rahel schaute ihn an und klaubte einen Haargummi aus seinem Haar. Flüchtig blitzte ein schwarzes Etwas vor ihrem Inneren Auge auf, das auf sie zugeflogen gekommen war und von dem sie gedacht hatte, es sei eine Spinne. Ihr Blick glitt zum Bett, das übersät war mit Kleidung.
"Na komm schon", sagte Gabriel milde und drehte den Tisch um. "Damit fangen wir an." Er holte einen Schwung Klamotten von dort und warf sie lässig auf einen Stuhl. "Lass jucken, Wäsche zusammenlegen ist Frauenarbeit."
Als die Nacht anbrach, war Eden noch nicht zurückgekehrt. Die Gemüter hatten sich mittlerweile beruhigt, ihr Zimmer war bis auf das zerbrochene Fenster fast wieder Normalzustand. Notdürftig hatte Gabriel das Loch mit durchsichtiger Folie geflickt und von außen mit Latten verstärkt, wobei er fast von der Leiter gefallen wäre. Schuldbewusst schleppte Rahel etliche zerstörte Corpus delicti beiseite und entsorgte sie in den Container.
Um Mitternacht glänzte das schreckliche Kind noch immer mit Abwesenheit, Rahel und Gabriel telefonierten panisch in der Gegend herum und wurden nicht fündig. Bei den Shermans war sie offenbar nicht. Marvin und Adeela waren ebenso ratlos, versprachen jedoch, so bald wie möglich nach Cedar Rapids zurückzukommen und ihnen beim Suchen zu helfen. Auch Khalil war überfragt.
Zu allem Überfluss zog ein Gewitter auf. Sorgenvoll standen Rahel und er an unterschiedlichen Schauplätzen am Fenster und starrten hinaus in die Nacht. Über den Bergen zuckten die ersten Blitze, Bäume tanzten im heulenden Sturm, der Regen ließ auf sich warten. Zwischen Wipfeln und grauschwarzen Wolkengebirgen blitzte hin und wieder der Vollmond durch und stritt sich mit der Finsternis.
~ Khalil ~
"Wo bist du?", fragte er laut in den Wind. Als das Telefon klingelte, hatte sich ein ungutes Gefühl seiner bemächtigt, und es riss ihn aus dem Schlaf.
Kurz darauf stürzte Samira in sein Zimmer und überbrachte ihm die Hiobsbotschaft, dass Eden verschwunden sei. Seine Mutter war so aufgeregt, dass sie radebrechte und er sie kaum verstand. Khalil fuhr hoch, sprang aus dem Bett und forderte sie auf, ihren Sermon zu wiederholen, am besten so, dass er sie verstünde.
Während er sich anzog, erzählte sie ihm, was sie erfahren hatte. Viel war es nicht, weil Gabriel, der ihr Gesprächspartner gewesen war, kein Arabisch sprach.
Die Frage "Ist Eden bei euch?" hatte Samira dennoch verstanden und sie mit bestem Gewissen verneint, weil es die Wahrheit war. Sie bat Khalil, sich mit den Abels in Verbindung zu setzen, um mehr zu erfahren. Als er hörte, dass Eden zu ihm hatte wollen, überkam ihn die Angst. Er war felsenfest davon überzeugt, dass sie sich von einem gefassten Entschluss von nichts und niemandem abbringen ließ. Weshalb war sie nicht bei ihnen angekommen?
Er wandte sich nicht vom Fenster ab. "Ich muss sie suchen. Vielleicht ist sie im Wald." Khalil hoffte, dass er ihr Versteck, das er erst heute kennengelernt hatte, noch einmal finden würde. Ihr Baumhaus war der einzige Ort, den er sich vorstellen konnte. Sah er jedoch nach da draußen, betete er insgeheim, dass er sich irrte.
Ein Blitz nach dem Anderen schoss durch die Nacht, in einer solchen Geschwindigkeit, dass die darauffolgenden Donner ineinander verklangen.
"21, 22, 23 ..." zählte er an. Das Gewitter war bereits ganz in der Nähe, vermutlich sogar schon vor Ort. Der Sturm war mittlerweile so stark, dass die Bäume vor seinem Fenster sich fast bis auf den Boden bogen. Brüllend rüttelte der Wind an den dicken Bohlen der Veranda am Haus, und ein Teil des Geländers flog durch die Luft.
Samira fasste ihn an der Schulter. "Du gehst da nicht raus." Khalil drehte sich zu ihr um. "Ich war schon größeren Gefahren ausgesetzt als das bisschen Gewitter", erwiderte er. "Ich war Soldat, und sie zu suchen ist für mich ein Klacks." Sanft streifte er ihre Hand von sich ab. "Ich gehorche dir gern, aber nicht, wenn es um Eden geht."
"Nimm mich mit", forderte Samira, was er verneinte. Khalil ging zu seinem Schrank, holte einen Parka heraus und zog ihn an. Seine derben Militärstiefel - ein Überbleibsel - kamen ihm gerade recht, etwas Besseres hatte er nicht. Es musste genügen.
Etwas später riss der Sturm Samira fast die offene Tür aus der Hand. Äste und Blätter fegten hindurch und füllten das kleine Quadrat von Flur mit Wald fast bis zu den Waden. Schnell schlug Samira sie wieder zu. "Bitte bleib da", flehte sie Khalil noch einmal an.
Ungerührt pflügte er sich durch den soeben entstandenen Laubhaufen, öffnete die schwere Haustür nur einen Spaltbreit und schlüpfte hindurch. "Ich möchte, dass du sämtliche Fenster und Läden schließt, während ich weg bin", befahl er ihr. "Bleib drin und schalte das Radio an. Es kann sein, dass heute nacht noch einiges passiert, und das Haus sollte noch stehen, wenn ich zurück bin."
Mit vollem Körpereinsatz stemmte er sich gegen die Böen an, drückte sich an der Hauswand entlang und arbeitete sich ein paar Meter vor. Mit trockenem Klicken ging eine Laterne an. Erleichtert stellte er fest, dass der Strom noch funktionierte.
Khalil hebelte die Wellblechtür des Geräteschuppens auf ihrem Grundstück auf, betrat das Halbdunkel und machte sich auf die Suche nach seinem Überlebensgepäck.
Wenig später hatte er seinen Rucksack gepackt, eine große Taschenlampe gefunden und fühlte sich einigermaßen gewappnet. In seinem Parka steckte ein Elektroschocker und eine Waffenattrappe. Man konnte nie wissen!
Der Wind riss ihm immer wieder die Kapuze vom Kopf. Ein raues Etwas streifte seine Wange und fiel zu Boden. Als sein Fuß dagegen stieß, rollte ein rundes Gebilde aus Ästen und Blättern davon. Voller Trauer identifizierte Khalil es im Schein seiner Taschenlampe als leeren Kogel, hob ihn auf und warf ihn in eine Tonne.
Für einen Moment war er abgelenkt, blieb stehen und lauschte. Laubrascheln zeigte an, dass sich etwas in seiner Nähe befand. Ein Grauhörnchen verschwand auf einem Baum. Er sandte dem Tier einen Gruß hinterher und wünschte sich, dass es überlebte.
Entschlossen straffte er sich, begann zu laufen und kämpfte sich durch den Sturm. Die Straße, die zum Nachbarhaus führte, war wie leergefegt. Blätter, Zweige und Blüten wehten über das Pflaster, Äste fielen von Bäumen, er musste achtsam sein.
Donner auf Donner krachte ohrenbetäubend an seine Ohren, begleitet von Blitzen und Windgeheul. Khalil blickte hinauf zu den Wäldern, sah Feuerschein. Eine eiskalte Faust klammerte sich um sein Herz. Endlich setzte der Regen ein!
~ Pan ~
Eine Viertelstunde später goss es in Strömen. Khalil zog in Erwägung, zuerst zu den Abels zu gehen, um sich detailliert zu informieren und ihnen zu sagen, dass er bei einer eventuellen Suche dabei sei.
Als er an den Gartenzaun kam, stand ein Polizeiwagen auf ihrem Grundstück, direkt neben dem schwarzen Porsche von Marvin. Das Haus war hell erleuchtet, der Hof selbst leer und stockdunkel. Er würde es auf eigene Faust versuchen, wahrscheinlich wäre er fehl am Platz.
Um nicht gesehen zu werden, ließ er die Gartentür außer acht, sprang ein paar Schritte weiter vorn über den Zaun und schlitterte vor bis zu dem Weg, den er mit Eden gegangen war. Fast wäre er auf dem klitschnassen Rasen auf die Nase gefallen und hätte ein Schlammbad genommen, sein Rucksack hing ihm im Gesicht.
Selbstironisch grinsend fing Khalil sich ab, schleuderte ihn wieder nach hinten auf seinen Rücken, richtete sich auf und suchte seine verlorene Taschenlampe. Als er sie fand, nützte sie ihm auch nicht mehr viel, denn sie war hin. Fluchend warf er sie weg und überlegte, ob er noch einmal zurück gehen sollte, um Ersatz zu besorgen.
Glockengeläute aus seiner Brusttasche erinnerte ihn an sein Handy. Hatte das nicht auch Taschenlampenfunktion? Marvin hatte es ihm erst letzte Woche gekauft, sehr vertraut war er damit nicht. Khalil zog es heraus und nahm das Gespräch an. "Gut, dass du anrufst", kam er seinem Mäzen zuvor. "Ich habe gerade an dich gedacht."
"Bist du wieder daheim?", fragte Marvin. Khalil verneinte. "Ich bin nicht weit weg von dir und brauche Licht", erwiderte er. "Bringst du mir eine Taschenlampe?"
"Woher weißt du, wo ich bin?"
"Ich habe dein Auto stehen gesehen. Die Polizei ist bei euch, da wollte ich nicht stören. Kannst du orten, wo ich gerade bin? Ich möchte helfen, Eden zu suchen." Khalil stellte sich unter einen Baum. "Ich könnte auch trockene Kleidung brauchen, ich bin pitschnass."
Als ein Blitz den Himmel zerriss, sah er etwas am Boden glitzern. Er ging darauf zu, hob es auf und begutachtete das gefundene Sujet. Es war ein Plektrum, und er wusste sofort: Eden war tatsächlich hier gewesen.
Aufgeregt gab er die Information weiter. "Ich habe Feuer in den Bergen gesehen, ist da ein Waldbrand?"
"Hör zu", erwiderte Marvin. "Der Marshal hat mitgekriegt, dass du schon unterwegs bist. Deine Mutter hat es Adeela erzählt, und er hat mitgehört. Du sollst nichts auf eigene Faust unternehmen. Sie stellen eine Suchmannschaft zusammen. Geh nach Hause, bevor dir noch etwas passiert."
Motorengebrumm aus der Ferne bestätigte Marvin. Es mussten etliche Helfer unterwegs sein. Plötzlich war das ansonsten verschlafene Dorf voller Leben. Unter Donnergrollen mischte sich flappendes Rotorengeräusch zweier Rettungshubschrauber über den Bergen.
Schließich erklangen Sirenen der Feuerwehr, die ebenfalls dorthin unterwegs zu sein schienen. So wie es aussah, tobte dort wirklich ein Brand.
Eden würde den Schock ihres Lebens bekommen, wenn sie irgendwo untergeschlupft wäre und eine Horde Menschen auf sie zukommen würde, malte Khalil sich aus. Das sagte er Marvin: "Eden war auf dem Weg zu mir. Ich werde bestimmt nicht zuhause herumsitzen und warten, dass Ihr sie findet. Ganz abgesehen davon: Wenn sie jemand aufspüren kann, dann bin das ich. Sie wird fühlen, wenn ich in ihrer Nähe bin. Ich kenne auch ihr Versteck."
Er solle sich endlich aus Edens Leben raushalten, keifte Rahel im Hintergrund. Als Khalil es hörte, packte ihn die Wut. "Sag ihr einen Gruß, sie selbst hat Eden wesentlich mehr geschadet als ich. Besser noch, gib sie mir, dann sage ich es ihr selbst. Oder ... ich komme vorbei."
"Du machst hier jetzt keinen Aufriss", ermahnte ihn Marvin. "Sonst kannst du vergessen, bei mir in der Firma anzufangen, wenn du mit der Schule fertig bist."
"Das ist Erpressung. Was ist, hilfst du mir jetzt oder nicht? Du weißt ja auch, wo das Baumhaus ist. Du hast es mit Eden gebaut, hat sie gesagt. Bestimmt ist sie dort." Während des Gesprächs war Khalil weiter in den Wald gelaufen. Als der Mond sich gegen zwei riesige Gewitterwolken durchsetzen konnte, fiel ihm eine wirr aufgeschichtete Ansammlung Zweige vor einem Baum ins Auge. Der Haufen sah nach Menschenhand aus. Kurzfristig war er abgelenkt und bekam nicht mit, was Marvin sagte. "Moment, ich habe gerade etwas entdeckt", antwortete Khalil aufs Geratewohl. "Ich lege jetzt auf, aber bitte komm und bring mir ein paar Sachen mit. Ich bin am Waldweg, wo du uns getroffen hast. Ich brauche eine Taschenlampe, Seile, ein gutes Taschenmesser und regenfeste Klamotten."
Marvin wollte erneut widersprechen, doch Khalil fiel ihm noch einmal ins Wort. "Wenn Eden und ich dir wichtig sind, hilfst du mir. Schleich dich unter einem Vorwand davon. Das, was wir brauchen, findest du im Geräteschuppen bei mir zuhause. Ich warte zehn Minuten auf dich." Er legte auf.
***
Obwohl der Regen ziemlich kalt war, trat Khalil der Schweiß auf die Stirn. Was würde er finden? Ausgerechnet jetzt schob sich der Mond hinter Wolken zurück, und er war wieder im Dunkeln.
Alles, was noch ein bisschen Licht gab, war das Display seines Handies, doch das war nicht genug. Er hoffte nur, dass Marvin kommen würde ...
Offenbar entfernte sich das Gewitter zurück in die Berge. Es blitzte nicht mehr so häufig, und beim Auszählen kam er bis 35. Der Sturm tobte ihm nach wie vor um die Ohren und trieb ihn in den Wahnsinn. Etwas außer diesem Getöse zu hören, war fast unmöglich. Eigentlich waren seine Sinne geschult, doch selten hatte er sich so mutlos gefühlt, nicht einmal Auge in Auge mit dem Feind auf dem Feld.
Zögernd tastete sich Khalil bis zu der vermuteten Stelle des gesichteten Haufens vor, krampfte seine Faust um sein Handy und malte sich aus, was darunter läge. Minutenlang stand er im strömenden Regen und starrte nur vor sich hin, den Blick zu Boden gerichtet. Kaum wagte Khalil es, sich zu bewegen und haderte mit sich selbst, weil er mal wieder in Panik verfiel und sich von Angst lähmen ließ.
Endlich streifte er die Furcht von sich ab und machte sich mit seinem Handy vertraut. Wenige Sekunden später hatte er Licht, und jemand rief seinen Namen.
Marvin war da! Erleichtert machte sich Khalil bemerkbar und schrie zurück: "Ich bin hier!"
Sein großer Freund kam auf ihn zu, zuversichtlich grinsend, mit zwei Rollen Seil über der Schulter und - Khalil konnte sein Glück kaum fassen - mit einem Nachtsichtgerät auf seiner Stirn. Der Neuankömmling warf Seile und einen großen Rucksack zu Boden, bückte sich und kramte darin herum. "Hier, damit du dein eigenes hast", sagte Marvin und reichte Khalil das zweite Gerät.
Es folgte eine trockene Jeans, ein Sweatshirt und ein dunkler Regenschutzanzug, der den ganzen Körper verhüllte. Hastig raffte Khalil die Kleidung an sich, verschwand damit unter einen Baum und zog sich um. Die Taschen seines Parkas entleerte er und steckte alles, was er bei sich gehabt hatte, in seinen Rucksack.
Verpackt wie eine Mumie kehrte er zu Marvin zurück. "Du warst schneller, als ich gedacht habe". Khalil zeigte, was er gefunden hatte.
"Das ist kein Sturmschaden", erklärte er seine Befürchtung. "Ich hoffe, dass da niemand drunter liegt."
"Schauen wir nach!" Marvin zögerte nicht lang und fing mit Abtragen an. Khalil half ihm dabei, und zehn Minuten später war es geschafft. Der Baum, vor dem der Haufen gelegen hatte, war innen hohl. Die Öffnung war groß, doch nicht groß genug für einen Menschen. Khalil leuchtete die Höhle zusätzlich mit seinem Handy aus und stieß einen überraschten Ruf aus: "Da ist Edens Harfe!"
Marvin trat hinzu, rieb sich nachdenklich das Kinn und begutachtete die schwarze Tasche. "Hmm, das ist typisch für sie. Der Wald ist ihr Spielplatz. Vermutlich wollte sie ihr Instrument in Sicherheit bringen."
"Warum und vor wem?" Khalil war konsterniert. Er konnte sich zwar durchaus vorstellen, dass Eden Gründe gehabt hatte, von daheim abzuhauen, doch was genau geschehen war, wusste er nicht. Sie legten noch einmal Hand an und schütteten das Loch wieder zu, während Marvin ihm von Rahels Tobsuchtsanfall erzählte.
"Wegen mir?" Aufgebracht schüttelte Khalil den Kopf. "Was denkt die Frau sich, was ich mit Eden mache?"
"In deiner Kultur würde man wahrscheinlich sagen, sie hat Angst, dass du sie entehrst", erwiderte Marvin. "Gabriel ist ein bisschen weltoffener, doch Rahel war in ihrer Kindheit fast genauso behütet wie Eden. Deshalb reagiert sie manchmal über. Nimms ihr nicht krumm."
Von weiter weg erklang vielstimmiges Hundegebell. "Wir müssen weiter", mahnte Khalil. "Bald wimmelt es hier von Polizisten. Darauf habe ich keine Lust." Er packte den Rucksack auf seinen Rücken, richtete das Nachtsichtgerät und steckte sein Handy weg. Danach warf er eine Rolle Seil über seine Schulter, die zweite reichte er Marvin.
"Fürs Baumhaus", erklärte Khalil auf dessen fragenden Blick hin. "Falls es glitschig wird." Gemeinsam verschwanden sie im Gestrüpp.
"Du hast an alles gedacht", lobte Marvin, während sie nebeneinander her kletterten. Khalil grinste. "Ich habe sogar Steigbügel dabei, doch ganz perfekt lief es beim Packen nicht. Im Kampf sah mein Überlebenspaket ein bisschen anders aus." Er deutete nach hinten auf seinen Trekking-Rucksack. "Da konnte ich nicht mal schnell telefonieren und sagen, bring mir dies und das mit."
"Hattet Ihr denn keine Handies?", fragte Marvin. Khalil verneinte. "Nur die Scharführer und natürlich die Generäle, wie man bei euch sagen würde. Der kleine Soldat war auf sich selbst angewiesen und darauf, dass ihn niemand verriet. Deshalb war unsere Kommunikation untereinander ziemlich eingeschränkt."
Sie hatten das Baumhaus erreicht. Marvin schaute nach oben und lauschte. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass Eden hier ist. Ich denke, sie weiß, dass es auf Bäumen bei Gewitter gefährlich ist."
"Ich gehe lieber auf Nummer Sicher." Khalil nahm sein Seil, knüpfte es zu einem Lasso und zielte auf einen Ast in mittlerer Höhe. Nach dem dritten Schwinger war er zufrieden, ruckte am Seil und machte sich zum Klettern bereit. "Ich bin gleich wieder da."
Marvin blieb unten stehen und hielt ihm das andere Ende des Seils. Während er wartete, trug der Wind ihm ein Geräusch zu, das anders war. Angestrengt versuchte er es zu orten und identifizierte es als Melodie. "Khalil", rief er nach oben. "Beeil dich, ich glaube, wir haben ein Zeichen."
Kurz darauf sprang Khalil wieder vor seine Füße. "Du hattest recht, da oben ist sie nicht." Er rollte sein Seil wieder zusammen und lauschte ebenfalls. "Das klingt nach einer Flöte. Das kann aber nicht Eden sein, oder doch?" Marvin zuckte die Achseln. "Ich weiß nicht alles. Sie ist musikalisch, und ihr Instrument ist die Harfe. Die bekam sie von mir, als es ihr schlecht ging, weil es ihr half. Es kann genauso gut sein, dass sie auch Flöte kann." Lächelnd bemerkte er Khalils hoffnungsvollen Blick. "Wir finden sie. Eden ist zornig und versteckt sich vor ihren Eltern. Das ist alles." Beruhigend tätschelte er dem Jungen die Schulter. "Inshallah", erwiderte Khalil. "Gehen wir!" Einträchtig folgten sie der Melodie.
~ Eden ~
Im strahlenden Sonnenschein hatte Eden am späten Nachmittag das Haus verlassen, von Gewitter noch keine Spur. Nach Rahels erschreckendem Auftritt war sie die Treppe regelrecht heruntergestürzt, wütend, traurig, verwirrt. So hatte sie ihre Mutter noch nie erlebt. Warum wollte sie ihre Harfe zerstören?
Noch weniger begriff Eden die Behauptungen, die sie aufgestellt hatte: Khalil wolle nur mit ihr schlafen, und dass sie zu jung für ihn sei. "Oder für einen anderen Mann", hatte Rahel gnädigerweise hinzugefügt, als sie mit ihr darüber sprach. Das Gespräch fand erst in ganz vernünftigem Tonfall zwischen Garten und Haus statt, doch nach einer flapsigen Antwort ging das Chaos los. Für ein paar Minuten hatte Eden schon befürchtet, dass ihre Mutter zusammen bräche, und sie wäre schuld gewesen.
Die Furie in ihrem Zimmer würde sie nur allzugerne vergessen, doch das konnte sie nicht. Rahel hatte so viel ihrer einstigen Kleinmädchenträume zerstört, Dinge, die Eden von ihren Eltern geschenkt bekommen hatte, als Khalil noch nicht bei ihr war. Dinge, von denen sie gedacht hatte, dass sie auch ihrer Mutter wichtig seien, weil Eden so lange krank gewesen war und lange nicht mit ihnen spielte. Hatte ihre Mutter sie wirklich einmal geliebt, wie sie so oft behauptet hatte? Momentan glaubte sie eher nicht daran, denn weshalb wollte sie Eden verletzen?
Mit Fragen in ihrem Herzen verließ das Mädchen das Haus, schlug die Tür hinter sich zu und wollte zu Khalil, weil sie hoffte, dass er ihr Antworten gab.
Ihre Harfe befand sich in einer Umhängetasche auf ihrer Schulter in Sicherheit, sie würde sie bei ihm verstecken. Im Haus ihrer Eltern ließe sie ihren wichtigsten Schatz jedenfalls nicht. 'Nie wieder', nahm sie sich vor.
Heiß brannte in Eden die Wut. Soeben war sie im Begriff, den elterlichen Garten zu verlassen und hatte den Fuß schon fast auf die Straße gesetzt, als sie etwas so Schönes erlebte, dass sie alles andere vergaß.
Es begann mit einem durchdringenden Pfiff. Sie drehte sich um und dachte, ihr Vater hätte gepfiffen, doch der Garten war leer. Eden ging wieder zurück, als der Pfiff sich wiederholte. Er kam aus Richtung des Weges, der in den Wald hinein führte.
Als Nächstes dachte sie, dass Khalil sie foppen wolle und sich irgendwo verstecken würde. Sie pfiff zurück und bekam Antwort. Ein Ziesel kletterte mitten im Garten der Abels aus einem Erdloch, stellte sich auf seinen Bau und machte Männchen. Entzückt blieb sie stehen und staunte, als ein Pfeifkonzert an ihre Ohren klang. ... Es waren viele!
Auf den Bäumen saßen bunte Vögel und fielen in das Konzert mit ein. Plötzlich war der Garten voller wundersamer Geräusche, und die kleinen Kobolde rannten vor Eden her. Sie hielt ihre Harfe ganz fest und rannte mit.
Die Ziesel führten sie direkt in den Wald, unterhielten sich mit ihr immer wieder durch Pfiffe und trieben sie weiter. Irgendwann verließen sie ihre Kräfte, es dämmerte und sie wusste nicht mehr, wo sie war. Die Tiere verschwanden im Unterholz, die Harfe drückte schwer auf ihrer Schulter, sie brauchte Pause.
Eden entdeckte einen hohlen Baum, stellte ihre Instrumententasche in die Baumhöhle, suchte Zweige zusammen und baute sie zu. Danach ließ sie sich in einen Laubhaufen fallen. Sie wollte nur etwas rasten, doch sie schlief ein.
***
Als sie wieder erwachte, waberten silberne Nebel um sie herum. Es wehte ein ganz leiser Wind, die Bäume sangen ein Wiegenlied. Eden setzte sich auf und zwickte sich in den Arm, um zu prüfen, ob sie noch schlief.
Sie fühlte Trauer in ihrer Seele, was jedoch nicht ihre eigene war. Ein fremdes Wesen drang in ihre Gedanken ein. Noch waren die Bilder verschwommen, doch Eden spürte ganz deutlich die Not, in dem es sich befand.
Sie wurde ganz ruhig, drosselte ihren Atem und meditierte im Schneidersitz. 'Wo bist du?', sandte sie ihre stumme Frage an das Universum.
Ein gischtendes Gleißen zeigte ihr einen reißenden Fluss. Darauf tanzte ein Kanu mit dem Kiel nach oben. Ein zerbrochener Speer hing an einem Ast, der in die Stromschnellen ragte. Mit rasendem Herzen versuchte Eden, mehr zu erspähen, doch die Vision verschwamm.
Der Wind wurde stärker und trug ihr ein kindliches Schluchzen zu. Sie versuchte, sich zu beruhigen und sich mehr zu konzentrieren. Wenn sie in Panik verfiele, würde ihr das nicht nützen, doch sie ahnte, dass dieses Kind irgendwo in ihrer Nähe war. "Zeig dich!", rief Eden. "Ich kann dir nur helfen, wenn ich weiß, wo du bist." Noch einmal versetzte sie sich selbst in Trance, was ihr diesmal besser gelang. Sie erblickte eine hohe Klippe an einem See. Vor einem Tipi saß ein Junge mit einer Panflöte in seiner Hand und starrte ins Wasser. Er war etwas jünger als sie, hatte bronzefarbene Haut und schwarze Locken. Das Kind trug ein rotes Stirnband. Mehr konnte Eden nicht sehen.
Sie grub ihre Harfe noch einmal aus, setzte sich wieder hin und machte sich spielbereit. Vielleicht konnte der Junge sie fühlen und gäbe ihr Antwort. Ein Regentropfen auf ihrer Haut zeigte ihr an, dass sie sich beeilen musste. Der Wald war dicht, sie sah den Himmel nicht. Dennoch spürte sie, dass Sturm aufzog. Hoffentlich wäre sie schnell genug ...
***
Eden wusste nicht, wieviel Zeit vergangen war, als sie sich auf den Weg machte und das Kind in der realen Welt zu suchen begann. Ganz dunkel war es noch nicht, das Glück war ihr hold. In einem Dialog zwischen ihrer Harfe und seiner Flöte erfuhr sie die Geschichte des kleinen Indianerjungen. Sie schnitt ihr ins Herz.
Ihr Instrument befand sich wieder in Sicherheit, es würde sie nur behindern. Sie hatte dem Jungen einen Namen gegeben und nannte ihn "Pan". Er hatte seine Eltern verloren. Sie waren am Morgen zum Angeln gegangen. Seitdem saß Pan vor seinem Zelt, blickte verzweifelt auf den See unter sich und wartete auf ihre Rückkehr.
Ihre Gabe würde ihr dabei helfen, sich zu orientieren, deshalb machte ihr die aufkommende Nacht keine Angst. Eden hatte den Jungen gebeten, sie mit seiner Flöte zu führen. Der Wind trug ihr die Musik zu. Somit begab sie sich auf seine Spuren. Vereinzelt kamen Präriehunde, Murmeltiere oder Ziesel vorbei und schauten sie an, als ob sie auf Eden warten würden. Sie folgte ihrem Herzen, den Tieren und der Melodie. Mühelos kletterte sie über Felsen, durchquerte Gehölz und Dornengestrüpp und hielt Ausschau nach dem See, an dem dieser Junge saß.
Schließlich kam sie zu einer Schlucht, durch die Wasser schoss. Eden erkannte den Fluss aus ihrer Vision, suchte den besten Zugang und rutschte hinab.
Zwischen den reißenden Fluten und den Felswänden war nicht viel Platz, die Sorge um Pan trieb sie jedoch voran. Als Eden das gekenterte Kanu fand, fing es zu stürmen an!
~ Marvin und Khalil ~
Es war weit nach Mitternacht, als das Gewitter nachließ. Obwohl es Khalil lieber gewesen wäre, mit Marvin allein weiterzusuchen, war ein Zusammenstoß mit einer Suchmannschaft unvermeidbar. Insgesamt hatten sich drei Trupps a zehn Mann in den Wäldern verteilt, mit je zwei Hundeführern an ihrer Seite. Die meisten Teilnehmer stammten aus Cedar Rapids und opferten für diese schreckliche Nacht ihren Schlaf. Eine Hundertschaft an Rettungskräften war in den höheren Regionen damit beschäftigt, einen Waldbrand zu löschen.
Von Eden oder sonstigen Opfern im Tal war weit und breit keine Spur. Wie es der Teufel wollte, waren auch Gabriel und Rahel mit dem Trupp unterwegs, von dem die beiden aufgegabelt geworden waren. Adeela bewachte das Haus. Weder er noch sie hatten geduldet, dass eine schwangere Frau sie begleitet. Marvin war darüber froh.
Khalil verschwendete keine Zeit mit einem Streit. Wut auf Rahel und Gründe dafür hätte er genügend gehabt, doch er wich ihnen aus und konzentrierte sich auf die Suche nach seiner Freundin.
Seit sie auf den Suchtrupp gestoßen waren, hörten sie die Töne der Flöte nicht mehr. Frustriert teilte Khalil seinen Kummer mit Marvin, dem es genauso ging. An einem Hohlweg setzten die beiden sich wieder ab und verschwanden im Dickicht.
Erleichtert atmete Khalil auf, als sie das enervierende Hundegebell hinter sich ließen. "Ich habe ein Plektrum von Eden gefunden", teilte er Marvin mit und zeigte es ihm. "Das lag aber noch vor dem Baum, in dem sie ihre Harfe versteckt hat. Darauf lässt sich nichts schließen."
Marvin schaute es an und gab es zurück. "Verwende es doch einfach als Talisman", riet er ihm, halb scherzhaft gemeint.
Khalil grinste schief und steckte es wieder in die Tasche seines Regenoveralls. "Gar keine dumme Idee", erwiderte er. In tiefen Tönen schlug eine große Kirchenglocke die zweite Nachtstunde an. Endlich hatte der Sturm nachgelassen, so dass sie weit trug. Sie blieben stehen und lauschten.
"Horch", flüsterte Marvin. "Wasser. Irgendwo muss ein Bach oder ein Fluss sein."
Khalil wandte den Kopf nach rechts. Ihr Weg führte zwischen zwei Felsen hindurch. "Dort ist ein Durchgang. Es muss ein Wasserfall sein." Je weiter sie voran kamen, umso lauter wurde das Rauschen.
Unbeabsichtigt glitt Khalils Hand in seine Tasche. Edens Plektrum war plötzlich heiß. Erschrocken zog er seine Finger zurück. Etwas blinkte an einem Gebüsch. Marvin sah es zuerst: Es war ein Silberohrring. Er zeigte ihn Khalil. Beide waren nicht überrascht, dass das Symbol des Anhängers eine Harfe war. "Glaubst du an Zufall?", fragte Marvin.
"Natürlich nicht!", erwiderte Khalil im Brustton der Überzeugung. "Halten wir einfach weiter die Augen offen. Eden hat immer allerlei Schnickschnack in ihrer Harfentasche. Vielleicht hat sie ja mitgedacht."
Als Marvin den Zugang zum Fluss passieren wollte, hielt Khalil ihn davon ab, nahm das Seil von seiner Schulter und band es sich um die Hüfte. "Wir sollten einander nicht verlieren", mahnte er und warf ihm das andere Ende zu.
Den Ohrring ließen sie als Orientierung für den Rückweg hängen. Gemeinsam verließen sie den Pfad und kletterten die steile Böschung hinunter. "Links oder rechts?", schrie Khalil gegen den Krach an.
Marvin schaute sich um. "Links ist der Wasserfall, also nach rechts", rief er mit der Hand deutend zurück. Nach fünfhundert Metern wurde die Strömung ein bisschen ruhiger, doch das nächste Gefälle war schon in Sicht.
Noch war das Gelände begehbar, doch je weiter sie kamen, umso enger wurde der Weg. Plötzlich standen sie mit dem Rücken zur Wand!
Ihre Füße hatten nur noch Platz auf einem schmalen Kamin. Links rauschte der Fluss, aus Waldboden wurde nun Sandstein. Vorsichtig schauten sie über sich. Sie waren in einer Art Canyon, himmelhoch scheinende Klippen ragten über ihnen auf. Khalil brach der Angstschweiß aus. "Ein falscher Schritt, und wir sind geliefert."
Der Fels war glitschig und bröckelig. In Millimeterarbeit tasteten sie sich an Stromschnellen vorbei und waren froh, dass Marvin an Nachtsichtgeräte gedacht hatte. Wenigstens hatten sie so ihre Hände frei. Als sie wieder etwas mehr Halt auf Waldboden fanden, blieb Marvin stehen, griff in seine Overalltasche und reichte Khalil ein Springmesser. Er drückte auf den Knopf, um zu demonstrieren, wie man es öffnet. Khalil sah ihn fragend an. "Warum?"
"Wenn einer von uns beiden abstürzt, muss der Andere das Seil kappen. Ich habe noch eins", erklärte er und klopfte auf seine Tasche. Fassungslos starrte Khalil ihn an. "Was ist?", fragte Marvin beklommen.
Khalil schlug sich selbst mit der flachen Hand gegen die Stirn. "Ich Esel. Daran hätte ich denken müssen." Er lachte verlegen. "Meine Instinkte sind eingerostet."
Sie machten sich an den nächsten Abschnitt. "Wo wollen wir eigentlich hin?", fragte Marvin sarkastisch. Khalil bückte sich und hob etwas auf. Triumphierend hielt er ihm ein weiteres Plektrum vor die Nase. "Nur damit du siehst, dass wir hier richtig sind. Ich bin vielleicht nicht ganz so hellsichtig wie Eden, aber nach wie vor ist sie in mir drin."
"Was auch immer das heißt", grinste Marvin frivol.
"Dann wäre es ja wohl eher andersrum", gab Khalil retour. "Was du schon wieder denkst ..."
Er legte das Plektrum wieder dorthin, wo es gelegen hatte und schaute auf den Fluss unter sich. Felsen ragten aus der Strömung heraus, und so wie es aussah, machte er eine Biegung nach links. In der rechten Kurve lagen gefallene Bäume im Wasser. Dazwischen wogte ein nicht zu identifizierendes Objekt, was da nicht hingehörte.
Khalil rückte zu Marvin auf, zupfte ihn am Ärmel und drängelte sich an ihm vorbei. "Dort müssen wir hin", zeigte er an. "Ich will wissen, was da drüben los ist. Von hier aus kann ich nichts erkennen." Er übernahm wieder die Führung.
~ Eden und Pan ~
Als Eden die Flussmündung erreichte, war Pan nicht mehr da. Stattdessen tanzte ein zerfleddertes Tipi auf der Mitte des Sees. Verzweifelt drehte sie sich im Kreis und rief seinen Namen. Die Flöte blieb stumm.
Der Himmel über ihr schien die Welt regelrecht spalten zu wollen. Kilometerlange Blitze leuchteten in den dunklen Fluten, riesige Wolkengebirge stießen mit donnernder Brachialgewalt zusammen und übertönten den Sturm.
Eden dachte an die Worte ihres Vaters, dass Trockengewitter gefährlicher seien. Sie stand auf einer erhöhten Ebene, unter ihren Füßen fühlte sie Kies. Hatte sich Pan in Sicherheit bringen können oder lag er womöglich in den Tiefen des Sees bei seinem Zelt?
Der Wind zerrte an ihren Haaren und peitschte sie ihr ins Gesicht. Noch nie hatte sie sich so einsam gefühlt. Sie wünschte sich Khalil herbei und hoffte, dass ihr Gefühl sie nicht täuschte und er nach ihr suchte.
Mit ihm zusammen wäre sie stärker, und sie würden Pan finden. Eden ging zum Ufer des Flusses zurück, griff in ihre Hosentasche und legte das nächste Plektrum hin. Anschließend kehrte sie zum alten Standort zurück und setzte sich hin. Die Strapazen, die hinter ihr lagen und die Gefahr, in der sie selbst sich befand, ließ sie komplett außer Acht. Wenn sie nicht alles täuschte, war genau hier vorher das Tipi gestanden. Vielleicht konnte sie den Jungen spüren!
Mit geschlossenen Augen verschränkte Eden ihre Hände wie zu einem Gebet, setzte sich auf ihre Fersen und versuchte, mit den Elementen zu kommunizieren. Sie verringerte ihren Atem fast bis zum Stillstand und befahl ihrem Herzen, langsam zu schlagen.
Diese Technik hatte sie von Khalil gelernt, der sie genutzt hatte, als er unter der Erde eingesperrt war. Für sie war es der erste Versuch ohne Begleitung durch ihre Harfe. Eden rief im Geiste ihre Musik herbei.
Die ersten Töne manifestierten sich in ihrem Gehirn. Leise begann sie, zu summen und konzentrierte sich darauf, die imaginären Harfenklänge nicht zu verlieren.
Eden bat den Mond, für sie zu scheinen, den Wind nach etwas mehr Ruhe, die Sterne nach Frieden. Sie bat um ein Zeichen von Pan.
Als sie die Augen wieder öffnete, spickelte am anderen Ufer des Sees der halbe Vollmond hinter seltsam geformten Bäumen hervor. Deren Blätter wirkten in seinem Licht wie silberne Federn.
Der eigentlich harte Kies unter ihr war plötzlich wie weiche Daunen. Vor ihr lag ein rotes Stirnband.
Sie stand auf und drehte sich um. Sie stand vor der Klippe aus ihrer Vision. In der Mitte des Felsens war eine Höhle. Daneben flossen Rinnsale wie Tränen herab. Eine traurige Melodie wurde ihr vom Wind zugetragen.
Dankend wandte Eden sich an die Elemente für diesen kurzen Moment. Sie hob den Blick und sah Pan. Er saß am Rand der Höhle, ließ seine Beine herunterbaumeln und spielte auf seiner Flöte.
Aus dunklen Augen schaute der Indianerjunge zu ihr herab. Die Hoffnung in seinem Blick berührte sie sehr.
Ein Seil an der Klippe lud sie zum Klettern ein. Zögernd legte Eden ihre Hand darauf und sah nach oben. Plötzlich hatte sie Angst.
Sie hängte ihren zweiten Ohrring an ein Gebüsch linkerhand und hangelte sich an dem starken Tau hoch. Festgemacht war es an einem starken Findling auf der Plattform der Höhle.
Der Indianerjunge setzte seine Panflöte ab. "Ich bin froh, dass du gekommen bist. Mein Name ist 'Der-mit-dem-Wind-spricht'. Ich gehöre zum Stamm der Algonkin."
~ Marvin und Khalil ~
"Verdammt!" Es wären noch ganz andere Flüche gewesen, die Marvin gern aussprechen würde. Bei dem Anblick, der sich vor ihnen auftat, fiel ihm nichts Anderes ein. Der Sturm hatte etliche junge Bäume geknickt und ins Wasser geworfen, was aber noch nicht das Schlimmste war. Die Strömung hatte ein Kanu ans Ufer gespült, und dass da jemand drin gesessen hatte, war offensichtlich. Neben dem Wrack wirbelte ein Poncho in einem Strudel.
Angestrengt blickte Marvin dem Verlauf des Stroms hinterher. Die Stelle, an der Khalil und er gerade standen, war relativ seicht. Das andere Ufer war schätzungsweise ein Kilometer von ihnen entfernt, doch das konnte auch täuschen. Es war immer noch dunkel, und auf die Ferne nutzte ihnen auch ein Nachtsichtgerät nicht sonderlich viel.
Marvin schrak zusammen. "Da liegt was!", warf Khalil in seine Überlegungen ein und deutete in die Mitte des Flusses. Zwischen zwei Findlingen schien etwas gefangen zu sein. "Himmel! Das ist ein Mensch!" Marvin war im Begriff, sich in die Fluten zu stürzen. "Warte!", rief Khalil. "Ich bin leichter als du, lass mich!" Er überprüfte den Sitz seines Seils und warf seinen Rucksack ab. Mit Glück konnte er waten, doch die Strömung war nicht zu unterschätzen.
Ihre Befürchtung bestätigte sich: Mithilfe ihrer Seile brachten sie eine Wasserleiche ans Ufer zurück. Es war eine Frau. "Und was, wenn da noch jemand ist?", fragte Khalil bekümmert. Kurz darauf schallte sein Ruf übers Wasser: "Haaallllooo!!! Ist da noch wer?"
Währenddessen versuchte Marvin, sein Handy zu aktivieren. Kein Empfang! Diesmal stieß er eine ganze Kette von Flüchen aus. "Und was machen wir jetzt?" Seine Stimme kiekste fast über vor lauter Panik.
Khalil holte sein Handy aus seinem Rucksack. Glücklicherweise war er doch noch geistesgegenwärtig genug gewesen, ihn abzuschnallen, bevor er ins Wasser gegangen war. Marvin hätte fast alles versenkt, was er dabei gehabt hatte. Gottseidank hatte er ihn davon abgehalten.
Er hatte auch nicht mehr Glück! "Kein Netz!", bestätigte Khalil. Er rief noch einmal nach weiteren Opfern, doch alles, was er als Antwort bekam, war das Rauschen des Wassers und sein eigenes hektisches Keuchen.
'Komm runter, komm runter!', befahl er sich selbst. 'Du müsstest das doch gewohnt sein.' Verzweifelt kniete er sich zu Boden, in einer ganz ähnlichen Position wie Eden ein paar Stunden früher an einem anderen Ort.
Mittlerweile hatte sich Marvin etwas beruhigt und versuchte, Herr der Lage zu werden. Auch er rechnete mit weiteren Opfern.
Abschätzend betrachtete er das Wrack und kam zu dem Schluss, dass maximal drei Menschen darin Platz haben würden. Er hob sein freies Seil vom Boden auf, schlang es um eine gebrochene Planke und machte das Kanu am nächsten Baum fest. "Damit es nicht noch einmal fortspült ... für die Cops ... falls wir die irgendwann mal erreichen", murmelte er in einem etwas eigenartig anmutenden Selbstgespräch. Khalil bekam es nicht mit, da er noch immer mit seiner eigenen Panik beschäftigt war.
Marvin trat hinter ihn und legte die Hand auf seine Schulter. "Wir müssen weiter. Erstens könnte es noch mehr Opfer geben, und zweitens: Wir suchen Eden."
Khalil sah zu ihm hoch, als käme er gerade aus einer anderen Welt zurück. "Eden ... ja, Eden ... Wir müssen sie finden." Tränen traten in seine Augen.
"Steh auf, Junge, das hilft uns nicht weiter." Gemeinsam zogen sie die tote Frau neben das Kanu und deckten sie mit ihrem nassen Poncho zu. Nachdenklich blickte Marvin auf sie herab. "Es müsste eine Indianerin sein, dem Aussehen nach. Nun suchen wir nach ihrem Mann. Ich hoffe nur, nicht auch noch nach einem Kind."
"Woraus ziehst du deine Schlüsse?", fragte ihn Khalil. "Das Boot wäre groß genug gewesen für drei", erwiderte Marvin. "In den Bergen leben ein paar vergessene Stämme. Zu einem davon könnte sie gehören. Ohne ihre Männer gehen die wenigsten Frauen irgendwo hin, und schon gleich gar nicht, wenn es gefährlich ist. Vermutlich ist sie mit ihrem Mann zum Angeln und wurde vom Sturm überrascht."
Sie packten zusammen. Nun hatten sie nur noch ein Seil zur Verfügung, das die beiden nach wie vor miteinander verband. "Halt dein Handy am Leib", wies Marvin an. "Auch wenn wir kein Netz haben, könnten wir es noch brauchen." Er zeigte Khalil bei seinem eigenen Gerät, wie man damit Licht machen kann. "Ich habe es schon rausgefunden", erwiderte er und packte es in eine Overalltasche mit Reißverschluss. Marvin tat es ihm nach.
"Wir gehen jetzt weiter nach rechts. Wir haben Glück, wir haben wieder etwas mehr Platz und müssen nicht auf Felsen rumklettern. Das Wasser ist flacher und ruhiger, weil der Fluss eine Kurve macht." Er deutete ans andere Ufer. "Da drüben wurde wahrscheinlich der Wald überschwemmt." Die Biegung des Stroms bildete fast einen See.
Khalil ging ein paar Meter voraus, um nachzusehen, wie der Fluss nach der Kurve weiter verläuft. "Ich kann nichts erkennen", rief er Marvin zu. "Glaubst du, es wird irgendwann einfacher werden?"
"Wenn wir nichts sehen, müssen wir uns auf unsere Ohren verlassen. Wir müssen da rüber." Marvin zeigte auf die andere Flussseite. "Wenn es weitere Opfer gibt, hat es sie vielleicht irgendwo angeschwemmt."
Gemeinsam hielten sie Ausschau nach einer Furt oder nach Flachstellen, die sie problemlos passieren könnten. Nach hundert Metern fanden sie einen Felsüberhang, der bis ans andere Ufer zu reichen schien. Um ihn zu erreichen, mussten sie wieder klettern.
"Es wird wieder tiefer", keuchte Khalil. "Wir wissen nicht, wie es weiter geht. Willst du das wirklich riskieren?"
"Von Wollen kann keine Rede sein. Aber wenn wir den Fluss nicht überqueren, kommen wir ohnehin nicht mehr weiter." Marvin zeigte auf eine hohe Felswand, die ihnen den Weg versperrte. Er schaute aufs Wasser. Es musste möglich sein, und die natürliche Brücke war breit genug. Mit seinem Handy funzelte er in die Tiefe und bemerkte, dass sie auf Felssäulen stand. Plötzlich zuckte er erschrocken zusammen. "Khalil! Komm her. Ich brauche mehr Licht." Marvin war sich nicht sicher, doch an einer Säule schien irgendetwas hängengeblieben zu sein.
Sie bekamen Gewissheit. Etwa zwanzig Meter unter ihnen lag ein weiteres Neptunopfer. Gemeinsam rutschten sie die Böschung hinab und standen kurz darauf wieder am Ufer. Die Strömung war an dieser Stelle erneut stärker geworden. Es war ein Risiko, den Körper zu bergen.
Ihn dort zu belassen, kam allerdings ebenso wenig in Frage. Da Marvin stärker als Khalil war, beschloss er, selbst ins Wasser zu gehen. Das Seil würden sie brauchen, damit er nicht abtrieb. Insofern waren sie bei der Bergung allein auf Kraft angewiesen. Er teilte Khalil seine Entscheidung mit: "Du musst am Ufer bleiben." Sie standen neben dem Überhang, Säulen ragten ins Wasser. Er zeigte darauf. "Wir wickeln das Seil drum, dann habe ich Sicherheit."
Khalil gefiel das nicht. "Gehen wir zusammen, dann kann ich dir helfen."
"Nein. Du musst mich zurückziehen, wenn ich wieder am Ufer bin. Ich habe dann ja ein Gewicht dabei, das schaffe ich nicht allein." Marvin schlug ihm auf die Schulter. "Keine Bange, ich kann schwimmen. Mir passiert nichts."
Eine halbe Stunde später war das zweite Opfer geborgen. Marvin versuchte noch einmal, einen Notruf abzusetzen. Erfolglos. Sie legten die Leiche an einen sicheren Ort, wo sie leichter wieder auffindbar wäre.
Khalil drängte darauf, weiter nach Eden zu suchen. "Wir haben viel Zeit verloren und uns ablenken lassen." Zum x-ten Male packten sie ihre Siebensachen zusammen. "Vielleicht wurde sie schon gefunden", warf Marvin ein. Khalil schüttelte den Kopf. "Das kann nicht sein. Überleg doch mal: Der Ohrring, die Plektren, sie hat Spuren gelegt. Mein Gefühl sagt mir, sie ist hier irgendwo."
"Sagt dir dein Gefühl auch, ob sie unverletzt ist?" Marvins Frage wurde fast vom Getöse verschluckt.
"Ich hoffe es. Aber ich frage mich, was sie hier wollte." Khalil setzte als Erstes seinen Fuß auf die natürliche Brücke. Rechterhand stob ihm Gischt um die Ohren, unter ihm gähnte ein Abgrund.
In rasender Geschwindigkeit schoss der Strom nun wieder unter ihnen dahin und verschwand um die Ecke. "Marvin, hier ist es glitschig. Pass auf, wohin du deine Füße setzt."
~ Der * mit * dem * Wind * spricht ~
Mit den Elementen zu reden, hatte der Indianerjunge von seinem Vater gelernt. Bereits mit drei Jahren bekam er eine Flöte aus Bambus und lernte, darauf zu spielen.
Dass Eden ihn Pan nannte, ahnte er natürlich nicht, doch bald würde er es erfahren. Auch, dass sein Instrument magisch war, wusste er erst seit diesem Tag. Es war ein seltsames Gefühl gewesen, zu fühlen, dass ein anderes Wesen seine Welt mit ihm teilt.
Er wusste auch noch nicht, wie das Mädchen hieß. Was er indessen spürte: Es war eine Frau. Wie seine Mutter!
In der Regel angelten seine Eltern nur auf dem See, doch heute war alles anders. Sein Vater hatte erzählt, dass es beim großen Wasserfall Lachse gab. Also waren sie im Morgengrauen flussaufwärts gepaddelt, um welche zu fangen. Er blieb wie üblich am Ufer. Das Wetter war schön und das erste Mal heiß. Viel zu heiß, wie sich später herausstellen sollte. Am Nachmittag waren seine Eltern noch nicht zurück, und Pan bekam Angst.
Normalerweise lebten sie in den Bergen. Zweimal im Jahr verließ seine Familie den Stamm, und diese Zeit verbrachten sie zu dritt am Großen See.
Sie nutzten die Reise, um ihren Ursprung zu zelebrieren und wie ihre Ahnen zu leben. Dasselbe lehrten sie auch ihm, ihrem Sohn. Seinen Namen hatte der Junge von seiner Mutter erhalten, die gesagt hatte, dass er dadurch lernen würde, die Schöpfung zu lieben und sie zu nutzen.
Die Sonne brannte erbarmungslos auf ihn herab, als er begriff, dass seine Eltern nicht zurückkehren würden. Die ersten Stunden hatte er noch gehofft, nach ihnen gerufen und auch ein bisschen geweint.
Er wusste, dass er nicht allein auf den See oder in den Fluss gehen dürfe, und Pan hatte gelernt, zu gehorchen. Der Abend käme bald, und er saß immer noch vor einem Tipi aus Ziegenfell und starrte aufs Wasser.
Neben ihm lag seine Flöte, noch vergessen und stumm. Das Instrument war sozusagen ein Gemeinschaftsprojekt. Der gesamte Stamm hatte beim Suchen und Ernten der besten Bambusrohre geholfen, gebaut hatte die Panflöte sein Vater. Natürlich handgeschnitzt und gebunden, wie es sich gehörte.
Zwanzig Röhren schmiegten sich eng aneinander, die Töne waren so klar wie Wasser in einem See. "Mehr wirst du nicht brauchen", hatte seine Mutter vor zwei Jahren zu ihm gesagt, als er sich eine größere Panflöte wünschte. "Du bist 'Der-mit-dem-Wind-spricht', dir wird alles gelingen. Spiel deine Musik mit dem Herzen und lausche der Antwort."
Was sie damit gemeint hatte, begriff Pan erst heute. Kurz vor Sonnenuntergang suchte er Trost und spielte auf seiner Flöte. Er feierte alte Stammesweisen, die er im Lauf der Jahre gelernt hatte.
Schon bei den ersten Tönen saßen plötzlich lauter Tiere um ihn herum und waren sein Publikum. Ihm wurde leichter ums Herz, er schöpfte Hoffnung.
Pan ging zum Fluss und schaute hinauf. Es kam jedoch kein Kanu mit seinen Eltern darin.
Der Himmel wurde allmählich schwarz, am Horizont hingen die ersten Wolken, doch Pan harrte aus. Er kehrte zu seinem Zelt zurück, kleine Waldtiere folgten ihm auf Schritt und Tritt. Er spielte ein Trauerlied.
Plötzlich fühlte er ein fremdes Wesen in seinem innersten Ich. Auch diese Seele spielte Musik. Es war eine gänzlich andere Melodie, ein anderes Instrument. Er spürte, dass sie ihm helfen wollte, mehr noch: Dass sie ihm etwas zu sagen hatte. Mit seiner Panflöte teite er ihr seine Angst um seine Eltern mit und rief sie zu sich.
Seitdem wusste er, dass sein Instrument magisch war. Er dankte dafür, dass seine Mutter ihm diesen Namen gab: Er war "Der-mit-dem-Wind-spricht".
Was mit seinen Eltern geschehen war, sagte ihm das Mädchen nicht. Sie versprach ihm jedoch, zu ihm zu kommen und ihm zu helfen. Er müsse sie führen mit seiner Musik.
Die Wartezeit überbrückte Pan damit, sich vorzubereiten. Nachdem die Harfe verstummt war, zog der Himmel zu. Die Tiere, die bei ihm gewesen waren, sprangen ins Wasser und schwammen ans andere Ufer des Sees. Er durfte ihnen nicht folgen, seine Mutter hatte es ihm verboten. Fast wollte er wieder verzagen, doch dann packte ihn Zorn: Er hatte von seinem Vater gelernt, zu überleben, egal was passiert. Starke Windböen zerrten streitsüchtig an seinem Tipi, als er hineinkroch und alles ans Freie holte, was darin war: Sein Tomahawk, ein Bocksbeutel für Wasser, eine Decke aus Ziegenfell, zwei Messer, ein langes Seil und ein Weidenkorb, worin sich alles befand. Den Korb konnte er sich auf den Rücken schnallen, falls er flüchten musste.
Er nahm das Seil heraus, legte seine Panflöte in seinen Korb und schützte sie sorgfältig mit der großen Decke, die er nachts mit seinen Eltern teilte, wenn sie hier lebten. Er verzehrte die letzte Ration Fladenbrot, die ihm geblieben war. Voller Kummer betrachtete er das vom Wind gebeutelte Zelt: Es bot keine Sicherheit mehr, wenn der Sturm kam.
~ Eden ~
Kaum hatte sie den Fuß auf die Plattform gesetzt, begann es, zu regnen. "Ich bin froh, dass du gekommen bist. Mein Name ist 'Der-mit-dem-Wind-spricht'. Ich gehöre zum Stamm der Algonkin", stellte der Junge sich vor. Eden reichte ihm sein rotes Stirnband. "Ich glaube, das gehört dir. Ich habe es gefunden, wo mal dein Zelt stand."
Er stand auf und lud das fremde Mädchen mit einer Handbewegung ins Innere der Höhle ein. "Ich weiß nicht, wie du heißt und woher du soviel weißt, doch sei willkommen. Wir haben einander viel zu erzählen, und vielleicht kannst du mir sagen, was mit meinen Eltern geschehen ist." Hoffnungsvoll sah er sie an und zog das Seil hoch.
Erschrocken wich Eden vor einem seitlichen Schwall Wasser zurück und beeilte sich, der Einladung zu folgen. Im Höhleninneren brannte ein Lagerfeuer, daneben lag eine Decke. "Hier sind wir sicher", beruhigte der Junge sie. "Setz dich, ich komme gleich. Dann können wir reden." Er wickelte das Seil auf, nahm seine Flöte und folgte ihr.
"Ich heiße Eden Abel und komme aus Cedar Rapids", sagte sie, als ihr neuer Freund bei ihr war. "Dein Name ist ganz schön lang. In meinem Herzen heißt du ein bisschen anders." Der Junge zeigte ihr seine Flöte. "Deshalb habe ich ihn bekommen. Und was spricht dein Herz?"
"Es nannte dich Pan." Eden lächelte verschmitzt. "Willst du ihn behalten? Es ist leichter zu merken."
"Die Legende von Pan habe ich schon in der Schule gehört. Wenn du mich so nennen willst, dann ist das okay", erklärte er sich damit einverstanden. Er setzte sich im Schneidersitz ihr gegenüber und stellte eine Holzschale voll Beeren hin. "Das ist alles, was ich dir anbieten kann. Das Gewitter hat mich überrascht, aber vorher konnte ich sammeln. Meine Eltern sind auf dem Fluss."
Eden nickte bekümmert. "Ich habe davon geträumt", bestätigte sie. "Wie auch von dir." Sie senkte den Blick und überlegte, wieviel sie dem Jungen zumuten konnte. Er wirkte gefasst, doch hatte ihre Harfe auch von seiner Trauer erzählt. Oder wusste er schon Bescheid?
"Bist du eine Seherin?", fragte Pan. Sie hob die Schultern. "Ich weiß es nicht. Eher würde ich sagen, ich fühle. Es fing schon an, als ich ein kleines Mädchen war. Deshalb war ich lange krank." Abschätzend schaute Eden ihn an.
Eine Träne rollte über seine Wange. "Dein Blick sagt mir, dass du mir schlechte Nachrichten bringst, sagte er ihr auf den Kopf zu. "Du brauchst mir nichts zu verschweigen."
"Ich verschweige dir nichts, ich weiß nur nicht viel", wehrte sich Eden. "Ich habe nur ein gekentertes Kanu gesehen und gefühlt, dass du traurig bist. Darum bin ich gekommen." Aufmunternd legte sie ihm die Hand auf den Arm. "Wie wäre es, wenn wir sie suchen? Gemeinsam?"
Edens Worte gingen beinahe in Donnerhall unter. Fledermäuse schossen erschrocken durch das Gewölbe, Windgeheule wurde begleitet von lautem Rauschen. Pan sprang auf und trat an den Höhlenrand. "Wir kommen hier nicht raus", rief er ihr zu. "Wir müssen warten, bis das Gewitter vorbei zieht." Er drehte sich um, das schöne Gesicht von Verzweiflung gezeichnet. "Vorerst sind wir hier drin gefangen."
~ Khalil ~
"Marvin, hier ist es glitschig. Pass auf, wohin du deine Füße setzt!", warnte Khalil, nachdem er die Felsbrücke betreten hatte. Der Überhang wäre breit genug, dass drei bis vier Menschen locker nebeneinander her gehen könnten, doch die Beschaffenheit des Untergrunds war trügerisch. Der grobe Sandstein saugte die Luftfeuchtigkeit auf wie ein Schwamm, war alles Andere als eben und natürlich auch nidht asphaltiert wie eine Straße.
Khalil prüfte erneut seinen Standort mit seinen Füßen, tastete sich ein paar Schritte vor und trat an den rechten Felsrand. In rasender Geschwindigkeit schoss der Strom nun wieder unter ihnen dahin und verschwand um die Ecke. Schaudernd nahm er die Tiefe des Abgrunds zur Kenntnis. "Wenigstens können wir jetzt ein bisschen mehr sehen", rief er Marvin zu. "Das Wetter macht mit."
"Ich frage mich immer noch, wie du weiter vorgehen willst", erwiderte Marvin, als er bei ihm war. "Komm da weg, ich habe keine Lust, dich aus dem Wasser zu fischen."
"Wie du selbst gesagt hast, müssen wir über die Brücke." Khalil trat wie geheißen zurück. "Wenn wir uns in der Mitte halten, schaffen wir das."
Er deutete auf die linke Seite des Überhangs. "Dort drüben war das Wasser noch flacher. Trotzdem ist da jemand ertrunken. Hoffentlich finden wir nicht auch noch ...", er schluckte und flüsterte fast unhörbar, "... Eden." Etwas lauter schob er hinterher: "Aber daran will ich nicht denken!"
"Malen wir mal nicht den Teufel an die Wand", erwiderte Marvin. Er zog sein Handy aus der Tasche und schaute auf die Uhr. "Wir haben noch mindestens zwei Stunden bis Sonnenaufgang. Weit und breit keine Menschenseele, wir sind komplett auf uns selbst angewiesen."
Sie machten sich auf den Weg. Hunger nagte in ihren Galloschen, doch keiner der beiden dachte an eine Rast. Für Müdigkeit hatten sie auch keine Zeit, die Sorge um Eden und die Eindrücke der letzten Stunden trieben die beiden Gefährten voran. Ihr Ziel war die andere Seite der Brücke, doch das Ende schien unendlich weit von ihnen entfernt zu sein.
***
Das Unvorhergesehene passierte, als sie ein dreiviertel ihres Weges hinter sich hatten. Khalil hatte die Führung, eher aus Zufall denn aus Absicht. Vielleicht war es die Müdigkeit, die Marvin die Beine schwer gemacht hatte, vielleicht war Khalil zu ungeduldig, um auf ihn zu warten. Das Seil, das ihn mit Marvin verband, spannte sich fast bis zum Zerreißen.
Ein schmerzhafter Ruck an Khalils Hüfte und ein gellender Schrei zeigten ihm an, dass etwas anders war. Erschrocken drehte er sich nach Marvin um und sah ihn nicht mehr. Sekunden später riss es ihn fast zu Boden. Das Tau ringelte sich wie eine Schlange über die linke Seite der Brücke. Panisch warf sich Khalil darauf und hielt es fest. "Marvin!", schrie er. "Wo bist du?"
"Kapp das Seil, Khalil, kapp das Seil!", kam ein hektisch gerufener Befehl von links. Khalil robbte vor bis zum Rand und spähte nach unten. Marvin hing ungefähr zehn Meter über dem Wasser und hielt sich krampfhaft an einer Säule fest. "Niemals!", rief er zurück. "Ich zieh dich rauf."
"Wenn du es nicht machst und ich mich nicht mehr halten kann, reiße ich dich mit!", schrie Marvin ihn an. Ihre Stimmen hallten einsam durch die dunkle Schlucht, ein leiser Wind spielte ihnen den Abgesang. Plötzlich hörte Khalil ein Donnern. Er hielt die Luft an. Es war kein Gewitter.
~ Marvin ~
Es konnte nicht hinhauen! Khalil wog maximal 65 Kilo, er 85. Marvin hielt sich mit beiden Händen an einem Vorsprung fest, stemmte seine Beine gegen eine Säule und versuchte, das gestraffte Seil auszubalancieren.
An Sicherungsgurte hatten sie nicht gedacht, wie denn auch? Einiges an diesem Tag war nicht zu erwarten gewesen. Also hatten sie improvisiert.
Er spürte, wie ihm die raue Faser in Taille und beide Schenkel schnitt, ein dicker Knoten bohrte sich in seinen Nabel. Was war diese Hundeleine nur für eine Schnapsidee?
Sein Rucksack hing schwer auf seinem Rücken und zog ihn unbarmherzig nach unten. Eine Hand rutschte ab, er fasste nach. Noch hatte er all seine Kräfte beisammen. Adrenalin schoss durch seinen Körper und machte ihn wieder wach. Dass ausgerechnet ihm das passiert war ...
Keuchend hob Marvin den Kopf und blickte nach oben. Khalil hing mit dem halben Oberkörper über dem Rand und versuchte, sich gegen die Schwerkraft zu stemmen. "Khalil!", rief er noch einmal, "nimm jetzt dein verdammtes Messer und schneid das Seil durch. Du kannst mich nicht halten."
Störrisch schüttelte der Junge seinen Kopf. Marvin stöhnte entnervt und blickte unter sich. Er wusste, dass auf dieser Seite das Wasser noch seichter war und schätzte ab, was passieren könnte, wenn er fallen würde.
War es zu flach, bräche er sich das Genick. War es tief genug, wäre entweder alles okay oder es riss ihn die Strömung mit. Dass die andere Seite der Brücke nicht ganz so harmlos war, glaubte er unbesehen.
Marvin sah wieder nach oben. War Khalil gerutscht? Er war sich nicht sicher, es konnte Einbildung sein. Er brachte seine Hände erneut in Position. Allmählich wurden sie feucht. Viel Kraft und viel Zeit, sich und den Jungen vor dem Absturz zu bewahren, blieb ihm nicht mehr.
Mitten in seine Überlegungen ruckte das Seil und schnürte ihm seine Hoden ab. Fluchend verzog er das Gesicht, stemmte seine Beine fester gegen die Säule und versuchte, die Spannung zu verringern. Erfolglos!
Marvin sah sich im Geiste schon unten liegen, doch dann begriff er, dass es ihn nach oben zog. Er griff mit einer Hand nach dem Seil, legte die zweite in eine Mulde über ihm und kletterte ein Stück weiter hoch. Das Gesicht von Khalil sah er nicht mehr. Sollte es ihm tatsächlich gelungen sein?
Nach einer halben Stunde schweißtreibender Kooperation lagen beide am oberen Rand und blickten einander an. "Wie ...", stammelte Marvin. Für mehr Worte hatte er keinen Atem. Khalil deutete hinter sich.
Mit letzter Kraft drehte Marvin sich auf den Rücken. Über ihnen thronte grinsend ... "Gabriel!", entfuhr es ihm überrascht. "Wo kommst du denn her?"
"Ich bin euch gefolgt", antwortete der Neuankömmling. "Leider bin ich für solche Expeditionen schon etwas zu alt, so dass ich euch nicht so schnell einholen konnte. Ich dachte auch, dass es besser wäre, wenn ich im Hintergrund bleibe." Mit seinem Fuß stupste Gabriel Khalil an. "Der da war ja nicht gut auf uns zu sprechen, hatte ich das Gefühl."
Khalil drehte sich ebenfalls um und stand auf. "Ich hatte lediglich keine Lust auf eine Debatte mit deiner Frau. Und ja, es stimmt: Ich hätte ihr liebend gern den Kopf abgerissen." Er reichte Marvin die Hand, zog ihn hoch und wandte sich noch einmal an Gabriel. "Ich weiß ja nicht, was sie geritten hatte und was sie gegen mich hat. Aber wenn es das ist, was ich vermute, ist sie auf dem Holzweg. Eden wäre mir viel zu wichtig, um sie anzurühren. Außerdem ist sie noch ein halbes Kind."
"Sag das ihr, nicht mir!", brummte Gabriel. "Auch wenn ich mit Rahel verheiratet bin, heißt das noch lange nicht, dass ich mit allem einverstanden bin, was sie betrifft."
"Wir haben keine Zeit für Diskussion!", warf Marvin ein, befreite sich von dem mistigen Seil und warf sein Ende zu Boden. "Nicht mit mir!", maulte er das unschuldige Dingens an. "Wie geht es jetzt weiter?"
Die Frage war an Khalil gerichtet. "Wie schon?", entgegnete der, "so wie geplant." Khalil tat es Marvin nach, befreite sich von dem Tau und rollte es sorgfältig zusammen. Die Rolle reichte er Gabriel. "Wenn du mitkommen willst, bist du jetzt unser Verwalter. Du hast ja kaum Gepäck." Khalil grinste versöhnlich.
Gabriel hob demonstrativ seine Hand hoch. "Aber wenigstens eine Taschenlampe. Sonst hätte ich euch nicht gefunden." Er ignorierte die Aufforderung, der Träger der beiden zu sein. Stattdessen hob er einen mittelgroßen Rucksack auf. "Habt Ihr wenigstens Proviant dabei?", fragte er.
Khalil blickte Marvin fragend an. "Also ich nicht. Ich habe nicht damit gerechnet, dass wir so lange unterwegs sein würden." Marvin nickte. "Ich schon. Aber wollen wir jetzt wirklich Zeit mit Essen verschwenden? Wir sollten weiter."
~ Pan ~
Gabriel verteilte großzügig Handproviant, den sie auf dem letzten Viertel der Brücke verzehren konnten, ohne ihren Marsch zu unterbrechen. Gemeinsam berichteten Marvin und Khalil, was alles passiert war.
Im Gegenzug erklärte Gabriel, was ihn veranlasst hatte, ihnen zu folgen. "Euer Verschwinden sagte mir, dass Ihr etwas wisst oder zumindest ahnt. Als ich den Ohrring fand, hat sich das bestätigt."
Khalil sah ihn seltsam an. "Eine Frage: Spielt Eden Flöte?" Gabriel schüttelte den Kopf. "Nein, wie kommst du darauf?" Marvin erzählte, wie sie von einem Flötenspiel geleitet wurden. "Dadurch sind wir auf diesen Ort hier gestoßen. Irgendwann ist es verstummt."
"Die Schlucht ist ein Rückzugsort für indianische Stämme", klärte sie Gabriel auf. "Normalerweise darf sie kein Weißer betreten. Der Wasserfall, der den Fluss speist, ist ihnen heilig. Dieser Ort ist auch auf keiner Karte verzeichnet." Er blieb stehen und sah sich um. "Wohin der Fluss führt, wissen wahrscheinlich nur Eingeweihte. Es gibt einen Stamm in den Bergen, der kaum bekannt ist. Es sind die Algonkin. Im Wesentlichen bestehen sie aus Familienverbünden. Es gibt keinen Stammesführer." Sorgen zeichneten sich in seinem Gesicht ab. "Hoffentlich wurde Eden nicht entführt!"
"Das glaube ich nicht", erwiderte Marvin. "Der Ohrring war nicht das einzige, was wir gefunden haben. Sie hat Hänsel und Gretel gespielt und Krumen gestreut. Warum aber auch kauft Ihr eurer Tochter kein Handy? Dann hätten wir jetzt mehr Optionen."
"Du weißt, warum!", erwiderte Gabriel. "Ich wäre ja zum Umdenken bereit, aber Rahel hat Angst, dass Eden zuviel mitkriegt und wieder zusammenbricht."
Endlich waren sie am Ende des Überhangs angelangt. Gabriel leuchtete die Umgebung aus. Zur Freude gab es noch keinen Anlass.
Zwischen Brückenende und Festland gähnte ein tiefer Spalt. Darunter gischtete Wasser. "Es wäre zu schön gewesen", seufzte Khalil. "Was machen wir jetzt?"
"Mehr Licht!", forderte Marvin wieder einmal, zog sein Handy heraus und schaltete die Lampe ein. Gemeinsam schauten die drei sich den Schlamassel an.
"Wie gut könnt Ihr springen?", fragte Khalil. Er schätzte die Entfernung auf maximal ein Meter achtzig. Das müsste zu schaffen sein.
"Weder bin ich ein Känguru noch bin ich ein Frosch", erwiderte Gabriel. "Für mich ist es aussichtslos." Marvin stellte sich an den Rand und beugte seinen Oberkörper im rechten Winkel vor. "Was machst du denn da?", fragte Khalil erheitert. Marvin nahm seinen Rucksack vom Rücken und gab ihn weiter. "Da! Halt mal. Ich habe nur was getestet."
"Und du denkst, das hilft uns weiter?", warf Gabriel ein. Nun kam Marvin mit einer aberwitzig klingenden Idee. "Ich überbrücke den Abgrund, und Ihr lauft über mich drüber."
Khalil war gerade am Trinken und dachte, er höre nicht recht. Vor lauter Schreck verschluckte er sich. "Das kann nicht dein Ernst sein!", prustete er, während ihm das Wasser über Kinn und Brust lief.
"Doch, ist es!", beteuerte Marvin. "Ich bin ein Meter neunzig und komme im Liegen locker bis an den Rand. Er war im Begriff, seine Idee in die Tat umzusetzen und legte sich haarscharf am Spaltenrand auf den Bauch. Mit den Händen klammerte er sich noch fest.
"Warte mal!", warnte Khalil. "Wie willst du mit deinen Armen da hinüber kommen?" Marvin ließ den Felsrand los, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und wippte, um Schwung zu holen. Die Beine hatte er angezogen. "Na, so!", ächzte er und robbte wippend Stück für Stück weiter vor.
"Stopp!", schritt nun auch Gabriel ein. "Du hast eine schwangere Frau. Willst du Adeela unbedingt schon so früh zur Witwe machen?"
Marvin ließ sich nicht beirren und wippte weiter. Sein Oberkörper hing bereits über den Rand. Gemeinsam zogen Khalil und Gabriel ihn an den Beinen wieder zurück.
"Das kannst du dir schenken", sagte Khalil, als Marvin wieder in normaler Position saß und sie böse anstarrte. "Wir springen!" Er wandte sich an Gabriel. "Wenn ich es schaffe, zu springen, dann schaffst du das auch. Marvin und ich zuerst. Du wirfst uns das Gepäck zu und springst hinterher. Wir werden dich schon empfangen und festhalten."
Gesagt, getan! Marvin grummelte zwar, doch er ließ sich überzeugen. Ohne weitere Zwischenfälle übersprangen sie den tiefen Graben und standen endlich auf festem Boden. Gabriel atmete aus und brach in schallendes Gelächter aus. "Was dachtest du, was du bist? Eine Robbe oder eine Wippe? Ein Seelöwe? Robbie Williams oder bist du gar Spiderman?", fragte er Marvin, stammelnd und keuchend vor Lachen. "Du hättest sehen sollen, wie du dabei aussiehst."
~ Khalil ~
Den Fluss hatten sie nun im Rücken. Das Rauschen der Strömung waren Marvin und Khalil schon so gewöhnt, dass sie es kaum noch wahrnahmen, doch Gabriel war noch nicht desensibilisiert. Er nahm auch wahr, was Khalil schon aufgefallen war, als sie Marvin beim vorletzten Fauxpas gemeinsam hochziehen mussten.
"Hörst du das?", fragte Gabriel. "Es klingt, als wäre ganz in der Nähe ein weiterer Wasserfall." Khalil hatte es nur als Momentaufnahme registriert, doch das langanhaltende Donnern war nun gut vernehmbar.
Khalil warf Marvin einen vielsagenden Blick zu. "Sieht so aus, als hättest du Glück gehabt." Er tat einen großen Schritt ins Gelände. Etwas funkelte neben einem Gebüsch. Mit dem Zeigefinger deutete er darauf und rief triumphierend: "Da! Die nächste Spur!"
Ein dreieckiges Holzplättchen mit abgerundeten Ecken war so platziert, dass eine Spitze nach rechts wies. Ob nun Zufall oder nicht: Es war ein Zeichen. Dass es ein weiteres Plektrum war, dürfte nicht schwer zu erraten sein. Die Oberfläche war mit Edens Signatur aus lauter kleinen Strasssplittern beklebt, so winzig, dass man fast eine Lupe brauchte, um sie zu erkennen.
"Wieviel von den Dingern hat deine Tochter?", fragte Marvin und stupste Gabriel mit dem Ellbogen an.
"Keine Ahnung, drei Setzkästen voll. Schätzungsweise schon so an die fünfzig. Eden macht sie auch selbst, wenn sie Lust hat." Vor ihnen lag eine Böschung. Gabriel deutete auf ein rechteckiges Warnschild an einem Pfahl. Aufschrift: "Vorsicht, Sumpf! Bei Hochwasser wird geraten, den geheiligten Boden nicht zu betreten."
"Wir sollten warten, bis die Sonne aufgeht", schlug Marvin vor. "Es kann nicht mehr lang dauern." Sie würden nicht umhin kommen, das Gebiet zu durchqueren, denn in der Richtung, in die Edens Pfeil wies, ging es nicht weiter. Er zeigte direkt auf den Strom, dessen von Nebelschwaden verhüllter Lauf sich allmählich von ihnen entfernte.
Ihr Standort bot genügend Platz für eine Rast. Sie befanden sich ungefähr fünf Meter über einem weitläufigen Waldgebiet. Verschiedene Laubbäume zogen sich in unregelmäßigen Abständen von links nach rechts.
"Wahrscheinlich stoßen wir irgendwann wieder auf den Fluss", vermutete Marvin. Er setzte sich auf einen Findling und gähnte. "Ein Himmelreich für ein Bett." Er zeigte auf die vor ihnen liegende Überschwemmung. "Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder wir holen uns nasse Füße oder wir gehen über die Hängebrücken."
Die Bäume waren in sieben Meter Höhe durch Brücken in verschiedener Bauweise untereinander verbunden. "Das ist der reinste Abenteuerspielplatz", bemerkte Gabriel. "Dass es Eden hierher zog, kann ich mir gut vorstellen, aber woher sie den Ort kennt, ist mir ein Rätsel."
"Hört Ihr das?", fragte Khalil. "Da ist es wieder." Unter frühmorgendliches Vogelgezwitscher mischte sich das Unbekannte, das ihn und Marvin hergelockt hatte. Noch war es leise und hörte sich wie Windsäuseln an, doch er war sich sicher, dass es eine Melodie war.
Er wäre gern sofort weiter, doch Gabriel und Marvin waren am Ende. Khalil machte es sich in einem Laubhaufen bequem, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und lauschte in die endende Nacht.
Ein fast golden leuchtender Vollmond hing tief zwischen den Bäumen. Über dem feuchten Waldboden waberten glitzernde Schwaden, aus denen seltsam aussehende Pilze staken. Diese Welt lud zum Schweben ein.
"Es ist eine indianische Volksweise", durchbrach Gabriels Stimme die friedliche Ruhe. "Du hattest recht mit der Flöte."
***
Als Khalil wieder aufwachte, stand eine frühe Morgensonne am Horizont und tauchte die Schlucht in rotgold. Er rieb sich die Augen und setzte sich auf.
Neben ihm schnarchten Gabriel und Marvin im Gleichtakt, als würden sie sämtliche Bäume der Welt abholzen wollen. Der Gedanke ließ Khalil grinsen.
Er ließ sie schlafen, kletterte die Böschung hinunter und wusch sich in einer Lache. Mit einem Stöckchen reinigte er seine Zähne und schaute, was so an Kräutern wuchs. Mit Wildklee und Maulbeeren milderte er seinen schal oralen Nachtgeschmack, kehrte zurück und weckte die zwei. Mit zerknittertem Gesicht und brummig war Gabriel der erste, der sich in die Büsche schlug. Marvin musste gerüttelt werden, er war völlig erschöpft.
Khalil setzte sich auf einen Stein, ließ das vor ihnen liegende Bild auf sich wirken und überlegte, wie sie weiter vorgehen sollten. Er hatte ein Gefühl, als ob Eden ihn riefe. Wie sollte er ihr antworten, dass er sie verstand? Was würden Marvin und Gabriel davon halten, wenn er es ihnen erzählen würde? Könnten sie ihm das glauben?
Die Melodie der Panflöte ließ ihn nicht los. Wenn Eden sie nicht spielte, wer war es dann? Freund oder Feind? Hatte dieser Waldgeist auch Eden gelockt? War das Wesen in Not und hatte sie deshalb gebraucht?
Khalil erinnerte sich an die beiden Menschen, die im Fluss ihr Leben verloren hatten. Möglicherweise war das der Zusammenhang, und vielleicht gab es ein Kind, das noch am Leben war. Er hoffte sehr, dass es so war.
Gabriel kam zurück, nahm einen Laib Brot aus seinem Rucksack und teilte ihn auf. "Ich weiß, es ist ein karges Mahl, aber mehr habe ich nicht", fügte er hinzu. Sie aßen und tranken gemeinsam, schweigend und grübelnd.
Als sie fertig waren, sahen die zwei Männer Khalil an. "Du wirst uns führen", ergriff Gabriel das Wort. "Erstens hast du Erfahrung, zweitens vertraut Eden dir."
Khalil nickte gerührt. "Bevor wir aufbrechen, möchte ich wissen, was uns erwartet. Was ist mit den Suchtrupps? Warum ist uns außer dir niemand gefolgt?", fragte er Gabriel. "Und wie weit ist das Feuer von hier entfernt?"
"Ich habe mich genauso klammheimlich davon geschlichen wie Ihr", erwiderte Gabriel. "Rahel hatte darauf gedrängt, die Polizei zu informieren. Mir wäre es anders lieber gewesen, weil ich meine Tochter auch ein bisschen kenne. Sie wird das nicht wollen, dass sie von so vielen Menschen gesucht wird." Er stand auf und schnallte sich seinen Rucksack um. "Auf diesen Ort werden die Wenigsten kommen, weil es heiliger Boden ist. Und was das Feuer betrifft: Der Waldbrand war zirka 60 Meilen von hier weg und ist gelöscht. Es sind Menschen ums Leben gekommen."
"Hier leider auch", warf Marvin ein und blickte in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
"Ich habe es mitgekriegt", antwortete Gabriel. Die drei Gefährten gingen gemeinsam zum Brückenende zurück und hielten Andacht. Marvin suchte nach einem passenden Ast, holte sein Springmesser aus seiner Tasche und schnitzte ein paar Kerben hinein.
Er umwickelte sein Schnitzwerk mit Blättern und legte es dahin, wo sie die Brücke verlassen hatten. "Damit Ihr nicht vergessen seid", murmelte er vor sich hin.
Khalil rannen die Tränen über die Wangen. Er trat auf Marvin zu und legte seine linke Hand auf dessen Herzseite. "Ich danke dir sehr." Sein Echo hallte dumpf durch die sonnige Schlucht oder vielleicht sogar durch die Ewigkeit.
Wenn das Wasser einer hundertjährigen Quelle erwacht, wächst Gras auf den Bäumen. Der Weiße Mann nennt es Engelshaar. Wandernden Seelen weist es den Weg.
War die fast vergessene Legende der Stämme die gute Nachricht an diesem Tag? Eden kannte sie nicht, bevor Pan sie ihr erzählte. Das Märchen hielt sie vom Weinen ab. Die Hoffnung, ihre Familie wiederzusehen, schwand von Stunde zu Stunde, in der sie in dieser Höhle gefangen war.
Ins Abendrot war sie gewandert, um zu ihm zu gelangen. Sie hatte allen Gefahren getrotzt, den reißenden Fluss gemeistert, den Sumpf überquert. Die Tiergeister beschützten Eden, bis sie am Ziel war. Dort hatte Pan auf sie gewartet, denn er war derjenige, der sie gerufen hatte.
Er war nicht weniger verzweifelt als sie. Dass seine Eltern noch lebten, wagte er nicht mehr zu hoffen. Es war schon zu lange her, zu viel geschehen, zu viel Gefahr.
Der Sturm hatte ihnen Unheil gebracht, denn die Windgeister hatten die Quelle geweckt. Nun waren die beiden Kinder hinter ihren Wässern gefangen. Pan fürchtete sich vor dem Berggeist, der sie nicht gehen ließ.
Nicht einmal die Fledermäuse verließen die Höhle. Obwohl nachts ihre Jagdzeit war, hingen sie wie schwarze Dämonenschatten von der Decke herab und verbreiteten Angst.
Weder Eden noch Pan schliefen, beide bewachten das Feuer. Glücklicherweise hatte er an genügend Holzvorräte gedacht. Um ihre Furcht zu vergessen und nicht einzuschlafen, erzählten sie einander Geschichten. Manchmal spielte er auf seiner Flöte. In solchen Momenten war dieser düstere Ort voller Hoffnung und voller Magie. Eden spürte, dass Khalil ganz in der Nähe war.
Die Nacht schritt voran, das Gewitter war längst vorbei. Pan hatte seinen Kopf in ihren Schoß gelegt. Das Feuer brannte, vor dem Höhleneingang brauste ein Wasserfall. "Der Berggeist ist zornig", murmelte Pan in die rötlich flammende Dunkelheit. "Hörst du sein Brüllen?"
Eden sah seine Angst in seinem Gesicht und streichelte ihm übers Haar. "Es ist eine schöne Legende, die du erzählt hast. Glaubst du, sie ist wahr?"
"Mein Vater hat mir verboten, in die Höhle zu gehen, doch als der Sturm kam, brauchte ich Schutz." Pan streckte sich und schaute ihr ins Gesicht. "Es spricht alles dafür, dass sie stimmt. Aber ich weiß, nicht alle Menschen glauben an die alten Legenden." Über seine Arme lief eine Gänsehaut. "Nun hält uns der Berggeist gefangen."
"Ich habe dir schon von meiner Familie erzählt. In meinem Leben gibt es auch viele Märchen, und sie sind wahr. Khalil war ein Soldat. Sein Vater hat ihn gequält. Alles, was ihm angetan wurde, spürte auch ich. Er ist mein Seelenbruder." Eden erzählte ihm die Geschichte, als Khalil unter der Erde gefangen war. "Er sagte, ich sei ein Engel. Ohne mich sei er tot." Sie stockte. "Wir haben einander gefühlt, doch meine Eltern hatten in dieser Zeit viel Angst um mich."
"Wie war es bei mir?", wollte Pan wissen.
"Deine Flöte hat mich gerufen. Die Tiere des Waldes führten mich die ganze Zeit." Eden schob seinen Kopf von ihrem Schoß und stand auf. "Ich zeige dir jetzt mal, dass du den Berggeist nicht fürchten musst." Sie nahm eine leere Holzschale, ging zum Höhleneingang und hielt sie in den Wasserfall. Nachdem sie gefüllt war, kehrte sie ans Feuer zurück und reichte sie Pan. "Ich hoffe ja nicht, dass er uns verdursten lässt." Skeptisch beäugte er das gefüllte Gefäß. Als es Eden zu lange dauerte, dass er es annahm, machte sie den Anfang und nahm einen Schluck.
"Es ist einfach köstlich", schnurrte sie. "So herrlich kalt, so frisch und es blubbert im Bauch." Eden machte einen neuen Versuch. Als er noch immer keine Anstalten machte, ihr Angebot anzunehmen, verdrehte sie ihre Augen, stöhnte theatralisch und fiel zu Boden.
Reglos blieb sie vor ihm liegen. Erschrocken sprang Pan auf und beugte sich über Edens stockstarren Leib. Das Wasser lief ihr über Brust und Gesicht, ihr Shirt war nass, der Kelch lag im Feuer. "Ich habe es doch gewusst!", rief er hysterisch. "Nun hat dich der Berggeist geholt."
Eden schlug die Augen auf und grinste ihn belustigt an. "Hat dir deine Mutter nicht Mut mit in den Namen gepackt? Jedenfalls hast du mir das so erzählt." Sie stand auf. "Ich habe dich nur gefoppt."
Pans rundes Gesicht nahm eine ungesunde Hautfarbe an. Er griff sich ans Herz. Es pochte so laut, dass ein Echo von den Wänden widerhallte. "Wenn dein Freund sagt, dass du ein Engel seist, dann hat er gelogen. Dein Streich war nicht komisch." Er plumpste zurück auf die Decke.
Eden schlich sich von hinten an und gab ihm einen Kuss auf die Wange. "Ich hoffe, du kannst mir verzeihen." Sie nahm einen Stock und schubste den von Pan geschnitzten Trog in die Flammen, die ihn gierig verschlangen. Sie umrundete Pan, setzte sich ihm gegenüber und nahm seine Hände. "Geister leben nur in den Köpfen der Menschen, trotzdem sind sie weder unwahr noch wahr. Sie können uns schaden, doch sie können auch helfen." Sie dachte an Adeela und Marvin und an ihre Liebe. Eden würde dem Jungen ihre Geschichte gern erzählen, doch wie finge sie an?
"Wenn das so ist, dann ist die Welt voller Geister. Was ist dann überhaupt noch real?", fragte er sie. Eden überlegte ihre Antwort sehr lange. Schweigend saßen sie da und lauschten dem Knistern der Flammen, dem Rauschen des Wassers und dem Ruf der Natur.
Pan war so in Gedanken versunken, dass er zusammenschrak, als sie zu erzählen begann. "Adeela und Marvin sind meine Freunde. Sie sind erwachsen und ein Ehepaar. Marvin hatte zwei Geister, die ihn durch sein Leben verfolgten. Der eine war gut, der andere schlecht."
Er blickte auf. "Waren es Naturgeister oder die Geister von Toten?" Eden fuhr fort: "Ein Geist war der einer Toten, der andere war noch am Leben."
Sie erzählte ihm von Adeela und Mr. Squintie, wie Marvin und sie sich ineinander verliebten und wie sie sich quälten, bevor er sich zu ihr bekannte. "Sein guter Geist hieß Alina. Sie starb sehr jung an Leukämie. Von ihr und Marvin habe ich meine Harfe. Er dachte, er dürfe nicht noch einmal lieben. Eines Nachts träumten Adeela und Marvin gemeinsam von ihr. Am Morgen lag eine schwarze Rose auf seinem Nachttisch. Von da an war er frei."
"Warum die Rose?", fragte Pan.
"Adeela kommt aus einem anderen Land. Er nennt sie 'Schwarze Rose des Orients', weil er ihren Charakter so sieht und weil sie dunkel ist. Deshalb liebt er sie."
"Du sagtest, Alina wäre der gute Geist. Was war der schlechte?", fragte Pan weiter. Eden erzählte ihm von dem gestrigen Tag. "Theresa war Alinas Mutter. Sie wollte nicht, dass Marvin noch einmal liebt. Sie hat ihm viel angetan." Ins Detail gehen wollte Eden nicht, weil sie Pan nicht noch mehr Angst machen wollte. "Sie war ein lebender Mensch und trotzdem ein Geist."
"Ist Alinas Mutter ein Geist, weil sie Böses tat?" Er kratzte sich an der Nase und zog seine Stirn kraus. Gedanken rotierten durch sein Gehirn, noch mehr Fragen standen ihm ins Gesicht geschrieben.
"Böse Menschen sind nur so lange Geist, bis man sie nicht mehr fürchtet oder sie sich verwandeln", erwiderte Eden. "So ist es auch mit deinem Berggeist. Solange du Angst vor ihm hast, ist er lebendig und kann mit dir Schabernack treiben. Blickst du ihm mit Mut ins Gesicht, lässt er dich los."
Sie zog den Jungen hoch. "Komm mit mir, dann zeige ich dir, wie sehr du den Geistern des Wassers vertrauen kannst. Sie sind stärker als er."
Eden führte ihn zum Höhleneingang. Mit respektvollem Abstand lehnten sie sich an einen Findling. Stumm schauten sie dem Wasser beim Fallen zu.
Als Eden spürte, dass Pan ihr vertraute, trat sie vor. Mit ihren Handinnenflächen bildete sie einen Kelch, hielt sie in den Wasserstrahl und trank.
Auffordernd drehte sie sich zu ihm um. "Versuch es, und du wirst sehen, dass dir nichts passiert."
Pan zögerte. "Das Wasser der Quelle ist heilig. Verstoßen wir nicht gegen Gebote?"
"Alles ist heilig, was die Natur hervorbringt", erwiderte Eden. "Wir Menschen brauchen nur immer für alles eine Erklärung." Sie trank noch einmal. "Wasser ist lebenswichtig. Ich glaube nicht, dass unsere Mutter Erde ihren Geschöpfen verbietet, von ihr zu leben. Komm zu mir und trink!"
"Wenn meine Eltern nicht zurückkehren, hat sie der Fluss geholt. Wie soll ich da den Geistern des Wassers vertrauen?", bohrte Pan weiter und brach in Tränen aus. Eden erschrak. Darauf wusste sie keine Antwort.
Sie trat auf ihn zu und umarmte ihn. Schweigend wiegte sie den trauernden Jungen.
Pan schmiegte sich schluchzend in ihre Arme. "Wenn ich nur wüsste, was mit ihnen geschehen ist."
"Du darfst nicht aufhören zu leben", sprach Eden leise auf ihn ein. "Das würden deine Eltern nicht wollen. Du weißt ja auch noch gar nicht, ob es wirklich so ist, wie du denkst. Vielleicht sind sie ja auch nur verhindert."
Lange weinte er in ihren Armen und wusste nichts mehr zu sagen. Eng umschlungen saßen Eden und Pan hinter dem Wasserfall. In seinem Kummer schliefen sie ein.
Die Zeit rann dahin, die Sonne ging auf. Eden erwachte als erste, rieb sich schlaftrunken die Augen und sah sich um. Sie spürte den Hunger in ihrem Magen und wäre jetzt gern zu Hause.
Ihr Blick fiel auf Pans Seil, das noch immer um den Findling gebunden war und nutzlos am Boden lag. Es wäre so einfach ...
Sanft befreite sie sich aus seiner Umarmung und betrachtete sein kindliches Antlitz. Lange Wimpern warfen Schatten auf seine tränenverschmierten Wangen. Sie stand auf, befeuchtete eine dicke Haarsträhne mit Wasser und wusch damit sein Gesicht. Darüber wachte er auf.
"Sind wir eingeschlafen?", fragte Pan zaghaft. Eden nickte. Hastig sprang er auf. "Das Feuer", rief er. "Ich hätte aufpassen müssen ..." Pan stürzte ins Höhleninnere und wäre fast erneut in Tränen ausgebrochen. Das Lagerfeuer war mittlerweile erloschen. "Mein Vater hat mich gelehrt, wie wichtig es ist", erklärte er Eden, die hinter ihm herkam. "Es schützt uns vor Tieren und wärmt uns."
"Ich weiß. Kannst du es nicht wieder zum Brennen bringen?" Sie betrachtete das Häufchen Asche, in dem es noch ein bisschen glühte. Wortlos suchte Eden Reisig in der Höhle zusammen, legte es drumherum und nährte die erwachende Glut mit ihrem Atem. "Komm, hilf mir, das kannst du besser als ich", forderte sie den Jungen auf.
Während er blies, fütterte sie es mit Ästen. Bald darauf brannte es wieder, und Pan freute sich. Sie setzten sich zurück auf die Ziegenfelldecke. Eden deutete auf einen verschlossenen Lederbeutel. "Was ist da drin?", fragte sie.
"Wasser zum Trinken", erwiderte Pan verlegen. "Es ist aus dem See. Ich habe nicht mehr dran gedacht."
"Und davor hattest du keine Angst?"
"Nein, weil meine Eltern mich nur lehrten, fremde Gewässer zu meiden. Der See ist nicht fremd." Pan öffnete den Verschluss und reichte Eden den Beutel. Sie trank und gab ihn wieder zurück. "Ich habe Hunger", gestand sie.
Er deutete zur Decke hinauf. "Dann muss ich jagen." Schaudernd blickte Eden auf seine Hand. "Fledermäuse? Im Leben nicht!", rief sie entsetzt.
Pan zuckte die Achseln. "Mehr ist hier nicht, höchstens noch ein paar Kakerlaken."
"Aaaahhh, nein!", schrie Eden. "Wage es nicht, so etwas vor mir zu essen." Angeekelt bemerkte sie, was mit ihrem Körper geschah. Arme und Beine begannen zu kribbeln. Sie krümmte sich und erbrach sich vor seine Füße.
Der-mit-dem-Wind-spricht erschrak sich fast zu Tode. Aus Edens Mund kamen Unmengen Käfer und Kakerlaken. In seiner Panik griff er nach ihr und schüttelte sie, doch es hörte nicht auf. Er rettete seine Panflöte vor der Sauerei, wich zurück bis zur Höhlenwand und kauerte sich dort zu Boden. Seine Augen fielen ihm fast aus dem Kopf. War dieses Mädchen ein böser Geist?
Nachdem er sich gefasst hatte, erinnerte er sich, was sie ihm über Geister erzählte. "Eden, es ist nur ein Traum!", rief er ihr zu. "Wach daraus auf, und es ist alles vorbei."
Fieberhaft überlegte er, mit welcher Melodie er sie wieder zu sich bringen könnte. Pan verschränkte seine Beine im Schneidersitz, setzte seine Flöte an seinen Mund und lauschte in sich hinein. Im Geist sah er seine Mutter, die ihn im Arm hielt und sang. Inbrünstig spielte er das Lied nach.
~ Khalil ~
Noch bevor sie endgültig aufbrechen konnten, hörte er ihren Ruf. Khalil spürte, wie es in seinem Magen rumorte, doch er hatte den Brechreiz im Griff. "Eden lebt, doch es geht ihr nicht gut!", wandte er sich an Gabriel.
Er kümmerte sich nicht darum, wie Edens Vater seine Aussage aufnahm und sondierte den vor ihnen liegenden Weg. Der Fluss war über die Ufer getreten und hatte den Wald überschwemmt. Wie hoch das Wasser stand, war schwer einzuschätzen. Lediglich ein paar alte Feuchtstellen an den Baumstämmen und einigen Pfählen sagten aus, dass es schon schlimmer war.
"Du bist lustig", entgegnete Gabriel aufgebracht. "Dass Eden lebt, stand nie außer Zweifel." Khalil hob die Hand. "Ich muss überlegen, stör mich nicht." Marvin deutete auf die linke Seite. "Dort ist ein Zugang zu den Hängebrücken." Er wies auf einen Steg, der die Böschung mit einem Baum verband. "Wenn du allerdings schneller sein willst, müssen wir wohl übers Wasser." ... Daran war nicht zu denken!
Khalil kam zu demselben Schluss und setzte sich in Bewegung. Im Gänsemarsch schlugen sie sich nach links durch die Büsche, doch nach einer halben Stunde blieb er plötzlich stehen und starrte auf einen jungen Baum. Marvin trat zu ihm und schnippte vor seinem Gesicht mit den Fingern. "Hallo, noch da?", fragte er provokativ.
"Bist du blind?", schnauzte Khalil zurück. "Eden war hier!" Er deutete auf eine rotgoldene Haarsträhne, die halbmannshoch an den Ästen herunter hing.
"Wie passt das mit dem Plektrum zusammen?", fragte Gabriel. "Es wies nach rechts, und wir sind links."
"Wir haben einen Umweg gemacht", erinnerte Khalil ihn. "Wegen dem Steg. Wir müssen nach rechts über die Bäume, das wollte deine Tochter uns damit sagen."
"Es gibt noch ein Problem. Die Brücken laufen nicht in eine Richtung, sondern quer durch den Wald", gab Marvin zu bedenken. "Es ist ja nicht nur eine."
"Wir werden sehen. Vielleicht hat Eden noch mehr Spuren gelegt." Sie gingen weiter.
Am Steg angekommen, blieben die drei wie ein Mann stehen und staunten Bauklötze. "Kein Mensch hat so viel Haar", entfuhr es Gabriel.
Khalil schluckte und Marvin grinste nur schief. "Das glaube ich jetzt nicht", wehrte er sich gegen den Anblick. "Das ist ja fast wie Weihnachten mit viel Lametta."
"Das ist nicht komisch", maulte Khalil ihn an. Er kletterte allen voran eine Strickleiter hinauf und betrat die erste Plattform. Ehrfürchtig ließ er eine der Strähnen durch seine Hände gleiten. "Das ist kein Menschenhaar", verkündete er seinen Eindruck. "Es sieht zwar genauso aus, als wären es Edens Haare, doch es fühlt sich anders an."
"Woher kennst du Edens Haare?", zwinkerte Marvin von unten herauf. Khalil entlockte seine Frotzelei nur ein Stöhnen. Er rückte auf und betrat die ersten Brückensprossen, um Platz für seine zwei Begleiter zu machen.
"Nebeneinander hergehen ist nicht", warnte er vor. "Es gibt ein Geländer, aber das ist nur aus Seilen. Ich hoffe, wir sind alle schwindelfrei." Bei jedem Schritt wackelte die Brücke wie Lämmerschwanz. Das Baumlaub war dicht, was nicht großartig störte. Was jedoch von den Ästen herunter hing, konnten alle drei noch gar nicht fassen.
"Wenn es durch den ganzen Wald so geht, hilft uns das auch nicht viel weiter. Naja, das war jedenfalls nicht Edens Werk", konstatierte Khalil am Ende der ersten Brücke.
Die zweite Zwischenetage war breit genug, dass alle drei stehen konnten. Es war früher Morgen, die Sonne spickelte durch die Bäume. Vogelgezwitscher. Idylle. Ein Märchenwald?
So einfach war es nicht. Die nächste Etappe war ein Abstand zwischen zwei Bäumen. Es gab keine Brücke.
Unter ihren Füßen blubberten Wasserlöcher. Marvin, Gabriel und Khalil standen ungefähr fünf Meter drüber. Es wuchs Gras auf den Bäumen, so sah es aus.
Es waren keine Lianen und auch kein Efeu. Die Gewächse hatten die gleiche Farbe wie Edens Haare und ähnelten Strähnen. "Die Spur am ersten Baum war aber anders", überlegte Khalil. "Diese Strähne war Echthaar. Vielleicht ist Eden hängengeblieben, vielleicht war es auch Absicht."
"Ich nehme mal an, es war Absicht", bestätigte Gabriel. "Meine Tochter ist schlau." Er betrachtete den gegenüberliegenden Baum. "Keine Brücke, keine Alternative."
"Khalil nickte. "Aber wir müssen da rüber. Von dort drüben aus verzweigen gleich mehrere Stege." Nichts, was ihm besonders gefiel!
"Nehmen wir das Seil und spielen Tarzan", schlug Marvin vor und klopfte sich selbst demonstrativ auf die Schulter, weil er der Seilträger war.
Seine Idee kam nicht gut an. "Das funktioniert vielleicht einmal, aber zum Zurückschwingen ist der Abstand zwischen den Bäumen zu groß, und für eine gleichzeitige Aktion sind wir zu schwer." Khalil schüttelte den Kopf. "Entweder waten wir hier durchs Wasser oder ..."
Er zuckte die Achseln, weil er nicht weiter wusste. Gegen sein Kopfkino kam Khalil nicht an. Er stellte sich vor: Ein Seil an einem Baum, drei Männer dran, drei Mann mit Rucksack. Er fing zu lachen an. Marvins Humor war er ja schon gewöhnt, aber sein Vorschlag grenzte an Dummheit. Noch dazu würde dieser Mensch irgendwann mal sein Chef sein, das würde bestimmt eine spannende Zeit.
Marvin fragte, ob er mitlachen dürfe. Das machte es nur noch schlimmer. Mit rotem Kopf schüttelte Khalil noch einmal den Kopf. "Nein, nein, schon gut."
Plötzlich raschelte es über ihnen im Baum. Alle drei blickten gleichzeitig nach oben. Ein paar ziemlich lange Strähnen fielen aus der Krone, direkt vor ihre Nase. Sie sahen kräftiger und dicker aus als jedes Seil und waren wie Mädchenzöpfe ineinander verschlungen. Der Länge nach reichten sie zirka bis einen halben Meter über den gefluteten Waldboden. Einladend baumelten die Flechten im Wind.
"Soviel zu Tarzan!", sagte Gabriel trocken und brach nun ebenfalls in schallendes Gelächter aus. Prustend schlug er sich auf die Schenkel.
Nachdem er sich gefasst hatte, bekam er ein schlechtes Gewissen. "Eigentlich dürfte mir nicht nach Lachen zumute sein", entschuldigte Gabriel sich bei seinen beiden Begleitern. "Meine Frau kommt wahrscheinlich beinahe vor Kummer um, und ich weiß nicht einmal, ob sie noch sucht oder schon wieder zu Hause ist. Ich hoffe nur, dass Adeela sie ein wenig auffangen kann."
"Das wird sie bestimmt", tröstete Marvin. "Wenn das jemand kann, dann ist das sie." Ein weiches Lächeln glitt über sein Antlitz. Er war ein glücklicher Mann!
"Wir müssen weiter." Khalil übernahm wieder das Ruder und prüfte die Festigkeit der natürlichen Taue. "Es könnte klappen", murmelte er vor sich hin. "Rucksack und Seil lassen wir hier", überlegte er nun etwas lauter. "Zwei schwingen bis zum nächsten Baum, der dritte wartet, bindet unser Gepäck an, wirft es uns zu und kommt dann nach."
Sein Vorschlag wurde angenommen und funktionierte. Nach wenigen Minuten standen sie auf der nächsten Plattform, die etwas größer und offenbar eine Kreuzung war. Khalil setzte sich in eine Ecke des von einem stabilen Geländer gesicherten Plankenquadrats.
"Lasst mich nur ein paar Minuten in Ruhe", bat er. In seinem Inneren vibrierten Schwingungen, Gedanken rasten. Er schloss die Augen, lauschte und ersehnte sich Edens Stimme. Ihm war, als befände er sich in einem Leerraum.
~ Eden ~
So überraschend, wie Edens Flashback gekommen war, so schnell war er auch wieder vorbei. Unklar ist, wie sie wieder zu Kräften kam. War es Pans Melodie oder seine Aufforderung, aus ihrem Traum zu erwachen?
Vielleicht war es aber auch Khalils Stimme, die sie erreichte, denn eigentlich war es schon immer so: Sie fühlte, was er erlebte, wann er sie brauchte, was er erlitt. Ob es umgekehrt auch so war: Das wusste Eden allerdings nicht!
***
Pan staunte nicht schlecht, als das ganze Viehzeugs wieder verschwunden war. Mehr noch: Der Höhlenboden sah plötzlich aus wie geleckt, als hätte ihn jemand geputzt. Nicht ein winziges Fleckchen deutete darauf hin, dass es Eden gerade noch speiübel gewesen war.
Dass Pan nicht geträumt hatte, verriet sie ihm selbst. Verlegen grinste sie zu ihm hinüber: "Ich hoffe, ich habe deine schmucken Mokassins nicht zu dreckig gemacht." Automatisch blickte er auf seine Schuhe, doch die waren genauso sauber wie der ganze Boden.
Eden fuhr fort: "Kakerlaken und Käfer erwähnst du in meinem Beisein besser nicht, weil dann sowas passiert." Sie ging auf ihn zu und streckte ihm eine Hand entgegen. "Komm wieder zurück, du siehst aus, als ob du Angst vor mir hast. Auch mein schlechter Geist existiert nur im Traum."
"Es ist schon gut", erwiderte Pan. "Ich habe das schon vor dir begriffen." Er stand auf und ging mit ihr zum Feuer zurück. "Was bedeutet es, dass ich deinen Traum mit dir teilte?" Er hatte es wirklich gesehen!
Eden zuckte die Achseln. "Ich weiß es nicht. Vielleicht, dass wir uns mögen. Oder es gibt einfach mehrere Menschen in einer eigenen Welt."
Beim Lagerfeuer angekommen, bat sie Pan um ein Messer. Er schaute sie fragend an. "Ich rufe Khalil", erwiderte Eden. "Du machst aber keine Dummheiten damit?", hakte er sicherheitshalber noch einmal nach.
Eden lächelte. "Nein, ich werde nichts und niemanden damit verletzen." Erst nach dieser Zusicherung kam Pan ihrer Bitte nach und holte sein Schnitzmesser aus einem Weidenkorb. "Ich denke, es ist scharf genug."
Sie nahm es und ging damit zum Höhleneingang. "Ich muss für einen Moment allein sein", rief sie Pan zu und kniete sich hinter die Kaskaden des Falls.
Stumm genoss sie die Gischt auf ihrem Gesicht, schnitt sich einen dicken Haarbüschel ab, legte das Messer neben sich und nahm die lange Strähne zwischen ihre gefalteten Hände. Eden schloss ihre Augen, suchte und rief Khalil im Geist. "Wenn du mich suchst, ich bin hier", formte sie ihre Gedanken in leise Worte und baute den Ort für ihn nach. Als das Bild klar vor ihrem Inneren Auge stand, warf sie ihre Strähne in den Wasserfall und sandte sie auf die Reise. Eden sackte in sich zusammen und rief den Fluss auf. Dort hatte sie Spuren gelegt. Ob Khalil schon so weit war? Würden ihre Eltern sie mittlerweile vermissen? Sie suchen? Hatten sie Angst? Hatte sich ihre Mutter wieder beruhigt?
Ein lautes Geräusch am Himmel riss Eden aus ihrer Trance. Was das zu bedeuten hatte, konnte sie nicht erkennen, das Wasser versperrte ihr die Sicht in die Welt vor dem Fall. Sie vermutete, dass es ein Hubschrauber war.
Ob er für sie gedacht war oder war während des Gewitters womöglich etwas passiert? Der Sturm hatte auch hier gewütet, an dem See, wo sie und Pan sich befanden. Sie hatte es selbst gesehen.
Plötzlich wurde es Eden bang. Sie hatte die letzten Stunden kaum Gedanken an ihre Familie gehabt, war viel zu sehr mit sich selbst und dem Jungen beschäftigt gewesen. Sie stand auf und ging zu Pan zurück, setzte sich neben ihn und bat: "Bitte spiel mir ein Lied, ich habe Angst."
Er verschränkte die Beine im Schneidersitz und setzte seine Panflöte an. Eden legte ihren Kopf in seinen Schoß. Tröstend streichelte er ihren Kopf und spielte ihr indianische Weisen. Sie schloss müde die Augen, genoss und schlief ein.
~ Khalil ~
Gabriel bückte sich, hob ein weiteres Plektrum auf und zeigte es Marvin. "Also wieder nach links", resümierte er und warf einen Blick zu Khalil, der ungefähr zehn Schritte von ihnen entfernt in einer Ecke saß. "Was tut er da?"
"Ich würde sagen, er schläft", antwortete Marvin trocken und blickte in die Tiefe. Unterhalb des Stegs, wo das Sujet gelegen hatte, rauschte ein Wildbach.
Er beugte sich über das halbhohe Geländer und verfolgte die Richtung. Marvin vermutete, dass der Bach sich irgendwann mit dem Fluss treffen würde, doch wo kam er her?
Gabriel legte das Plektrum wieder an den alten Platz zurück und kam zu ihm. Gemeinsam begutachteten sie den Weg, der vor ihnen lag. Diesmal hatten sie etwas mehr Glück, es war ein befestigter Holzsteg, der eine ganze Weile lang einer bestimmten Richtung folgte.
Er versuchte, die Entfernung zu schätzen. Es war nicht ganz einfach, weil die Brücke sich wand und krümmte wie eine Schlange. "Na dann mal viel Spaß", sagte er, "fünf Meilen dürften das locker sein."
"Sieh mal!", forderte Marvin ihn auf und zeigte ins Wasser. Unter ihnen strudelte ein glänzender Büschel. Gabriel lächelte stolz. "Ein weiteres Zeichen von Eden, würde ich sagen. Folgen wir einfach dem Bach."
"Deine Tochter ist in einer Höhle", sprach Khalil die beiden Männer von hinten an. "Und sie ist nicht allein." Er stellte sich zwischen Marvin und Gabriel und schaute ebenfalls auf den Bach. "Ich habe übrigens jedes Wort mitgehört und nicht geschlafen." Er zeigte in eine Richtung. "Dort ist die Quelle, und dahinter finden wir Eden. Sie schläft."
"Aha!", brummte Marvin. "An einem solchen Tag muss ich mich wohl über nichts mehr wundern. Hellseher, was?" Khalil grinste. "So ungefähr. Auf geht's, Männer, zusammenpacken und weiter. Wir haben sogar Musik!"
"Ähm, aber nicht nur", erwiderte Gabriel. "Lange sind wir wahrscheinlich nicht mehr allein." Das Rauschen des Wassers wurde von Rotorengeräusch übertönt.
"Umso mehr Grund, uns zu beeilen. Ich glaube, für die Nerven aller Beteiligten wäre es besser, wenn wir schneller sind." Khalil schnallte seinen Rucksack um, und sie zogen los. Nach ein paar Schritten fragte Gabriel: "Du hast gesagt, sei sei nicht allein. Was sollte das heißen? Ist jemand bei ihr? Ist Eden in Gefahr?" Es war ihm anzusehen, dass ihm nicht mehr ganz wohl in seiner Haut war. Gabriel fragte sich, ob er das Verschwinden von Eden nicht doch etwas zu sehr auf die leichte Schulter genommen hatte.
"Ich glaube nicht", erwiderte Khalil. "Es ist nur ein Junge, wahrscheinlich derjenige, der die Flöte spielt." Er verstummte und lauschte dem Wind und den sie stetig begleitenden Weisen. Schweigend schritten sie Richtung Sonne, den Weg des Wassers entlang. Dass sich in diesen wandernden Seelen eine alte Legende erfüllte, ahnten sie nicht.
~ Khalil, Eden und Pan ~
Nach etwa zwei Stunden kamen Marvin, Gabriel und Khalil am Ende dieser seltsamen Holzbrücke an. Der Steg war keine zehn Meter gerade verlaufen, alle Naselang mussten sie um eine Kurve. An manchen Stellen ging es sogar bergauf und bergab. Die ganze Zeit wurden sie von langen Strähnen begleitet. An signifikanten Stellen, wo eventuell eine Abbiegung gewesen wäre, hatte Eden Plektren gelegt. So wurden sie sicher geleitet.
Etwas wie diesen Wald hatte keiner der drei jemals in seinem Leben gesehen. Es wuchsen Bäume und Pflanzen, die sie nicht kannten. Pilze waren in sämtlichen Farben, Formen und Größen vertreten. Khalil hätte schwören können, sie hätten Augen.
Auf der Hälfte der Strecke riss Marvin eine der haarähnlichen Grasflechten ab, doch binnen Sekunden wuchs sie wieder nach. "Wären wir nicht zu dritt, müsste ich denken, ich würde träumen." Er trat ans Geländer und blickte auf die anderen Bäume. "Mit unserem Weg haben wir noch am meisten Glück. Wenn wir woanders hin müssten, wäre es schwerer." Auf den ersten Blick hatte es so ausgesehen, als wären die Bäume mit lauter Hängebrücken verbunden, doch nun stellte sich heraus, dass keine Verbindung wie die andere war. Große Netze waren gespannt, es gab Hängebrücken in verschiedenen Längen oder Wendeltreppen, wenn ein Baum höher als der andere war.
"Hoffentlich befinden wir uns nicht auf dem Holzweg", sah sich Gabriel veranlasst, ihre Mission zu verspotten. Khalil ging neben ihm und sah ihm an, dass es kein Scherz war. "Du hast Eden vertraut, das war ganz bestimmt kein Fehler", erwiderte er. "Du wirst sehen: Es geht ihr gut." Seine Worte gingen fast im Donnern der noch nicht sichtbaren Fälle unter. "Wir sind bald da."
Nach zehn Minuten betraten sie gemeinsam die letzte Plattform. Sie standen der Quelle des Wildbachs direkt gegenüber, die Sonne stand westlich über einem roten Sandsteinmassiv. Das Wasser fiel von dessen Gipfel und verteilte sich über mehrere Stufen. Mittig befand sich der größte Fall und schimmerte in Regenbogenfarben.
Rechterhand der Fälle befand sich ein großer See, an dessen Ufern sich der Wald fortsetzte. Er wurde vom Fluss gespeist, der aus dem Norden kam. "Hier also vereinigt sich alles", bemerkte Khalil voller Ehrfurcht. "Wasser ist Leben, ich kann gut verstehen, dass es Eden hierher zog."
Er bildete seine Hände zu einem Trichter und rief ihren Namen. Die Flöte verstummte. Gabriel fragte: "Du bist dir ganz sicher, dass sie hier ist?" Khalil nickte. "Ich habe es auch nicht gewusst, dass unsere Freundschaft so stark ist, dass Eden sich so offen zeigt. Ich sage dir jetzt und hier, was ich will: Wenn wir erwachsen sind, wird sie meine Frau."
Eden trat aus der Höhle und stellte sich so, dass Khalil sie sehen konnte. Wasser brauste über sie hinweg und machte sie nass. Ihre langen Locken klebten am Körper und glänzten wie rotes Gold.
"Khalil!", rief sie zurück. "Ich wusste, dass du mich findest." Sie strahlte übers ganze Gesicht. Eden nahm Pans Seil, ließ es nach unten fallen und rutschte hinunter.
Kurz darauf stand sie auf einem Weißkiesstrand zwischen Wasserfällen und See. Marvin, Gabriel und Khalil kamen ihr über einen Verbindungssteg entgegen.
Ihrem Vater fiel sie um den Hals. "Daddy, es tut mir leid, wenn Ihr euch Sorgen gemacht habt." Sie fing an zu weinen. "In der Höhle ist ein Junge, der mich gebraucht hat. Er traut sich nicht mehr ins Freie."
Gabriel tätschelte sie unbeholfen und schob Eden von sich. "Du bist klitschnass."
Sie wischte ihre Tränen ab und sah betreten an sich herunter. "Jetzt habe ich auch dich nassgemacht."
"Eine neugeborene Nixe", witzelte Marvin und umarmte sie. "Was machen wir jetzt mit deinem neuen Freund?" Eden blickte zu Khalil. "Vielleicht kannst du ihn holen? Pan hat Angst vor dem Wasserfall." Sie deutete auf das Seil, das am Fels herabhing. "Es ist gut befestigt."
Pan war nun auch ins Freie getreten und sah zu ihnen herab. "Ich muss erst das Feuer löschen", schrie er von oben und deutete auf seinen Weidekorb. "Eden, es ist schon gut. Ich schaffe es schon, du hast es ja auch geschafft." Der Indianerjunge holte das Seil hoch. "Nehmt Ihr mir den bitte ab?" Er band seinen Korb an und ließ ihn herab.
Khalil ging zu den Fällen und nahm ihn entgegen. Er blickte hoch. "Sicher, dass du zu uns kommen kannst?", rief er ihm zu. "Sonst komme ich und hole dich." Khalil hielt das Ende des baumelnden Seils fest. "Vor dem Wasser brauchst du keine Angst zu haben, es ist weit genug weg." Pan winkte, ging in die Höhle zurück und trat das Feuer aus. Kurz darauf rutschte er ebenso behende wie Eden nach unten und lächelte Khalil schüchtern an. "Du bist also ihr Freund?", fragte er. "Sie hat viel von dir erzählt."
Noch bevor Khalil antworten konnte, hallte Motorengeräusch durch die Schlucht. Er lauschte. Es kam vom Fluss her. Kurz darauf fuhren mehrere Motorboote im See ein. "Jetzt wird es wild", bemerkte er. "Ja, ich bin Edens Freund. Aber ich glaube, für mehr haben wir jetzt keine Zeit."
Ein Marshal führte den gelandeten Suchtrupp an. Er und seine Männer fuhren ans Ufer und kamen zu ihnen. "Es ist viel passiert heute nacht." Er hatte sich Gabriel als Gesprächspartner ausgesucht, weil er der Älteste war. "Wie es aussieht, habt Ihr die Ausreißerin unbeschadet gefunden." Fragend glitt sein Blick zu Eden und Pan.
Marvin führte den Polizisten am Arm beiseite. "Wir haben zwei Leichen gefunden", setzte er ihn in Kenntnis. "Wahrscheinlich gehören sie zu dem Jungen." Er wies mit dem Kopf in die entsprechende Richtung. "Ich glaube nicht, dass er es weiß. Es sind bestimmt seine Eltern."
Der Ostermontag im Jahr 2014 neigte sich irgendwann ereignisreich seinem Abschluss zu. Am Ende des Tages erklärten sich die Abels bereit, sich um den verwaisten Jungen zu kümmern. Auch sein Stamm war von den Bränden in den Bergen betroffen. Seine Eltern verlor Pan an den Fluss.
Im Land, wo jeder Traum gelandet
Und jeder Zweig ein Zweifel ist
Ertrinkt die Liebe in dem Blut
Von dem, der gegen Bäume pisst.
Das Schwert des Kriegers heutzutag'
Hat keine scharfe Klinge mehr
Der Mob wühlt sich durch Hasstiraden
Das Intellektregal steht leer.
© Florian Tekautz
Die Woche darauf begleitete Marvin Pan in sein einstiges County, wo er normalerweise in eine einfache Schule ging. Er stand ihm während der von der Wohlfahrt organisierten Beisetzung bei. Seine Eltern wurden eingeäschert, sehr zu Pans Kummer nicht nach altem Brauch. Immerhin bekam er die Urnen.
Sein Stamm war nach dem Waldbrand in alle Winde verstreut, nur eine alte Frau war noch geblieben. Der Junge war heimatlos, seine Schule abgebrannt.
Marvin kehrte ohne ihn wieder nach Cedar Village zurück, er wollte es so. Entwurzelt trieb Pan durch die Ruinen und suchte sich selbst. Seiner Identität fühlte er sich beraubt, er hatte nicht einmal einen richtigen Namen.
Geblieben war ihm seine geliebte Flöte aus Bambusrohr und seine Musik. Pan suchte die Nähe zu der letzten Algonkin und ließ sich von ihr Geschichten erzählen. Die Greisin hatte seine Familie gekannt und füllte ihm die Zeit der Trauer. Er bezahlte mit seinen Liedern.
Drei Tage verbrachte Pan in diesem verkohlten Niemandsland. Er schlief im Freien, kehrte tagsüber zu ihrem armseligen Cottage zurück und spielte ihr auf.
Am letzten Abend verglich die alte Frau ihn mit einer Gottheit. Wieder war er "Der-mit-dem-Wind-spricht", doch sie schenkte ihm den Namen der Ahnen: Wabun Anung.
~ Marvin ~
Im selben Jahr, als Marvin seine heutige Frau Adeela kennenlernte, verstarb sein Freund, Mäzen und Arbeitgeber an Krebs und setzte ihn als Alleinerben ein. Seitdem war er Konzernchef. Marvin wahrte das Andenken an Jerry mit Anstand und erwies sich als würdiger Erbe.
Mittlerweile gab es eine zweite Firmenzentrale in Tulsa, von wo aus er Jerry Steeles Geschäfte gemeinsam mit einem großen Managerstab führte.
In Cedar Village, wo er und Adeela auch lebten, hatte er die Weiterführung seines Traums verwirklicht: Ein Nostalgie-Auto-Pub im Stil der Fünfziger Jahre. Der Firmenname war schlicht: Marvin & Jerry.
Die Erbmasse hatte einen Wert in schwindelerregenden Höhen, was Marvin nicht zwingend behagte. In seinem vorherigen Leben hatte er oft genug von der Hand in den Mund gelebt, und nun war er Halbmilliardär, Tendenz steigend. Der Kauf von zwei Häusern und die Ausgaben für Privatdetektive, um Khalil zu finden, hatten sein Budget kaum geschmälert. Seine Firmenanteile spülten jedes Jahr genug Moneten an, um den Lebensunterhalt von ihm und Adeela luxuriös zu gestalten, was Marvin sich aber verkniff. Stattdessen ermöglichte er Samira und Khalil ein neues Leben, griff den Abels öfter unter die Arme und bezahlte Edens Musikunterricht. Es machte ihm Spaß, Träume zu erfüllen, denn sein eigener beruflicher Traum war recht einfach und erfüllte sich in seinem Autopub.
Inzwischen hatte ihm das Schicksal zwei weitere Leben in die Hände gelegt: Adeela war schwanger, und da war Pan. Sowohl er als auch seine Frau hatten den schwarzlockigen Knaben ins Herz geschlossen.
Sie wussten noch nicht viel über ihn, nur dass er Vollwaise war und auch keine weitere Verwandtschaft mehr hatte. Dem Jungen drohte die Unterbringung in einem Heim, und das würde Marvin gerne verhindern. Also behielt er ihn im Auge. Er schenkte Pan ein altes Handy und riet ihm, ihn anzurufen, wenn er ihn abholen solle.
Der Anruf kam vier Tage nach der Bestattung von dessen Eltern, Marvin war im Büro. Pan berichtete ihm, dass eine alte Stammesangehörige ihn zum Gott gemacht hätte und er jetzt einen anderen Namen trug. Er fragte, was er jetzt tun solle, er hätte ja kein Zuhause mehr.
Marvin sicherte ihm zu, ihn am selben Tag noch zu holen, er hätte nur nicht gleich Zeit. Nachdem das Gespräch beendet war, rief er bei den Abels an und fragte, ob sie Pan aufnehmen könnten. Gabriel hätte ja bereits zugesagt, sich um ihn zu kümmern.
Am Abend zog Pan bei den Abels ein. Eden war komplett aus dem Häuschen und freute sich, dass sie jetzt einen Bruder bekam. Im Vorfeld hatten Marvin, Adeela und Gabriel sich unterhalten, unter anderem auch über die Auswirkungen auf Rahel. Adeela hegte eine gewisse Hoffnung mit der Unterbringung eines zweiten Kindes bei den Abels und meinte, dass es nur gut für die Beziehung zwischen Eden und ihrer Mutter sein könne. Ihr Rat war der Grund, warum Marvin und sie den Jungen nicht selbst aufnahmen, Platz genug wäre da.
Es würde noch nicht die letzte Änderung im Leben der Abels sein, denn Adeela war entschlossen, die Familie ihrer selbst gewählten Isolation zu entreißen. Marvin stimmte ihr zu, und somit waren die nächsten Tage des Ehepaars Beard angefüllt mit Besorgungen und Organisation.
Am zweiten Sonntag nach Ostern war letztendlich Bescherung. Marvin und Adeela hatten niemandem von ihrem Vorhaben erzählt. An besagtem Tag fuhr einfach ein Kastenwagen vollbepackt mit allerlei Zeugs bei den Abels vor.
Eden und Pan polterten die Treppe hinunter und rannten schnurstracks zur Tür hinaus. Fast hätten sie die beiden Männer, die einen flachen, rechteckigen Karton durch den Garten trugen, umgerannt, doch Marvin fing sie rechtzeitig ab. Ohne lange zu fackeln, dirigierte er seine Lastenträger ins Wohnzimmer der Abels.
Rahel hatte den Aufmarsch bereits durchs Küchenfenster entdeckt und kam zu ihnen. Skeptisch betrachtete sie das sperrige Geschenk, das mittlerweile unausgepackt in einer Ecke stand. Marvin grinste sie an. "Ich weiß, dass du nicht begeistert sein wirst, doch so langsam wird es Zeit. Immerhin hast du nun zwei halbwüchsige Kinder im Haus, und die wollen beschäftigt sein."
Noch bevor Rahel ihre Meinung zu einem hochmodernen Flachbildfernseher kundtun konnte, kündigte Krawall im Flur an, dass das nicht alles war. Zwei weitere Träger schleppten irgendetwas auf Marvins stummen Fingerzeig die Treppe hoch, kamen wieder herunter und verließen gemeinsam mit ihren Kollegen das Haus. Erst jetzt kapierte sie, was da soeben geschah. "Weiß Gabriel etwa darüber Bescheid?", fragte sie überrumpelt.
"Nein!", antwortete Marvin wahrheitsgemäß, "doch er wird nichts dagegen haben. Wo ist er überhaupt?"
Ein Jubelschrei aus dem oberen Stockwerk zeigte an, dass auch dort jemand beschenkt worden war. Rahel gab ihm keine Antwort und drückte sich an ihm vorbei. Soeben wollte sie die Treppe hinauf, als Eden angerannt kam und Marvin kurzerhand um den Hals fiel. "Ein Computer! Das habe ich mir schon immer gewünscht."
Etwas verhaltener kam Pan hinterher und bedankte sich ebenfalls. Marvin boxte ihn auf den Arm. "Für dich kommt noch mehr." Er zog Rahel und die beiden Kinder ins Zimmer, um Platz für seine Träger und eine Ladung Möbel zu machen. "Du bist verrückt!", klagte Rahel.
"Wo ist nun dein Mann?", fragte Marvin noch einmal. "Bei Samira und Khalil", erwiderte sie. "Gabriel ist unter die Dachdecker gegangen."
"Ah, dann denke ich, Adeela gibt ihm Bescheid. Zu Khalil kommt der Osterhase durch sie." Er lachte.
Rahel ließ sich geplättet in den Sessel ihres Mannes fallen. "Du weißt, wie ich dazu stehe. Den ganzen neumodischen Schnickschnack brauchen wir nicht", beschwerte sie sich. "Bisher sind wir gut ohne klargekommen."
Marvin setzte sich ihr gegenüber. "Eden bekommt in der Schule Unterricht. Dort arbeiten sie auch mit Computern. Ich weiß, dass du deine Tochter beschützen willst, doch wenn sie den Anschluss behalten soll, ist es unumgänglich, dass sie damit umgehen kann. Außerdem ist sie vernünftig und geistig gesund. Hör mit deinem Geglucke auf, du hast jetzt zwei Kinder, für die du verantwortlich bist." Er deutete auf den noch verpackten Fernseher. "Damit habt Ihr einen Blick in die Welt hinaus. Wie viel Ihr euch und den Kindern zumuten wollt, bestimmt Ihr letztendlich selbst. Nächste Woche kommt jemand vorbei und schließt euch alles an. Dann habt Ihr auch Internet."
"Und was ist mit Pan? Wie geht es da weiter? Wir haben die Pflegschaft beantragt", berichtete Rahel. "Kann er bei uns bleiben? Wir haben noch keinen Bescheid."
"Ich kümmere mich drum", erwiderte Marvin. "Das ist auch ein Grund, weshalb Ihr nicht hinter dem Mond leben solltet. Sein kleines Reich hat er ja schon. Wir haben heute alle noch ein bisschen Arbeit, es einzurichten."
Rahel schaute besorgt nach Eden und Pan, doch die beiden hatten das Zimmer bereits wieder verlassen und wuselten wahrscheinlich Marvins Helfern zwischen den Füßen herum. Erleichtert atmete sie auf, dass sie das Gespräch nicht mehr mitbekamen. Sie stand auf. "Dann wollen wir mal schauen, was du für den Jungen mitgebracht hast. Das Gästezimmer war ja nur provisorisch. Kommst du mit?"
~ Namenlos ~
Mit dem American Lifestyle hatte Wabun Anung bisher noch nicht viel Berührung gehabt. Es war nur eine sehr einfache Schule gewesen, die er im Schoß seines Stammes besuchte. Lesen und Schreiben konnte er gut, mathematische Grundkenntnisse waren vorhanden, er beherrschte auch die amerikanische Sprache.
Vieles, was er im Unterricht gelernt hatte, fußte noch auf den Traditionen und Ritualen der Ahnen. Im Reservat hatten maximal dreißig Personen gelebt. Die waren fast alle verschwunden: bis auf die alte Frau, die ihm seinen indianischen Namen gab. Für Eden war er nur Pan!
Vor der offenen Tür hatte er das Gespräch von Marvin und Rahel belauscht. Nun machte er sich Gedanken. Bestimmt müsste er bald auf eine richtige Schule. Das machte ihm Angst. Er trug drei Namen, doch für die Zivilisation war er namenlos. Wabun Anung fühlte sich unsichtbar.
Leise schlich er die Treppe hinauf und schaute vorsichtig, ob jemand in seinem Zimmer war. Marvins Helfer waren gerade in dem von Eden beschäftigt, seines war leer.
Er betrat den Raum, der noch von Unordnung sprach, holte seine Panflöte und die Urnen seiner Eltern aus einem Schrank und packte alles zusammen in seinen Weidenkorb. An einem Bettlaken ließ er den Korb in den Garten hinab, kletterte hinterher, schnallte ihn um und stahl sich davon. Der Wind würde ihm sagen, wohin.
Es wurde spät, bis ihn jemand vermisste. Der ganze Nachmittag im Hause der Abels war mit Trubel gefüllt. Gabriel und Adeela kehrten zurück.
Jeder nahm an, dass Pan beim Spielen im Garten war. Am Abendbrottisch fiel es Rahel auf, dass er nicht kam. Nachdem sie ihre Besorgnis kundgetan hatte, aßen die fünf Anwesenden stumm und betroffen fertig.
Eden war diejenige, die auf die Idee kam, in seinem Zimmer Detektivin zu spielen und entdeckte das offene Fenster und das baumelnde Laken. Auch sein Weidenkorb fehlte, und sie zog ihre Schlüsse.
Eden rannte die Treppe hinunter und gab Bescheid: "Pan ist verschwunden." Vorwurfsvoll schaute sie ihre Mutter an. "Was hast du zu ihm gesagt?" Rahel erbleichte. "Wie kommst du auf die Idee, dass ich schuld daran bin? Ich habe ihn das letzte Mal gesehen, als Marvin gekommen ist, und da warst du dabei."
"Hört auf mit dem Mist!", schaltete sich Gabriel ein. "Wir suchen ihn, und gut ist. So weit wird er schon nicht weg sein. Vielleicht ist er bei Khalil, oder im Wald."
"Du nimmst wie immer alles auf die leichte Schulter", entrüstete sich Rahel. "Und was, wenn du dich irrst? Ich würde sagen, wir lassen ihn suchen!"
"Nicht schon wieder!", schrie Eden sie an. "Er war todunglücklich, als Menschen, die da nicht hingehören, an dem Ort seiner Ahnen war. Lernst du eigentlich nie?"
"Eden!", mahnte Marvin. "So geht das nicht. Schrei deine Mutter nicht an." Er wandte sich an Rahel. "Wenn wir die Polizei einschalten, trägt das nicht dazu bei, dass wir die Pflegschaft durchbekommen. Wir haben Eden gefunden, als sie weg war. Wir finden auch ihn."
Aufrecht und stolz stellte sich Eden auf einen Hocker und schaute auf sie alle herab. "Ich werde ihn finden. Ich brauche euch nicht. Meine Harfe und ich!"
Adeela schluckte, Marvin verbiss sich ein Grinsen. Auch Gabriel fiel es schwer, seine Rührung vor seiner Frau zu verbergen. Es war aber auch ein zu drolliges Bild, wie seine Tochter wie eine Göttin da stand und die Erwachsenen strafte. Rahel glotzte, als stünde ein Geist vor ihr.
Eden sprang wieder herunter. "Reg dich bloß nicht schon wieder auf", sagte sie lakonisch. "Pan hat ein so schönes Zimmer von Marvin bekommen, nicht, dass du auch das demolierst." Sie wirbelte auf den Hacken herum, verließ das Esszimmer und trappelte die Treppe hoch. Gabriel lachte verdattert. Vier Augenpaare starrten ihr stumm hinterher.
Nach dem ersten Schrecken eilte Rahel ihr hinterher und erwischte Eden gerade noch, als sie mit ihrer Harfe das Haus verließ. Sie packte ihre Tochter am Arm. "Du hörst jetzt mal auf, dauernd abzuhauen."
Eden wehrte sie ab. "Ich gehe zu Khalil. Wenn du unbedingt auf mich aufpassen willst, komm eben mit." Rahel war überrascht über ihr Angebot, auch wenn es recht kratzig ankam. "Meinst du das ehrlich?", fragte sie.
Eden nickte. "Ich habe nichts zu verbergen, und Khalil auch nicht. Vielleicht erzähle ich dir unterwegs, wie Pan mich zu sich rief und wie ich ihn fand." Versöhnlich hakte sie sich bei Rahel ein und führte sie durch den Garten. "Bilde dir bloß nichts ein, das mache ich jetzt nur, damit du irgendwann mal vernünftig wirst", spöttelte die Göre und grinste.
~ Marvin ~
Im Haus nutzte Marvin die Medien der Neuzeit und rief Pan auf seinem Handy an. Er ließ es so lange klingeln, bis das Besetztzeichen kam. "Es ist eingeschalten", erklärte er Gabriel anschließend, "doch er geht nicht dran. Vielleicht kann ich ihn per GPS orten."
"Und wenn er es gar nicht dabei hat?", fragte Adeela.
"Das kann ich ja schauen, wenn nicht, liegt es bestimmt in seinem Zimmer", antwortete Marvin, stand auf und ging nach oben. "Er hat es dabei", informierte er Gabriel und Adeela, als er zurückkam. "Rahel und ich haben ihn heute nachmittag ganz knapp verpasst. Sie wollte seine Möbel angucken, doch wir wurden fast umgerannt."
"Erklär mir mal, wie du mit diesem Ding da sehen willst, wo der Junge gerade ist", forderte Gabriel und wies auf Marvins Handy. Er erklärte es ihm, rief eine Straßenkarte auf und zeigte auf einen roten Punkt. "Das müsste er sein. So wie es aussieht, ist er unterwegs in seine alte Heimat. Das ist der Highway ins Reservat."
Marvin bückte sich, kramte in einer Aktentasche herum und legte vier nagelneue Smartphones in die Mitte des Tischs. "Die Verträge laufen alle auf mich. Die sind für die Kinder, Rahel und dich. Wenn sie ihre Geräte dabei haben, werdet Ihr sie nie wieder verlieren. Adeela soll dir erklären, wie es funktioniert, ich muss jetzt weg."
"Meine Frau reißt mir den Kopf ab", murrte Gabriel. "Wo ist die überhaupt?"
"Ich werde sie ganz bestimmt sehen. Eden und Khalil nehme ich mit und gable den Jungen auf. Rahel schicke ich heim, wenn ich sie erwische." Marvin stand auf und ging.
~ Der * seinen * Namen * sucht ~
Kann ein Mensch seinen Namen verlieren? Nachdem er aus dem Fenster geklettert war, wusste Pan erst einmal nicht, wohin er gehen sollte. Sein Herz war mindestens so schwer wie seine Beine, die Last seiner Eltern in seinem Korb drückte ihn fast zu Boden. Wo fände er Rat, wo fände er Hilfe, wo Trost?
Er brauchte Zeit für sich selbst, Zeit ohne Stimmen von fremden Menschen, die gedachten, für ihn Mutter und Vater zu werden. Sie waren es nicht, seine Eltern waren doch tot.
Ihm fiel das Baumhaus von Eden ein. Sie hatte ihm erzählt, dass nur ihre engsten Freunde es kannten. Dort fände er Ruhe, und er könnte auf seiner Flöte spielen. War er nicht "Der-mit-dem-Wind-spricht"? Bestimmt fände er so seinen Weg und eine Heimat. Er befahl seinen Beinen, zu laufen und ihn gefälligst zu tragen, und sie gehorchten. Wenig später war er am Ziel.
Pan stellte seinen Weidekorb in das Versteck, das Eden ihm auch gezeigt hatte, nahm seine Panflöte mit und baute es zu. Er suchte nach ihrem Baum, kletterte behende nach oben und kuschelte sich auf die alten Decken in dem kleinen Baumhaus. Er gedachte, nicht lange zu bleiben, nur solange, bis der Wind mit ihm sprach.
Bald darauf erklangen die Töne seiner Flöte im Wald, vermischten sich mit den Stimmen der Vögel und mit dem Wind. Als seine Melodien wieder verstummten, wusste Pan, zu wem er wollte: Zu der Weisen, die ihm einen Namen gab.
~Khalil und Marvin ~
"Da ist er!", rief Eden und zeigte mit dem Finger durch die Windschutzscheibe von Marvins Porsche. Khalil saß auf dem Rücksitz und beugte sich zwischen den beiden Vordersitzen nach vorn, um mehr zu sehen. "Sieht so aus, als würde er trampen", bestätigte er ihre Entdeckung. "Ich hätte jetzt nicht mal gedacht, dass er das kennt."
"Jetzt tu mal nicht so, als wäre Pan ein Wesen vom Mars", schimpfte Marvin. "Von dir hätte ich das am Allerletzten erwartet. Rück lieber zur Seite, damit er einsteigen kann."
Es war noch hell genug, dass sie ihn sehen konnten. Sie waren noch ein paar Autolängen von Pan entfernt, und Marvin hoffte, dass ihn niemand anderes mitnahm. Als der Junge ihrer ansichtig wurde, sah es zuerst so aus, als wolle er flüchten. Dann jedoch sackten seine Schultern nach unten, sein Blick senkte sich, und er kickte einen Stein von sich weg. Er trug sein rotes Stirnband. Als das dritte Auto vor ihnen an ihm vorbei fuhr, hob er stolz seinen Kopf und sah ihnen entgegen.
Marvin setzte den Blinker, fuhr an den Straßenrand und schaltete seine Warnblinkanlage ein. Er stieg aus und ging auf ihn zu. "Was ist los?", fragte er knapp.
Pan hob die Schultern und steckte seine Hände in die Taschen einer zerrissenen Jeans. "Was soll ich bei euch?", fragte er niedergeschlagen. "Jeder gibt sich Mühe mit mir, und ich weiß nicht einmal, wer ich eigentlich bin."
"Und wo wolltest du hin?"
Pan zog die rechte Hand aus der Tasche und wies in die Berge. "Ich habe dir von der Algonkin erzählt, die Wabun Anung in mir sah. Vielleicht kann sie mir auch einen richtigen Namen verkaufen. Einen, der zu euch passt."
Marvin umarmte ihn tröstend. "Du wolltest dir einen Namen kaufen? Das verstehe ich nicht. Warum?"
"Wenn ich bei Edens Familie bleibe und in ihre Schule muss, werden sie über mich lachen, weil ich nur das habe, was ich bekam. Es sind Namen meines Stammes und meiner Ahnen, was bestimmt niemand versteht", versuchte der Junge, es zu erklären. "Und Pan bin ich nicht."
"Steig erst mal ein. Wenn du denkst, dass dir das hilft, dann gehen wir alle zusammen." Marvin zeigte zum Auto. "Khalil und Eden haben sich auch Sorgen um dich gemacht, deshalb sind sie dabei." Er führte Pan zu seinem Wagen und öffnete ihm die hintere Tür.
Khalil grinste ihn an. "Da bist du ja." Er klopfte neben sich. "Rein mit dir, wir folgen dir bis ans Ende der Welt."
Eden hatte das Fenster herunter gelassen gehabt und alles mitgehört. Fassungslos drehte sie sich zu ihm um. "Wenn ich gewusst hätte, dass dich dieser Name verletzt, hätte ich besser geschwiegen. Ich habe nur gedacht, dass er zu dir passt."
Marvin fuhr an. Verlegen schüttelte Pan seinen Kopf. "Das ist es nicht, Eden. Ich habe es dir ja erlaubt und auch verstanden, warum du mich so nennst. Aber schau doch mal: Du heißt ganz anders, und Khalil auch. Ihr habt Namen, die jeder versteht. Sogar ein Algonkin."
Seine Antwort verletzte sie. Tränen stiegen ihr in die Augen. "Es spielt doch keine Rolle, wie du heißt und woher du kommst. Wir sind deine Freunde", erwiderte Eden. "Wir wären es auch, wenn du von einem anderen Stern kommen würdest."
Marvin warf einen Blick in den Rückspiegel und setzte den Blinker. "Eden hat recht. Uns gefällt auch nicht immer alles, was unsere Eltern uns mitgaben. Namen gehören dazu." Er fuhr eine Tankstelle an. "Deshalb heißt das aber nicht, dass wir niemand sind. Wir werden eine Lösung finden, Wabun Anung. Eine, die allen gefällt."
Später hielt Marvin zum Tanken an. Als er die Raststätte zum Zahlen betrat, kam Khalil ihm hinterher. Neugierig sah er sich um. Sein Blick fiel auf ein Regal mit verschiedenen Spielen. Er entdeckte ein Scrabble-Spiel, folgte Marvin an die Kasse und zupfte ihn am Arm. "Ich habe eine Idee." Khalil hielt die Schachtel hoch.
Marvin fragte nicht lang, packte noch ein paar Fressalien dazu und bezahlte alles zusammen.
Bevor sie die Raststätte verließen, hakte er nach. "Das will ich wissen, wie ein Spiel Pans Problem lösen soll."
"Ich weiß, wie wichtig manchen Kulturen Rituale und Traditionen sind", erklärte Khalil. "In meinem Land ist das genauso. Ich musste Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um meine Mutter zu überreden, sich an das Leben hier anzupassen. Bei Pan wird das nicht anders sein." Er zog Marvin zur Seite, um einen Kunden vorbei zu lassen. "Wir begleiten ihn einfach zu der alten Frau, reden mit ihr und spielen ein bisschen Scrabble."
Bei seinen letzten drei Worten grinste er und fuhr fort: "Eine Medizinfrau kann die Steine bestimmt verzaubern. Vielleicht kommt sogar was Brauchbares raus."
Marvin lachte erheitert auf. "Du willst den Jungen verarschen?"
"So würde ich das jetzt nicht nennen. Ich glaube nicht, dass er dumm ist. Aber es würde Pan freuen, wenn wir seine Herkunft achten, indem wir ihn ernstnehmen."
"Dann wäre die von dir erkorene Medizinfrau verarscht", gab sich Marvin weiterhin skeptisch. Khalil versuchte, ihn zu überzeugen: "Nein. Sie wird ja eingeweiht. Ihr Part ist nur, ein Ritual ihres Stammes daraus zu machen. Sie ist ein Teil davon, weil Pan zu ihr wollte und er ihr vertraut."
Sie gingen zum Auto und stiegen ein. Khalil versteckte die Schachtel unter seiner leichten Windjacke, damit Pan sie nicht sah. Es würde schwierig werden, auch Eden einzuweihen, ohne dass er es mitbekam. Er glaubte jedoch, dass seine ohnehin magisch angehauchte Freundin von seiner Idee begeistert sein würde.
Marvin drehte sich um, bevor er losfuhr. "Bist du bereit, dich noch einmal deiner alten Heimat zu stellen? Wir sind auf jeden Fall bei dir." Er verteilte Getränke und Hamburger an seine Begleiter. Wabun Anung war sichtlich gerührt!
Der * seinen * Namen * sucht * und * vielleicht * findet
Am Zielort angekommen, konnte es Khalil kaum erwarten, aus dem Auto zu kommen. Krampfhaft hielt er seine geschlossene Windjacke fest, damit das Scrabble nicht rutschte. Mit einer fast buckligen Körperhaltung umrundete er Marvins Kofferraum, schlich am hinteren Porschefenster vorbei und wäre fast gegen die Tür geknallt, als Pan sie aufstieß. Er wurde rot, wich ihr aus und riss die vordere auf. Eden feixte belustigt. "Hast du Bauchweh?"
Khalil schüttelte den Kopf, hielt mit einer Hand die Schachtel fest und zog mit der anderen Eden vom Beifahrersitz. "Muss mit dir reden", nuschelte er.
Sie fiel vor lauter Hektik fast aus dem Auto. "Ich komme ja schon, spinnst du?" Khalil scherte sich nicht darum, wie sein seltsames Verhalten auf Pan oder Marvin wirkte. Er schaute sich nach einem Versteck um, was in dieser verkohlten Einöde nicht einfach war. Das weitläufige Gebiet war von Baumruinen und Mauerresten geradezu übersät. Ratten schnüffelten zwischen verdorrtem Gras und Gebüsch nach Nahrung, ein Koyote verschwand in einer Höhle. Am Himmel kreiste ein Adler und schrie.
Etwa 500 Meter weiter weg stand das einzige erhaltene Cottage zwischen mehreren Bäumen. Khalil lotste Eden hinter einen etwas höheren Mauerrest, zog die Spieleschachtel hervor und erklärte ihr, was er von ihr wollte. Sie hörte sich sein Anliegen an und nickte. "Es wäre aber besser, wenn ich mit der Frau spräche. Ich glaube, dass ich es besser erklären kann." Eden öffnete die Schachtel, holte die mit Buchstaben beschrifteten Spielsteine heraus und steckte sie in ihre Hosentasche. "Das ist weniger auffällig. Geh du und lenk Pan ab, ich suche die Stammesfrau."
"Meinst du, sie spricht unsere Sprache?", fragte Khalil. Eden zuckte die Achseln. "Wenn nicht, dann unterhalte ich mich mit ihr eben durch Gesten. Mein Geschenk wird sie spätestens dann verstehen, wenn Pan zu ihr kommt." Sie trat hinter der Mauer hervor und hielt zielstrebig auf das Cottage zu. "Sie hat uns schon gesehen."
Khalil gehorchte und ging zu Marvin und dem potentiellen Täufling. Beide schlenderten durch die Ruinen und unterhielten sich angeregt.
"Eden möchte deine Stammesangehörige kennenlernen, darum ging sie schon einmal vor", erklärte er Pan. In der Hoffnung, dass Marvin ihn auch ohne Worte verstand, warf er ihm einen stummen Blick zu.
"Was verschweigt Ihr mir?", fragte Pan konsterniert. "Ihr beide seht aus, als hättet Ihr ein Geheimnis."
"Nein!", beruhigte Marvin ihn. "Kein Geheimnis, nur eine Überraschung für dich." Er lehnte sich an einen angeschwärzten Baumstumpf und ließ seinen Blick über das einstige Reservat schweifen. Seine braunen Augen wurden traurig. "Hier haben Menschen gelebt, und jetzt ist hier nur noch totes Land", sinnierte er. "Ich würde es gerne kaufen und Häuser bauen. Weißt du, wem es gehört?"
"Dem County", erwiderte Pan. "Soll das meine Überraschung sein?"
Marvin stieß sich von dem mannshohen Stumpf ab und ging weiter. "Nein. Die bereitet Eden für uns gerade vor." Khalil sah ihn mit großen Augen an und fühlte sich fast verraten. Marvin klopfte ihm auf den Arm. "Wir werden es Pan schon erklären müssen, was ihn erwartet." Er drehte sich zu ihm um. "So viel kann ich dir schon mal sagen: Wir spielen ein Spiel. Es ist also nichts Schlimmes!"
"Ein Spiel?", fragte Pan neugierig. "Hier? Verstecken?"
"Nein", antwortete Khalil. "Wir spielen 'Der-seinen-Namen-sucht', und das bist du. Wir werden dir dabei helfen, dass du ihn findest."
Pan wusste nicht, was er davon halten sollte. Sein Gesicht war ein einziges Fragezeichen. "Einen Namen findet man nicht, wenn man ihn sucht. Er wird gegeben."
"Eben." Khalil grinste. "Du willst ja so heißen wie wir. Also brauchen wir etwas, das zu dir passt. Gemeinsam finden wir das heraus." Er zeigte zum Cottage, wo die greise Algonkin mit Eden zusammen damit beschäftigt war, ein Lagerfeuer zu richten. "Sie hilft uns bestimmt."
Von einem Felsblock herab fauchte eine dünne, struppige Streunerkatze die Eindringlinge an und lenkte Pan kurzfristig ab. Er zuckte zusammen und wich zurück. "Es ist nur eine Katze", beruhigte ihn Marvin, doch der Junge ging bereits auf sie zu und nahm sie hoch. "Ich weiß, sie gehört mir. Sie ist abgehauen." Er nahm sie mit zu der Algonkin, drückte sie ihr in den Arm und sagte etwas zu ihr in der Stammessprache. Sie nickte und brachte sie in ihr Cottage.
Eden kam zu ihnen. "Was hat die Frau mit der Katze vor?", fragte sie.
"Die braucht sie für ein Ritual", erwiderte Pan mit stoischer Miene. Khalil und Eden erbleichten. "Das ist nicht dein Ernst!", riefen beide gemeinsam wie aus einem Mund. "Warum? Das wird doch von Wilden, wie wir es sind, so erwartet." Er ließ sie stehen und ging der alten Frau hinterher. "Das ging ja wohl ins Auge", bemerkte Marvin. "Sieht aus, als wäre er sauer."
"Die Indianerin spricht unsere Sprache und hat alles verstanden", erwiderte Eden. "Sie wird schon das Richtige tun und ihn beruhigen."
Wenig später trat die Frau allein aus der Hütte und stellte sich ihnen vor. "Ich werde von meinem Stamm Nokomis genannt. Sie sehen mich als die Mutter des Himmels. Wabun Anung habt Ihr in seiner Ehre verletzt."
Khalil scharrte verlegen mit einer Schuhspitze im Sand. "Das wollten wir nicht. Wir dachten, dass er sich freut, wenn wir das mit ihm zusammen machen."
Nokomis setzte eine strenge Miene auf. "Heilige Steine sind etwas ganz Anderes als das, was dieses Mädchen mir gab." Sie wies auf Eden. "Das weiß ich, das wisst Ihr, und das weiß auch er. Ich habe sie ihm gezeigt."
Marvin trat vor. "Ich wusste, dass der Vorschlag der beiden nur schiefgehen kann. Aber, werte Nokomis, es sind nun mal Kinder. Junge Menschen lösen viele Probleme mit Fantasie." Er nahm ihre Hand. "Macht einen Vorschlag, wie wir Wabun Anung sonst helfen könnten."
Nokomis entzog ihm die Hand nicht, was Marvin als gutes Zeichen ansah. "Unterzieht euch demselben Ritual wie er, als Wabun Anung von mir seinen Namen bekam. Alles hat seinen Sinn. Ich schenke euch Stammesnamen."
"Wie soll ihm das helfen?", fragte Khalil.
"Danach gehört Ihr in den Schoß der Algonkin. Es wird ihm leichter fallen, einer von euch zu werden und den Namen in eurer Sprache zu finden, der ihm gefällt", erwiderte Nokomis und sah Eden an. "Wie hast du ihn genannt? Pan?"
Eden schaute betreten zu Boden. "Ja, aber so wie es aussieht, gefällt ihm das nicht." Nokomis zog einen zerschlissenen Umhang enger um ihren Körper und schloss ihn mit einer Fibel. "Kann er mit diesem Namen in eure Schule gehen?", fragte sie.
Marvin verneinte. "Es ist kein Name, der anerkannt wird." Nokomis blickte die drei strafend an. "Seht Ihr, und das ist sein Problem. Wabun Anung will, dass er anerkannt wird." Sie drehte sich zur Hütte um und rief nach ihm. Als er in der Tür stand, gab sie ihm Befehle in ihrer Sprache.
Kurz darauf brachte Pan eine Schachtel und öffnete sie auf ihr Geheiß. Sie enthielt Amulette. "Ab jetzt sprechen wir nur noch die Sprache unserer Gäste", sagte sie und wandte sich an Khalil und Eden: "Holt Matten, für jeden eine. Wabun Anung wird euch zeigen, wo sie zu finden sind."
Als die Sonne unterging, flackerte ein Lagerfeuer vor Nokomis' Behausung. Viel mehr war das kleine Cottage nicht: Ein Hüttchen aus Holz, die Latten morsch, ein rundes Lehmdach. Mehr als einen Raum hatte sie nicht, Nokomis teilte ihn nur mit der Katze von Pan. Sie würde bleiben.
Rund um das Lagerfeuer saßen ihre Gäste, jeder einzelne auf einer eigenen Matte. Nokomis hatte Stirnbänder an alle verteilt und sie mit Asche gesegnet. Marvin, Khalil und Eden waren nach Stammesbräuchen geschminkt, uralte Zeichen, deren Bedeutung nur die Stammesälteste kannte. Pan war anders geschminkt und ging ihr bei ihren Vorbereitungen für die Aufnahme der Gäste zur Hand.
Niemand sprach. Zu hören war nur das Knistern der Flammen, das Flüstern des Windes und Nokomis' geschäftige Schritte zwischen Hütte und Lagerfeuer. Stumm und gemeinsam mit Pan verteilte sie tönerne Schalen mit Kräutertee. Als alle bedient waren, setzten sie sich ebenfalls auf Weidenmatten. "Nun werden wir reden", brach Nokomis das Schweigen. "Wabun Anung hat sich bereit erklärt, euch in seine Familie aufzunehmen. Von nun an werdet Ihr Brüder und Schwestern sein."
Marvin als der Älteste saß direkt neben ihr. Nokomis griff in ihren Umhang, holte die Scrabblesteine heraus und gab sie ihm. "Die brauchen wir nicht."
Pans Gesicht verdüsterte sich, doch er hielt sich zurück. In die Vorbereitungen der Zeremonie einzugreifen war ihm nicht erlaubt und würde Nokomis verletzen.
Marvin nahm die Steine entgegen, nickte dankend und steckte sie in seine Jackentasche. Erwartungsvoll sah er Nokomis an. Sie fuhr fort: "Wabun Anung hat mir schon einiges von euch erzählt, doch ich habe noch Fragen. Beantwortet sie mir ehrlich. Davon hängt es ab, welche Namen Ihr von mir bekommt. Sprecht aus eurem Herzen."
Nokomis fokussierte Eden mit ihrem Blick. "Du bist die Jüngste. Mir wurde erzählt, du machst Musik und hilfst deinen Freunden. Was ist dein Traum?"
"Ich spiele Harfe", erwiderte Eden. "Mein Instrument symbolisiert für mich Frieden. Mein Wunsch wäre, zu reisen und mit meiner Musik eine Stimme zu haben." Ihr Gesicht leuchtete verklärt in der Dunkelheit. "Ich will Frieden überall auf der Welt. Ich wünschte, ich könnte dafür etwas tun."
Die Stammesälteste griff in eine große Schüssel und warf eine Handvoll mit Kräutern geweihtes Wasser ins Feuer. Die Flammen loderten zischend auf. Auf ihr Zeichen hin erhob sich Wabun Anung, trat vor Eden hin und hängte ihr ein Lederband mit Amulett um den Hals. "Du bist Shawnee", sprach Nokomis feierlich. "Dein Totem ist die weiße Taube."
Wabun Anung ging schweigend an seinen Platz zurück und setzte sich. Nokomis wandte sich nun an Khalil. "Mir wurde erzählt, du warst Soldat. Sage mir: Hast du Menschen getötet?"
Khalil stiegen die Tränen in die Augen. Er nickte. "Ich musste es tun, sonst hätte es mein Vater getan."
"Du wurdest gerettet. Wie rein ist deine Seele? Würdest du es wieder tun?", fragte Nokomis weiter. Khalil schwieg lange und starrte ins Feuer.
Erst, als Marvin ihn stupste, fand er zurück. "Kann ein Mensch versprechen, niemals zu töten? Ich setze meine Füße auf den Boden und zermalme vielleicht ein kleines Tier. Es ist Töten, ohne dass ich es wollte. Aber nein, Soldat will ich nie wieder sein. Ich will das gleiche wie Eden."
Nokomis fragte nicht weiter nach und wiederholte die Zeremonie. "Dein Name ist Miskwaa."
Wabun Anung brachte Khalil ein Amulett mit dem Symbol eines blutenden Herzens. "Ich kann dir kein Tier als Totem geben", erklärte Nokomis. "Es würde dir nicht gerecht." Sie wandte sich Marvin zu. "Wabun Anung berichtete mir von deiner Großzügigkeit. Das allein reicht mir nicht. Sage mir: Was ist dein Lebensplan?"
"Ich wollte nie reich sein", antwortete Marvin. "Es hat mir genügt, meine Arbeit zu tun, doch das Schicksal wollte es anders. Ich bin ein einfacher Mann. Mein Herzenswunsch hat sich schon erfüllt: Die Liebe meines Lebens ist meine Frau. Sie ist mein größtes Glück."
"Das war nicht meine Frage", erwiderte Nokomis. "Mir wurde gesagt, du seist reich. Lebst du in den Tag hinein, weil dein Geld dir das erlaubt? Lässt du deine Freunde teilhaben aus einer Laune heraus oder nimmst du sie mit?"
Marvin verzog schmerzlich das Gesicht. "Das war deutlich. Erlaubt mir, diese Frage zu delegieren, denn egal, wie die Antwort ausfallen würde: Sie wäre falsch."
Nokomis ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und sah ihn strafend an. "Du brauchst also Bürgen für deinen Charakter? Hast du kein eigenes Bild von dir?"
"Doch. Wie ich bereits sagte: Ich bin ein einfacher Mann und gedenke, das auch zu bleiben. Mein Haupterbe ist nicht materieller Art. Mein Freund und Ziehvater war alles für mich und gab mir vor Allem Herz. Da er auch Vorbild war, ist klar, dass ich sein Geld nicht verplempern will."
Nokomis gab sich zufrieden. "Das war mir Antwort genug. Du bist Wematin." Wabun Anung überbrachte Marvin sein Totem: Es war der Falke. Als er wieder saß, erklärte sie die Zeremonie für beendet.
"Du hast deinen Namen schon erhalten", sprach Nokomis zu ihm. "Dir empfehle ich, dich mit der Familie, die sich um dich kümmert, zu beraten. Sie werden dir einen Namen geben, der amtlich anerkannt wird, denn das kann ich nicht." Wabun Anung gab ihr die Schachtel mit den Amuletten. Sie kramte darin herum und sprach: "Dein Totem wird der Adler sein. Er steht für den Gott des Windes und für deine Freiheit." Feierlich hängte sie es ihm um.
Er ging vor ihr auf die Knie und legte sein Haupt in ihren Schoß: "Ich danke Euch sehr, Großmutter. Ich werde Euch nicht enttäuschen." Gerührt streichelte sie seinen Kopf.
Erst spät in der Nacht und der Eindrücke reich kehrten die vier Freunde nach Hause zurück. Marvin war während der Fahrt schweigsam und grüblerisch. Nokomis' Worte und der Anblick des zerstörten Geländes ließen ihn nicht mehr los. Ein großes Areal Wald war zerstört, den Stamm der Algonkin gab es nicht mehr oder lebte woanders. Zwischen den Trümmern hatte er Skelette unbekannter Herkunft entdeckt und fragte sich, warum die niemand entfernte.
Eden und Khalil schliefen eng zusammen gekuschelt auf dem Rücksitz, Pan saß auf dem Beifahrersitz und schaute zum Fenster hinaus. "Darf ich dich mal fragen, wie alt du bist?", sprach Marvin ihn an.
Der Junge wandte ihm den Kopf zu und lächelte. "Ich sage es dir zu Hause."
"Warum nicht jetzt?", hakte Marvin nach.
"Weil ich mich dazu ausziehen muss." Pans Lächeln vertiefte sich zu einem Grinsen. "Ihr liebt doch Spiele, also gebe ich dir hiermit ein Rätsel auf." Er wandte sich dem Fenster zu und verfiel wieder in Schweigen.
"Was bedeutet der Falke?" Marvin gab nicht so schnell auf. "Nokomis gab sich geheimnisvoll. Warum bin ich Wematin?" Pan sah ihn nicht an. "Sie sieht in dir jemanden, der kluge Entscheidungen fällt und großzügig ist. Der Falke ist der Bote des Lichts. Stammesnamen lassen sich nie direkt übersetzen, doch sie zeichnen uns aus. Es wird keinen Algonkinnamen geben, der etwas Schlechtes ist."
Marvin setzte den Blinker zur Ausfahrt nach Cedar Village und warf einen Blick auf den Rücksitz. Khalil sprach im Schlaf und in seiner Sprache. Es klang gequält. "Khalil hat noch viele Geister in sich", fuhr Pan fort. "Deshalb ist er Miskwaa und hat als Totem ein blutendes Herz. Das hat Nokomis noch nie gemacht."
"Und was, wenn jemand von Grund auf böse ist?", fragte Marvin. "Was bekommen schlechte Menschen von Nokomis für Namen?"
"Keinen. Sie gehören auch nicht zu unserem Stamm, nicht einmal, wenn sie bei uns geboren sind. Die bösen Geister müssen besiegt werden, die Seele muss rein sein."
Eden streckte sich, schlug die Augen auf und rückte von Khalil ab. "Sind wir bald daheim?", fragte sie schlaftrunken und blickte orientierungslos hinaus in die Nacht. Engel der Straße huschten mit glühenden Augen am Fenster vorbei und zählten die Meilen, die der Porsche mit kraftvollem Röhren hinter sich ließ. "Bald", erwiderte Marvin. "Ungefähr eine halbe Stunde. Und? Gut geschlafen?"
Allmählich wurde sie munter. "Es kommt mir vor, als käme ich direkt aus einem Traum. Worüber habt Ihr gesprochen?" Eden tastete verstohlen nach ihrem Totem, um sich zu vergewissern, dass es noch da war.
Pan bemerkte ihre Geste im Spiegel, drehte sich zu ihr um und lächelte sie zärtlich an. "Shawnee", wisperte er fast ehrfurchtsvoll. "Du hast nicht geträumt."
"Ich bin frisch getauft", witzelte Eden und strahlte Pan an. "Das war ja so aufregend, aber wer bin ich?"
"Nokomis hat dir deine Zukunft gezeigt. Sie sieht Großes in dir: Du eroberst die Welt, und überall wo du bist, wird Frieden sein. Deshalb ist dein Totem die Weiße Taube."
"Eine schöne Vorstellung", erwiderte Eden. "Musik ist Magie, ebenso wie alle anderen göttlichen Gaben. Sie kann sogar führen, sonst hätte ich dich niemals gefunden." Es lagen viele Abenteuer hinter den vier Freunden: Die Reise durch eine magische Welt, ein Ritual einer uralten Kultur und vor Allem: Sie hatten einander gefunden.
Ist das schon das Ende ihrer Legende? Oh nein! Vor jedem Einzelnen lag noch so viel. Nokomis hatte nicht nur in ihre Herzen geblickt, sondern auch Erwartungen in sie gesetzt. Die Mutter des Himmels - die Große Mutter des Algonkin-Stammes - hatte ihre Träume geweckt und ihnen die Richtung gezeigt, um sie zu leben.
Was würde unter Wematins Händen entstehen? Wer weiß: Vielleicht entsteht in den Bergen ein neues Land. Eines, das Kulturen vereint, statt sie zu spalten.
Vielleicht wird aus Miskwaa und Shawnee ein Paar. Es wäre Khalils größter Traum, seit Eden ihm in der Kindheit erschien, als er sie am Nötigsten brauchte.
Was ist mit Wabun Anung? Er hat zwar auch schon seine Bestimmung gefunden, doch ihm steht noch bevor, sich in der Zivilisation zu behaupten.
Deshalb ist die Geschichte von Eden auch noch nicht aus!
***
Wematin = Marvin
Miskwaa = Khalil
Shawnee = Eden
Pan = Wabun Anung = Der - mit - dem - Wind - spricht = Der - seinen - Namen - sucht = Namenlos
Der - seinen - Namen - sucht - und - vielleicht - findet:
= ???
Cedar Rapids war bei ihrer Rückkehr wie ausgestorben. Die Häuser lagen im Dunkeln, die Nacht war so ruhig wie schon lange nicht mehr. Überall hatte das letzte Unwetter Spuren hinterlassen, etliche Häuser hatten ihre Dächer verloren. Gefallene Bäume verschwanden allmählich vom Straßenrand. Die kleine Stadt wirkte, als ob sie aufatmen würde. Mitternacht war schon vorbei.
Bei den Abels brannte noch Licht. Voller Sorgen warteten Gabriel und Rahel auf Marvin, dass er Pan und Eden wohlbehalten wieder zurückbringen würde. Adeela schlief auf einem Sofa, die Hand schützend auf ihren Bauch gelegt. Für alle Beteiligten war es ein harter Tag gewesen.
Als Kies vor dem Haus knirschte, sprangen beide erleichtert vom Küchentisch auf. Rahel rannte zur Haustür, und Gabriel sah zum Fenster hinaus.
"Sie kommen", rief er ihr hinterher. "So wie es aussieht, haben sie den Jungen gefunden."
Adeela erwachte von seinem Ruf und rieb sich die Augen. "Bin ich eingeschlafen?", fragte sie benommen.
Gabriel achtete nicht auf ihre Frage und ging seiner Frau hinterher. Gemeinsam standen sie in der Haustür und warteten darauf, dass die Kinder kamen.
Rahel weinte vor lauter Erleichterung. Marvin schob Pan in ihre Richtung. Zerknirscht stand er vor ihr. "Es tut mir leid, Mrs. Abel", murmelte er. "Ich wollte euch keine Sorgen bereiten." Wortlos umarmte sie ihn, Gabriel schloss sich ihr an. "Was auch immer dein Problem war, wir werden eine Lösung finden!", versprach er. "Du gehörst zu unserer Familie, wir mögen dich sehr." Angesichts der Wärme, die ihn umfing, schluchzte Pan auf. Erschüttert schmiegte er sich in die Arme des Paars und schalt sich selbst undankbar. Marvins Hand zwischen seinen Schulterblättern gab ihm den Halt, der ihn davor bewahrte, in einem Tränenmeer zu versinken. Es waren so viel, die seine Seele durchtränkten.
"Ich habe Hunger", riss Edens Stimme die drei Menschen aus ihrer Versunkenheit. Ihr quengelnder Tonfall brachte alle zum Lachen. Gabriel löste sich und sprach: "Dann kommt mal rein." Sein Blick glitt zwischen Pan und Marvin zu ihr. Voller Stolz musterte er seine einzige Tochter. "Ich bin gespannt, was Ihr zu erzählen habt."
Rahel eilte ihnen in die Küche voraus und machte sich am Kühlschrank zu schaffen. "Hilfst du mir?", fragte sie Adeela. "Dein Mann und die Kinder haben Hunger."
Ihre Hände zitterten vor Erregung. Adeela erhob sich von ihrem provisorischen Schlafplatz, trat neben sie und umarmte Rahel. "Setz dich, ich mache das." Sie führte ihre ältere Freundin zum Sofa. Dankbar ließ sie sich fallen. "Was für ein Tag", stöhnte Rahel. "Was für eine Zeit. Es ist so viel passiert. Eden leuchtet regelrecht vor lauter Freude, weil Pan bei uns ist. Aber was kommt auf uns zu?"
Als die beiden Männer mit den Kindern die große Wohnküche betraten, war das Gespräch vorerst vorbei, die Frage noch offen.
"Reden wir, wenn die Kinder im Bett sind", flüsterte Rahel hastig. Adeela nickte knapp und machte sich daran, ein paar leichte Snacks zuzubereiten. "Setzt euch!", dirigierte sie. "Gleich gibt es etwas zu essen."
Marvin ging ihr zur Hand und deckte den Tisch. "Du wolltest mir noch etwas zeigen", erinnerte er Pan an die Frage nach seinem Alter. "Nicht hier vor den Frauen", erwiderte der Junge leise und wurde rot. Pan zog Marvin aus dem Raum. "Gehen wir in mein Zimmer."
"Das hast du ja noch gar nicht gesehen", erwiderte Marvin und stieg mit ihm gemeinsam die Treppe hinauf. Rahel rief ihnen hinterher: "Es gibt gleich was zu essen."
"Wir kommen gleich wieder." Die beiden betraten den Raum. Pan blieb wie vom Donner gerührt in der Tür stehen. "Das ist ja der Wahnsinn." Marvin hatte ihm im Laufe des Tages ein Jugendzimmer mit Zitaten seiner Kultur einrichten lassen. Das große Bett stand in einem Tipi, überdeckt mit mehreren Kunstfelldecken in Bärenoptik. Ein Kissen wurde von einem Strohsack ersetzt.
"Handgestopft", warf Marvin ein, als Pan zu seinem Bett ging und ihn untersuchte. Vom Dach des Zelts hingen mehrere Traumfänger herab.
Die Schränke sahen aus wie kleine Hütten, und auch ein Computersystem mit allem Schnickschnack war in einer solchen versteckt. Die Wände waren von Decken in verschiedenen Formen verhängt, Farne wuchsen in Kübeln. "Mein Zimmer sieht fast aus wie ein Wald", rief Pan. "Und es ist auf einmal so riesig. Wie hast du das nur gemacht?"
"Spiegel", erwiderte Marvin und zeigte auf die entsprechenden Stellen. Sie waren geschickt zwischen den Wandbehängen versteckt. "Ich hoffe, das ist dir Beweis genug, dass du willkommen bist."
Pan senkte den Kopf und schämte sich. "Trotzdem bleibt noch das Problem, wie ich mich in der Schule einfügen soll. Ich habe nicht einmal Papiere oder einen Geburtstag." Er warf seine Jacke aufs Bett, zog sein Shirt aus und drehte Marvin den Rücken zu. "Das ist alles, was aussagt, wann ich geboren bin." Marvin zog beeindruckt mit den Fingerspitzen die Konturen einer Tätowierung nach. "Ein Lebensbaum. Erklär es mir."
Pan drehte sich wieder um und sah ihm ins Gesicht. "Jeder Zweig steht für ein Jahr. Meine Eltern fingen bei meiner Geburt damit an. Wenn die Bäume zu blühen beginnen, kommt ein Zweig dazu. Ich weiß nur, dass ich im Frühjahr geboren bin. Fertig ist der Baum noch lange nicht."
"Zieh dich wieder an", erwiderte Marvin, als Adeela ungeduldig nach ihnen rief. "Wir müssen nach unten. Ich werde mich erkundigen, was zu tun ist. Du bekommst deine Papiere, mit denen du in die Schule kannst. Überleg dir schon mal einen amerikanischen Namen." Er grinste verschmitzt.
~ Jaden ~
Nach den Sommerferien wurde Pan eingeschult. Adeela hatte ihm ihren Geburtsnamen zur Verfügung gestellt. In seinen Papieren stand nun Jaden Basara. Die Pflegschaft hatten wie vorgesehen Rahel und Gabriel. Die Zeit würde es weisen, ob eine spätere Adoption infrage käme.
Die zu absolvierenden Eignungstests meisterte Jaden mit Bravour, er kam sogar in Edens Klasse. Dank der Tätowierung auf seinem Rücken war sein Alter gut nachvollziehbar, er würde die Tradition beibehalten. Jedes Jahr bekäme sein Lebensbaum einen weiteren Zweig.
Es würde Nokomis' Aufgabe sein, das Ritual weiterzuführen. Zur Baumblüte würde aus Jaden wieder Wabun Anung. Er würde zurück in die Berge pilgern, und vielleicht hätte er seine Freunde dabei. Wie viele Zweige noch auf seinem Rücken erblühen: Wir werden sehen!
Bei Aufräumarbeiten nach einem länger zurückliegenden Waldbrand stieß ein Feuerwehrmann, der anonym bleiben will, auf eine ältere Frau, die behauptete, sie gehöre zum Stamm der Algonkin. Sie weigerte sich, ihre armselige Behausung im Wald zu verlassen mit der Begründung, dass ihre Familie sie brauche, wenn sie zurückkehrt. Sie sei die Große Mutter des Himmels.
Trümmer und zahlreiche zum Teil skelettierte Leichenteile deuteten in der Tat auf eine einstige Siedlung hin. Welcher Art Menschen in dem abgelegenen Waldgebiet in der Nähe von Tulsa lebten, ist noch nicht bekannt.
Gemeldet wurden die Leichenfunde und das Gelände von Marvin Beard, einem Unternehmer aus Cedar Village. In seiner Begleitung befand sich ein Junge, der seine Aussage bezeugte.
Zwei Wochen zuvor tobten etliche Unwetter und Tornados durch Oklahoma, wobei es zu mehreren Waldbränden kam. Gelöscht wurden sie aus der Luft. Das würde erklären, warum das Gelände noch nicht entdeckt worden war.
Indian's Voice Magazine Tulsa
apa/05. 05. 2014
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Die Sprache der Gewalt nimmt überhand
Wo ich gehe und stehe, ist verlorenes Land
Eiskalte Trauer ergreift meine Seele
Niemand darf wissen, wie sehr ich mich quäle
Wenn die Magie sich meiner entzieht
Der Wohlklang der Musik mir entflieht
Deine Liebe mir nicht mehr reicht
Weil ein Tag dem Anderen gleicht
Sind dann meine Träume für immer verloren?
Wurde ich ehedem zum Stillstand geboren?
Du, der mich einst zum Engel gemacht:
Hattest Wunder der Liebe vollbracht
Das Schicksal hat uns zusammengebracht
Nun ist in meinem Herzen finsterste Nacht
Zerrissen bin ich, will tilgen vergossenes Blut
Halte mich fest, sonst übermannt mich die Wut.
Wut und Hass bringen Leid, Kampf und Not
Bevor ich genauso werde, bin ich lieber tot!
++ 06. 01. 2021 ++
Kapitol
Er machte ihr Angst. Jahrelang hatte Eden um mehr Freiraum gekämpft und dafür, dass sich ihre Eltern weniger sorgten und sie normal leben konnte. Sie hatte gelernt, sich selbst zu akzeptieren, ihre mediale Gabe zu lieben. Sie hatte Schulen und Seminare besucht, um an einen Punkt zu gelangen, damit sie bei Nutzung keine Schmerzen empfand. Ihre Gabe und ihre Harfe waren zu einer Einheit geworden, doch am Ziel war Eden noch lange nicht.
Nun saß sie da wie ein kleines Mädchen und fürchtete sich vor dem Bild eines alten Mannes mit orangefarbenen Haaren und verlebtem Gesicht.
Der Blick aus seinen blassblauen Augen war fanatisch und beinahe verrückt, seine Miene verzerrt wie fast immer, wenn er zu seinen Anhängern sprach. Schon 2016 hatte Eden gewusst: Donald Trump war eine Gefahr!
Sie löste sich von seinem Standbild und sah auf die andere Seite des Bildschirms. Der Ton war auf leise gestellt, damit ihre Eltern nichts hörten, trotzdem hallte seine aufwiegelnde Rede wie Donnerhall in ihrem Gehirn. "Was tust du da?", flüsterte sie vor sich hin. Sie konnte nicht verstehen, wie man einem solchen Menschen noch zujubeln kann. Er verkörperte das Gegenteil von allem, an was sie glaubte.
Es klopfte mehrmals an ihrer Tür. Als sie nicht reagierte, kam Jaden herein und stellte sich hinter sie. Gespannt beobachtete er das Geschehen auf Edens Bildschirm. "Er kapiert es nicht, dass er verloren hat, wie?", fragte er. Sie blickte zu ihrem Adoptivbruder auf und klopfte einladend auf die Sitzfläche eines Drehstuhls neben sich. "Setz dich, du machst mich nervös." Sie wirbelte wütend um die eigene Achse. "Er weiß das sehr gut. Das geht nicht gut aus."
Jadens Augen wurden groß, als er Khalils Gesicht in der Menge entdeckte. "Hast du das gewusst?", fragte er entgeistert und deutete auf Edens Bildschirm. Sie folgte seinem Fingerzeig. "Nein." Mit angehaltenem Atem beobachteten beide, wie ihr gemeinsamer Freund in eine Schlägerei geriet. "Kanacke, verpiss dich", schrie einer mit Wikingerhelm und trat auf ihn ein, als Khalil zu Boden ging.
Eden sprang auf. "Ich habe keine Ahnung, wie ich da hinkommen soll, aber ich muss nach Washington." Hastig verließ sie ihr Zimmer und rannte die Treppe hinab. "Daddy!" Sie stürzte in den Salon und warf sich Gabriel schluchzend an den Hals. Verdutzt fing er sie auf.
Jaden kam hinter ihr her und schaltete den Fernseher ein. Er nahm die Fernbedienung und zappte so lange, bis er einen Livebericht über die Vorkommnisse fand. In den paar Minuten, die sie gebraucht hatten, war die Situation eskaliert. Trump sprach noch immer, aber eine riesige Menge war schon unterwegs zum Kapitol.
In der ersten Reihe entdeckte er Khalil noch einmal. Er wurde von vier Männern mitgeschleift. Sein Gesicht war zerschlagen, die Lippe blutig, die Augen zugeschwollen. "Was haben die vor?", schrie Jaden entsetzt.
Gabriel blickte über Edens Schulter in Richtung TV. "Um Himmels Willen!" Vor seinem Inneren Auge erschien die Kreuzigung Jesu.
Die Menge tobte und skandierte, dass ihnen die Stadt gehöre. Sie seien die Proud Boys, sie seien America. Von Polizei weit und breit keine Spur, niemand stellte sich ihnen in den Weg. Mehr noch: Passanten schlossen sich ihnen an. Nach einem Kameraschnitt verloren sie Khalil und seine Peiniger aus den Augen.
"Daddy", flehte Eden. "Ich will zu ihm. Bitte, bringst du uns hin?" Haltsuchend griff sie nach Jadens Hand. "Du kommst doch mit, oder?"
"Selbst wenn wir fliegen könnten, kämen wir zu spät", erwiderte Gabriel. "Alles, was wir für Khalil tun können, ist beten und hoffen."
"Nein, Daddy, nein!" Weinend warf Eden sich bäuchlings auf eine Couch und vergrub den Kopf zwischen den Armen. "Ich will ihn nicht verlieren, ich liebe ihn."
"Das weiß ich, Spatz!" Gabriel setzte sich neben sie und tätschelte ihr unbeholfen die Schulter. "Was macht der dumme Kerl aber auch dort? Hat er dir gar nichts gesagt? Sonst hat er ja auch keine Geheimnisse vor dir." Wehmütig dachte er an den Moment in der Schlucht zurück, als Khalil um Edens Hand anhielt. Sie war gerade mal elf.
Es war nie wieder zur Sprache gekommen, und wie der heute erwachsene Mann zu ihr stand, wusste Gabriel nicht. Klar standen sie sich noch immer nahe, doch Khalil und Eden als Liebespaar? Nein, das hätte er bestimmt gemerkt.
***
Stunden voller Bangen folgten. Der Fernseher lief den ganzen Tag, Rahel hatte sich ebenfalls eingefunden und kümmerte sich um ihre Tochter. Es war schwer, Eden wieder so weit zu stabilisieren, dass sie nicht Hals über Kopf floh. Gabriel versuchte, die heimische Situation so gut wie möglich in den Griff zu bekommen und telefonierte mehrmals mit der Polizei. Er hoffte, Informationen über Khalils Verbleib zu bekommen. Es blieb beim Versuch. Auch am Handy war er nicht erreichbar. Die Frage, was Khalil in Washington machte, blieb offen.
Gabriel hätte den Burschen verfluchen können. Normalerweise hatte er einen Stand auf dem örtlichen Markt, schließlich mussten sie Geld verdienen. Unter diesen Umständen ginge er jedoch nicht aus dem Haus.
Eden und Jaden saßen Arm in Arm auf einem Sofa und hielten weiterhin Ausschau, doch Khalil tauchte nicht noch einmal auf. Es war nur eine einzige Kamera, die das Geschehen filmte, und diese kam aus der Menge.
Erst später, als Trump mit seiner Rede fertig war, kamen auch die Kameraleute der Medien hinzu und filmten den außer Rand und Band geratenen Mob. Die Berichterstattung nahm noch einmal Fahrt auf.
Gegen drei Uhr nachmittags hielt Eden es nicht mehr aus. Sie hatte im Stillen einen Plan entwickelt, wusste jedoch, dass Rahel und Gabriel ihr den vereiteln würden. Sie löste sich aus Jadens Umarmung, wischte sich ihre Tränen ab, verabschiedete sich in ihr Zimmer und bat ihn, sie zu begleiten. Auf dem Weg nach oben schnappte sie sich den Autoschlüssel des Familientransporters vom Schlüsselbrett und schob ihn in ihre Hosentasche.
Jadens Augen wurden groß, als er es sah. Erschrocken zog er die Luft zwischen die Zähne, doch Eden drehte sich zu ihm um und legte den Finger auf ihre Lippen.
Er folgte ihr. "Was hast du vor?", fragte er, nachdem Edens Zimmertür geschlossen war. Sie ging zu ihrem Schreibtisch und schaltete ihren PC ein. "Ich bleibe hier nicht, wenn Khalil irgendwo da draußen ist und vielleicht stirbt."
~ Khalil ~
Khalil war schon mehrere Tage in Washington. Um seinen Lebensplan zu verwirklichen, waren noch einige Formalitäten nötig. Dazu musste er zu seiner Botschaft. Eden hatte er nichts davon erzählt, weil er einer Überraschung nicht vorgreifen wollte: An ihrem Geburtstag wollte er ihr einen Antrag machen. Marvin, der mittlerweile sein Chef war, wusste davon und gab ihm ein Alibi.
Nach seinem Schulabschluss hatte Khalil unter Anderem BWL studiert und sich zum Automechaniker ausbilden lassen. Seit einem Jahr leitete er "Marvin & Jerry" in Eigenregie. Das Nostalgie-Auto-Pub (Marvins Herzensprojekt) lief erfolgreich. Sein Mäzen war stolz auf ihn, hatte Khalil zum Teilhaber gemacht und ihm noch einige kleinere Steine aus dem Weg geräumt. Nun war er Amerikaner, brauchte jedoch einige Papiere aus seinem Heimatland.
Es waren typische Wintertage, grau und kalt und ohne Schnee. Schon bei der Ankunft am Flughafen hatte Khalil die seltsame Anspannung gespürt, unter der die Stadt stand. Für den Grund dafür interessierte er sich nicht sonderlich, doch er wusste, dass Kundgebungen stattfinden würden. Bunt gemischte Gruppen tummelten sich unbeeindruckt von der Architektur in den eleganten Hallen des RRIA-Gebäudes.
Überall hingen Plakate mit Donald Trumps Konterfei, auf Bildschirmen liefen rückblickende Berichte in Endlosschleife.
Zum Auschecken brauchte er ziemlich lang, erst geschlagene zwei Stunden später konnte Khalil den Flugplatz verlassen. Per Shuttle fuhr er in sein Hotel, das Zimmer war bereits reserviert. Es befand sich in der Innenstadt, sodass er für sämtliche Vorhaben flexibel war.
Zur Wahrnehmung seiner Termine blieben ihm zwei Tage Zeit. Er vertrieb sich die Langeweile mit Sightseeing, besuchte traditionelle Touristenorte und interessierte sich wenig für Politik. Seine Gedanken hingen die ganze Zeit bei Eden, was sie wohl machen würde, ob sie ihn vermisste und ob sie auf ihn böse sei. Immerhin hatte er sich klammheimlich abgesetzt.
Was auch immer ihn bewogen hatte, den Rückflug um einen Tag zu verschieben und zu Donald Trumps Rede zu gehen, wusste er nicht. Es war der sechste Januar 2021. Khalil lag in einem Gebüsch beim Kapitol und war keines klaren Gedankens mehr fähig. Er war mehr tot als lebendig!
~ Jaden und Eden ~
Während Jaden Reisetaschen packte, buchte Eden Tickets. Er käme mit.
Dank Marvin hatten beide ein eigenes Konto mit monatlich eingehenden Apanagen von 2000 Dollar. Eigene Einkünfte hatten sie nur ab und an, wenn sie gemeinsame Auftritte hatten.
Sie absolvierten die letzte Stufe der Highschool und wären noch in diesem Jahr fertig. Es waren Ferien.
Einmal mehr kam ein Laken zum Einsatz. Eden und Jaden ließen die Taschen hinab, Harfe und Panflöte nahmen sie mit. Damit das anschließende Donnerwetter nicht ganz so schlimm würde, legte Eden eine Notiz auf den Tisch und entschuldigte sich bei ihren Eltern. Klammheimlich machten sie sich davon und befanden sich bald auf dem Highway nach Tulsa. Glücklicherweise hatten Jaden und Eden schon fahren gelernt und einen Führerschein.
Nach zwei Stunden Fahrt mit dem etwas abgetakelten Kastenwagen kamen sie am Flughafen in Tulsa an. Eden hatte zwei Tickets für den morgigen Tag gekriegt, mehr war nicht drin. Sie wusste jetzt schon: Das würde eine lange Nacht werden, mangels Schlafplatz noch dazu unbequem.
~ Khalil ~
Im Laufe der Jahre war die Verbindung zwischen Jaden - dem einstigen Pan - und Eden immer inniger geworden. Sie lagen nur ein Jahr auseinander, besuchten dieselbe Klasse, musizierten und lernten gemeinsam, fast könnte man sagen: Sie dachten und fühlten gemeinsam. Geschwister im Geiste, einander zugetan: sehr, doch nicht so sehr, dass Khalil keinen Platz mehr in Edens Leben hätte.
Kurz bevor er die Highschool verließ, vollzog sich ein Wandel: Mädchen interessierten sich nun auch für den dunkelhaarigen, sportlichen Burschen, und Eden entdeckte den Mann. Khalil jedoch hielt sich zurück und exakt an den Plan, den er gemeinsam mit seiner Mutter ausbaldowert hatte: Dem Klischee des notgeilen Moslems würde er sich entziehen. Der Koran war ihm sowieso scheißegal, auch wenn Samira das nicht gefiel.
Immerhin bestärkte sie ihren Sohn in Geduld, zeigte ihm den Unterschied zwischen Liebe und Sex und lehrte ihn, dass eine Frau akzeptiert werden müsse, so wie sie sei. Nach ihren Erzählungen hasste Khalil seinen toten Vater noch mehr, bewunderte seine Mutter jedoch auch für ihre Unbeugsamkeit. Nur dadurch hatte sie den Tyrann überlebt!
Ob er selbst überleben würde, war er sich nicht mehr so sicher. Zwischen Ohnmacht und Wachen, zwischen geschwollenen Augen und blutigen Nebeln blinzelte er in den Himmel hinauf und wusste nicht, was ihm alles weh tat. Die Schreie des Mobs hörte er wie von weit weg, dumpf vernahm er aus der Nähe ein Stöhnen, was wahrscheinlich sein eigenes war. In ihm schrie Panik, doch Khalil blieb stumm.
~ Jaden und Eden ~
Während in christlich geprägten Ländern die Heiligen Drei Könige durch die Straßen zogen, war in Amerika Blutkarneval. Es war ein Mittwoch. Die Geschäfte in Tulsa waren geöffnet. Jaden besorgte Schlafsäcke, sie würden im Laderaum des Transporters schlafen. Bodenlage waren beide gewöhnt, ab und an schliefen Eden und Jaden im Wald.
Für die Nacht parkte Eden auf dem Gelände einer Farm außerhalb, die offensichtlich stillgelegt war. Zerbrochene Fenster und ausgehängte Türen vermittelten eine eindeutige Botschaft: "Hier gibt es nichts mehr zu holen."
Neugierig sahen die beiden sich um. Jenseits des Hofgeländes befanden sich verdorrte Getreideacker, sie stapften durch Schlamm und Unrat. In einer Scheune holte Eden ihre Vergangenheit ein. Überwältigt brach sie in Tränen aus. "Jaden, sieh nur!", schrie sie.
Erschrocken stürzte er durch das weit aufgerissene Scheunentor und sah sie über ein altes Vehikel gebeugt. Eden drehte sich um. "Das ist Mr. Squintie", erklärte sie ihm. "Er hat mich durch meine Kindheit begleitet und gehörte Adeela." Wehmütig erinnerte sie sich an ihre erste Flughafenfahrt. Morgen flöge sie das zweite Mal in ihrem Leben. "Damals war Khalil für mich nur ein Gesicht und viel Schmerz", fuhr sie fort. "Er war Soldat. Vielmehr würden sie heute sagen, er war Terrorist."
"Wen meinst du mit 'sie'?, fragte Jaden und popelte an einem zerbrochenen Scheinwerfer herum.
Eden zog ihre Schultern hoch. "Die Menge, die Masse, der Mob, die Gesellschaft. Nenne es, wie du willst. Ich sage jedoch: Wenn jemand Terrorist genannt werden kann, dann war das sein Vater." Sie trat ins Freie.
"Ich weiß, was du meinst." Jaden folgte ihr. "Die Ureinwohner Amerikas wurden von jeher unterdrückt. Von Anbeginn an, als der erste 'Pionier' seinen Fuß auf unseren Boden setzte. Damals hatten diese 'Patrioten' noch nicht mal eigenes Land. Uns haben sie es gestohlen. Sie redeten unseren Nationen ein, wir seien zu dumm und sie müssten uns missionieren. Noch heute sind wir nur Wilde für 'sie'."
"Ja, und sie gehen für einen Präsidenten, der lügt, stiehlt und betrügt, auf die Straße und sind sogar bereit, für ihn zu morden." Eden öffnete die hintere Tür des Transporters und kletterte hinein. In ihrer Harfentasche kramte sie nach ihrem Smartphone, schaltete es ein und suchte nach Magazinen, die das Thema des Tages aufgriffen. Entsetzt hörte sie von den Toten und gab es weiter an Jaden. "Ich hoffe, dass Khalil nicht dazu gehört", klagte sie ihm ihr Leid.
Er setzte sich im Schneidersitz neben sie auf die Decke, packte aus einer Papiertüte ein paar Sandwiches aus und teilte sie auf. "Solange du nichts anderes hörst, gehen wir davon aus, dass er lebt", versuchte Jaden, sie zu beruhigen. "Morgen wissen wir mehr." Schweigend und lustlos nagte Eden an ihrem gut belegten Sandwich herum. Sie trank einen Schluck Wasser aus einer Transportflasche und warf sich nach hinten.
Mit verschränkten Armen starrte sie solange in das gleißende Deckenlicht, bis Sterne vor ihren Augen tanzten. Blutige Tropfen fielen auf ihr Gesicht. "Wenn er noch lebt, ist er schwer verletzt", flüsterte sie vor sich hin. "Es regnet Blut."
~ Khalil ~
Beim nächsten Erwachen lag Khalil mit dem Gesicht nach oben im Freien. Er fühlte Feuchtigkeit, und es war dunkel. Die Luft war eisig kalt, es rauschte in seinen Ohren. Ohne sich zu bewegen, schielte er nach links und rechts, um zu checken, wo er sich befand.
Sein Unterkörper war noch immer unter Gestrüpp gefangen. Offenbar hatte er sich während seiner Ohnmacht bewegt. Wenn er nach hinten schaute, erblickte er ein hell erleuchtetes Gebäude, doch es stand Kopf. Um ihn herum säuselte ein leiser Wind, ein Käuzchen schrie.
Undeutlich erkannte er die Konturen von Blättern. Regenwasser tropfte auf ihn herab. Es war, als läge er in einer Höhle, doch es war ein Blätterdach. Vorsichtig tastete er nach seinen Beinen. Sie taten weh, doch offensichtlich war nichts gebrochen. Khalil versuchte, sich aufzusetzen, sackte aber sofort wieder nach hinten zurück. Die Brust schmerzte bei jedem Atemzug.
Verzweifelt erflehte er bei Allah Kraft. Er wartete ein paar Minuten, hörte auf das Rasseln in seinen Lungen und auf die Stimmen der Nacht. Khalil wünschte sich, er würde die Klänge der Harfe hören. Eden war jedoch fern. Er hoffte, dass es kein Abschied für immer war. Voller Zorn warf er sich auf den Bauch und schrie dabei auf. Sein Kopf sank wieder nach unten. Schluchzend vergrub er ihn zwischen den Armen. Was war nur geschehen?
Krampfhaft versuchte er, sich zu erinnern. Sein Verstand gab die Bilder der letzten Stunden nicht frei. Das Letzte, was er noch wusste, war, dass er bei einer Kundgebung war.
~ Jaden und Eden ~
1300 Meilen entfernt lag Eden fast zur selben Zeit und in derselben Körperhaltung - eingemummelt wie eine Raupe - in ihrem Schlafsack und dachte an ihn. Ihr Handy hatte sie ausgeschaltet, sie wusste genug. Mehr als genug, um diesen Präsidenten zu hassen, der eine Meute auf die Straße geschickt hatte, um seine Macht zu sichern. Die Opfer des heutigen Tages gingen auf seine Kappe, soviel war gewiss. Sie schwor sich selbst, dass er dafür büßen würde, wenn Khalil eines davon sein würde und sie ihn verlöre.
Jaden tat es in der Seele weh, sie so zu sehen. Er lehnte mit dem Rücken zur Fahrerkabine und scrollte sich durch das Web. Da Eden kaum ansprechbar war, ließ er sie in Ruhe. An Schlaf war nicht zu denken, auch er bangte um ihn. Irgendwann stieß er auf eine Aufnahme vom Capitol. Die Menge hatte sich mittlerweile zerstreut, laut Bericht hatten die Senatoren ihre Arbeit beendet. Trump war erledigt, wie er mit einer gewissen Genugtuung hörte.
Er sagte es Eden: "Es ist vorbei!" Sie drehte sich auf den Rücken und sah ihn an. Ihre Miene war so grimmig und so hasserfüllt, wie er sie noch niemals sah. Jaden erschrak vor ihrem wilden Blick. Es durfte nicht sein, dass sie ihre Reinheit verlor. "Shawnee", sprach er sie an, "vergiss bitte nicht, wer du bist." Er robbte zu ihr und nahm sie in den Arm. "Khalil lebt, weil er Miskwaa ist. In jedermanns Leben wird ein Mensch mindestens einmal geprüft."
"Spricht nun Wabun Anung zu mir?", fragte Eden. "Wenn ja, bring mir den Frieden zurück, damit ich Shawnee sein kann." Tränen glitzerten in ihren Augen.
"Du weißt selbst, wie du ihn finden kannst. Er ruht in dir." Zärtlich streichelte Jaden ihr übers Haar. "Du bist so voller Magie und so wunderschön, ich glaube nicht, dass Khalil so etwas Kostbares verlassen kann. Du wirst stärker sein als jeder Schmerz und der Tod."
"Ich weiß nicht, ob er mich noch immer liebt. Er liebte das Kind, das ihn befreite. Die Frau kennt er noch nicht", erwiderte Eden. "Bisher hat er sie noch nicht einmal gesehen."
~ Khalil ~
Vorsichtige Schritte und Stimmen rissen Khalil aus seiner Benommenheit. Ein Lichtstrahl traf sein Gesicht. Geblendet versuchte er, zu verstehen, was ihm soeben geschah. Zwei starke Arme zogen an ihm und befreiten ihn aus seinem Gefängnis. "Er braucht einen Krankenwagen", hörte er jemanden sagen. Dem Klang der Stimme nach war es eine Frau. "Ruf an", erwiderte eine zweite Stimme.
Offenbar handelte es sich um ein Paar. Ob sie gekommen waren, um ihn zu retten? "Freund oder Feind?", fragte Khalil heiser, wie er es gewohnt war aus einem anderen Leben. Es kam ihm so vor, als sei er dort wieder angelangt. "Du bist in Sicherheit", antwortete die Stimme des Mannes. "Erschrick nicht, ich werde jetzt schauen, ob dir was fehlt." Sanft tastete er seinen Körper ab. "Ich heiße Raoul, und Vanessa ist meine Frau." Khalil hörte, wie sie telefonierte.
Zehn Minuten später erklang auch schon die Sirene. Vanessa, die Khalil bisher noch nicht gesehen hatte, entfernte sich und ließ die beiden Männer im Dunkeln zurück. "Was ist passiert?", fragte Raoul. Khalil wusste darauf keine Antwort. "Ich weiß nur noch, dass ich bei Donald Trumps Rede war und hier aufgewacht bin. Wo sind wir überhaupt?"
"Beim Kapitol", klärte Raoul auf. "Vanessa und ich gehören zum Security-Team und hatten Glück, dass wir noch leben. Du anscheinend auch, wie es aussieht."
Khalil wollte sich aufsetzen, doch Raoul riet ihm davon ab. "Hilfe kommt gleich, nicht dass du was mit dem Rückgrat hast. Bist du aus Washington, und wie heißt du?"
"Ich komme aus Cedar Rapids und heiße Khalil", stellte er sich vor. "So habe ich mir den Tag nicht vorgestellt."
"Das glaube ich gern." Bitter lachte Raoul auf. "Wir auch nicht." Das Gespräch versandete.
Beide hingen ihren Gedanken nach, bis mehrere Stimmen und Schritte die Ankunft von Sanitätern ankündigten. Zwei Männer hievten Khalil auf eine Bahre. Beim Abtransport über das zerstörte Außengelände bekam er einen schaukelnden Eindruck von dem, was geschehen war. Fassungslos erkannte er: Blut war geflossen, und das nicht zu knapp.
Nach einer schlaflosen Nacht und einem Flug ohne Zwischenfälle kamen Eden und Jaden am Nachmittag in Washington an. Seit einer Stunde warteten sie am Transportband auf ihr Gepäck und bekamen dabei fast einen Drehwurm. Auf die obligatorischen Großbildmonitore hätten sie gut und gerne verzichten können, weil sowieso überall dasselbe Thema lief. "Wenn ich noch einmal diesen Namen höre", bemerkte Eden, "fange ich an zu schreien."
"Und ich werfe mich aufs Transportband und fahre Karussell", grinste Jaden, um sie abzulenken.
Er stellte sein Handgepäck ab und tat so, als würde er Anlauf nehmen. Eden umklammerte seinen Arm. "Das machst du nicht!" Ungeduldig hielt sie Ausschau nach ihrer Harfentasche, die ihr abgenommen worden war. "Wir haben Besseres zu tun, als herumzublödeln."
"Ach komm schon, Schwester. Seit wann bist du feige?", provozierte er sie. "Wer weiß, wie lang das noch geht, und stell dir doch mal die dummen Gesichter vor."
"Wir sind doch keine Fünf mehr."
"Ja, eben. Umso mehr Grund, mal ein bisschen Stimmung zu machen." Jaden fasste sie an der Hand. "Stell deine Tasche ab, und dann zähle ich bis drei."
Eden entzog sich, stellte jedoch ihr Gepäck ab und verschränkte die Arme. "Feige bin ich ganz bestimmt nicht. Ich habe nur andere Sorgen."
"Vergiss sie für einen Moment und sei wieder Kind." Ohrenbetäubender Fluglärm über dem Hallendach begleitete Jadens Worte, und ein riesiger Vogelschatten zeichnete sich über der durchsichtigen Kuppel ab. "Schau all die traurigen und entsetzten Gesichter an." Er zeigte ringsum. "Sie alle können ein bisschen Lachen brauchen."
"Da drüben ist ein Mädchen, das starrt dich die ganze Zeit an. Frag doch sie", erwiderte Eden und deutete auf ein hübsches braunhaariges Girl. Jaden würdigte sie keines Blickes. "Früher hättest du dir das nicht entgehen lassen. Bist du jetzt langweilig geworden?"
"Ganz bestimmt nicht." Eden fasste ihn an der Hand und machte sich startbereit. "Also gut." Sie schätzte den Abstand zum ewigen Dreh des Transportbandes ab, musterte die Menschenmenge um sich herum und begann sich plötzlich zu freuen. "Auf drei."
Jaden nickte. "Eins ..." Es würde schwierig werden, sich einen Weg durch die vielen Leute zu bahnen ...
"Zwei", fügte Eden hinzu und lehnte sich nach hinten, um Schwung zu holen.
"Drei!" Jaden fasste ihre Hand fester und zog sie nach vorn. Gemeinsam rannten sie auf das Band zu, federten sich kurz vorher ab und warfen sich bäuchlings zwischen Koffer und Reisetaschen. Eden kicherte atemlos. Jaden war drei Reihen vor ihr gelandet. Nun war sie gespannt, wie viele Runden sie schafften. Sie setzte sich in den Schneidersitz und musterte die umliegenden Gesichter. Vorher waren sie fast einheitlich stumpf gewesen, nun bekamen sie Farbe. Von Erheiterung bis Fassungslosigkeit war alles dabei.
Jaden blieb bäuchlings liegen, robbte auf Eden zu und schnitt Grimassen. Laute Rufe mischten sich mit Gelächter, aber auch empörte Stimmen waren zu hören.
Eden und er ließen sich nicht irritieren. Als er bei ihr ankam, setzte er sich mit unbewegter Miene neben sie und verschränkte die Arme. "Hugh, ich habe gesprochen", zischte er zwischen seinen Lippen hindurch. Eden verschluckte sich fast und nahm dieselbe Position wie Jaden ein.
"Willst du das noch toppen?", flüsterte sie ihm zu. Er nickte. "Klar doch." Gemeinsam stimmten sie Kriegsgeheul an und steuerten es, indem sie ihre Hände zuhilfe nahmen. Runde eins ging vorbei. Sie kamen durch einen Tunnel, wo das Gepäck durchleuchtet wurde. Am Ausgang ließen sie sich "fotografieren" und lachten rotzfrech in die Kamera.
~ Khalil ~
Alpträume begleiteten Khalil durch seinen ohnmachtsartigen Schlaf. Im Medical Health Center Washington war er untergekommen. Seine Beine waren glücklicherweise in Ordnung, doch mehrere Rippen waren gebrochen. Eine davon stach bei jeder kleinsten Bewegung in seine Lunge, deshalb fiel ihm das Atmen schwer.
Das Schlimmste jedoch waren nicht seine Schmerzen, die Ärzte hatten ihn mit starken Medikamenten betäubt. Vor seinen Träumen konnten sie ihn nicht schützen.
Im Wachzustand hatte er nicht gewusst, was ihm geschehen war. Dass Khalil in die Schlacht ums Kapitol geraten war, wusste er nur von Vanessa und Raoul, seine beiden Retter vom vergangenen Abend. Im Traum wurde er noch einmal durch die Straßen geschleift, doch er war nicht das alleinige Opfer gewesen. Er hatte Menschen gesehen, die an Bäume gefesselt gewesen waren, mit zerschundenen Leibern wie seiner. Ob er dieser Erinnerung trauen konnte?
***
In den frühen Morgenstunden wurde Khalil von quälenden Träumen befreit. Der Krankenhausalltag begann mit Frühstückslärm in den Korridoren und einem neugierigen Bettnachbarn, der ihm unbedingt ein Gespräch aufzwingen wollte. Ein Zimmerfernseher war bereits an, und so erfuhr er den Rest. Wahrscheinlich würde Trump noch eine ganze Weile lang Topthema bleiben.
Khalil wartete ungeduldig auf eine Krankenschwester, erwiderte missmutig Gesprächsfetzen aus dem Bett nebenan und sah sich im Zimmer um. Er war nicht im schlechtesten Hospital untergekommen, sein Bett war bequem und offenbar automatisiert. Freundliche Bilder hingen an geweißelten Wänden, große Fenster gaben Ausblick auf einen Park. Das Mobiliar war in Weiß gehalten.
Er starrte zum Fenster hinaus und dachte an Eden. Normalerweise wäre er jetzt schon wieder zu Hause. Er hoffte, dass Marvin dicht halten würde.
Zerstreut beantwortete er die Frage seines Bettnachbarn nach seinem Namen, hörte ihn nach etwas zu Trinken quengeln und war schlichtweg genervt. Er konnte sich keinen Millimeter bewegen, der Stationsarzt hatte ihn davor gewarnt. "Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist", hatte er ihm geraten, "liegen Sie ruhig."
Khalil hielt sich daran, doch es fiel ihm schwer. Gefühlt war er am ganzen Körper verkabelt. 'Wieder einmal in Fesseln', dachte er resigniert. Gegen die Geiseln seines vorherigen Lebens waren Plastikschläuche hingegen harmlos. Eigentlich müsste er dankbar sein.
Endlich ging die Tür auf. "Frühstückszeit", rief eine junge Pflegerin und balancierte zwei Tabletts. In Windeseile knallte sie den beiden Zimmerinsassen die karge Mahlzeit auf den Nachttisch. "Sie dürfen noch nicht so viel essen", erklärte sie, "Joghurt und Knäckebrot müssen erst mal genügen. Meine Kollegin kommt gleich zu Ihnen."
Vorsichtig fuhr sie Khalils Betthinterteil in Sitzposition und wollte ihn füttern, doch er wehrte ab. "Ich glaube, das schaffe ich allein."
Skeptisch begutachtete sie sein kaputtes Gesicht. "Na schön." Die Schwester sah nach dem älteren Herrn nebenan, der bereits zu mümmeln begann. Zufrieden nickte sie und eilte hinaus. Seufzend griff Khalil nach seinem Tee.
Ungefähr drei Stunden später bekam er Besuch. Raoul da Vega und seine Frau Vanessa ließen es sich nicht nehmen, nach ihrem Schützling zu sehen. Khalil war dementsprechend verdattert, denn damit hätte er nicht gerechnet, dass er sie jemals wiedersähe.
Noch überraschter war er, zu hören, dass sie aus der Nähe von Tulsa kamen. Das Paar erzählte Khalil, dass sie mit Vanessas Großeltern und Raouls Eltern auf einer Farm gelebt hatten, die mittlerweile nicht mehr existierte. Ihre Angehörigen stammten aus Mexiko. Auf die Trump-Ära waren beide nicht gut zu sprechen. Raouls Großmutter hatte die Überquerung der Grenze nicht überlebt.
"Was ist aus eurer Farm geworden?", fragte Khalil nach ihrem Bericht. "Hattet Ihr Tiere?"
"Nur Haustiere", erwiderte Vanessa. "Glücklicherweise hatten sich meine Großeltern nur als Getreidefarmer versucht. Wir hatten ein Auskommen, doch einigen Nachbarn hat das gar nicht gefallen." Es hatte etliche Anschläge von Unbekannt auf die große Familie gegeben. Bei einem Brand hatte es Raouls Großvater erwischt. Irgendwann sahen sie sich gezwungen, dem Druck nachzugeben und die Farm zu verlassen. Geld für ihren Besitz hatten sie nie erhalten. Vanessa und Raoul lebten seitdem in Washington, ihre Familien waren wieder in Mexiko.
"Khalil, wir hatten mit unseren Jobs Glück", erzählte Raoul. "Unter Trump hätten wir keine Chance gehabt, in dieser Stadt Fuß zu fassen und Arbeit zu finden. Aber er ist auch nur die Summe vieler Faktoren. Wie der gestrige Tag."
~ Jaden und Eden ~
Wie das Leben so spielt, hatten Eden und Jaden Obdach auf genau dieser ehemaligen Farm der Familie da Vega gesucht, dort campiert und Mr. Squintie gefunden. Das wusste Khalil natürlich nicht, ebenso wenig, dass die beiden in Washington waren. Es würde auch noch eine ganze Weile dauern, bis er es erfahren würde. Ihr gemeinsamer Streich am Flughafen blieb logischerweise nicht unbemerkt.
Eden hatte mit Jaden gewettet, wie viele Runden sie fahren könnten. Er tippte auf zwei, Eden optimistisch auf fünf. Keiner der beiden gewann, denn es wurden drei. Nach der letzten Runde wurden sie direkt nach dem Tunnel ziemlich unsanft vom Band gezogen.
Die Gepäckabfertigung war von schwer bewaffneten Cops umstellt, als wären sie Terroristen. Jaden und Eden wurden verhaftet und verbrachten die nächsten Stunden in Verhörräumen des FBI. Ein netter Nebeneffekt: Sie kamen schneller als andere Passagiere des Flugs 0815 an ihr Gepäck. Zwei Detectives nahmen die Attentäter voneinander getrennt ins Gebet.
Edens Harfentasche hatte es ihnen angetan. Wahrscheinlich dachten die Cops an ein Maschinengewehr oder an sonst eine gefährliche Waffe. "Das ist doch Wahnsinn", antwortete Eden auf eine diesbezügliche Anschuldigung von Sergeant White, einer weiblichen Polizistin. "An zwei Flughäfen hatten wir das Check-In durchlaufen. Meinen Sie nicht, Ihre Kollegen hätten eine Waffe in unseren Taschen bemerkt?" Sie musste lachen.
In Verhörraum II wurde Jaden beschuldigt, von einem terroristischen Akt ablenken zu wollen. Detective Morse quetschte ihn aus, wo der stattfinden sollte. Wahrheitsgemäß gab er an, davon nichts zu wissen. "Es war ein Streich aus Langeweile, nicht mehr und nicht weniger."
"Ihr habt euch einen denkbar ungünstigen Zeitpunkt dafür ausgesucht!", wetterte der ältere Mann. "Ganz abgesehen davon habt Ihr euch selbst einer unnötigen Gefahr ausgesetzt." Jaden erschrak. "Warum das denn?"
"Röntgenstrahlen verursachen Krebs", erwiderte Morse streng. "Das MRT für das Gepäck ist keine Fotokabine für übermütige Touristen." Er drückte auf einen Knopf am Mikrofonständer, den er vor sich auf dem Tisch stehen hatte. "Schick mir mal die Kleine rüber", sprach er hinein. "Wir können die zwei Scherzkekse gehen lassen, aber vorher nehme ich die junge Frau selbst ins Gebet."
Als Eden in Begleitung von Sergeant White den Raum betrat, orderte der Detective sie auf den Stuhl neben Jaden und schickte seine Kollegin wieder hinaus.
"Nun erzählt mir doch mal, was Ihr überhaupt in Washington macht", forderte er, als Eden saß. "Wir suchen einen gemeinsamen Freund", erwiderte sie und erzählte ihm von Khalil und der Entdeckung, die sie in einem Bericht vom Vortag gemacht hatten. Flehend sah Eden ihn an. "Sie verstehen bestimmt, dass wir uns Sorgen um ihn machen."
"Eine seltsame Art, die Sorge um einen Freund zum Ausdruck zu bringen", brummte Morse, was aber schon milder klang. "Es war meine Idee", gab Jaden widerwillig zu und deutete mit dem Daumen zu Eden. "Sie wollte gar nicht mitmachen, ich habe sie überredet."
Morse rief die interne Hausseite auf seinem Laptop auf, überprüfte ihre bereits aufgenommenen Daten und nickte. "Wie es aussieht, habt Ihr nichts auf dem Kerbholz. Ich werde euch beiden mal glauben. Es hätte genauso passieren können, dass Ihr erschossen werdet. Unsere Nerven liegen derzeit blank, was Ihr bestimmt versteht."
Jaden senkte schuldbewusst seinen Blick. "Wir haben es im Fernsehen gesehen. Deshalb sind wir hier. Wir wollen Khalil finden und hoffen, dass er noch lebt."
"Können Sie uns dabei helfen?", fragte Eden. "Wir wissen rein gar nichts, außer dass er in eine Schlägerei geriet." Die Tür ging auf. Sergeant White kam herein und brachte ein Tablett mit Kaffee und Tee. Sie stellte es in die Mitte. "Bedient euch, wie es aussieht, geht das hier noch länger." Sie warf einen fragenden Blick zu Detective Morse.
"Mach dich doch mal bitte schlau, ob du was über einen Khalil Sherman herausfinden kannst", orderte er. "Wir können lediglich die Krankenhäuser in Washington abtelefonieren, ob er eingeliefert worden ist", erklärte er Jaden und Eden. "Suchen lassen können wir ihn leider nicht, weil uns dazu die Handhabe fehlt. Habt Ihr ein Foto dabei?"
"Wir brauchen erst unser Gepäck. Ihr habt uns ja alles abgenommen", beschwerte sich Eden. "Hätte ich wenigstens mein Smartphone, da sind mehrere drauf."
Sergeant White kam noch einmal herein und legte einen Zettel vor Morse. "Gut gemacht", lobte er sie. "Nimm den Jungen mit und gib den beiden ihre Sachen zurück." Er blickte zu Jaden. "Geh mit meiner Kollegin mit, ich unterhalte mich noch etwas mit deiner Begleitung."
Nachdem die Beamtin mit Jaden gegangen war, informierte er Eden. "Wir haben ihn wahrscheinlich gefunden." Er schob ihr den Zettel mit einer Adresse zu. Eden nahm ihn entgegen, faltete ihn zusammen und steckte ihn in ihre Brieftasche. "Danke."
"Wie wollt Ihr euch durch die Stadt bewegen?", fragte Morse. "Ihr habt viel Gepäck dabei."
"Wir nehmen uns einen Leihwagen", erwiderte Eden. "Wir haben auch noch kein Hotel. Können wir gehen?"
"Nicht so schnell, junge Dame. Ich habe noch ein paar Fragen zu deinem Freund." Inspektor Morse nahm einen Kuli und kritzelte den Namen Sherman auf einen Zettel. "Das ist kein amerikanischer Name und mir nicht ganz unbekannt. Weißt du, woher er kommt?"
"Klar weiß ich das. Er kommt aus Cedar Rapids", erwiderte Eden. "Was wollen Sie damit sagen?"
"Auf der internationalen Liste für Terroristen sind mehrere Shermans vertreten. Ich möchte nur sicher gehen, dass er nicht dazu gehört", erwiderte Morse.
Eden überkam es siedendheiß. 'Sag jetzt nichts Falsches', ermahnte sie sich selbst insgeheim. "Er hat Verwandtschaft in seiner Heimat", sagte sie laut. "So ungewöhnlich wird das nicht sein. Jeder hat irgendeine Verwandtschaft."
"Und das ist wo?", bohrte Morse weiter.
"Irgendwo in Syrien, wo genau, weiß ich nicht. Es hat nie jemanden interessiert, und ihn auch nicht. Er lebt mit seiner Mutter in Cedar Rapids, ist fünf Jahre älter als ich. Beide haben die amerikanische Staatsbürgerschaft. Gäbe es irgendwelche schwarze Flecken in ihrem Leben, hätten sie die bestimmt nicht bekommen." Edens Herz wurde schwer. So viele kannten Khalils Geschichte, seine Vergangenheit. Sollte die ihm jetzt auf die Füße fallen?
Sie dachte nach. Wie konnte sie das verhindern? Käme auch nur der leiseste Verdacht auf, dass er an der Seite seines Vaters "gedient" hatte ...
"Ich muss einen Freund anrufen", bat Eden Detective Morse. "Er hat für ihn gebürgt. Khalil ist Opfer, kein Täter."
~ Marvin ~
War Edens Sorge um Khalils Status begründet? Hatte sie schon zu viel gesagt? Nicht genug, dass sie mangels Kenntisstand um seine Gesundheit bangte, nun geriet er auch noch unter Verdacht. Hatten Jaden und Eden vor lauter Übermut schlafende Hunde geweckt?
Es hielt sie nicht mehr auf dem ihr zugewiesenen Platz. "Ich brauche mein Handy, Detective", drängte sie und erhob sich. "Was Sie in den Raum stellen, ist ungeheuerlich." Aufgebracht baute sie sich vor ihm auf. "Ich kenne Khalil Sherman seit meiner Kindheit. Wenn Sie schon so etwas behaupten, dann informieren Sie sich. Denken Sie, ein Kind kann man zum Terroristen abstempeln? Denn genau das war er, als ich ihn kennenlernte: Ein Kind."
"Gemach, gemach, junge Dame", erwiderte Morse. "Sie bekommen Ihr Handy." Er drückte auf seinen Mikrophonknopf und rief seine Kollegin mit der entsprechenden Order herbei. Befriedigt bemerkte Eden, dass sein Ton wesentlich respektvoller wurde und speicherte diesen Umstand als Randnotiz ab. Sie hoffte, dass der Mann vernünftig war.
Es war ihr bewusst, dass sie ihre Nerven und ihre Zunge im Zaum halten sollte. Sie wusste nicht alles. Deshalb hoffte sie darauf, dass sie Marvin erreichen würde und er sie da herausholen konnte. Er wüsste mehr, schließlich hatte er Samira und Khalil ins Land geholt.
Erleichtert setzte sie sich zurück auf ihren Stuhl, als Sergeant White den Raum betrat und das Gewünschte brachte. "Der Junge wartet in der Cafeteria auf Sie", gab sie Eden Bescheid. Sie nickte, nahm ihr Handy entgegen und wählte Marvins Nummer. Es dauerte eine Weile, bis er endlich dran ging. "Wo steckst du eigentlich?", fragte sie ohne Einführung. "Jaden und ich hocken in der Tinte und brauchen dich."
***
Marvin war mit Frau und Sohn Maurice auf dem Heimweg, als Eden anrief. Er hörte die Dringlichkeit in ihrer Stimme, fuhr den nächsten Rastplatz an und stellte die Freisprecheinrichtung auf Laut, damit Adeela das Gespräch mitbekam. "Ich war in der Siedlung", erwiderte er. "Vergessen, dass vorgestern Jahrestag war? Eigentlich hättet Ihr ja dabei sein sollen."
"Na toll. Und du hast gesagt, dass du Khalil dort oben brauchst. Stattdessen steckt er in Washington", rügte Eden. "Ihr habt uns angelogen."
Marvin grinste, was Eden natürlich nicht sah. "Khalil hat mich darum gebeten. Du solltest nichts davon wissen. Ich tat ihm den Gefallen. Reißt du mir jetzt den Kopf ab?"
"Unerheblich. Wir haben grade andere Probleme." Kurz umrissen schilderte Eden, was innerhalb zwei Tagen alles passiert war und rückte dann mit ihrem Wunsch heraus: "Khalil braucht deine Hilfe. Jaden und ich sind in Washington. Kannst du bitte kommen? Am besten mit einem Anwalt." Marvin und Adeela dachten, sie hörten nicht recht. Beide hatten anstrengende Tage fernab der Zivilisation hinter sich, sie wollten nur noch nach Hause.
"Wie stellst du dir das vor? Ich kann nicht alles stehen und liegen lassen und mich in den nächsten Flieger setzen. Khalils Filiale ist schon geschlossen, weil er sich ja rumtreiben musste. Und nun soll ich auch noch weg? Nein, Eden, das geht nicht."
Marvin konnte kaum verbergen, wie sauer er war. So toll, wie er es fand, dass Khalil Eden heiraten wollte: Er war schließlich Geschäftsmann mit Verantwortung über Hunderte Angestellte. Da konnte er nicht mal schnell weg, um den dreien die Kohlen aus dem Feuer zu holen.
"Moment, Marvin, ich verbinde dich mal." Edens Tonfall klang ironisch, als sie ihr Smartphone Detective Morse in die Hand drückte. "Erklären Sie es ihm. Mein Gesprächspartner kann Ihnen mehr über Khalil erzählen. Er heißt Marvin Beard." Geflissentlich ignorierte sie seinen fragenden Blick.
~ Khalil ~
Khalil ahnte nichts davon, welches Unheil sich über seinem Kopf zusammen braute. Nachdem Vanessa und Raoul gegangen waren, verbrachte er den Rest des Tages damit, seinen Schmerz wegzuschlafen. Erst am späten Nachmittag wachte er wieder auf, gerade passend zum Abendmahl. Der obligatorische Fernseher lief wahrscheinlich den ganzen Tag, jedenfalls hatte sich nichts verändert.
Nein, das stimmt doch nicht ganz: Geändert hatte sich das Programm. In den Nachrichten entdeckte er zwei wohlbekannte Gesichter auf einem Transportband. Trump bekam Konkurrenz. Vor lauter Schreck spuckte Khalil seinen Tee wieder aus, sehr zur Erheiterung des Patienten im Bett nebenan. "Das ist auch eine Möglichkeit, sich zu waschen", spöttelte der nervige Typ.
Khalil wäre liebend gern aufgestanden, um ihm den Rest der Kanne über den faltigen Schädel zu gießen, doch er konnte ja nicht. Stattdessen intonierte er ein arabisches Schlaflied, das von einem Mann handelte, auf dessen Kopf ein Raumschiff gelandet war. Die Besatzung war der Meinung, sie seien direkt auf dem Mond.
Prompt kam der nächste Spruch: "Nix mit Beten gen Mekka, wie? Was für ein Gejaule." Den Inhalt verstand der Bettnachbar glücklicherweise nicht, bezog Khalil sich doch auf seine Glatze. "Trump-Fan?", fragte er knapp.
"Nope! Nur weil mir dein Gesang nicht gefällt?", erwiderte der alte Mann. "Mag vielleicht nicht so aussehen, doch mit Politik habe ich gar nichts am Hut. Ist doch sowieso immer das gleiche Lied. Die Kleinen bezahlen die Rechnung."
***
Eine Stunde später bekam Khalil Besuch. Sonderlich überrascht war er nicht. "Was macht Ihr eigentlich in Washington?", fragte er ohne Begrüßung. "Ich habe schon von euch gehört." Khalil deutete auf den Fernseher, um darauf hinzuweisen, woher er es wusste. "Was war das?"
Mit zerknirschter Miene trat Eden an sein Bett und griff nach seiner Hand. "Wir haben gestern in den Nachrichten gesehen, was dir passiert ist. Ich konnte noch zwei Last-Minute-Tickets ergattern. Hier sind wir also." Jaden gesellte sich dazu. "Du siehst übel aus", bemerkte er und setzte sich auf einen Stuhl. Eden drehte den Spieß um und fragte Khalil, warum er in Washington sei. "Ich brauchte ein paar Papiere", wich er aus und klopfte auf seinen Bettrand. "Setz dich zu mir. Ich kann nicht aufstehen."
Eden gehorchte. "Ich sage es ja nicht gern, aber wir haben ein paar Probleme." Sie erzählte ihm von den vergangenen Stunden auf dem Department.
"Hast du Verwandtschaft außer deiner Mutter?", fragte sie Khalil, nachdem sie fertig war. "Es kann sein, dass das jemand wissen will. Marvin hat dir einen Anwalt besorgt und kommt mit dem nächsten Flug."
Tolle Aussichten! "Habe ich das richtig verstanden: Ich stehe auf der Internationalen Liste für Terroristen?", hakte Khalil ungläubig nach. Er spürte, wie ihm der Schweiß den Nacken hinunter lief. Wann durfte er endlich zur Ruhe kommen?
"Nicht ganz", schaltete sich Jaden ein, "doch die Cops werden dich überprüfen. Spätestens morgen werden sie kommen. Deshalb sind wir hier: Um dich zu warnen."
"Können wir dir irgendwie helfen?", fragte Eden. "Hast du deine Papiere dabei? Wenn du alles beisammen hast, wird sich das klären lassen."
Khalil warf einen Blick zu seinem Bettnachbarn und atmete erleichtert auf. "Er schläft. Ihr könntet mir meine Sachen aus dem Hotel bringen. Meine Papiere und etwas Geld habe ich in einem Safe." Glücklicherweise hatte er nur etwas Bargeld dabei gehabt, als er in die Mangel genommen worden war. Verloren hatte er nichts außer Zeit.
"Schau mal, ob du was zu Schreiben auftreiben kannst", wies er Eden an. "Ich stelle dir eine Vollmacht aus, damit du dran kommst. Ihr solltet euch beeilen. Seid Ihr mobil?"
"Wir haben uns einen Leihwagen genommen", erwiderte Jaden. "In drei Tagen müssen wir wieder zurück. Hoffentlich kommst du mit uns mit."
"Was hattet Ihr eigentlich auf der Gepäckabfertigung verloren gehabt?", fragte Khalil. "Ihr wart in den Schlagzeilen."
Eden errötete. "Uns war langweilig und wurden auch prompt verhaftet."
"Wahrscheinlich waren die froh, dass sie Ablenkung hatten", tröstete er sie und strich ihr eine Strähne aus der Stirn. "Du bist mein Licht in der Dunkelheit", flüsterte Khalil zärtlich. "Ich hoffe, dass du das weißt. Bis in alle Ewigkeit."
~ Jaden und Eden ~
Trotz aller Sorgen verließ Eden leichten Herzens das Krankenhaus. Endlich hatte Khalil Farbe bekannt. Sie hatte nicht mehr damit gerechnet.
Jaden musterte sie von der Seite. "Er ist zu beneiden. Wenn ich Khalil nicht so gut leiden könnte, würde ich alles daran setzen, dich ihm auszuspannen."
Eden stupste ihm die Elle in die Seite. "Rede nicht so einen Quatsch. Spar dir deine Charme-Offensive lieber für Mädchen in deinem Alter auf." Gemeinsam überquerten sie den Parkplatz und stiegen ins Auto ein.
Jaden fuhr. "Ich bin ein Jahr jünger als du. Das ist nicht die Welt", erwiderte er. "Rede du keinen Quatsch."
Eden gab die Daten von Khalils Hotel ins Navi ein. "Konzentriere dich lieber aufs Fahren. Wir sind nicht auf dem Land." Mittlerweile war es neun Uhr abends und bereits dunkel. Die Straßen waren wie leergefegt. Washington hatte aufgrund der Vorkommnisse am Tag zuvor eine Ausgangssperre verhängt. "Hoffentlich bekommen wir nicht noch einmal Ärger", seufzte sie.
"Wir haben noch immer kein Zimmer", machte Jaden auf ihre Misslage aufmerksam. "Wenn wir Glück haben, ist noch was frei, wo Khalil wohnt." Er folgte der Anweisung des Navigationsgeräts.
"Wenn nicht, schlafen wir halt wieder im Auto", gab Eden unbekümmert zurück. In ihrer jetzigen Stimmungslage konnte sie nichts mehr schocken.
Nach einer halben Stunde Irrfahrt durch die Innenstadt fanden sie endlich Khalils Unterkunft. Jaden parkte die schicke blaue Corvette zwischen zwei Limousinen. "Es hat Spaß gemacht, mit so einem Schlitten herumzudüsen. Schade, dass wir ihn nicht mitnehmen können", plauderte er und stieg aus. Er hakte seine Daumen in seine Hosentaschen und mimte für Eden den Macho.
Alles, was er damit erreichte, war, dass er für seine federnde Gangart ausgelacht wurde. "Du bist ja schon ein süßer Typ", japste sie, "aber das passt nicht zu dir."
Das Hotel war eher eine Pension und urgemütlich. Zwischen Parkplatz und Haus befand sich ein kleiner Park. Ein schmaler Weg führte zwischen Säulen und Bögen zum Eingang des dreistöckig angelegten Gebäudes. Alte Laternen tauchten das gesamte Areal in goldenes Licht.
"Bevor wir ausladen, schauen wir erst einmal, was Sache ist." Eden packte ihre Handtasche fester. Das Eingangsportal war eine breite, halbovale Kassettentür mit Butzenglasfenstern. Es war verschlossen. Probehalber drückte sie gegen den gewaltigen Türgriff im Oldstyle, doch es bewegte sich nichts. "Baah, die haben zu", schimpfte sie und suchte nach einer Klingel. Jaden kam zu ihr und fand den Knopf an der rechten Wand. Ein melodischer Glockenton hallte durchs ganze Haus. Mehrere Gesichter erschienen in Fenstern und schauten auf sie herab.
Ein Summer ertönte. Das Portal schwenkte nach innen zur Seite und ließ sie ein. Jaden fand das irre komisch. "Das ist ja fast wie ein Hexenhaus." Er lachte.
"Du bist ganz schön amerikanisch geworden", konnte Eden sich nicht enthalten. "Aber ich muss zugeben, dass mir das gefällt." Ihre Schritte hallten laut auf edlem Parkett. Sie blickte um sich und suchte nach einer Rezeption, die sie am Ende einer kleinen Empfangshalle fand. Entschlossen ging sie darauf zu und trug einer älteren Rezeptionistin ihr Anliegen vor: "Ein Gast Ihres Hauses hat mich geschickt. Ich bin beauftragt, einige Gegenstände von ihm zu holen, weil er verhindert ist." Zur Bestätigung griff sie in ihre Handtasche und legte ihre Vollmacht vor.
"Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor." Die schwarzhaarige Dame musterte Eden von oben bis unten. Ihre Augen waren halb hinter einem Schirm versteckt, sie trug ein Cap. "Waren Sie nicht heute im Fernsehen?"
Jaden trat hinzu. "Wäre das ein Problem?", fragte er. Lässig lehnte er sich gegen den Tresen, beugte den Kopf und flüsterte ihr zu: "Wir sind Geheimagenten."
"Jetzt ist dann aber mal genug mit Kindereien", rügte Eden ihn. "Bitte verzeihen Sie, aber es wäre wichtig, dass Sie das Schriftstück lesen und mir helfen. Achten Sie nicht auf meinen Bruder." Sie schob das Dokument noch ein bisschen näher zu der Rezeptionistin.
Endlich bekam Eden ihre volle Aufmerksamkeit. Die Frau drehte das Licht über sich heller und vertiefte sich in die Vollmacht. "Mr. Sherman ist seit gestern früh nicht mehr erschienen", gab sie Auskunft. Jaden verdrehte die Augen. "Das wissen wir. Er liegt im Krankenhaus. Deshalb sind wir hier." Einem Schild auf der Uniform konnte Eden den Namen entnehmen. "Mrs. Treeman, was mein Bruder sagt, stimmt. Wir brauchen Kleidung und Papiere für Mr. Sherman. Und hätten Sie vielleicht ein Zimmer frei?"
"Nennen Sie mich gern Melinda. Wenn Ihr euch ausweisen könnt, kann ich euch helfen." Sie tippte an einem Laptop herum. "Was Zimmer betrifft: Wir sind leider ausgebucht, aber laut Ihrer Vollmacht spricht nichts dagegen, wenn Sie das von Mr. Sherman nutzen. Er hat ein Doppelzimmer."
***
Der Abend endete überraschenderweise glimpflich. Melinda Treeman, die Eigentümerin der Pension, zeigte sich kooperativ. Mit einem Gepäckwagen holten Jaden und Eden ihre Utensilien aus dem Kofferraum ihres Mietwagens und zogen in Khalils Zimmer ein.
Es erwartete sie ein riesiges Doppelbett, das einem anderen Zeitalter zu entspringen schien. Nachdem Melinda gegangen war, ließ sich Jaden übermütig auf die Matratze fallen. "Da passt dein Scheich auch noch mit rein", spöttelte er. Eden räumte das bisschen Kleidung, die sie dabei hatte, in einen dreitürigen Kleiderschrank. Abweisend verzog sie das Gesicht: "Er ist kein Scheich. Hör auf, mich zu ärgern. Meine Nerven liegen noch immer blank."
Sie griff nach einem Bigshirt, knallte die Schranktür zu und verschwand im Bad. Was war heute mit Jaden los? Mittlerweile bereute Eden es fast, dass er dabei war. Nicht genug, dass er Khalil und ihr den Schlamassel am Flughafen eingebrockt hatte, nun fing er auch noch zu sticheln an. War er etwa eifersüchtig? Dabei hatte Jaden selbst gesagt, dass er Khalil mochte. Fühlte er sich womöglich ausgeschlossen oder ging es um sie?
Eden musterte ihr gebräuntes Gesicht im Spiegel und nahm sich selbst das erste Mal nicht mehr als Kind wahr. Sie war so sehr daran gewöhnt, mit Khalil und Jaden zusammen eine Einheit zu sein, dass sie sich Komplikationen schwer vorstellen konnte. Dass Jaden nicht ihr richtiger Bruder war, hatte sie schlichtweg verdrängt.
Sie schloss die Tür ab, zog sich aus und ging unter die Dusche. Während das Wasser auf sie herab prasselte, dachte sie zurück an ihre erste Begegnung, als er noch Pan für sie war: Ein pausbäckiger Junge mit schwarzen Locken.
~ Adeela und Marvin ~
Nachdem Eden und Jaden gegangen waren, erwartete Khalil eine schlaflose Nacht. Bei jedem Türenklappen im Flur, bei jedem Geräusch im Raum, bei jedem Eintritt einer Pflegerin schrak er zusammen und rechnete damit, dass eine Horde Polizisten herein stürmen und ihn erschießen würde. Sein Verstand kämpfte gegen die Angst. Er sagte sich selbst, dass er hysterisch sei. Die Bilder im Kopf ließen ihn einfach nicht los.
Er war versucht, sich die Schläuche aus den Adern zu reißen und sich zu verkriechen. Sein Körper verweigerte ihm jegliche Kooperation, was vielleicht gut für ihn war. Es bliebe ihm nichts anderes übrig, als zu warten und zu hoffen, dass sich das Gehörte in Luft auflösen würde. Einen Reim darauf machen konnte sich Khalil ohnehin nicht.
Im Hintergrund begannen die Mühlen, zu mahlen. Marvin und Adeela recherchierten im Internet, was zu dem Verdacht geführt haben könnte. Detective Morse war nicht mehr zu erreichen, sonst hätte Marvin sich detaillierter mit ihm auseinander gesetzt. Es konnte sich nur um einen Irrtum handeln, davon war er fest überzeugt.
Adeela durchstöberte einmal mehr Zeitungsarchive. Sie suchte noch einmal nach dem einzigen Kinderfoto, das es von Khalil gab und hoffte, dass es nicht mehr zu finden war. Es war die einzige Spur in seine Vergangenheit.
"Es kann nur sein Vater sein", sinnierte Marvin am späten Abend im Bett. "Möglicherweise wissen die Behörden nicht, dass er nicht mehr lebt."
"Gab es nicht noch zwei Brüder?", fragte Adeela und kuschelte sich an ihren Mann.
"Das wären dann dreimal Sherman", bestätigte Marvin. "Von ihnen wissen wir gar nichts, doch Samira sagte, sie seien gefallen."
Adeela gähnte. "Hat Eden irgendetwas gesagt, ob es Khalil persönlich betrifft?"
"Sie war ziemlich aufgeregt. Ich habe nicht alles verstanden", antwortete Marvin. "Jedenfalls muss ich mich darum kümmern. Ich habe für übermorgen zwei Flüge gebucht. Unser Firmenanwalt kommt mit."
Adeela drehte sich auf den Rücken, verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf und dachte an ihre Heimat. Sie kam zwar nicht aus demselben Land wie Khalil, doch mit der Mentalität war sie vertraut. "Noch heute werden Kinder entführt und rekrutiert, und das weltweit."
"Können so junge Milizen überhaupt belangt werden, wenn sie einen Krieg überleben?", fragte Marvin. Adeela stützte sich auf seine Brust und starrte ihm ins Gesicht. Ihre Augen waren fast schwarz vor lauter Kummer. "Ich habe schon recherchiert", erwiderte sie. "Es hat bereits Hinrichtungen an Jugendlichen gegeben. Kriegsreformen sind schwammig genug gehalten, dass alles möglich ist. Dank dem Einsatz von Menschenrechtsorganisationen wird aber darauf hingearbeitet, dass Kindersoldaten resozialisiert statt bestraft werden. Sierra Leone zum Beispiel zieht da aber nicht mit. Genau genommen alle Länder, die Kinder an die Front schicken. Von Söldner - und Terrorgruppen ganz abgesehen, die scheren sich nicht um Gesetze."
Marvin zog Adeela fest an sich. "Heute wird sich nichts mehr klären lassen. Khalil wird nicht steckbrieflich gesucht, wie ich zuerst dachte. Also kann es so schlimm nicht sein." Er schaute ihr tief in die Augen. "Maurice wünscht sich eine Schwester. Wie wäre es mit uns beiden? Ich hätte Zeit."
~ Jaden und Eden ~
Verführerisch drang eine Melodie durch die verschlossene Tür. Eden schloss die Augen und ließ sich tragen. Silberne Kaskaden prasselten auf sie herab. Sie wähnte sich in der Verbotenen Schlucht unter dem Wasserfall. Vor ihrem Inneren Auge erblühte ein Regenbogen.
Noch nie hatte Jadens Panflöte sie so zärtlich umschmeichelt, fast spürte sie seine Berührungen auf ihrer Haut. Für einen Moment vergaß sie, aus welchem Grund sie Khalil nachgereist war. Erst, als das Wasser kalt wurde, schreckte sie auf und schalt sich selbst eine Närrin.
Eden drehte den Hahn ab, verließ die Dusche und rubbelte ihren Körper fast grob mit einem Handtuch ab. Sie war verwirrt. Ein nie gekanntes Sehnen, das über die Verbindung zu Khalil hinaus ging, ergriff sie und prickelte auf ihrer Haut. Im Geist sah sie Jadens Augen voller Verlangen auf sich gerichtet und wünschte sich, dass es so sei.
Eden zog sich an und verließ das Bad. Das Zimmer war leer, obwohl die Flöte nach wie vor spielte. Sie folgte ihrem verlockenden Ruf zwischen zwei antiken Kommoden hindurch. Eine weiße Gardine wehte im Wind. Zögernd trat sie durch die offene Balkontür.
Jaden stockte der Atem. Eden stand an der Brüstung und schien ihn zu suchen. Er hörte zu spielen auf und trat in den Schatten der Bäume. 'So soll sie mich nicht sehen', dachte er bekümmert. Seit der vergangenen Nacht im Transporter fiel es ihm schwer, das erwachende Begehren zu unterbinden. Den ganzen Tag hatte er ihr etwas vorgemacht.
Die Melodie klang in ihr nach. Eden kannte das Stück. Sie hatten es zusammen für ihre Auftritte einstudiert. Es war ein flämisches Liebeslied. Jaden wusste, wie sehr sie es mochte. Wenn sie gemeinsam musizierten, waren sie eins.
Ihre Locken funkelten im Licht des Halbmonds wie flüssiges Kupfer und fielen Eden bis auf die Taille. Der Wind umschmeichelte ihren schlanken Körper und ließ ihr weißes Shirt flattern. Der Kontrast zwischen Unschuld und Verführung riss Jadens Herz in tausend Scherben.
Obwohl er sicher war, dass sie ihn nicht sah, spürte er ihren Blick. Ihre Seele schien ihn zu rufen und locken. Leise hörte er die Klänge der Harfe wie an jenem Tag, als sie ihn fand. Jaden sah nach oben, um sich zu vergewissern, doch Edens Hände umklammerten nach wie vor das Geländer und waren leer. Von ihrer Magie angezogen verließ er sein Versteck und trat hervor.
Eden vernahm seine leisen Schritte im Gras und schreckte auf. Ihr Herz klopfte wie verrückt, als sie erkannte: Jaden war kein Junge mehr, sondern ein Mann.
Alles, was sie an jenem Tag gedacht und empfunden hatte, rückte in weite Ferne. Sein vom Klettern gestählter Oberkörper schimmerte im Schein zweier Laternen. Er trug nur eine Jeans, seine Mokassins und sein rotes Stirnband. Das Plätschern eines Springbrunnens lullte sie ein.
Jaden näherte sich. Seine Silhouette schälte sich im diffusen Licht der Außenbeleuchtung aus der Dunkelheit. Aus sicherer Distanz des Umstands, dass Eden oben und er unten war, fragte er forsch: "Liebst du Khalil?"
Ihre Augen wandten sich von ihm ab. Nachdenklich starrte sie in die Ferne. Ein paar Herzschläge später kam Edens Antwort. "Ja." Es fühlte sich jedoch an wie eine Lüge.
"Warum siehst du mich dann so an?", murmelte Jaden so leise, dass sie seine Worte nur spürte. Eden schaute wieder zu ihm hinab und zuckte die Achseln. "Wabun Anung hat mich betört. Es war nur deine Musik."
"Das glaube ich dir nicht", erwiderte er. "Wenn du dich traust, komm zu mir herunter und lass uns auf neutralem Boden reden. In einem Raum mit dir zu sein, ist mir zu eng."
~ Eden ~
Jaden drehte sich um und schlenderte zwischen die Bäume zurück. Eden gönnte sich einen letzten Blick. Seine schwarzen Haare kräuselten sich auf seinen Nacken, als wären sie feucht. Ein Rabe flog ihm hinterher und setzte sich auf seine Schulter. Sie lächelte ob des passenden Anblicks und ging ins Zimmer zurück.
Plötzlich merkte Eden, wie sehr es sie fror. Ihre Gedanken hingen bei seinen Worten, die eine Einladung waren und doch wieder keine. Was würde Jaden tun, wenn sie nicht käme? Im Park erfrieren? Er war halbnackt.
Eden sank aufs Bett und zwang sich geradezu, an Khalil zu denken. Warum nur hatte er immer so getan, als wäre er blind? Spürte er nicht, dass sie bereit war, mehr für ihn zu sein? War sie in seinen Augen noch immer ein Kind? Marvin hatte Khalil öfter gesehen als sie ...
Unruhig wanderte ihre linke Hand über das breite Bett und griff in etwas Weiches. Es roch nach Leder und Wald. Sie zog es an sich und vergrub ihr Gesicht in Jadens flauschigem Hoodie. Mit geschlossenen Augen sog sie seinen Geruch in sich auf. Eden hatte diese Mischung schon immer gemocht: der Duft der Wildnis, der Freiheit, des Wolfs.
Die Stille der Nacht hing schwer im Raum. Im Halbdunkel der Nachttischlampe geisterten Schatten um sie herum. Um sich abzulenken, begann Eden zu zählen. Sie versuchte, die Geister ihrer Sehnsucht zum Tanzen zu bringen, doch dazu fehlte Musik. Die Harfe schwieg.
Entschlossen stand Eden auf und zog sich warm an. Sie wollte nicht verantwortlich sein, wenn Jaden beschloss, sich den Tod da draußen zu holen. Sie würde ihm seine Jacke bringen, ihm einen verächtlichen Schwesterblick zuwerfen und dann wieder gehen.
"Er soll sich ja nicht einbilden, dass ich mich vor ihm fürchte", maulte sie vor sich hin, drückte zornig seinen schwarzen Hoodie an sich, machte das Licht aus und ging.
~ Jaden ~
Als der Rabe seine Schulter berührte, empfand er es als Warnung. Jaden fragte sich, ob sich ein Totem auch umwandeln ließe. Nokomis wüsste darauf bestimmt eine Antwort, doch sie war fern.
Er blieb stehen und hob vorsichtig die Hand vor sein Gesicht. Der Vogel hüpfte nach und schaute ihm in die Augen. "Was willst du mir sagen?", fragte Jaden. Der Rabe krächzte mehrmals und flog davon. Er war wieder allein mit dem Erwachen eines Verlangens, das er nicht gestillt haben wollte. Eden war seine Verbotene Schlucht.
Jaden lehnte sich gegen einen Baumstamm und beobachtete das schwache Licht im ersten Stock. Als es erlosch, bebte sein Herz. Würde sie kommen, um ihn zu holen? Ihm war kalt, und er war ein Narr. Ohne Überlegung war er vor Eden geflohen und hatte es bevorzugt, im Freien zu frieren.
Als sie um die Ecke bog, holte er sein Handy aus der hinteren Hosentasche und tat so, als ob er sie nicht sah. In Wahrheit genoss er ihren Anblick. Mittlerweile hatte sie sich vermummt, was Jaden schmunzeln ließ.
Er richtete seine Augen intensiver auf sein Handy und rief das Internet auf. Die Suchmaschine spuckte Informationen über Raben aus. Eine davon schien ihm geeignet: der Rabe als Totemtier. Nunmehr fühlte er sich gewappnet.
Wenige Minuten später stand Eden vor ihm. Ihre grünen Augen glitzerten provokativ. Mit lang ausgestrecktem Arm reichte sie ihm seine Jacke. "Falls du frieren solltest, wenn du im Freien schläfst." Sie lächelte spöttisch.
Jaden durchschaute die Maskerade. Er nahm ihr die Jacke ab, warf sie zur Seite und griff blitzschnell nach ihrer Hand. "So nicht!" Seine Stimme war heiser, lasziv und tief. Mit einem Ruck zog er sie an sich heran, drehte sich mit ihr im Arm wie in einem Tanz und presste sie gegen den Baum.
~ Eden ~
Wie oft hatten sie einander umarmt, nebeneinander geschlafen und sich geküsst? Unzählige Male, und nie hatte ihr Herz so gepoltert. Stets hatte sie sich als große Schwester von Jaden gesehen, als seine Beschützerin.
Nicht einmal ihre Eltern hatten sich etwas dabei gedacht, wenn sie einander berührten. Im Gegenteil, sie hatten sich über ihr inniges Verhältnis zueinander gefreut. Was jedoch würden sie denken, wenn Eden eingestehen müsste, dass Jaden ihre Welt auf den Kopf gestellt hat?
Sein mittlerweile markantes Gesicht war viel zu nah, die Augen zu dunkel, sein Atem zu heiß. Wann war ihr kleiner Bruder erwachsen geworden, an welcher Abbiegung hatten sie einander verpasst? Eden rief sich in Erinnerung, dass Jaden und sie nicht blutsverwandt waren. Genau genommen war er ihr zugelaufen ...
Der letzte Gedanke löste zumindest vorübergehend den Bann. Sie musste kichern.
Jaden hielt sie mit beiden Armen zwischen Baum und seinem Körper gefangen und hätte sie fast geküsst, doch nun starrte er sie verständnislos an. Er war verletzt. "Was ist so komisch? Dass du mir den Kopf verdrehst mit deinen Signalen und dann so tust, als würde es dir nichts bedeuten?" Er ließ sie frei und wandte sich ab.
Eden hob das Handy auf, das ihm entglitten war, folgte ihm und gab es ihm zurück. "Ich bin mindestens genauso verwirrt wie du", sagte sie leise und senkte den Blick. Es war mehr Eingeständnis, als sie eigentlich wollte.
Jaden streifte seinen Hoody über und wich noch ein paar Schritte zurück. Eden schwankte zwischen Erleichterung und Bedauern. Wahrscheinlich war dieser Abend das Ende.
~ Jaden ~
Der Mond hielt sich hinter Bäumen versteckt. Nur noch ein paar Laternen warfen ihr goldenes Licht über die Wege des Parks. Jaden stand am Springbrunnen, blickte ins Wasser und wünschte sich weit fort an den Ort, wo er Eden kennengelernt hatte.
Er erinnerte sich an seine kindliche Furcht vor dem Berggeist, den er im Wasserfall vermutet hatte. Eden hatte sie ihm genommen und viele andere Ängste, die sein Leben beherrschten. Sie hatte ihn stabilisiert, zum Mann gemacht.
Jaden war sich nur zu bewusst, dass Eden ein paar Schritte hinter ihm stand und darauf wartete, dass er etwas sagte. Wahrscheinlich hoffte sie, dass er sie beruhigen würde und so täte, als ob er sie nicht begehrte. Dass er wieder ihr harmloser Freund und Gefährte sei, doch wussten sie beide nur zu genau, dass es nicht so war.
Warum jedoch hatte Eden gelacht? Damit hatte sie ihn unnötig klein gemacht. So ein albernes Verhalten hätte er von ihr nicht erwartet. Kichernde Hühner gab es in der Schule genug. Er hatte gedacht, sie sei erwachsen.
"Jaden? Willst du nicht mit nach oben kommen? Es ist doch kalt." Edens Stimme klang wieder etwas mehr nach ihr und legte Balsam auf seine Seele.
Er drehte sich um und wünschte sich, er hätte es nicht getan. Sie wirkte plötzlich verletzlich und zart. Prompt bekam Jaden ein schlechtes Gewissen. "Ich glaube, das ist keine gute Idee", erwiderte er. "Werde dir erst einmal klar darüber, was du eigentlich willst."
Eden trat auf ihn zu und blickte ihm fest in die Augen. "Wie soll ich das wissen, wenn du vor mir stehst, mich ansiehst und mich durcheinander bringst? Khalil und du, Ihr seid die wichtigsten Menschen in meinem Leben. Du hast mich nicht nur tagsüber begleitet, sondern auch in mancher Nacht. Er hingegen ist vor mir geflohen und hat sich hinter Arbeit versteckt. So war mein Eindruck. Vielleicht bist du mir deshalb näher als er."
"Khalil kann ich dir nicht ersetzen. Ich bin Jaden, nicht er. Bestimmt hatte er seine Gründe. Ich bin mir sicher, dass er dich liebt." Er setzte sich in Bewegung und griff nach ihrer Hand. "Gehen wir hoch. Vielleicht kann ich dir helfen, ein paar Antworten zu finden. Aber hör auf, mit mir zu spielen."
~ Jaden und Eden ~
Es war fast Mitternacht. Der Tag hatte so manche Überraschung und viele Probleme mit sich gebracht. Die Stunden waren so überladen gewesen von Eindrücken, dass sogar das elementarste Bedürfnis - zu essen - unterging. Sie hatten einfach nicht dran gedacht.
Die Magie der Nacht, die sie beide fast um den Verstand gebracht hatte, war schlichtweg dahin. Jadens Magen war der erste, der knurrte wie ein hungriger Wolf. Es brachte beide zum Lachen und wieder ein Stückchen näher zur Normalität. Jaden zog Eden zurück in seinen Arm und genoss ihre Nähe ohne Hintergedanken. "Wo bekommen wir jetzt etwas zu essen her?", fragte sie.
"Ich gehe jagen", spöttelte er.
"Keine gute Idee." Eden schmiegte sich fröstelnd an seinen Körper. Eng umschlungen schlenderten sie zum Haus zurück. Jaden begleitete sie bis zum Zimmer. "Ich lasse dich noch einmal allein und besorge uns etwas zu essen. Bis in einer halben Stunde bin ich zurück."
Bevor Eden hineinging, fragte sie: "Aber du kommst sicher wieder?" Jaden nickte. "Ganz sicher. Du solltest auch noch das zusammen suchen, weshalb wir überhaupt hier sind. Sonst landet Khalil womöglich doch noch im Knast."
Eine Tür gegenüber ging auf. Ein Herr im mittleren Alter und Schlafanzug beschwerte sich lauthals: "Wir wollen schlafen, macht mal nicht so einen Krach." Sprach's und schlug die Tür wieder zu. Jaden zuckte die Achseln und gab Eden einen Nasenstüber: "Bis später."
Erleichtert sah sie ihm hinterher. Erst, als er über die Treppe aus ihrem Sichtfeld verschwand, betrat Eden das Zimmer. Jaden hatte ihr ins Bewusstsein gerufen, zu wem sie gehörte. Es war nur die Frage, ob Khalil sie wollte ...
~ Jaden ~
Er fürchtete sich vor der kommenden Nacht und war froh, dass er einen Grund gefunden hatte, noch einmal zu gehen. Jaden suchte die Rezeption.
Eden und er waren durch den Hintereingang hereingekommen. Die Pension war größer als von ihm vermutet und sah nun ganz anders aus. Außer einer blauen Notbeleuchtung in den Gängen war alles dunkel.
Seinen Geldbeutel hatte er nicht dabei, sonst hätte er das Haus verlassen und wäre in die Stadt gefahren. Zurück ins Zimmer, um ihn zu holen, wollte er aber auch nicht. Vielleicht ließe die Chefin ja mit sich reden.
Jaden stieß eine Glastür auf und betrat den hell erleuchteten Eingangsbereich. Erleichtert, den düsteren Gängen entkommen zu sein, trat er an die leere Rezeption und klingelte. Hinter einem Ledervorhang kämpfte sich ein zierliches Mädchen hervor, trat an die Theke und fragte nach seinem Begehr.
Ihr Namensschild ließ ihn vermuten, dass sie die Tochter der Pensionsbesitzerin war. Und sie war hübsch. Vielleicht genau die richtige Ablenkung für seine Libido. Jaden stellte sich ihr als Gast des Hauses vor. "Gibt es hier noch etwas zu essen? Ich weiß, es ist spät, aber wir haben es nicht früher geschafft." Probeweise setzte er einen bettelnden Hundeblick auf. Offenbar mit Erfolg, denn sie hakte nach: "Wer ist denn 'Wir'?"
"Meine Schwester Eden und ich. Wir wohnen in Zimmer 115 im ersten Stock", klärte Jaden sie auf. "Und wie heißt du?" Er stützte sich lässig mit beiden Ellenbogen auf die Theke. "Josef", antwortete sie. "Wie meine Mutter."
"Also gut, Josef, dann sind wir wohl verwandt. Mein zweiter Vorname ist Jesus." Jaden grinste sie unverschämt an. "Gibt es auch eine Maria?"
"Nein, eine Josefine. So heißt meine Krähe." Sie wollte wieder durch den Vorhang verschwinden. "He, Stachelbürste", rief er ihr nach. "Meine erste Frage hast du noch nicht beantwortet. Kannst du verantworten, wenn ich dir vor die Füße falle, weil du mich verhungern lässt?"
Sie kam noch einmal zurück. "Die Küche ist schon seit zehn Uhr geschlossen. Ich heiße Abigail."
"Na siehst du, es geht doch", erwiderte Jaden. Abigail kam um den Tresen herum. "Wo ist deine Schwester? Ich kann euch etwas zu essen machen, aber Zimmerservice haben wir nicht. Kostet 20 Prozent Nachtaufschlag."
"Damit kann ich leben. Eden ist auf dem Zimmer, aber ich hole sie. Abigail also heißt du? Ich hätte eher auf Angel getippt." Jaden sah sich das Mädel etwas genauer an. Sie war ungefähr einen Kopf kleiner als er, machte ihre Zierlichkeit jedoch durch eine stachelige Punkfrisur wett.
Ihre schwarzen Haare reichten als Hahnenkamm fast bis zur Decke. An den Seiten war sie geschoren, der Kamm war bunt. Ulkiges Ding. Der Eindruck setzte sich fort in der Kleidung: Zerrissene Netzstrümpfe, Springerstiefel, ein lederner Minirock. Dazu ein schwarzes Netztop, das obendrein durchsichtig war. Ihr Oberbau sah vielversprechend aus, mehr, als Jaden aufgrund ihrer Körpergröße erwartet hätte. Zu seinem Entsetzen wurde er rot.
Abigail überspielte gekonnt, dass er soeben ziemlich deutlich auf ihre Brust gestarrt hatte. "Ich kann euch aber nur ein paar Hamburger machen. Setzt euch einfach da rüber." Sie deutete auf einen Tisch an der Tür. "Bis in einer Viertelstunde. Ich bin auf deine Schwester gespannt."
Jaden kam zu dem Schluss, dass sie doch nicht ganz so kratzbürstig war. Flirtmechanismen waren Neuland für ihn.
***
Wenig später betrat er das Zimmer, um Eden zu holen. Sie saß auf dem Bettrand und war völlig aufgelöst. In der Hand hielt sie ein dunkles Kästchen.
"Was ist passiert?", fragte Jaden und setzte sich neben sie. Tränenüberströmt sah sie ihn an und zeigte ihm wortlos ein geöffnetes Schmucketui. Der Inhalt versetzte ihm einen Stich.
Im Deckel war "Für Eden" in Gold eingraviert. Auf dunklem Samt lag ein wunderschöner Ouroboros aus Rosegold. Der Kopf stellte eine Kobra dar und war aus Onyx, die Augen zwei Diamanten.
Jaden begriff sofort, was das zu bedeuten hatte. "Zweifelst du jetzt noch immer?", fragte er und konnte einen bitteren Unterton nicht unterdrücken.
"Nein." Eden schluchzte auf und schmiegte sich an seine Schulter. "Nun komme ich überhaupt nicht mehr klar."
"Was soll das heißen? Freust du dich nicht?" Jaden schob sie von sich und hielt sie mit beiden Armen auf Abstand. Eden schüttelte wild ihren Kopf. Ihre fliegenden Haare gleißten im Licht wie funkelnde Blitze. 'Sie passt viel besser zu mir als zu ihm', rebellierte sein Herz.
Er nahm ihr das Etui ab und stellte es auf den Nachttisch. "Ich habe uns etwas zu essen bestellt. Wasch dein Gesicht und komm mit nach unten. Vielleicht siehst du dann etwas klarer." Es fiel ihm schwer, Vernunft walten zu lassen. Jaden kannte die Geschichte von Khalil. Er wollte nicht derjenige sein, der sein Leben zerstörte.
Ein Klopfen an der Tür kam ihm gerade recht. Als er öffnete, stand Abigail draußen im Flur und fragte, wo er so lange bliebe. "Wir kommen gleich", antwortete er. "Ich hatte noch etwas zu klären." Abigail eilte wieder davon.
Eden kam aus dem Bad und sah das Mädchen von hinten. Fragend sah sie Jaden an. "Wer ist das?"
"Die Tochter von der Besitzerin. Sie war so nett und hat sich für uns in die Küche gestellt, also komm." Er wartete nicht, ob Eden gehorchte und rannte hinter Abigail her, bis er sie eingeholt hatte. Es fühlte sich so an, als sei er auf der Flucht. Demonstrativ legte Jaden den Arm um ihre Schulter.
~ Eden ~
Eden holte ihre Handtasche und zog die Zimmertür hinter sich zu. Als sie sich dem Ende des Gangs zuwandte, sah sie soeben noch, wie Jaden mit dem ihr unbekannten Mädchen Arm in Arm die Treppe hinunter verschwand. Ihre Augen verschmälerten sich zu Schlitzen, fast hätte sie aufgestampft. 'Er macht es sich einfach', dachte sie und ging ins Zimmer zurück. "Na warte", sprach sie laut in den leeren Raum, zog Sneakers, Jeans und Pullover aus und trat an den Kleiderschrank. Wenn Jaden auf Früchtchen stand, dann würde sie ihm mal zeigen, was ihm entging. Ihre Auswahl war zwar nicht groß, doch zwei bisher noch nie getragene Minikleider hatte sie eingepackt.
Sie entschied sich für ein schwarzrotes Seidenkleid und drapierte es so, dass der Ausschnitt nicht zu viel verriet. Offenherzigkeit hatte sie beileibe nicht nötig. Dafür verzichtete sie auf einen BH.
Eden schlüpfte in das einzige Paar Stiefel, das sie dabei hatte. Es waren schwarze Overknees mit halbhohem Absatz. Alles, was sie jetzt trug, entsprang einem Beutezug mit Adeela durch die Boutiquen von Cedar Village.
Sie stylte sich das erste Mal, doch als sie in den Spiegel schaute, empfand sie es als gelungen. Eden ging ins Bad und bürstete ihre Haare, bis sie glänzten. Sie war gewappnet und freute sich schon auf Jadens Gesicht.
Bis zur Hälfte der Treppe ins Erdgeschoss legte Eden ein sportliches Tempo hin, doch sobald sie in geschätzte Sichtweite kam, gab sie sich gemäßigt.
Gelangweilt wirkend schritt sie die letzten Stufen hinab und trat an Jadens Tisch. Er blickte auf und gleich wieder weg. Mit undurchdringlicher Miene starrte er auf seinen Teller. "Eden, was soll das?", fragte er leise.
Sie setzte sich ihm gegenüber. "Wieso?", tat sie unschuldig. "Ich habe mich doch nur umgezogen. Meine Klamotten waren verschwitzt."
Abigail hatte ihre Ankunft bemerkt und brachte den zweiten Teller. "Das also ist deine Schwester?", bemerkte sie und platzierte sich in die Mitte.
Eden lächelte süffisant. "Hat er dir das erzählt? Nicht wirklich." Befriedigt bemerkte sie Jadens ertappte Miene.
Erbost sprang er auf. "Wenn du so weiter machst, bitte ich Nokomis, dich zu verstoßen." Jaden wirbelte um die eigene Achse und eilte der Treppe entgegen. Eden stand auf. "Jaden!" Sie blickte ihm hinterher und formte in Gedanken ein Lasso. Zeitgleich mit ihrem Ruf warf sie es ihm über den Kopf. Es glitt an ihm herab und fesselte seine Arme an seinen Körper.
Wie vom Donner gerührt blieb Jaden stehen und drehte sich um. Als sie auf ihn zuging, fragte er sie entsetzt: "Du hast deine Gabe missbraucht. Bist du verrückt?"
Eden war genauso erschrocken, was da soeben geschehen war. Sie senkte den Blick. "Ich weiß selbst nicht, was das gerade war. Es tut mir leid."
"Lass mich los!" Er konnte seine Arme nicht mehr bewegen und demonstrierte es ihr mit seinen Fingern. "Nur du selbst kannst den Bann wieder lösen."
Eden schüttelte den Kopf. "Ich weiß nicht, wie das geht." Ihr schlechtes Gewissen blockierte ihre Gedanken und auch ihre Fähigkeit. Sie sah, dass Jaden sich nicht mehr bewegen konnte, sah auch die Schlinge um seinen Körper, doch wie sie ihm helfen konnte, fiel ihr nicht ein. 'Was habe ich nur getan?', überlegte sie fieberhaft.
Jaden kam ihr zuhilfe. "Konzentriere dich einfach und löse das Lasso. So, wie du es geworfen hast."
Eden gehorchte, und kurz darauf war er frei. "Woher hast du es gewusst?", fragte sie.
"Weil ich dich kenne. Dich und deine Magie." Zärtlichkeit überflutete Jaden. Sie war so süß, wie sie gänzlich verwirrt vor ihm stand. Er vergaß seinen Ärger.
Abigail hatte das Drama beobachtet und brachte sich in Erinnerung. Sie kam zu ihnen und legte eine Hand auf Edens Arm. "Ich will nichts von deinem Freund." Eden drehte sich zu Abigail um. "Meine Eltern haben Jaden adoptiert. Er hat dich nicht belogen. Wir sind nur nicht blutsverwandt."
Das Punkermädchen zuckte die Achseln. "Es spielt keine Rolle. Ich mag keine Männer."
Eden hakte sich bei ihr ein. "Ich auch nicht", kicherte sie. "Die sind mir zu kompliziert." Ohne noch einmal nach Jaden zu sehen, ging sie mit Abigail zusammen zum Platz zurück. "Danke für die Hamburger. Ich habe Hunger wie ein Bär."
~ Jaden ~
Die Nacht ... mit ihr ... in einem Raum ... in einem Bett ...
Mit ihr und seinem Verlangen, das er nicht ausleben wollte, nicht konnte, nicht durfte ...
Er sah den zwei Mädchen hinterher und horchte auf sein flippiges Herz. Jaden wünschte sich weit weg auf den Mond, auf den Mars oder irgendeinen anderen Planeten, auf dem er alles vergessen konnte. Eden spielte mit ihm, wie er es kannte, doch hatte ihr Spiel andere Dimensionen erreicht. Mittlerweile begriff er, dass er ihr nicht entkam.
Er versuchte, zu sich zu kommen und wenigstens den Anschein zu wahren, dass er nicht gänzlich hilflos war. Jaden ging mit dem festen Vorsatz, sich nicht mehr vor ihr zu entblößen, zum Tisch zurück.
Abigail fiel also flach, sie wäre seine einzige Waffe gewesen, um sich Eden vom Hals zu halten. Fast hätte Jaden gelacht. Vielleicht verbrannte ja sie sich an der verführerischen Hexe die Finger, dann bliebe es ihm erspart.
Er setzte sich wieder auf seinen Platz. Die Punkerin grinste ihn an. "Mir wäre es lieber, wenn Ihr mich Abby nennt." Dankbar, dass ihre Anwesenheit wenigstens ein ganz kleines bisschen die Spannung zwischen ihm und Eden heraus nahm, lächelte er sie an. "Das passt auch viel besser zu dir. Klingt nicht so spießig."
Eden erzählte Abby, wo sie herkamen, was sie in Washington taten und von ihrem gemeinsamen Erlebnis am Flugplatz. Jaden kaute abwesend an seinem letzten Hamburger herum und hörte kaum zu. Irgendwann war alles gesagt. Er verabschiedete sich. "Ich gehe hoch."
Eden warf ihm einen Blick zu, der ihn wohl bis in alle Ewigkeit verfolgen würde. Auf der Hälfte der Treppe hörte Jaden noch, wie Abigail sagte: "Zwischen euch brennt die Luft. Hoffentlich brauchen wir heute nacht keine Feuerwehr."
***
Eine Stunde später kam Eden nach. Jaden lag voll angezogen auf dem Bett und hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Er setzte auf Angriff, noch bevor die Tür hinter ihr zufiel. "Erkläre mir mal, wie das zusammen passt. Gestern hast du um Khalil geweint, als du sahst, was mit ihm passiert ist. Er liegt im Krankenhaus und ist schwer verletzt, und das ist nicht von der Hand zu weisen. Er konnte kaum atmen. Und heute schert es dich nicht?"
"Das stimmt so nicht, Jaden", wehrte sich Eden und setzte sich neben ihn. "Ich verstehe es ja selbst nicht, warum ich so durcheinander bin. Es tut mir weh, dass er Schmerzen hat. Ich habe Angst, dass ihm noch mehr passiert. Aber er hat sich von mir entfernt, weil ihm alles andere wichtiger war. Nicht ich habe ihn von mir gestoßen."
"Immerhin will er dir einen Antrag machen." Er zeigte auf das Etui auf dem Nachttisch. "Ich glaube nicht, dass es von Khalil gewollt war, dass du das findest. Wahrscheinlich hat er nur nicht mehr daran gedacht, als er uns beauftragt hat, wichtige Dokumente und Kleidung für ihn zu holen."
"Das mag ja schon sein, doch das macht es nicht besser. Er kam nach Amerika mit null Bildung und hat geackert wie ein Verrückter. Ich frage mich, warum und für was." Eden lachte auf. "Für mich ganz bestimmt nicht, denn es bedeutet mir nichts, was er hat oder nicht hat. Das zeigt doch nur, dass ihm Marvin wichtiger ist."
Jadens Augen glitzerten wütend im Schein der Nachttischlampe. "Verstehe ich das richtig? Du bist eifersüchtig auf den Mann, der dafür gesorgt hat, dass Khalil bei dir sein kann? Und welche Rolle spiele ich dabei?"
"Du bist mein Bruder", hauchte Eden, "und das gleich im doppelten Sinn. Meine Eltern haben dich adoptiert, und ich gehöre zu deinem Stamm."
Der Zorn ballte sich um sein Herz wie eine Faust. "Hör auf, dich hinter ein Schutzschild zu flüchten. Ich habe es dir heute schon einmal gesagt: Werde dir klar darüber, was du eigentlich willst." Jaden hätte Eden liebend gern geschüttelt und angeschrien, doch noch hatte er sich unter Kontrolle. "Du hast mich selbst hinter demselben Vorwand hervor gelockt, den du gerade benutzt. Ich habe dich immer geachtet und respektiert. Dasselbe erwarte ich nun auch von dir."
***
Ohne zu einer Lösung gekommen zu sein, flüchtete sich Jaden auf den Balkon. Er wünschte sich die Ruhe des Waldes zurück. Das Geräusch des Winds in den Bäumen hatte ihn in seiner Kindheit in mancher Nacht in den Schlaf gewiegt. Auch, nachdem seine Eltern ums Leben gekommen waren, fand er im Gesang der Natur seinen Frieden. Wie lange hatte er dieses heilige Gefühl mit Eden geteilt? Die Träume der Kindheit waren verloren.
Jaden stützte seine Hände auf die Brüstung und schaute zum halbvollen Mond hinauf. Der Park war in sein ewig gütiges Licht getaucht.
Es war ihm ein Rätsel, was in Eden vorging und was sie von ihm wollte. Plötzlich hatte er eine Eingebung: Es war der Ruf der Natur, der die Frau in ihr erweckte. Und er war der einzige Mann, der zur Verfügung stand ...
Jaden kehrte ins Zimmer zurück. Eden lag unter der Decke und schlief. Leise zog er sich aus, legte sich neben sie und drehte ihr seinen Rücken zu. Eine eigene Decke hatte er nicht. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die eine mit ihr zu teilen oder zu frieren.
Er ging das Risiko ein und deckte sich zu, auf Abstand bedacht. Mit dem Gedanken an die schmerzvolle Erkenntnis, dass sowieso nicht er gemeint war, schlief er endlich ein.
~ Eden ~
Kaum, dass Jaden neben ihr lag, öffnete Eden die Augen und drehte sich auf den Rücken. Sie atmete flach, so dass er sie nicht spürte, und dachte nach.
Das Zimmer lag nunmehr im Dunkeln. Die Heizung rumorte und knackte. Jadens gleichmäßiger Atem ließ sie vermuten, dass er seinen Schlaf fand. Von sich selbst konnte Eden das nicht behaupten.
Es war das erste Mal, dass ein unbekleideter Männerkörper neben ihr lag. Obwohl sie sich selbst dafür hasste, genoss sie Jadens Wärme. Vorsichtig tastete sie sich auf seine Seite und berührte ihn, neugierig darauf, ob er gänzlich nackt schlief. Eden sah ihre Vermutung bestätigt, was sie erregte. Als hätte sie sich verbrannt, zog sie hastig die Hand zurück.
Durch die Bewegung hatte sie Jaden geweckt. Wie unter Schock riss er seine Augen auf, drosselte seinen Atem und wagte es nicht, sich zu bewegen. Sein Herz klopfte, als würde es gleich zerspringen.
"Jaden?", wisperte Eden. "Du bist doch wach, oder? Hast du schon mal ..." Er tat so, als ob er es nicht hörte.
Ihre Finger krabbelten seinen Arm hinauf, vergruben sich in seine Haare und wanderten weiter zu seiner Stirn. Eden tappte vorsichtig auf seine Lider. Schnell presste er seine Augen zusammen und gab einen gekünstelten Schnarcher von sich. Er hörte ein lautes Schlucken und grinste heimlich.
***
Plötzlich zog Eden ihm die gemeinsame Bettdecke weg, warf sich auf ihn und kitzelte ihn heftig aus. Jaden warf sich herum und griff nach ihren Händen. "Du spielst wohl gern mit dem Feuer?", fragte er sie.
Eden saß vollkommen bedeckt auf seiner Brust und tatschte ihm ins Gesicht. "Du Schauspieler", neckte sie ihn und rutschte an ihm herunter.
"Keinen Millimeter weiter", warnte er sie mit dem Endresultat, dass sie nicht auf ihn hörte. Nunmehr saß sie direkt auf der Stelle, die ihm zu schaffen machte. Er warf sie ab, schaltete seine Nachttischlampe ein, zog ihr blitzschnell die Decke weg und wickelte sich darin ein.
Jaden wünschte sich, er hätte es nicht getan, denn Eden war nackt. Sie schnappte sich ihr Kopfkissen und verhüllte damit Busen und Scham. Sie senkte den Kopf, so dass ihre Haare die Augen bedeckten. An ihrem Hals pochte eine winzige Ader und verriet ihm, wie sie sich fühlte.
Jaden verschränkte die Beine zum Schneidersitz und setzte sich so, dass er sie im Auge behielt. "Habt Ihr euch schon einmal geküsst?", fragte er eingedenk der Frage, die Eden ihm selbst gestellt hatte.
Vehement schüttelte sie ihren Kopf. "Meinst du Khalil? So wie Daddy sein kleines Mädchen." Sie schaute weg. "Sogar das ist schon lange her und war höchstens zweimal."
"Dann erübrigt sich wohl die Frage, ob du schon einmal mit ihm geschlafen hast", schlussfolgerte Jaden. "Und auch sonst hast du noch nie?"
Eden schleuderte ihre Haare zurück und funkelte ihn an. "Mit wem denn? Bisher habt nur Ihr zwei mich interessiert."
~ Jaden ~
Das war eine Aussage, die ihn vom Hocker haute. Jaden wusste nicht, was er damit anfangen sollte. Was stellte Eden sich vor? Dass er sie "einführen" würde, um für Khalil bereit zu sein? Sollte er gar ihr "Lehrer" sein?
Dass sie irgendetwas im Schilde führte, war unübersehbar. Zwar hielt sie sich - auf den ersten Blick sittsam - hinter ihrem Kissen versteckt, doch ihr gesamtes Gebaren schien ihm wohlkalkuliert.
Er hatte das Gefühl, als ob sie austesten wollte, wie sie auf Männer wirkte. So verlockend der Gedanke war: Für Experimente stand er nicht zur Verfügung.
"Eden, vergiss es!", sagte er laut. "Ich bin nicht dein Deckhengst. Du hast deinen Eisprung oder einfach nur einen Knall." Schadenfroh sah er, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Treffer, versenkt! Seine Leibesmitte rebellierte zwar derbst gegen die Abfuhr, aber das war ihm egal. Jaden fragte sich neugierigerweise, welchen Schachzug sie als Nächstes ausführen würde. Um sie zu einer weiteren Handlung zu provozieren, nahm er sein eigenes Kissen und warf es ihr entgegen. Wie weit würde sie gehen?
Sein Kopfkino suggerierte ihm, dass sie ihr Kissen sinken ließe und sich ihm offenbarte ...
Er schluckte und verbot sich selbst jeden weiteren Gedanken in diese Richtung. Trotzdem war er enttäuscht. Eden klammerte ihren Körperschutz noch fester an sich und sah ihn an wie ein waidwundes Reh. "Ich hätte nicht gedacht, dass du so von mir denkst. Ich bin doch kein Flittchen."
***
'Nichts geht mehr!', stellte Jaden insgeheim fest. Sie hatten sich in eine Situation manövriert, aus der es keinen Ausweg gab. Sackgasse.
Obendrein hatte er ein schlechtes Gewissen. Er merkte, wie sehr er sie mit seiner Bemerkung verletzt hatte. Wie sollte er ihr klar machen, dass er sich nur wehrte? Das hieße, Farbe zu bekennen und Eden einzugestehen, dass er sich nach ihr verzehrte. Es ging einfach nicht.
Um die Qual zu beenden, holte er sein Kissen zurück und begab sich in Schlafposition. Akribisch faltete er die breite Decke so auf, dass sie Platz bot für zwei und ihn trotzdem verhüllte. Er hoffte, dass Eden das kleine Zelt im Stoff übersah. Auffordernd klopfte er auf ihrer Seite auf die Matratze. "Schlafenszeit. Komm schon, Shawnee. Sei vernünftig, wir müssen bis in ein paar Stunden im Krankenhaus sein."
~ Eden ~
Wie konnte Jaden nur so von ihr denken? Sie hatte keine Sekunde daran gedacht, ihn zu verführen. 'Bist du dir sicher?', flüsterte eine klitzekleine, boshafte Stimme Eden zu. Engelchen und Teufelchen saßen auf ihrer Schulter. Bisher hatte sie diese beiden Plagegeister noch nie gebraucht.
In der Hoffnung, dass sich die Spannung zwischen Jaden und ihr auflösen würde, nahm sie sein Angebot an. Ohne daran zu denken, dass auch sie nackt unter ihrem Kissen war, legte sie es zurück auf den ursprünglichen Platz und schlüpfte wortlos unter die Decke.
Jaden lag auf der Kante seiner Bettseite, als hätte sie eine ansteckende Krankheit. Es machte sie zornig. Sie hatte sich Trost und Verständnis von ihm erhofft, wie sie es gewohnt war. Früher hatte er doch auch kein solches Theater gemacht, wenn er sie in den Arm nahm.
Eden legte sich gerade hin, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte gegen die Decke.
Jaden machte das Licht aus. "Du kannst wieder mit mir sprechen. Hör auf, zu schmollen. Aus dem Alter müsstest du inzwischen sein."
"Bist du mein Vater?", schoss sie zurück. "Wie kommst du eigentlich auf die Idee, dass ich scharf auf dich bin?" Sie wählte den ungewohnten Sprachstil bewusst, um ihn zu schockieren. Vielleicht begriff er dann, dass sie nicht "seine" Shawnee war, sondern auch eine Frau. Ihr Algonkin-Name erinnerte sie zu sehr daran, dass sie ein Trio waren. Noch dazu nahm Jaden als Wabun Anung den höchsten Rang ein, was ihr widerstrebte. Seine Führung brauchte sie nicht. 'Was brauchst du dann?', wisperte Teufelchen wieder.
Eden jagte ihr Gewissen mit einem Fingerschnippen von dannen, nicht ohne Engelchen eine Widerrede von sich geben zu lassen: 'Jedenfalls keinen Sex mit einem Macho!'
***
Hatte sie das jetzt laut gesagt? Erschrocken schlug Eden sich auf den Mund. Von der anderen Seite vernahm sie ein Glucksen. Jaden bog sich vor Lachen, wie ihr das Vibrieren ihrer gemeinsamen Schlafstatt verriet.
Als er auch noch zu japsen anfing, wurde es ihr zu bunt. Sie versuchte, sein Gebaren so gut es ging, zu ignorieren und arbeitete gedanklich ihre To-Do-Liste ab. Hatte sie für Khalil auch alles eingepackt? Jaden hatte ja recht: Wenn sie Khalil im Stich ließe, hätte das für ihn drastische Folgen. Warum nur lag jetzt nicht er neben ihr?
Sie schweifte in ihre Kindheit ab. Er war ihr so nahe gewesen ...
Vor sieben Jahren hätte Khalil sie fast geküsst. Es war das erste Mal gewesen, dass sie wahrgenommen hatte, dass es außer Freundschaft auch etwas anderes gab.
Am selben Tag hatte sie Jaden kennengelernt. "Der-mit-dem-Wind-spricht" hatte ihn seine Mutter genannt. Nun war auch er über diesen Status hinaus. Glaubte er überhaupt noch an die Magie seines Stamms?
Khalil und sie hatten eine andere Welt miteinander geteilt. Eine, die Körperlichkeit nicht beinhaltete und auch nicht brauchte. Warum nur hatte Jaden so viel Macht über sie? Wie kam es, dass ihr dummes Herz sie plötzlich verriet und sie den einen liebte und den andern begehrte? Entsetzt darüber, dass Engelchen und Teufelchen sie wieder in Besitz genommen hatten, ohne dass sie es merkte, setzte Eden sich auf. Wie ein schutzbedürftiges Tierchen krabbelte sie auf die andere Seite des Betts.
Jaden schlief. Mit Tränen in den Augen schmiegte sie sich an seinen Rücken und drapierte die gemeinsame Decke wie einen Kokon. Er brummelte, drehte sich zu ihr um und legte die Hand auf ihre linke Brust. Atemlos wartete Eden darauf, ob er erwachte. Wenn er sie spürte, wäre alles vorbei ...
~ Khalil ~
Nie im Leben würde Khalil auf die Idee kommen, dass sich zwischen Jaden und Eden etwas anbahnen könnte. Ohne die Dämonen, die sein Leben hin und wieder beherrschten, schliefe er ruhig.
Wenn sie ihn befielen, war Eden da. Es war ganz egal, an welchem Ort der Erde er sich befände, sie folgte ihm. Dass sie es nun auch physisch tat: Daran musste er sich gewöhnen. Was sie auf sich genommen hatte, um sich aus ihrer heimischen Schutzglocke zu lösen, konnte Khalil sich denken. Garantiert waren ihre Eltern nicht eingeweiht.
Situationsbedingt hatte er die Muße für allerlei. Sein Bettnachbar nervte ihn nicht, er war allein. Aus irgendeinem Grund, den er nicht kannte, hatten zwei Pfleger den alten Mann aus dem gemeinsamen Zimmer entfernt.
Kaum, dass er sich bewegen konnte. Wenn er es versuchte, brannte seine Lunge wie Hölle. Dank Blasen - und Darmkatheder musste er nicht mal aufs Klo, weshalb er sich gedemütigt fühlte.
Sein Oberkörper steckte in einem Korsett. In einen Spiegel hatte Khalil schon länger nicht mehr geschaut, doch Druckschmerzen im Gesicht verrieten ihm, dass es noch nicht verheilt war. Der Überfall auf ihn war erst einen Tag her.
Bis die Lichter in den Zimmern ausgingen, musste er sich den Bildern im Fernsehen stellen. Gut und gern könnte er darauf verzichten. Es war immer dasselbe, es gab lediglich den einen Nachrichtensender mit nur einem Thema: Donald Trump und der Run aufs Kapitol. Ungewohnterweise entdeckte er sich sogar selbst, dank Wiederholung.
Jadens und Edens Episode am Flughafen ließ ihn schmunzeln, doch als Khalil noch einmal sah, wie sie von mehreren vermummten Gestalten vom Band gezogen wurden, verging ihm das Lachen.
Unter den Umständen wunderte ihn nichts mehr, wie das FBI auf die irrige Annahme kam, er sei Terrorist: Pure Willkür! Er freute sich schon auf den morgigen Tag.
Wenn er das Fernsehgeschwafel ausblendete, war es so still, dass er sich fast seinen Zimmergenossen zurückwünschte. Der Zimmerboden war mit weichem Laminat ausgelegt, bisherige Visiten von Pflegepersonal oder Ärzten konnte er an einer Hand abzählen.
Die Scheiben waren gut isoliert. Offenbar lag das Hospital außerhalb, denn nicht einmal Straßenlärm drang von draußen herein. Die Zeit zog sich für Khalil wie Gummi, wenn er nicht gerade schlief. Zwei Zeitungen waren schon ausgelesen. Er war allein mit sich selbst und seinen Gedanken, Tag und Nacht unterschieden sich für ihn nur durch einen Blick aus dem Fenster.
Als von weit her die Glocke eines Aufzugs erklang, wusste er, dass wieder Schichtwechsel war. Einen davon hatte er schon am Tag seiner Einlieferung im Dämmerzustand erlebt und erwartete dieselbe Schwester. Überraschenderweise kam jedoch ein Mann. Bei dessen Anblick war Khalil froh, dass er eine Maske trug. Er hatte ihn sofort als einen seiner Angreifer erkannt. Schnell drehte er sein Gesicht zur Wand und hoffte, dass der Typ wieder verschwand, ohne sich mit ihm zu befassen. Dass er die Nachtschicht war, lag auf der Hand.
Der Pfleger schien ihm den vorgetäuschten Schlafmodus abzukaufen, denn er machte den Fernseher aus, drehte eine Kontrollrunde durch Zimmer und Bad und löschte das Licht. Kurz darauf klappte die Tür, und er war verschwunden. Erleichtert kam Khalil aus seiner provisorischen Deckung.
~ Wickie ~
Etwas später stand eine finstere Gestalt am Kapitol. Der Mann war dunkel gekleidet, groß und muskulös, auch attraktiv. Einen Tag vorher hatte er noch bedrohlich gewirkt, doch das Licht der Laterne, unter der er stand, machte seine Gesichtszüge weicher. Ein sanfter Riese, so wäre der Anschein, sähe ihn jemand, doch er war allein.
Harmlos war er beileibe nicht. Er war ein Proud Boy und einer derjenigen, die den letzten Angriff auf die viel gepriesene Demokratie angeführt hatten.
Unter seinesgleichen wurde er wegen seiner Vorliebe für Kostümierung und Hörnerhelme Wickie genannt. Der niedliche Spitzname - einer bekannten Filmfigur entlehnt - wurde ihm in keinster Weise gerecht, vielmehr war er ein Hohn. "Undertaker" hätte besser gepasst.
Wickie rauchte geruhsam eine Zigarette, starrte auf das hell erleuchtete Gebäude und rekapitulierte den gestrigen Tag. Donald Trump - sein angebetetes Vorbild - hatte sie alle verraten. Die Enttäuschung rumorte noch immer in ihm.
Heroismus hatte die Proud Boys einen Tag lang getragen und sie zu Taten veranlasst, die einer blutigen Orgie unter Droge gleichkamen. Jeder einzelne von ihnen war felsenfest davon überzeugt gewesen, dass ihr Präsident sie brauchte und sie für ihn kämpfen mussten. Viele von ihnen hatten eine Mission. Dazu gehörte auch er.
Über vierundzwanzig Stunden lang waren sie wie in einem Rausch und befanden sich auf einem Schlachtfeld. Als der erste Schuss fiel und eine ihrer Ikonen traf, war Wickie sein Heroismus vergangen. Die lähmende Stille in dem kleinen Vorraum würde er nie vergessen.
Sie währte nicht lang. Danach ging es erst richtig los. Es war nicht bei einer Toten geblieben. Dennoch erlebte er seinen Höhepunkt, als er sich in den Heiligen Hallen des Kapitols wiederfand: auf seinem Thron. Für einen kleinen Moment war er Präsident gewesen.
Abends um sechs Uhr schickte Donald Trump seine "Soldaten" nach Hause, wie ein Daddy seine Kinder ins Bett. Sie hatten gehorcht, auch er und die härtesten Kämpfer.
***
Wickie drückte seine Zigarette aus und wandte sich frustriert ab. Sie hatten rein gar nichts erreicht, also konnte er getrost wieder nach Hause gehen. Sein Blick fiel auf ein gegenüberliegendes Pub. Er machte einen zögernden Schritt darauf zu. Sein Handy spielte die Nationalhymne ab, der übliche Klingelton für seinesgleichen. Wickie blieb stehen und nahm das Gespräch an.
Einer von denen, die bei ihrer ersten Schandtat dabei gewesen waren, schrie ihn aufgelöst an. Erst kapierte er gar nicht, was der Typ von ihm wollte. Wickie kannte nicht einmal seinen Namen. Er verstand etwas von Krankenhaus und von einem Kanaken, der sie verraten würde. "Mal langsam", sprach er ins Mikrofon. "Komm erst mal runter und fang nochmal an."
Beim nächsten Versuch kam er einigermaßen klar. Der am anderen Ende war einer von den Speichelleckern, die sich an seine Fersen geheftet hatten. Zu viert hatten sie gleich in den ersten Minuten Beute gemacht.
Wickie erinnerte sich vage, dass sie einen jungen Araber mitgeschleift hatten. Der lag jetzt im Krankenhaus und hatte einen von ihnen erkannt. Er fluchte, setzte sich auf eine Mauer und zündete sich die nächste Zigarette an. "Du arbeitest da, ja?", hakte er nach.
Die Antwort bestätigte seine Vermutung. "Kommst du an den Kerl ran?"
"Ja, ich habe Nachtschicht."
"Dann mach ihn kalt." Schnell sah Wickie sich um, ob jemand seine Antwort mitgekriegt hatte, doch auf seiner Straßenseite war gerade leer. Die Ausgangssperre schien noch immer zu greifen, was Glück für ihn war. Nicht einmal Corona hatte die Stadt so leergefegt.
Er konnte förmlich riechen, wie der Andere zu schwitzen begann. "Bist du verrückt? Wie stellst du dir das vor? So gut haben wir den Kerl nicht erwischt, dass ich ihm mal schnell das Licht auspusten kann."
"Es war nicht meine Idee. Jetzt sieh zu, wie du klarkommst. Erschieß ihn, vergifte ihn oder stich ihn ab, mir ist das egal. Ich habe keine Lust, für euch Idioten in den Knast zu gehen." Wickie legte auf und überquerte die Straße.
~ Khalil ~
Eine ungute Vorahnung hatte Khalil veranlasst, auf seine in Griffnähe bereitgestellten Medikamente zu verzichten. Die Folge wäre zwar eine schlaflose Nacht, doch lieber wollte er die Schmerzen als den Dämmerzustand eines Idioten ertragen. Er wollte klar im Kopf bleiben, falls der Nachtschichtpfleger je wiederkäme.
Seine unmittelbare Umgebung war in gespenstisch grünliches Licht getaucht, verursacht von Überwachungsgeräten an seinem Bett.
Ansonsten war der Raum dunkel. Die EKG-Linie lief gleichmäßig über den Monitor wie eine buckelnde Schlange, begleitet von enervierendem Piepsen. Über Nacht wurde seine Lunge von einem Inhalator unterstützt, weil ihm das selbstständige Atmen noch immer schwer fiel.
Wie erwartet bekam Khalil kein Auge zu. Er hatte keinerlei Möglichkeit, sich abzulenken. Selbst der Blick aus dem Fenster war ihm verwehrt, die Vorhänge waren geschlossen. Einen Zeitmesser hatte er nicht, im gesamten Zimmer war keine Uhr. Fiel irgendwo im Haus eine Tür zu, hörte es sich an wie ein Schuss. Die nächtliche Antwort auf das ständige Rascheln der Kleidung des Tagpersonals war schleichende Stille. Sie fraß sich in sein Gehirn.
Khalil hatte das Gefühl, als würde er auf etwas warten, ohne zu wissen, worauf. Hin und wieder erschien ihm Edens Gesicht, verschwand aber gleich wieder zurück in die Dunkelheit. Eden würde ganz bestimmt schlafen. Wie immer beschützte ihn der Gedanke an sie vor seinen Dämonen. Währenddessen schlich reales Grauen mit tödlichem Ziel durch die Korridore der Nacht.
Den Instinkt des Soldaten hatte Khalil noch nicht ganz verloren. Er vermutete zwar, dass der Pfleger ihn nicht erkannt hatte, doch sicher war er sich nicht. Mittlerweile war sein Gedächtnis wieder so weit hergestellt, dass ihm auch einige Details eingefallen waren, die nicht aus dem Fernsehen stammten. Er hatte mehr gesehen, als ihm lieb war. Wenn der Typ das auch wusste, war Khalil geliefert.
Er bereitete sich auf den Ernstfall vor, ruckelte an seinen Schläuchen und versuchte, sie zu entfernen. Mit einem unterdrückten Aufschrei ließ er davon ab. Es sprudelte Blut aus einer Vene am Arm. Khalil fing an, zu schwitzen. Probehalber bewegte er seine Beine, doch zu mehr als Zehenwackeln war er nicht imstande. Seine Muskulatur war wahrscheinlich vom Liegen zu schwach. Lungenstechen sagte ihm, dass er es mit den paar Faultierbewegungen schon übertrieben hatte. Im Ernstfall würde er also hilflos sein!
***
Der herausgerissene Kathederschlauch hing auf dem Boden. Die Medikation rann an dessen Ende heraus und vermischte sich mit seinem Blut. Khalil drehte den Kopf und beobachtete, wie sein Lebenssaft an seinem Arm herunter rann. Um sich vom Wundschmerz abzulenken und nicht zu schreien, zählte er die roten Tropfen.
Zu hoffen, dass der Nachtschichtpfleger ihm hälfe, wenn er nach ihm riefe, war wahrscheinlich vergeblich. Khalil nahm einen Zipfel seiner Bettdecke und presste ihn mit der anderen Hand auf die Wunde, um die Blutung zu stoppen. Der Stoff färbte sich rot. Noch einmal versuchte Khalil, sich aufzusetzen, sank jedoch mit einem Ächzen wieder in sein Kissen zurück.
Die Nadel seines Blasenkatheders stach ihm zum wiederholten Male ins Fleisch und strafte ihn für seine Unvorsicht ab, doch wenigstens blieb der Schlauch an Ort und Stelle. Durch die ruckelnden Bewegungen lockerte sich sein provisorischer Druckverband, was die Blutung am Arm wieder verstärkte. Frustriert und verzweifelt schrie Khalil auf.
***
Als das Erwartete eintraf, bekam er es kaum noch mit. Es war ein Fehler gewesen, sich einen Katheder mit Gewalt herauszureißen. Die Blutung war nicht zu stoppen. Khalil wandelte zwischen Ohnmacht und Wachen. Im Zeitlupentempo öffnete sich die Zimmertür. Grelles Licht fiel nur für ein paar Sekunden von draußen herein, unterbrochen von einer unförmigen Silhouette.
Es wurde gleich wieder dunkel. Der blaue Lichtstrahl einer Stabtaschenlampe geisterte in die Ecken des Raums und steuerte das Mobiliar an. Der Steuermann suchte nach einer Waffe und wurde fündig. Er machte seine Taschenlampe aus, verharrte für einen Moment in der Dunkelheit und lauschte auf die Atemzüge seines potentiellen Opfers. Wahrscheinlich hatte er leichtes Spiel!
Brett Lannon - die Nachtschicht - geziemte sich, ein Proud Boy zu sein und es auch zu bleiben. Er war derjenige, der am Tag zuvor am derbsten zugelangt hatte und Khalils Rippen brach. Dass sein Opfer überhaupt überlebte: Damit hatte er nicht gerechnet, und das war auch nicht geplant. Die Proud Boys wussten, wie Donald Trump zu Kanaken stand. Deshalb war es recht und billig, Amerika von dieser Plage zu befreien, wann immer es möglich war.
Wickie hatte ihm grünes Licht gegeben, und somit war es okay. Brett schnaufte ein paar Mal kurz durch. Irgendwann war immer das erste Mal!
Er schaltete seine Taschenlampe wieder ein und tastete sich auf einen Rollwagen zu, auf dem eine Schere lag. Zu allem entschlossen trat der Tunichtgut an Khalils Bett.
~ Jaden und Eden ~
Jaden wurde von einem leisen Klicken geweckt. Er rückte von Eden ab, drehte sich auf den Rücken und knipste das Licht an. Im rötlichen Schein der Nachttischlampe tanzten Schatten im Raum.
Eden lag auf dem Bett wie gekreuzigt und murmelte etwas im Schlaf. Er setzte sich auf und spitzte die Ohren. Der Klang ihrer Traumstimme steigerte sich zu Hysterie. "Da ist ein Mann ...", wimmerte Eden. "Khalil ..."
Die Matratze vibrierte. Sie bäumte sich auf. Jaden wurde es mulmig. Offenbar hatte sie einen Alptraum. "Khalil", schrie sie. "Er will dich töten."
Eden hyperventilierte. Jaden rutschte wieder näher an sie heran und versuchte, sie aufzuwecken.
Ihre Stimme senkte sich erneut zu Murmeln, das er nicht verstand. Das Klickgeräusch wiederholte sich. Er suchte nach der Quelle im Raum und sah das Blut an Edens Arm. Die andere Seite des Betts war über und über durchtränkt. Erschrocken sprang Jaden aus dem Bett, hastete hin und versuchte, die starke Blutung mit ihrem Kissen zu stoppen.
Fieberhaft überlegte er, was in der Nacht geschehen war. Hatte Eden versucht, sich umzubringen? Hatte er das womöglich nicht mitgekriegt?
Jaden rüttelte sie, um sie wachzubekommen. Er brauchte Verbandszeug, wagte es aber nicht, seine Hand von der Wunde zu nehmen. Das Klicken ertönte zum dritten Mal und war eher ein Schnippen. Es kam von oben.
Er blickte hoch. Ein Schatten geisterte über Edens Körper und sah aus wie eine Schere. Etwas Materielles war nicht erkennbar. Da Jaden nicht das erste Mal mit Edens Visionen in Berührung kam, wusste er gleich Bescheid.
Seine Hoffnung, dass auch das Blut nicht organisch war, erfüllte sich nicht. Er fühlte Feuchtigkeit.
Die Schattenschere barg eine echte Gefahr, wie Jaden bald darauf zu spüren bekam. Die Traumwaffe tanzte unsicher über ihren Köpfen, als ob sich ein imaginärer Führer nicht traute.
Eden öffnete ihre Augen und starrte nach oben. Ihr Körper wurde ganz steif, die Blutung am Arm schien zu versiegen. Ihr Gesicht war jedoch kreidebleich.
Vorsichtig löste Jaden seinen pressenden Griff von ihrem Arm und nahm ihre andere Hand. "Du musst da jetzt draufdrücken", wies er sie an. "Ich muss dich verbinden und rufe einen Krankenwagen." Eden wirkte apathisch und antwortete nicht. Stattdessen erklang wiederholtes, giftiges Scherenschnippen.
Jaden sah hoch. Die Schenkel der Schattenschere schlossen sich. Sie fuhr ruckartig nach oben, als würde jemand damit Schwung holen. Die imaginäre Stichwaffe schoss wieder herab, zielgenau auf Edens Herzseite zu. Reflexartig griff Jaden dazwischen und schrie schmerzerfüllt auf. Seine Hand war zerschnitten. Eine geschlossene Schere steckte in Edens Brust. Blut sprudelte in einer Fontäne heraus. Eden schrie wie am Spieß und griff mit beiden Händen nach der Stichwaffe. Sie wollte sie herausziehen, doch Jaden hielt sie davon ab. "Warte", schrie er und fragte sich, wie sie diesem Alptraum entkämen. Er wickelte einen Stofffetzen um seine blutende Hand, suchte nach seinem Handy und wählte den Notruf. Erleichtert hörte er zehn Minuten später Sirenen.
~ Khalil ~
Im Krankenzimmer von Khalil spielten sich simultan zum Geschehen in der Pension Dramen ab. Jadens Griff in die Schattenschere rettete Khalil das Leben.
Brett Lannons Waffe steckte in der Mitte der Brust und hatte sein Herz nur knapp verfehlt. Im Gegensatz zu Eden trug Khalil ein stabiles Korsett, was die Wucht des tödlichen Stoßes noch etwas dämpfte.
Im Hintergrund kämpfte sein Meuchelmörder mit zwei Ärzten. Einer davon hatte den Tumult gehört. Ein Kollege einer anderen Station verständigte die Polizei und eilte zuhilfe. Beide waren kräftig und hatten Brett gut im Griff. Gemeinsam bugsierten sie ihn aus dem Zimmer heraus und zu einem Abstellraum. Dort wurde er eingesperrt.
Khalil wurde in den OP gebracht. Der Blutverlust, den er sich selbst zugefügt hatte, hatte ihn zusätzlich geschwächt. Sofortiges Handeln war nötig, doch er war nicht in Lebensgefahr. Die Wunden wurden genäht. Nach ein paar Bluttransfusionen durfte Khalil wieder zurück.
Als er mit einem Rollbett wieder in seinem Zimmer ankam, war er nicht mehr allein. Eden war eingeliefert worden während seiner OP. Sie war schon versorgt. Jaden erzählte ihm, was in seinem Pensionszimmer geschehen war. Wieder hatte Eden für Khalil gelitten, wieder hatte sie ihn gerettet.
Diesmal gemeinsam mit Juden! *
* Khalil ist Moslem
My tears for Israel and Pälestine
17. Oktober 2023
Wenn die Nacht beginnt zu fliehen,
legt sich sanft ein Wort von dir
über meine müden Lider.
Du hast meinen Traum
von den Lippen geküsst.
Noch im Erwachen
wirft meine Sehnsucht
dich sternenwärts.
Ich fange dich mit
meinem Atem.
Sanft schließen deine
Lider mich ein.
Ich spüre dein Lächeln
auf meiner Haut
und möchte mit dir
den Tag umarmen.
Immer wieder.
© Enya Kummer
Für Jaden
Das erste Bekenntnis kommt von meinereiner, der Verfasserin dieses Romans. Im Kapitel "Echo der Gewalt" habe ich der Geneigten Leserschaft einen absichtlichen Schreibfehler untergejubelt, in Gedenken an die Opfer im Gaza-Streifen. Die Geschichte von Eden, Khalil und Jaden fing im Jahr 2014 mit dem Nahost-Konflikt an. Damals war der Titel noch "Edens Song". Leider ist dieser Titel verbrannt, wegen nachträglichem Mehrfachgebrauchs. Aus diesem Grund habe ich das Buch kürzlich umbenannt.
Die Story bleibt aber gleich, Sinn und Zweck ebenfalls. Ich möchte nicht unterhalten, ich brauche keinen Kommerz. Mein Anteil am Geschehen in der Welt ist bescheiden. Dass ich es trotzdem versuche, auf meine Art Frieden zu stiften, liegt in meiner Natur. Nun gebe ich das Wort wieder ab.
~ Jaden ~
Der Rest der Nacht verlief ruhig. Eden und Khalil wurden unter Medikamente gesetzt. Jaden hatte eine Schnittwunde an einer Hand, doch das war nicht dramatisch. Der Stationsarzt, der Brett Lannon außer Gefecht gesetzt hatte, nähte die Wunde und schickte ihn fort. Khalils Angreifer wurde verhaftet.
Am anderen Morgen übernahm Jaden Edens Mission. Es war der achte Januar 2021, zwei Tage nach dem Sturm aufs Kapitol. Jaden brachte eine gefüllte Reisetasche vorbei. Darin waren die benötigten Papiere für Khalil, Geld und Kleidung für beide. Über Nacht hatte er einen Entschluss gefasst, den er Eden noch mitteilen musste. Jaden war klar geworden, dass er das erste Mal in seinem noch so jungen Leben verliebt war. Er musste es beiden sagen.
Als Jaden das Zimmer betrat, saß Eden an Khalils Bett und hielt seine Hand. Er schlief.
Jaden stellte die Tasche ab. "Schön, dass es dir wieder besser geht", fing er an. "Ich muss mit dir reden."
Eden senkte den Kopf. "Nicht hier und nicht jetzt. Ich würde alles, was gestern war, gerne vergessen."
"Ich dachte nur, dass es dich vielleicht interessiert, was ich vorhabe, wenn wir wieder zu Hause sind", erwiderte Jaden und wandte sich der Tür zu. "Wenn ja, warte ich draußen auf dich." Er versuchte, seine bohrende Eifersucht zu ignorieren und verließ Khalils Zimmer.
Fünf Minuten später stand Eden vor ihm. "Dir muss klar sein, dass das nichts werden kann. Ich weiß nicht, was du mir sagen willst, aber ich glaube, ich will es gar nicht hören." Sie wich einer vorbeieilenden Stationsschwester aus und lehnte sich an die Wand.
Jaden baute sich vor ihr auf und hielt sie zwischen beiden Armen gefangen. "Ich sage es dir trotzdem." Er versuchte, Edens flehenden Blick zu ignorieren.
Wie gern hätte er sie jetzt geküsst, doch in Anbetracht dessen, was sie in der vergangenen Nacht durchgemacht hatte, befürchtete er, sie würde daran zerbrechen. Er beließ es bei seiner Botschaft. "Wenn wir wieder in Cedar Rapids sind, bitte ich Nokomis um eine Frau."
Eden hätte mit allem gerechnet, nur nicht damit. Sie starrte ihn an, als hätte er seinen Verstand verloren. "Ist das alles? Hat Nokomis einen Katalog, wo du dir eine Frau aussuchen kannst? Oder zaubert sie dir die herbei?" Sie versuchte, Jaden nicht auszulachen. Andererseits fiel es ihr schwer, ihn ernstzunehmen. Eden duckte sich unter seinen Armen hindurch und ging auf Abstand. Schmerzen in Brustmitte erinnerten sie an ihren Verband.
"Du müsstest eigentlich wissen, dass es so nicht funktioniert", erwiderte Jaden. "Einige Angehörige meines Stammes sind wieder in die Siedlung zurückgekehrt, seit man dort leben kann. Nokomis kennt die Algonkin und wird wissen, wer zu mir passt. Ich komme nicht mehr zurück."
Eden war versucht, Marvin dafür zu verfluchen, dass er mit seiner Stiftung das Reservat wieder aufgebaut hatte. Sie trat auf Jaden zu und legte die Hand an seine Wange. "Du willst also zurück zu deinen Wurzeln?", fragte sie mit samtweicher Stimme. "Wann hast du das beschlossen?"
Er zuckte zurück und stieß gegen einen Frühstückswagen. Geschirr schepperte, ein Tablett fiel zu Boden. Eine Pflegerin eilte herbei und scheuchte Eden und ihn aus dem Weg. "Hier ist kein Spielplatz." Sie wies in eine Richtung. "Dort hinten ist ein Aufenthaltsraum." Grummelnd kehrte die ältere Frau die Scherben auf.
Eden packte Jadens Hand. "Komm!" Sie zog ihn hinter sich her und hatte es plötzlich eilig. Überrascht versuchte er, mit ihr Schritt zu halten. Eine Zimmertür nach der anderen huschte an ihnen vorbei, fast kam es Jaden so vor, als ob sie fliegen könnten. Die Gesichter von Passanten verschwammen zu Einheitsbrei.
Er wunderte sich über Edens Kraft, mit der sie ihn festhielt. Plötzlich machte sie einen Schlenker und zog ihn in einen Raum. Mit einem Knall fiel die Tür hinter ihnen zu. Irritiert suchte Jaden nach einem Lichtschalter. Er stieß sich einen Knöchel an und zischte wütend und schmerzerfüllt.
Eden machte das Licht an, schloss die Tür hinter sich ab und steckte den Schlüssel in ihre Hosentasche. Verwirrt schaute Jaden sich um. Sie befanden sich offenbar in einem Abstellraum. Was hatte sie vor?
Die Antwort ließ nicht lang auf sich warten. Ohne Federlesen schubste Eden ihn auf eine ausrangierte Matratze und zog ihr Shirt aus.
Obwohl er die Augen nicht von ihrem schwellenden Busen lassen konnte, wehrte er sich. "Du willst also so weiter machen wie gestern?", fragte Jaden bitter.
Eden antwortete nicht und setzte sich auf seine Taille. Sie griff nach seinen Händen und legte sie auf ihre Brüste. "Damit du weißt, wonach du suchen musst".
Ihre kehlige Stimme verursachte ihm Gänsehaut. Ein weißer Verband verdeckte die Stichwunde von letzter Nacht. Jaden wünschte sich sehnlichst, er hätte sie nur geträumt.
~ Eden ~
Sie ließ sich leiten. Was auch immer sie dazu veranlasste, sich derart gehen zu lassen, war ihr nicht bewusst. Es war ihr egal. Eden wusste nur eines: Sie musste verhindern, dass Jaden ging.
Ihre Intuition sagte ihr, dass er es ernst gemeint hatte. Er war auf der Flucht vor sich selbst, seinen Gefühlen und ihr. Sie würde ihn zwingen, sich zu ihr zu bekennen, wenn sie auch noch nicht wusste, wie sie das anstellen sollte. Also setzte Eden ihre einzigen Waffen ein: Die einer Frau.
Triumphierend bemerkte sie Jadens Verletzlichkeit in seinen dunklen Augen. Sie spürte sein Zittern auf ihrem Fleisch, fühlte, wie er versucht war, seine Hände von ihren Brüsten zu nehmen und es nicht konnte. Mit wild klopfendem Herzen drängte sie sich noch mehr gegen ihn. "Nimm dir doch einfach, was du von mir willst", schnurrte sie. "Ich weiß es doch sowieso." Eden beugte sich über ihn.
Jaden ergab sich. Mit beiden Händen umklammerte er ihren Kopf und zog ihn quälend langsam zu sich herunter. "Du solltest deine Verführungskünste an Khalil versuchen", flüsterte er an ihren Lippen.
Eden hielt ihm den Mund zu. "Nicht hier und nicht jetzt." Sie kam ihm entgegen. Jaden bekam den ersten richtigen Kuss in seinem bisherigen Leben. Atemlos löste er sich von ihr. "Du bist ein Naturtalent", grinste er ihr frech ins Gesicht.
***
Gemächlich öffnete Eden den Reißverschluss seines Hoodies, schob beide Stoffseiten beiseite und krempelte Jadens Pullover hoch. "Du hast zu viel an, das ist unfair." Mit den Fingerspitzen fuhr sie über seinen Bauch und tastete sich weiter nach unten.
Er hielt ihre Hand fest und stoppte sie. "Du weißt ganz genau, was du willst, oder?", neckte Jaden sie und unterdrückte ein Stöhnen. "Nicht schlecht für eine Jungfrau."
"Vor Allem will ich, dass du bleibst. Versprich es mir." Eden schmiegte sich mit Nachdruck an ihn. Ihre roten Locken breiteten sich über ihm aus. Jaden griff genussvoll hinein und wühlte darin herum. "Ich wünschte, du wärest weniger sexy", seufzte er.
"Ich habe dir gestern eine Frage gestellt", erwiderte Eden. "Du hast mir darauf keine Antwort gegeben."
Jaden spürte das Pulsieren ihres Herzens an seiner Brust. Er wünschte sich, dass es nur für ihn schlagen würde. "Welche Frage meinst du?", wollte er wissen, froh über die Ablenkung. Er versuchte, sich aufzusetzen, doch Eden ließ es nicht zu. "Ich fragte, ob du schon einmal mit jemandem geschlafen hast."
"Dafür gab es bisher keinen Grund", erwiderte er etwas steif. Eden stand auf. Zwischen Bedauern und Erleichterung schwankend, schaute Jaden zu ihr hoch.
Er rechnete damit, dass sie ihn verlassen würde und wappnete sich gegen den zu erwartenden Herzschmerz.
***
Eden dachte im Traum nicht daran, ihn entkommen zu lassen. Sie dachte keine Sekunde an die Konsequenzen, schleuderte ihre Schuhe weg und kehrte zu ihm zurück.
Noch einmal versuchte Jaden, zu protestieren. "Gestern hast du mich sowieso schon gesehen", erwiderte sie ungerührt und befreite sich vom letzten Rest Kleidung.
Er seufzte und zog sie zu sich herunter. "Du machst mich fertig." Jaden ließ zu, dass Eden ihn auszog. Er drehte den Spieß um und warf sie auf die Matratze. "Du sexy Hexe", raunte er zärtlich. "Machtübernahme. Ich will selbst der Herr meiner Sinne sein." Sie verloren die Zeit an die Ewigkeit.
~ Khalil ~
Auf der Krankenstation wurde Khalil von Stimmen geweckt. Schlaftrunken schlug er seine Augen auf. Als er zweier unbekannter Personen ansichtig wurde, versuchte er, sich aufzusetzen. "Bleiben Sie liegen", schlug Detective Morse vor und betrachtete mitleidig sein schmerzverzerrtes Gesicht. "Wir haben nur ein paar Fragen an Sie." Er stellte sich vor. "Das ist Sergeant White, meine Kollegin." Morse zog sie näher heran. "Wir sind vom FBI."
"Ich habe schon mit Ihnen gerechnet", erwiderte Khalil und ließ sich zurück in sein Kissen sinken. "Meine Freundin hat mir von Ihnen erzählt. Ich habe nur nicht ganz verstanden, was Sie von mir wollen."
Die beiden Beamten zogen zwei Stühle vor sein Bett und setzten sich. Sergeant White eröffnete das Verhör. "Fangen wir mit etwas Einfachem an. Sie wurden vor zwei Tagen Opfer von Schlägern. Wollen Sie Anzeige erstatten?"
"Wenn das etwas bringt?" Khalil erzählte kurz umrissen von dem Anschlag letzter Nacht und zeigte seine frisch verbundene Brust. "Ich habe Glück gehabt."
"Der Mann ist schon verhaftet", informierte ihn Morse. "Ob beides in Zusammenhang steht, müssen wir noch überprüfen. War Lannon bei dem ersten Angriff dabei?"
Khalil nickte. "Ja, da bin ich ganz sicher. Wahrscheinlich wollte er mich aus dem Weg räumen, weil er wusste, dass ich ihn erkennen würde."
"Wir haben die Bilder im Fernsehen gesehen. Sie wurden zu einer Berühmtheit", versuchte Sergeant White, zu scherzen. Khalil nahm sie in Augenschein. Eine hübsche Brünette, noch jung, vielleicht etwas älter als er. Lächelnd huldigte er ihrem Gag. "Darauf kann ich verzichten." Er warf einen Blick auf das andere Bett und fragte sich, wo Eden sei. Wurde sie schon entlassen?
Währenddessen holte Morse einen Laptop und mehrere Fotos aus einer Aktentasche. Er zeigte sie ihm. "Das sind Bilder aus unserer Verbrecherkartei. Einen von Ihren Angreifern haben wir schon, fehlen noch drei. Können Sie jemanden identifizieren?" Khalil schüttelte seinen Kopf. "Nur den einen von gestern Nacht. Wie Sie bestimmt selbst gesehen haben, waren sie kostümiert. Mal ehrlich, Detective: Deswegen sind Sie doch gar nicht hier."
"In der Tat", seufzte Morse und fuhr seinen Laptop hoch. "Mittlerweile haben wir zwar schon selbst herausgefunden, dass wir einem Irrtum aufsaßen. Trotzdem haben wir noch ein paar Fragen zu Ihrer Herkunft."
Zu zweit spulten sie ihr Programm ab. Khalil klärte sie darüber auf, dass er und seine Mutter amerikanische Staatsbürger seien, wie lange sie schon hier lebten und was sie taten. Er verwies sie an Marvin Beard, einen angesehenen Bürger von Cedar Village. "Bestimmt haben Sie schon von seiner Stiftung oder von seiner Firma gehört. Er ist mein Chef. Seit Kurzem sind wir sogar Partner."
"Das alles hat uns schon Ihre Freundin erzählt", erwiderte Sergeant White und musterte neugierig sein geschwollenes Antlitz. Sie fragte sich, wie er wohl aussehen würde, wenn er genesen sei. "Uns interessiert eventuelle Verwandtschaft." Hilfesuchend schaute sie zu ihrem Vorgesetzten. "Hatten Sie die betreffenden Namen notiert?"
Detective Morse nickte. "Nicht nur das." Er drehte ihr den Bildschirm seines Laptops zu. "Steckbriefe. Soll ich weitermachen, Rebecca?"
Sie nickte. "Es wäre mir lieb. Wie wäre es, wenn ich uns solange ein paar Tassen Kaffee organisiere? Meine Nacht war lang, und ich könnte Koffein gut gebrauchen." Demonstrativ unterdrückte die junge Beamtin ein Gähnen und freute sich. Endlich nahm ihr Chef das Angebot an, sie beim Vornamen zu nennen. Auch, dass er nachgefragt hatte, wertete sie als gutes Zeichen. Rebecca war noch nicht lang Teil seines Teams und hatte es bisher nicht einfach gehabt. Morse lächelte sie aufmunternd an. "Wenn Ihnen danach ist, will ich Ihr Angebot bestimmt nicht verweigern." Er blickte Khalil an. "Und Sie? Haben Sie auch Durst auf Kaffee?"
"Ich tendiere eher zu Tee, nein danke", erwiderte Khalil. "Mir wäre es lieber, wenn die Angelegenheit, wegen der Sie hergekommen sind, bald erledigt wäre. Wen also suchen Sie?" Ungeduldig nestelte er an seinem Kissen.
Sergeant White verließ das Krankenzimmer und ließ die beiden Männer allein. Detective Morse drehte Khalil sein Laptop zu und zeigte ihm die steckbrieflich gesuchten Personen. "Sie alle haben denselben Nachnamen wie Sie. Deshalb kamen wir auch auf Sie", erklärte er. "Haben Sie also noch Verwandtschaft?"
"Soviel mir bekannt ist, nur meine Mutter", erwiderte Khalil. Er deutete auf das mittlere Bild. "Das ist mein Vater." Er verstummte und starrte gegen die Decke. Sein letzter Tag im Camp lief wie ein Film vor ihm ab. "Er ist tot. Sie können ihn von der Liste streichen."
Morse notierte sich seine Information. "Können Sie das auch belegen?"
"Die entsprechenden Unterlagen hat meine Mutter. Ich bin nur der Sohn." Khalil spürte die Bitternis in seinem Herzen. "Ersparen Sie mir die Details."
"Und die anderen zwei?", bohrte Morse weiter. Khalil musterte widerwillig die beiden schlecht aufgenommenen Fotos. "Verstehen Sie mich nicht falsch. Die Gesichter sagen mir nichts, doch ich fürchte, das sind meine Brüder. Zumindest namentlich könnte es hinhauen."
"Sie kennen Ihre Brüder nicht? Habe ich das richtig verstanden?" Detective Morse lehnte sich nach hinten und verschränkte die Arme. "Sie hatten in Ihrem Heimatland doch bestimmt in Ihrer richtigen Familie gelebt. Da müssten Sie doch Ihre Geschwister kennen."
"Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen, und meine Mutter sagte mir, sie seien tot. Als sie eingezogen wurden, war ich noch ein Kind. Meine Brüder waren älter als ich." Khalil drehte ihm sein Gesicht zu und sah ihm fest in die Augen. "Sie wissen schon, woher ich komme? Da ist nichts mit Heile Welt und Gesetz und regelmäßig Essen und Trinken, abends gemütlich vor dem Fernseher sitzen und zusehen, wie sich andere Länder bekriegen. Da, wo ich herkomme, marschieren schon Kinder, und Raketen fliegen uns um die Ohren." Sein Zorn brach sich Bahn. "Jungs wie meinen Brüdern ließ man keine Wahl."
Die Tür ging auf. Sergeant White betrat das Zimmer mit mehreren Bechern Kaffee und Eden im Schlepptau. Rebecca hatte seine letzten Worte gehört. Sie stellte ihr Tablett auf einen Tisch und trat an Khalils Bett. Besänftigend nahm sie seine Hand und setzte sich auf die Kante. "Und wie ist es mit Ihnen? Hatten Sie eine Wahl?"
Khalil wandte den Kopf ab und starrte gegen die Wand. "Ich hatte Glück. Mir blieb das Schicksal vieler erspart."
~ Eden ~
Sergeant White hatte sie im Flur aufgegabelt, glücklicherweise ein paar Schritte von der Abstellkammer entfernt. Wahrscheinlich wäre Eden in Erklärungsnot geraten, wenn jemand gesehen hätte, wo sie heraus kam. Jaden war geistesgegenwärtig genug gewesen, noch etwas zu warten. Mit schlechtem Gewissen schlich Eden im Schatten der Beamtin ins Zimmer und warf sich aufs Bett. Ihre Haare waren noch immer zerzaust. Sie hatte das Gefühl, dass es ihr auf der Stirn stand. In voller Montur kroch Eden unter die Decke, darauf bedacht, einen kleinen Blutfleck in ihrer Hose zu verstecken. Sie war froh, dass Khalil anderweitig beschäftigt war. Das ließ ihr etwas Zeit.
"Was ist mit ihr passiert?", fragte Detective Morse und wies mit dem Kopf in Edens Richtung. Sie antwortete selbst. "Ich hatte einen Unfall." Eden hoffte, dass die Cops nicht weiter fragten. Es war schwierig genug gewesen, ihre Wunden an Arm und Brust dem behandelnden Arzt zu erklären. Welcher normal denkende Mensch würde ihr glauben, dass sie eine Para war und ein Traum sie überfiel?
Um von sich abzulenken, setzte sie sich auf ihren Bettrand und wies auf die Reisetasche, die von Jaden gebracht worden war. "Wir haben alles beisammen, Khalil. Deine Papiere sind da drinnen. Wie ist der Stand der Dinge?"
White und Morse klärten sie auf und erledigten die letzten Formalitäten. Eine halbe Stunde vor dem Lunch gingen sie. Eden war mit Khalil allein, rechnete jedoch damit, dass Jaden bald zu ihnen stieße.
Um noch etwas mehr Zeit zu schinden, wickelte sie ein großes Handtuch um ihre Hüfte und verschwand im Bad. Sie hatte außer dem, was sie anhatte, nichts Frisches dabei. Eden zog Jeans und Slip aus und warf beides ins Waschbecken. Während sie versuchte, das verräterische Blut zu entfernen, betrachtete sie sich im Spiegel.
Sie war keine Jungfrau mehr! Was hatte sie sich dabei gedacht? Waren Jaden und sie jetzt ein Paar, und was würden ihre Eltern sagen? Eden war nicht naiv genug, um sich hinter der Ausrede "Inzest" zu verstecken, weil es nicht so war. Jaden und sie hatten nicht miteinander geschlafen, sie hatten einander geliebt. Es war wie ein Flug zu den Sternen. Bestimmt würde er nicht zulassen, dass sie sich wieder von ihm distanzierte.
Eden hauchte gegen den Spiegel und malte ein Herz. Wollte sie das?
Nein, eigentlich nicht. Genau genommen wollte sie beide, was natürlich nicht ging. Spaßeshalber hatte sie zu Jaden gesagt, dass sie Khalil austesten wolle, ob er das auch so gut könne wie er. Fast hatte er ihr geglaubt.
Vor lauter Durcheinandersein hatte sie vergessen, dass Wasser nass war. Und was jetzt? Sie konnte schlecht mit nassen Klamotten antanzen. Das würde sie noch mehr verraten als das bisschen Blut.
Eden versuchte maulend, Hose und Slip mit einem Handtuch zu trocknen. Als das nicht genügte, versuchte sie es mit einem Föhn.
Naja. Sie rollte beides in Handtücher, wickelte das Badetuch wieder um ihre Hüfte und klemmte sich die zwei Rollen unter den Arm. Khalil würde schon nicht blind werden, wenn er sie so sah. Eden grinste verschmitzt in den Spiegel, kämmte sich und öffnete leise die Tür.
Eden hätte sie fast wieder zufallen lassen. Geschockt spickelte sie um die Ecke. Jaden saß an Khalils Bett. Als sie ihrer ansichtig wurden, schauten die beiden Jungs sie seltsam an. Eden gab sich einen Ruck und verließ das Bad ganz. "Hat er dich endlich rumgekriegt?", fragte Khalil. Seine Miene verriet nichts davon, was er empfand.
Vor Schreck wurde sie knallrot und ließ eine Rolle fallen. Vorwurfsvoll starrte sie Jaden an. "Wie ... rumgekriegt?", fragte sie krächzend. Ihr Hals war ganz trocken und wund.
"Na, dass du ihn fahren lässt", erwiderte Khalil völlig harmlos. Sie kapierte noch immer nichts. "Ich verstehe nur Bahnhof", erwiderte Eden etwas gefasster.
"Jaden hat mir von eurer Corvette vorgeschwärmt." Khalil beobachtete sie und fragte sich, was daran so schlimm war. "Du hast doch schon einen Führerschein?", fragte er Jaden. Die Spannung zwischen den beiden war mittlerweile fast greifbar und machte ihn stutzig.
"Klar", erwiderte Jaden. "Das solltest du eigentlich wissen." Er drehte sich ganz zu ihr um, musterte ihren Aufzug und grinste sie an. Eden schluckte, zog das Badetuch fester um sich und schnappte sich die Reisetasche. "Hoffentlich hast du auch Klamotten für mich dabei", sagte sie.
"Sicher doch, Madam." Der böse Wolf wandte sich wieder der Großmutter in Form von Khalil zu und machte auf Lamm. "Bist du jetzt Terrorist oder nicht?", fragte Jaden heiter. Mit dem größten Vergnügen würde Eden ihn killen.
~ Jaden ~
Würde Khalil Lunte riechen? Der Tag war noch lang. Jaden plauderte harmlos über dies und das, doch immer mal wieder streute er zweideutige Anmerkungen ein.
Eden hatte sich umgezogen und war versucht, ihn rauszuwerfen. Sie waren eigentlich übereingekommen, dass sie selbst oder beide gemeinsam mit Khalil reden würden. Offenbar traute Jaden ihr das nicht zu.
Noch dazu ließ er sie keinen Moment aus den Augen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Khalil das merkte.
Die Essensschwester kam ihr zu Hilfe und unterbrach die prekäre Situation. Eden nutzte die Gelegenheit, Jaden nach Hause zu schicken. Sie begleitete ihn bis in den Flur. "Was soll das, Jaden?", fragte sie ihn empört. "Willst du Khalil unbedingt weh tun?"
"Das Gleiche könnte ich dich auch fragen", erwiderte Jaden. "Mich würde mal interessieren, wie du deine Beziehung zu Khalil siehst: Bist du mit ihm zusammen?"
Eden schlenderte neben ihm her, darauf bedacht, ihn nicht zu berühren. "Ich bin mit niemandem zusammen. Weder mit ihm noch mit dir."
"Du hast die letzten Tage insgesamt zwei Mal gesagt, dass du ihn liebst. Was ist Liebe für dich, und was ist mit mir?" Jaden blieb mitten in einer offenen Glastür stehen und zog sie an sich heran. "Ich lasse nicht mit mir spielen, das habe ich dir schon gesagt. Es wäre auch Khalil gegenüber nicht fair, denn er will dich auch."
Eden lehnte den Kopf an seine Brust. "Ich weiß doch gar nicht, wie das überhaupt geht: Mit jemandem zusammen sein. Wir sind noch so jung, haben Ziele und Pläne für unser Leben. Du warst selbst dabei, als Nokomis mir prophezeite, was meine Bestimmung ist."
Jaden hob ihr Kinn an und schaute ihr in die Augen. "Ein Mensch, der dich liebt, teilt deine Bestimmung mit dir. Es muss nicht heißen, dass er dich begleitet, doch ein solcher Mensch liebt auch, was du tust. Wenn dich jemand liebt, wird er dir vertrauen, dir Schwäche verzeihen, dich stärken. Liebe bedeutet nicht, dass du dich aufgibst."
"Schöne Worte, Wabun Anung", entgegnete Eden und drückte ihm einen Kuss auf den Mund. "Aber sie beißen sich mit Jadens Verhalten." Sie milderte ihren Vorwurf mit einem Lächeln. "Du bist eifersüchtig. Eifersucht will Menschen besitzen. Merke dir eines: Shawnee gehört nur sich selbst."
"Das ist mir klar. Es würde mir trotzdem nicht gefallen, wenn du vor lauter "Nicht-Wissen-zu-wem-du-gehörst" mit Khalil schläfst. Ich hoffe, das, was du freche Göre hinterher gesagt hast, war wirklich ein Scherz. Sonst schlafe ich mit ihm, mal sehen, wie dir das gefällt."
Eden trat von Jaden zurück und bog sich vor Lachen. "Wir können ja einen Wettbewerb machen: Wer kriegt ihn zuerst? Du bist bescheuert. Khalil ist doch kein Haustier."
"Ich wollte nur mal testen, was so in deinem hübschen Köpfchen rumgeistert."
Laute Rufe machten Eden und Jaden bewusst, wo sie sich befanden. Er drehte sich um. Mehrere Pfleger rannten auf sie zu. Sie hatten ein Rollbett mit einem Patienten dabei. "Haut ab da! Ihr steht im Weg!", schrie einer davon erbost. "Das ist ein Notfall!"
Jaden zog sie zur Seite, drückte sich mit ihr zusammen gegen die Wand und ließ den Notfall passieren. "Wann wirst du eigentlich entlassen?", fragte er Eden.
Sie zog eine Schulter hoch. "Ich werde heute nachmittag nochmal untersucht, wahrscheinlich morgen." Sie lachte. "Wir können froh sein, dass Dr. Glencheck mir das abgekauft hat, dass ich beim Basteln abgerutscht bin. Sonst wärest du jetzt wieder in einem Verhörraum."
"Erinnere mich bloß nicht an diese Alptraumnacht. Ich bin nur froh, dass dir nichts Ernstes passiert ist und du das so gut verkraftest."
Eden nahm ihn in den Arm. "Du hast Khalil das Leben gerettet. Ich weiß nicht, wie sich bei mir ein mentaler Angriff auf mein Herz auswirken würde. Aber er hätte es ohne dein Eingreifen nicht überlebt." Sie stockte. "Es war die schlimmste Vision, die ich jemals hatte. So plastisch war es noch nie. Ich werde mit Adeela darüber reden müssen." Eden hob den Kopf und blickte ihn eindringlich an. "Meine Eltern dürfen das niemals erfahren. Und auch im Allgemeinen sollte das unter uns bleiben. Auch Khalil sollte nichts davon wissen, wie intensiv es diesmal war."
"Das glaubt uns ja sowieso niemand. Gehen wir noch ein wenig nach draußen. Ich habe noch ein paar Fragen, was deine Gabe betrifft." Jaden nahm ihre Hand. Eden ließ sie ihm und erklärte sich einverstanden. "Ich glaube, es hilft auch mir, mit dir darüber zu sprechen. Mir ist noch nicht ganz klar, wieso du Teil davon warst."
Hand in Hand verließen sie das Gebäude und setzten sich im Hof auf eine Bank. "Wie weit zurück kannst du dich erinnern?", nahm Jaden das Gespräch wieder auf. "Khalil hat mir davon erzählt, dass euer erster mentaler Kontakt stattfand, als er gefangen war."
"Das war Kleinkindalter. Aus dieser Zeit weiß ich gar nichts mehr, nur das, was mir erzählt wurde. Meine Mutter führt Tagebuch, vielleicht steht da ja was drin. Interessieren würde mich das auch", überlegte Eden. "Was hat Khalil dir darüber erzählt?"
"Nun ja, er nennt es 'seine Zeit im Verlies'. Es ist ihm nicht leicht gefallen, darüber zu reden. Letztes Jahr war er bei meinem Geburtstagsritual dabei. Nokomis hat ihm geholfen. Er sagte was von einem Engel, der ihm den Weg nach draußen gezeigt hatte. Khalil war felsenfest davon überzeugt, dass du das warst."
"Das würde aber bedeuten, dass auch er an meinen Visionen teilhaben kann." Eden lehnte sich zurück und starrte in den Winterhimmel. "Mein Vater hat mir von dem Tag erzählt, als ich das erste Mal wieder sprach. Er sagte, ich hätte Sonnenstrahlen gefangen und sie verschenkt. Von dem Tag an wurde ich wieder normaler." Sie lehnte den Kopf an Jadens Schulter. "Am Tag in der Höhle hattest du mich wieder daran erinnert, in welcher Gefahr Khalil war. Sein Vater war eine Bestie. Ich habe alles gesehen."
"So wie es aussieht, nicht nur gesehen, sondern erlebt." Jaden strich ihr über den Kopf. "Es muss die Hölle gewesen sein. Und ich hielt dich für einen bösen Geist."
"Hast du die Käfer wirklich gesehen, als es mir in der Höhle so schlecht ging?", fragte Eden.
"Ich weiß es nicht sicher", erwiderte Jaden. "Vielleicht war es auch Projektion, weil wir ja vorher darüber sprachen. Erst waren sie da und dann wieder weg."
"Und gestern die Schere?"
"Das war nur ein Schatten, aber ich habe die Bewegungen gesehen und Geräusche gehört. Du hattest geschlafen, bis sie dich angriff." Jaden stellten sich sämtliche Haare auf seinen Armen auf. "Wenn ich nicht gewusst hätte, unter was du zu leiden hast, hätte ich vielleicht falsch reagiert."
"Dass die Verletzungen echt waren, macht mir Angst", gestand Eden. "Ich hoffe, dass ich das nicht noch einmal erleben muss."
"Das erinnert mich an einen Film. 'A Nightmare on Elmstreet'", versuchte Jaden, zu scherzen. Er beugte sich über sie und knabberte zart an ihrem Hals. "Ich bin Freddy Kruger", witzelte er mit Grabesstimme.
Eden kicherte und schob ihn weg. "Freddy war doch kein Vampir. Und ich wäre ein gefährliches Opfer."
Jaden setzte sich wieder normal hin. "Ja ja, ich weiß. Den Trick mit dem Lasso musst du mir noch verraten, du Biest."
"Ich habe das nicht bewusst gemacht. Schön wäre es, wenn ich das könnte." Eden legte ihre Hand in seine. "Du hattest gesagt, ich hätte meine Gabe missbraucht. Was hast du damit gemeint?"
"Weißmagie gegen Schwarzmagie. Kennst du den Unterschied?" Sie schüttelte verneinend den Kopf. "Beides hat denselben Ursprung", fuhr Jaden fort. "Tust du Gutes mit deiner Gabe, ist es Weißmagie. Nutzt du sie für niederträchtige Zwecke, ist es Schwarzmagie."
"Ich glaube, du hast die Gabe auch", erwiderte Eden. "Sonst könnte ich nicht mit dir teilen." Sie senkte den Kopf. "Wenn ich daran denke, wie deine Panflöte mich zu dir rief, kriege ich noch heute Gänsehaut. Du mit deinem Talent und ich mit meiner Harfe: Wir könnten soviel erreichen."
Bestürzt sah Jaden, dass Eden weinte. Er zog sie an sich. "Wir treten doch schon zusammen auf."
Sie schluchzte. "Das reicht nicht. Ich will so vieles: Harfe spielen, aber nicht einfach nur so, sondern für Frieden. Einerseits ist da unsere Musik, andererseits ruft mich mein Herz in die Diplomatie. Ich kann nur eines von beiden tun."
~ Eden ~
Ein kühler Wind ließ Eden frösteln. Sie hatte nur ein leichtes Sweatshirt an. Die Zeit verging wie im Flug. Gemeinsam hatten sie miteinander geträumt, was sie alles könnten. Ihr wurde klar: Jaden täte alles für sie. Könnte er der Mensch ihrer Bestimmung sein?
Sie wusste es nicht. "Es wird Zeit, Jaden. Ich muss zur Untersuchung." Eden löste sich aus seinen Armen. "Und mir ist kalt." Zum Abschied setzte sie sich auf seinen Schoß, umklammerte seinen Hals und nahm seinen Mund in Besitz. Passanten flanierten an ihnen vorbei, die einen lächelnd, die andern borniert. Es war ihr egal.
Eden musste für sich selbst herausfinden, was sie für Jaden empfand. Vieles hing davon ab, genau genommen ihr gesamter Lebensweg.
Sie sah die freudige Überraschung in seinem Gesicht und genoss das Gefühl seiner Erregung in ihrem Schoß. Er zog sie noch enger an sich. "Es wird bestimmt eine einsame Nacht ohne dich."
Eden löste sich von ihm. "Vielleicht schicke ich dir meine Träume. Ich kann es ja mal versuchen." Sie lächelte sanft und stand auf. "Lass die Finger von Abigail."
Jaden lachte erheitert auf. "Abby ist lesbisch, keine Gefahr. Außerdem wäre sie mir zu bunt." Er erhob sich ebenfalls und streifte ihre Lippen mit seinem Mund. "Es gefällt mir aber, wenn du eifersüchtig bist."
Nachdem er gegangen war, kehrte Eden ins Gebäude zurück. Nach der angesetzten Untersuchung bestätigte sich ihre Vermutung: Morgen würde sie entlassen. Beide Stigmata waren besser verheilt als befürchtet.
Eden fragte sich, ob Khalil ahnte, woher sie stammten. Auch ihm hatten sie die Wahrheit verschwiegen. Offiziell war er einfach "davongekommen".
Vielleicht war es auch besser so, wenn es dabei bliebe. Noch mehr Heldenverehrung wollte sie nicht. Edens Intuition sagte ihr, dass einiges anders sein könnte, wäre sie einfach nur eine Frau. Die Verantwortung, die ihre Gabe mit sich brachte, wurde ihr zunehmend zuviel.
Als Eden ins Zimmer trat, saß Khalil aufrecht im Bett. Sie war überrascht. "Geht es dir besser?", fragte sie und setzte sich zu ihm. "Ich komme allmählich wieder zu Kräften", antwortete er. "Das ist nicht zuletzt dein Verdienst." Zögernd berührte er ihren Arm. "Zwischen uns ist doch alles okay?", fragte er leise. "Du bist so weit weg."
Eden konnte ihm nicht in die Augen schauen. "Ich habe den Ring gefunden, Khalil. Das hat mich geschockt. Ich fürchte, ich habe ihn nicht verdient."
Er zog seine Hand weg und legte sie hinter seinen Kopf. "Das war so nicht geplant. Aber nun weißt du den Grund, warum ich in Washington bin." Khalil bemerkte die Anspannung, unter der sie stand. "Es ist ein Ring und kein Fangeisen. Die Frage, ob du dich gefreut hast, erübrigt sich wohl."
~ Khalil ~
'Er kennt mich besser als vermutet', bemerkte Eden erschrocken. All das, was ihr durch den Kopf geschossen war, als sie den Ring fand, sprach er nun aus.
Vor Jahren hatte sie trotzig zu ihrer Mutter gesagt: "Khalil wird mein fester Freund." Damals war sie elf Jahre alt gewesen. Am selben Tag hatte sie Jaden kennengelernt. Eine Zeitlang waren sie fast immer zu dritt und so eng miteinander verbunden, dass sie in der Schule als dreiblättriges Kleeblatt gehänselt wurden.
Khalil war als erstes mit der Highschool fertig. Marvin löste sein Versprechen ein und sorgte dafür, dass er eine vernünftige Ausbildung machen und bei ihm anfangen konnte. Von da an hatten sie sich nicht mehr täglich gesehen. Jeden Besuch, den sie bei ihm zuhause angestrebt hatte, musste sie ihrer Mutter abtrotzen. Deren ablehnende Haltung Khalil gegenüber hatte sich lang nicht geändert. Sie hatte nicht vergessen, dass Eden für und wegen ihm gelitten hatte. Das hatte Rahel ihm nie verziehen. Dass Khalil aber auch derjenige war, den Eden gebraucht hatte, um überhaupt damit fertig zu werden, was an ihr anders war: Das ließ ihre Mutter nur selten gelten. Erst durch ein Machtwort von Gabriel wurde es besser.
Eden betrachtete stumm Khalils Antlitz, nicht wissend, was sie ihm antworten sollte. Seine Blutergüsse gingen langsam zurück. Sein braungebranntes Gesicht, was ihr immer gefallen hatte, kam wieder zum Vorschein.
Eine Welle der Zärtlichkeit durchflutete sie. Vorsichtig legte sie ihre Hand auf seine Brust. "Dafür freue ich mich jetzt, dass es dir besser geht."
"Wenn du mich berührst, vergehen all meine Schmerzen", erwiderte Khalil und klang überrascht. "Es funktioniert immer noch." Er umschloss ihre Finger so zart, als wären sie zerbrechliches Glas.
"Dass du in Gefahr warst, erfuhr ich über das Internet. Wie schwer es dich erwischt hatte, wusste ich nicht", erzählte Eden und wurde etwas entspannter. "Jaden und ich haben den Transporter geklaut und darin übernachtet, bevor wir nach Washington flogen. Es fiel Blut auf mein Gesicht. In dem Moment hatte ich höllische Angst um dich. Ich dachte, wir kämen zu spät."
Khalil lächelte mild. "Zwei Securities haben mich gerettet. Schade, dass du sie nicht kennengelernt hast." Er ließ ihre Hand los. "Danke, dass Ihr gekommen seid."
"Ich bin nur froh, dass sich das mit den Cops geklärt hat. Wie gehst du jetzt mit deiner Vergangenheit um?", fragte Eden. "Wird die Polizei auch zu deiner Mutter kommen?" Kaum hatte sie ihre letzte Frage beendet, spürte sie, wie er sich von ihr zurückzog. Er war damit also noch immer nicht durch. "Bleib bei mir, Khalil", forderte Eden traurig. "Du bist nicht mehr im Krieg und nicht in deiner Vergangenheit. Kehrst du immer wieder dahin zurück, verlierst du dich selbst und auch das, was du liebst."
"Es gibt kein Entrinnen. Sieh doch nur, was die letzten Tage passiert ist. Nicht nur mir. Es sind Menschen ums Leben gekommen. Sogar in Friedenszeiten bekämpfen sie sich." Erbittert klammerte sich Khalil an einem Bettpfosten fest. Eden legte besänftigend ihren Kopf auf seine Brust. "Ich habe es in den Nachrichten gesehen. Vor Trump hatte ich schon Angst, als er gewählt worden ist. Er ist ein Brandstifter und stürzt die Welt ins Verderben."
Khalil lächelte zärtlich auf sie herab. "Die Welt sollte von Engeln wie dir regiert werden." Ihm wurde bewusst, dass er Geduld haben musste. Momentan erinnerte sie ihn an das Mädchen vor vielen Jahren, als er nach Amerika kam. Eden war manchmal scheu wie ein Reh und trotzdem hingebungsvoll, wenn sie an etwas glaubte. Sein Wunsch, sie zu fragen, ob sie ihn heiraten wolle, musste wohl noch ein bisschen warten. Khalil spürte, dass sie ihm wieder näher kam. Selten hatte sie ihn berührt. Er schöpfte Hoffnung.
~ Khalil und Eden ~
Die Nacht kam. Nachdem die Lichter ausgingen, konnte Eden lange nicht schlafen. Sie lag in ihrem Bett, lauschte auf Khalils gleichmäßige Atemzüge und dachte nach. Noch immer hatte sie keine Entscheidung getroffen.
Sie wünschte sich, Khalil hätte sich schon früher geöffnet und sich zu ihr bekannt. Er war ein erwachsener Mann. Konnte sie da nicht erwarten, dass er sich auch erwachsen benahm und um sie warb? Sie konnte es nicht verstehen. In ihren gesamten Kinderjahren war Khalil nur mit seiner Mutter zusammen zu ihr nach Hause gekommen. Nachdem er die Schule verlassen hatte, gar nicht mehr.
Khalil hatte sie nie gefragt, ob sie mit ihm ausgehen würde. In all den Jahren hatten sie dies und das zusammen erlebt, meistens zu dritt. Es hatte ihn nie gestört.
Eden stand auf und tappte barfuß zu ihm hinüber. Das Nachtlicht warf Schatten auf sein Gesicht. Als sie an sein Bett trat, wurden sie grün. Sie warf einen Blick auf den Monitor, zu seinem Herzschlag. Schlug es für sie?
Sie setzte sich und sah Khalil beim Schlafen zu. Seine schwarzen Haare waren zerzaust, eine vorwitzige Locke ringelte sich auf seiner Stirn. Eden strich sie beiseite und träumte sich zurück zu dem Jungen, der er einmal war. Auf Schritt und Tritt war er ihr gefolgt, stets darauf bedacht, sie zu beschützen. Sie wusste bis heute noch nicht, wie es möglich war, dass er sie jedes Mal fand, egal wo sie sich versteckte. Das hatte sie oft gemacht, schon um den Fittichen ihrer Mutter ab und an zu entfliehen.
Khalil erwachte von ihrer Berührung und schlug seine Augen auf. Er lag ganz still, betrachtete sie und genoss ihren Anblick.
Es war nicht ganz dunkel im Raum. Eden hielt den Kopf gesenkt, ihre Haare verdeckten die Augen. Sie hatte ein weißes Nachthemd an. Was ging in ihr vor?
Sie blickte auf. "Ich wollte dich nicht wecken", entschuldigte Eden sich leise. "Ich habe so viele Fragen. Ich dachte, mein Herz gibt mir die Antwort darauf, wenn ich bei dir bin."
Khalil wagte es nicht, sie zu berühren und wartete darauf, dass sie weiter sprach. Eden blieb jedoch einfach nur sitzen und schaute ihn an.
Er fühlte, dass sie unglücklich war. "Was ist geschehen?", fragte er. "Habe ich etwas falsch gemacht?"
"Warum hast du nie den Versuch gemacht, mir nahe zu sein? Hattest du Angst vor mir? Ich hatte nie das Gefühl, dass ich mehr für dich bin."
"Was meinst du, warum meine Mutter und ich gekommen sind?", fragte Khalil.
"Damit Ihr in Sicherheit seid?"
"Das ist Quatsch, Eden. Und wenn du schon dein Herz befragst, müsstest du das auch wissen."
Sie rückte näher an ihn heran und verknotete ihre Finger in ihrem Schoß. Eden senkte den Kopf, um ihre Scham vor ihm zu verbergen. "Dann zeig es mir. Beweise mir, dass du mich begehrst und ich deine Liebe bin."
Khalil griff nach einer Locke und wickelte sie sich um seinen Finger. "Was willst du von mir, kleine Elfe? Wie soll ich dir beweisen, dass ich dich liebe?"
Eden rutschte noch näher, bis sie die Hitze seines Körpers durch die Decke spürte. Krampfhaft hielt sie ihre Hände ineinander verschlungen. "Ich will, dass du mit mir schläfst", wisperte sie. Ihr Herz fing an, zu rasen.
Khalil setzte sich auf, nahm ihr Gesicht in beide Hände und legte seine Stirn gegen ihre. "Das kann ich nicht."
"Wenn es wegen deinen Schmerzen ist", ihre Stimme wurde immer leiser, "ich werde ganz vorsichtig sein." Ihre Hände zitterten. Sie schienen ein Eigenleben zu entwickeln. Khalil bemerkte es, griff nach ihnen und zog sie auseinander. "Es ist nicht wegen den Schmerzen", beruhigte er sie. "Es steht mir nicht zu. Du bist eine Göttin. Es steht mir nicht zu, ein solch kostbares Heiligtum wie dich zu entweihen." Vor seinem Inneren Auge rasten die Bilder des Terrors vorbei. Männer, die auf schreienden Frauen lagen. Blutige Körper, Schlachtmesser, die werdenden Müttern ihre Babies entrissen. Blutüberströmte Köpfe im Sand, lautlos schreiende Münder und Augen, die blicklos in den Himmel starrten. "Monster", keuchte er. "Wir waren Monster."
Erschrocken sprang Eden auf und wich vor Khalil zurück. Im ersten Moment war sie im Begriff, aus dem Zimmer zu fliehen. Nach einem zweiten Blick sah sie jedoch die Verzweiflung in seinem Gesicht und wusste Bescheid. Sie kehrte ans Bett zurück und legte vorsichtig eine Hand auf seine Stirn. Seine Dämonen sprachen mit ihr und erzählten ihr einmal mehr von seinem Trauma. Sie traf ihre Entscheidung.
Ganz zart, ganz sanft und unbeschwert
Schwebt grünes Blatt heran
Wie federleichtes Lachen zieht uns
Fröhlichkeit in Bann
So mild, so frei wie Fliederduft
Erstrahlt die neue Zeit
Wie Amselkehlen, gut geölt
Erwacht, erlöst, befreit
Wie kunterbunte Vogelschar
Fliegt Heiterkeit ins Land
Wie Regenbogen-Purzelbäume
Lachend, Hand in Hand
Ganz blass, ganz schwach und unbemerkt
Vom grünen Treiben dort
Noch keine zwanzig Jahre alt
Treibt er im Kajak fort
So stark, so groß, sein Lebenstraum
Der Wunsch nach Frau und Kind
Doch seine Tage sind gezählt
Als wär's vorherbestimmt
Ein schwacher Blick, ein Flügelschlag
Ein allerletzter Schritt
Der schwarze Schmetterling steigt auf
Und nimmt den Frühling mit
© Florian Tekautz
Noch bevor das Lied von Enya verklang, wusste Jaden, dass er verloren hatte. Er zog in Erwägung, Edens Anruf einfach nicht anzunehmen. Immerhin war es nachts um halb zwei. Es schwelte jedoch noch ein Fünkchen Hoffnung in ihm, dass sein Gefühl trog.
Jaden schaltete den Fernseher aus und ging an sein Handy. Er hörte sie atmen und wartete darauf, dass Eden ihm die Hiobsbotschaft mitteilen würde.
Als es ihm zu lang ging, warf er ihr ein lässiges "Und?" zu, obwohl ihm nicht lässig zumute war.
"Du weißt es doch sowieso schon", erwiderte Eden. Sie stand im Flur mit ihrem Smartphone, nicht weit von der Abstellkammer entfernt. Ihr langes Nachthemd leuchtete im indirekten Licht, als wäre Eden ein Geist. Sie wünschte sich, es wäre so und sie wäre unsichtbar. "Ich werde Khalil heiraten, wenn er mich fragt."
Jaden kannte sie gut genug, um zu erkennen, dass sie ihre Wahl nicht leichtfertig getroffen hatte. Eden dachte, es sei ihre Bestimmung, weil Khalil sie mehr brauchte als er. Deshalb würde er sie nicht überreden und nahm es hin. "Wirst du es ihm sagen?", fragte er.
Eden wusste, was Jaden meinte. "Ja." In einem kleinen Winkel ihres Herzens hoffte sie, dass Khalil sie dann nicht mehr wollte. Das sagte sie aber nicht. "Ich werde mit keiner Lüge in eine Ehe gehen."
"Ich wünsche dir, dass du glücklich wirst", erwiderte Jaden und legte auf. Er stand auf, zog sich an und wählte am Haustelefon die Nummer von der Rezeption. Er würde eine Verbündete brauchen. Wenn Eden in die Pension zurückkommen würde, wäre er nicht mehr da. "Hallo Abby." Es ging eine Weile, bis jemand dran ging. Er war froh, dass es nicht ihre Mutter war.
Abigail war nicht gerade begeistert. "Wir sind nicht rund um die Uhr in Bereitschaft", schimpfte sie. "Ich habe geschlafen."
"Ich brauche deine Hilfe. Ich bin es, Jaden."
"Das habe ich mir schon gedacht. Ich habe eure Zimmernummer auf dem Display. Wie geht es Eden?"
Schmerzhaft verzog er sein Gesicht und wanderte unruhig durch den großen Raum. "Eden ist noch immer im Krankenhaus. Du hast es ja mitgekriegt, was letzte Nacht passiert ist. Aber es geht ihr gut." Er musste sich zusammen reißen, um seine Trauer nicht Oberhand gewinnen zu lassen. "Kann ich mit dir reden? Noch jetzt?"
"Es ist mitten in der Nacht, ist dir das klar?"
"Ich weiß. Ich will nicht allein sein."
Abigail drehte sich in ihrem Bett auf den Rücken und verfluchte den Umstand, dass sie sich bereit erklärt hatte, Anrufe der Gäste entgegenzunehmen. Ihre Mutter trieb sich irgendwo herum, schon den zweiten Tag. Das Pärchen, das sie kennengelernt hatte, interessierte sie jedoch, insbesondere Jaden. Er hatte so etwas Geheimnisvoll-Tragisches an sich, und das sprach sie an.
"Also gut. Lass hören, was du auf dem Herzen hast. Komm einfach runter, ich warte auf dich." Abby legte auf. Sie stand auf und zog sich diesmal etwas einfacher an. Die Punkerin bliebe ausnahmsweise zu Hause.
Sie hatte das Gefühl, als bräuchte der Junge ein normales Mädchen, das einfach nur für ihn da war. Dass seine Freundin alles andere als das war, hatte sogar sie schon bemerkt. Als seine angebliche Schwester vergangene Nacht nach unten gekommen war, hatte sie Jaden am Gängelband. Jedenfalls hatte Abby das so empfunden.
Edens Verhalten stieß sie ab. Freundinnen würden sie ganz bestimmt keine. Er jedoch tat ihr leid.
Mit diesen Gedankengängen legte Abigail besondere Sorgfalt in ihre Frisur und bereute, dass ihr Haar so verhunzt war. An den Farben ließ sich nichts ändern, jedenfalls nicht auf die Schnelle. Deshalb ließ sie es nur auf die Schulter fallen, verdeckte so gut wie möglich die kahlen Stellen und machte sich auf den Weg.
Als sie im Speisesaal ankam, war Jaden schon da. Er saß in der Dunkelheit, am selben Tisch wie in der Vornacht. Abigail wunderte sich nicht lange, wie er sich so schnell orientieren konnte. Ihr Rabe hatte sich mit ihm angefreundet, auch das hatte sie bereits bemerkt. Per Zufall war sie Zeuge geworden, als er ihm auf die Schulter flog.
Abby trat durch den Vorhang und machte das Licht an. Jaden sah auf. Die Hoffnungslosigkeit in seinen Augen schnitt ihr ins Herz, obwohl sie sich für Jungs nicht interessierte. Sie ging zu ihm hin und stellte ein großes Tablett auf den Tisch. "Ich habe dir eine Kleinigkeit zum Essen gemacht. So wie ich dich einschätze, lebst du von Luft und Liebe."
***
Obwohl Jaden nicht hungrig war, nahm er Abigails Angebot an, um sie nicht zu verärgern.
Überrascht nahm er ihren veränderten Stil zur Kenntnis, ging jedoch nicht darauf ein. Er war nicht da, um einer Frau Komplimente zu machen, dafür hatte er zu viele Probleme.
Jaden nickte dankend und stumm, weil ihm ein Kloß im Hals saß. Mit einer auffordernden Geste bat er sie, sich zu setzen. Um Zeit zu gewinnen, nahm er einen Teller Lauchcremesuppe entgegen und zog ihn zu sich her.
Mit unendlich langsamen Bewegungen rupfte er eine dicke Scheibe Brot auseinander und tunkte einen Brocken mehrmals hinein, ohne zu essen. Abby sah sich das eine Weile lang an, doch dann verlor sie die Geduld. "Dafür habe ich mich nicht in die Küche gestellt", schalt sie und bemühte sich um einen neutralen Tonfall.
"Entschuldige." Jaden legte das Brot weg. "Mir ist eher danach, mich in Luft aufzulösen, als zu essen."
"Iss!", erwiderte Abby bestimmt. "Vorher höre ich dir nicht zu." Immerhin brachte ihr Tonfall Jaden zum Lächeln. "Wenn das so ist ..."
Anstandslos löffelte er die Suppe in sich hinein und putzte seinen Teller mit Brot. Bis er fertig war, saß sie bei ihm und ließ ihm die Zeit, sich ihr zu öffnen. Sein Kummer hatte bestimmt mit seiner Freundin zu tun ...
Nachdem er fertig gegessen hatte, schob Jaden den Teller in die Mitte des Tischs, lehnte sich zurück und sah Abby an. "Du hast Eden gestern kennengelernt. Sie dachte, wir hätten was miteinander. Erinnerst du dich?"
"Klar erinnere ich mich. Sie war aber auch ganz schön bestrebt, sich zu verstecken."
"Hast du das so empfunden? Ja, das mag sein. Ich glaube, du als Frau hast da eine bessere Intuition." Noch hatte Jaden keinen Plan, wie er Abby erklären sollte, dass er Eden auf keinen Fall sehen wollte. Er war in einer fremden Stadt, die obendrein noch Metropole war. Es gab niemanden, den er kannte - außer Abigail. Ungläubig schüttelte er seinen Kopf beim Rückblick auf den vergangenen Tag. "Sie war sich so sicher gewesen", murmelte er vor sich hin. Abby spürte, dass es ein Selbstgespräch war und ließ ihn reden. "Ich war es auch", fuhr er fort.
Plötzlich fiel ihm ihre Schweigsamkeit auf. Jaden wurde klar, dass ihr der Hintergrund fehlte. "Unser Zimmer ist auf einen anderen Namen gebucht", erklärte er. "Khalil liegt im selben Krankenhaus wie Eden. Deine Mutter hat es uns zugeschanzt, weil sie mit ihm zusammen ist. "
"Das ist typisch für meine Mutter", erwiderte Abby. "Was meinst du, wie viel angebliche Bruder-Schwester-Pärchen sich hier schon versteckten?"
"Bei uns ist das ein bisschen anders. Eden und ich gehören wirklich zur selben Familie. Und genau deshalb muss ich verschwinden. Sonst ginge das ewig so weiter."
"Also hat sie dich gestern Nacht doch noch gekriegt?", fragte Abby und grinste Jaden anzüglich an. "Ich habe ihr das prophezeit, doch sie wollte nichts davon hören."
Er schüttelte den Kopf und errötete bei dem Gedanken, wo es wirklich passiert war. Er erzählte Abigail die ganze Geschichte: Wo er herkam, wie Eden und er sich getroffen hatten und was bis zum aktuellen Zeitpunkt alles geschah. Abby räumte den Tisch ab und hörte zu.
Als sie wieder saß, schaute Jaden sie an. "Du wirst mir das alles nicht glauben. Manchmal kommt es mir unwirklich vor. Doch dann spielt Eden Harfe oder ich auf meiner Flöte, und es wird mir wieder bewusst, dass jeder seiner Bestimmung folgt. Deshalb kann ich ihr verzeihen. Mir selbst jedoch nicht, weil ich gewusst habe, dass Khalil sie braucht."
~ Josie ~
Seine Erzählung vermittelte Abby ein etwas anderes Bild. Sie war bereit, Abstriche gegenüber Eden zu machen und sie nicht zu verdammen. Sie hatte das Mädchen für eine oberflächliche Ziege gehalten, die nur darauf aus war, irgendeinem Jungen den Kopf zu verdrehen, weil ihr danach war. Machtspielchen mochte sie nicht. Typische Sirenen mochte sie nicht, Evaweibchen genauso wenig.
Manches kam ihr surreal vor. Sie hatte das Gefühl, dass Jaden einiges vor ihr verschwieg. Abby kam ihm entgegen. "Du hast keine Ahnung, was ich alles glaube. Früher hätte ich vielleicht gedacht, du erzählst Märchen, doch da ist Josephine. Sie ist mein Totem aus gutem Grund, und sie bezeugt deine Ehrlichkeit."
Jaden lachte auf. "Dein Rabe heißt tatsächlich so? Das hätte ich nicht gedacht."
"Du warst nicht der Erste, der mich nach meinem Namen fragte und eine blöde Antwort erhielt. Und dann kam sie. Josephine hüpfte mit gebrochenem Flügel in mein Zimmer. Das war vorletzten Sommer. Ich habe sie gepflegt und wollte sie wieder fliegen lassen, doch sie wich mir nicht mehr von der Seite. Seitdem ist sie mein Totem, wie du sagen würdest. Dich hat Josie offenbar auch ins Herz geschlossen. Eigentlich ist sie ziemlich scheu."
Es gefiel Jaden außerordentlich gut, dass Abigail ihren Raben als Totem ansah. Offenbar hatte sie einen Hang zur Mythologie. Eventuell käme ihm das entgegen. "Josie hat mich gewarnt", stieg er darauf ein. "Ich war schon versucht, zu glauben, dass sich mein Totem gewandelt hat."
"Welches ist deins?", fragte Abby und unterdrückte ein Gähnen. Verstohlen blickte sie auf eine große Wanduhr hinter der Rezeption.
"Der Adler", erwiderte Jaden. "Von allen Tiergeistern ist er der stärkste. Dein Totem hingegen enttarnt Lügen und steht für Weisheit. Der Rabe mahnt dich, Vergangenes ruhen zu lassen und im Hier und Jetzt zu leben. Josephine wird dich vor Dummheiten bewahren, solange sie bei dir ist."
Abby wurde wieder ein bisschen munterer. Wenn es um ihre Josie ging, könnte sie stundenlang reden. Sie schenkte Jaden und sich ein Glas Cola ein. "In manchen Kulturen werden Raben als Todesboten gesehen." Sie verzog ihr Gesicht, als hätte sie Zahnschmerzen. "Das ist gemein."
Jaden bedankte sich, nippte an seinem Glas und rückte mit seinem Anliegen heraus. "Ich muss auf jeden Fall weg, weiß aber nicht, wohin. Unser Rückflug geht erst in zwei Tagen. Dass ich nicht mit Eden zurück will, verstehst du bestimmt. Hast du eine Idee?"
Abby spielte mit einer Serviette. "Wir haben ein kleines Blockhaus hinten im Park. Es ist nur selten bewohnt und liegt gut versteckt. Wäre das was für dich?"
Er war begeistert. In seinem Kopf reifte ein Plan. Er würde Eden zum Abschied ein Märchen schenken. Jaden hoffte, dass Abigail mitmachen würde. "Das klingt super. Ich muss so früh wie möglich nochmal weg, um mich vorzubereiten und einzukaufen. Hast du zufällig eine kleine Holztruhe oder ein Kästchen für mich? Ich bräuchte auch noch Pergament und eine Feder. Wo kriege ich so etwas her?"
Abby holte einen Block und einen Kuli und schrieb ihm einige Adressen auf. "Ein Musikgeschäft", fiel Jaden noch ein. "Und ich brauche ein neues Handy."
"Hast du soviel Geld, dass du dir das alles leisten kannst?", fragte sie.
Jaden lachte. "Eden und ich werden gesponsert. Nicht nur wir, sondern mein ganzer Stamm." Er erzählte Abby von Marvin, wie er über mehrere Jahre hinweg eine Stiftung gegründet und ein neues Reservat aufgebaut hatte. "Das solltest du sehen. Mein Stamm lebte einst in den Bergen, direkt im Wald. Nach einem Brand waren sie alle weg." Sein Gesicht verdüsterte sich. "Viele starben, doch einige konnten sich retten. Die Siedlung bestand nur noch aus Ruinen, und nur eine Stammesälteste ist oben geblieben."
Atemlos lauschte Abby seiner Erzählung. Ihre Müdigkeit war wie verflogen. "In Washington leben auch viele von den First Nations. Zu welchem Stamm gehörst du?"
"Zu den Algonkin", erwiderte Jaden.
"Hmmm, nie gehört."
"Es ist lange her. Meine Ahnen gehörten noch zu den Sioux. Es gab Fehden. Die meisten Algonkin leben in Kanada. Einige gingen jedoch nach Oklahoma und ließen sich in der Nähe von Tulsa nieder. Solange ich mich zurück erinnere, waren es maximal hundert. Als es gebrannt hat, lebten ungefähr fünf Familien in einem Bergreservat."
"Jaden ist aber nicht dein richtiger Name, oder?"
"Das ist mein Adoptivname. Voller Name Jaden Basara. In Wirklichkeit heiße ich aber Wabun Anung."
"Egal, für mich bleibst du Jaden." Abby schaute noch einmal auf die Uhr. "Es ist spät. Ich muss arbeiten. Meine Mutter ist noch immer nicht da. Bis sie wieder zurückkehrt, bin ich die Wirtin. Glücklicherweise haben wir Angestellte. Allmählich sollte ich aber ins Bett. Bist du nicht müde?" Sie nahm Jaden noch einmal den Block ab und fügte ein paar Adressen hinzu. "Ich bin gespannt, was du vorhast. Ich hoffe, dass du mir das erzählst, aber nicht jetzt."
Jaden stand auf. "Dann will ich dich mal nicht länger vom Schlafen abhalten. Wann kannst du mir das Blockhaus zeigen?"
Abby ging zur Rezeption, holte einen Schlüsselbund aus dem mehrreihigen Board und drückte ihn Jaden in die Hand. "Pass gut darauf auf. Ich bin zu müde, sonst würde ich mitgehen. Wenn du am Springbrunnen nach links gehst, kommt eine Venusstatue. Dort geh nach rechts. Folge dem Weg bis zu einem Amor. Dahinter findest du einen Teich. Der ist von mehreren Bäumen umstellt. Dort ist das Blockhaus."
Nachdem sie weg war, kehrte Jaden erst noch einmal ins Zimmer zurück, um seine paar Habseligkeiten zu holen. Er war felsenfest entschlossen, Khalil das Feld zu räumen. Während er packte, klopfte es an seine Tür. Er öffnete gleich. Abigail überreichte ihm eine Holztruhe. "Bevor ich es vergesse. Ich brauche sie nicht." Sie schaute ihn nachdenklich an. "Was willst du damit?"
"Ein Märchen verpacken", erwiderte Jaden kryptisch. "Aber jetzt gehe ich erst einmal schlafen. Gute Nacht, Abby."
***
Jaden stellte das Kästchen auf den Tisch und begutachtete es. Die Truhe hatte ungefähr die Breite einer Zigarrenkiste, war aus Mahagoni und mit Messingbeschlägen verziert. Die geschätzte Höhe von fünfzehn Zentimetern schien für sein Vorhaben ausreichend zu sein. Er öffnete einen zierlichen Schnappverschluss. Innen war sie mit blauem Samt ausgeschlagen. Genau das, was er sich vorgestellt hatte. Bestimmt war es ein Schmuckkästchen, doch Abby trug keinen Schmuck. Ein Umstand, der ihm zugute kam.
Zufrieden verschloss er es und verstaute es in seinem Rucksack. Seine Panflöte kam in die Fronttasche, damit sie ganz blieb. Er würde sie brauchen.
Jaden holte eine Cargohose und einen weißen Mohairpullover aus dem Schrank und zog sich um. Seine restliche Kleidung warf er in seine Reisetasche.
Edens Harfe stand auf einer Kommode neben der Tür zum Balkon. Er schlenderte darauf zu und strich geistesabwesend über die Saiten. Die gewohnten glockenartigen Töne erfüllten den Raum. Jaden würde sie nie wieder hören.
***
Es war sein Beschluss, der den Menschen, die ihn liebten, viel Kummer bereiten würde. Jaden machte sich keine Sekunde lang bewusst, dass er nicht nur Eden verließ. Noch bevor er fertig mit Einpacken war, hörte er mehrfaches Klicken am linken Fenster. Jaden zog den Vorhang auf. Auf dem äußeren Sims saß Abbys Rabe.
Aus schwarzen Knopfaugen funkelte Josie ihn an. Ihm erschien ihr Dasein wie ein Ruf aus der Ferne.
Er öffnete das Fenster. Die Rabin hüpfte mit schlagenden Flügeln ins Zimmer und flog auf einen Schrank. Dort blieb sie ruhig sitzen, als würde sie auf ihn warten.
Jaden blickte zu ihr hinauf. "Bringst du mich hin?", fragte er. Josephines krächzender Schrei erfüllte den Raum. Er fühlte sich bestätigt und beeilte sich. Nichts sollte darauf hindeuten, dass es ihn jemals gab. Prüfend sah er sich um.
Ein letztes Mal klopfte Jaden seine Taschen am Körper ab, ob er auch alles hatte. Als er zufrieden war, schritt er zum Eingang. Seine Taschen hatte er in gewohnter Manier mit einem Laken heruntergelassen. Sie warteten auf ihn im Hinterhof. Josie landete auf seiner Schulter.
Ohne noch einmal zurück zu blicken, öffnete er die Tür und löschte das Licht. Als Jaden sie wieder schloss, erhob sich die Rabin und flog ihm voraus.
Die weichen Mokassins, die er schon immer selbst gemacht und in mehreren Variationen hatte, hinterließen keinen Laut auf den beflorten Korridoren der kleinen Pension. Josie führte Wabun Anung durch die Nacht.
~ Khalil und Eden ~
Als Eden die Klänge ihrer eigenen Harfe vernahm, wusste sie, dass er nicht mehr da war. Verzweifelt drosselte sie ihren Atem fast bis zum Stillstand und versuchte, Jaden mental zu erreichen.
Vergeblich! Die Antwort auf ihren stummen Ruf war nur tiefschwarze Stille.
Eden ließ sich in ihre Matratze sinken, bis sie das Gefühl hatte, damit zu verschmelzen. Ihr Lebensorgan schlug maximal fünf Mal in der Minute. Hochkonzentriert lauschte sie in die Dunkelheit.
Ein kaum hörbares Flap-Flap-Flap drängte sich in ihr Gehirn. Es klang wie das Schlagen von Flügeln. Eden passte ihren Herzschlag dem neuen Takt an und versuchte, dessen Quelle zu orten.
Ihre Hoffnung, Jaden hinter dem ihr unbekannten Ursprung zu finden, erfüllte sich nicht. Er hatte sie tatsächlich ausgesperrt! Für ewig scheinende Sekunden verharrte Eden in ihrer Zwischenwelt. Sie würde gern schreien, so laut, dass ihre Stimme bis ans andere Ende der Welt zu hören sein würde. Ein letzter Rest von Realitätsverständnis hielt sie davon ab und machte ihr bewusst, dass Khalil im Nebenbett schlief. Ihr Schmerz gehörte ganz allein ihr!
Sie tauchte auf wie ein Delfin aus dem Meer. Mit hypnotischem Blick drehte Eden ihren Kopf in alle Richtungen, als könnte sie Jaden jederzeit aus einer Ecke zitieren. Ihre Haare standen zu Berge, als wäre sie Miss Liberty in Reinform. Abby würde vor Neid erblassen.
Eden fokussierte das Nachtlicht. Ein schwarzer Schmetterling gaukelte um die Lampe herum. Er war riesengroß. Verzweifelt schlug er mit seinen Flügeln und versuchte, dem Licht zu entkommen und strebte es dennoch an. Stieß er sich den Kopf, klang es wie Donner.
Als er verglühte und stürzte, war sie sich sicher: Jaden war endgültig Vergangenheit. Ein trockener Schluchzer stieg in ihr auf. Eden zwang ihn zurück und legte sich wieder hin.
***
Als sie Stunden später erwachte, saß Khalil auf der Bettkante und hielt sie im Arm. Ihr Kopf ruhte auf seiner Schulter. Verwundert starrte sie auf sein Bett und dachte, dass sie nur träumte. Es war jedoch leer.
"Ich habe dich die ganze Nacht weinen gehört." Vorsichtig löste er sich und ließ Eden zurück auf ihr Kissen gleiten. "Ich konnte es nicht ertragen."
Sie vergewisserte sich ein zweites Mal. Mehrere Kathederschläuche baumelten nutzlos von ihren Ständern herab. Entrüstet fuhr Eden hoch. "Du hast es wieder getan!"
Khalil grinste verlegen. "Diesmal hat mir eine Schwester geholfen, also reg dich nicht auf. Es geht mir offiziell besser. Vielleicht werden wir sogar zusammen entlassen."
Eden klatschte sich gegen die Stirn. "Heute kommt Marvin. Ich habe vergessen, ihn anzurufen und ihm zu sagen, dass es sich erledigt hat." Sie schob Khalil beiseite, griff zum Nachttisch und suchte nach ihrem Handy. "Ich muss ihm sagen, dass er nicht zu kommen braucht."
Khalil hielt ihre tastende Hand fest. "Dazu wird es zu spät sein. Das Flugzeug ist bestimmt schon in der Luft. Ich glaube nicht, dass es umdrehen kann. Willst du mir nicht lieber erzählen, was dich bedrückt?"
Eden lehnte sich mit hängendem Kopf in ihr Kissen zurück. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie bebte am ganzen Körper. "Ach Khalil", seufzte sie. "Wenn du nur wüsstest ..." Kummer und Angst, auch ihn zu verlieren, bahnten sich ihren Weg. Sie warf sich in seine Arme.
Khalil zuckte bei ihrer Berührung zusammen, doch er hielt sie fest und streichelte ihre zerzausten Haare glatt. "Nichts kann so schlimm sein, dass du es mir nicht sagen kannst", erwiderte er.
"Jaden ist weg, und das wegen mir", schluchzte sie. "Du wirst mich hassen."
"Ich habe es gestern schon gemerkt, dass zwischen euch etwas im Argen liegt. Wenn er deswegen geht, dann ist es seine Dummheit. Dafür kannst du nichts."
Eden schüttelte wild ihren Kopf und grub sich regelrecht in Khalils Umarmung hinein. "Bitte lass mich nie wieder los. Auch wenn ich dir sage, was ich angestellt habe."
Khalil beschlich das dumpfe Gefühl, dass ihr Kummer ihn persönlich tangierte. "Was ist passiert?", drängte er sie.
Eden warf ihre Arme um seinen Hals. "Ich habe mit Jaden geschlafen", murmelte sie in seinen Pyjama. Khalil schob sie von sich und lauschte in sich hinein, ob es ihn überraschte. Plötzlich stieg die Angst in ihm hoch. Er griff nach ihren Schultern und zwang sie, ihm in die Augen zu schauen. "Hat er dich vergewaltigt?"
Verständnislos sah Eden ihn an. Ihre Tränen versiegten. "Nein. Wie kommst du darauf?"
Khalil stand auf und schleppte sich zu seinem eigenen Bett. Sein Herz pochte mahnend gegen seine gebrochenen Rippen. Nun kamen auch die Schmerzen zurück. Für die Stunden an Edens Seite hatte er sie vergessen.
Er legte sich hin und flüchtete sich in seine Deckenwelt. Weitere Worte flatterten wie Vögel zu ihm. Khalil verstand sie akustisch, doch er ließ sie nicht an sich heran. "Sei still!", befahl er ihr rauh. "Sei einfach nur still!"
Der Morgen rauschte wie ein Fluss an Khalil und Eden vorbei. In den Fluren der Klinik herrschte der Alltag. Ihr Frühstück rührten beide nicht an. Die sonst so enthusiastische Essensschwester schlich auf leisen Sohlen ins Zimmer und holte mit neugierigem Blick die Tabletts wieder ab.
~ Marvin ~
Seine Ankunft war für beide wie eine Befreiung. Schon, wie Marvin die Tür aufriss und ins Zimmer stürmte, fegte einen Teil ihres gemeinsamen Kummers beiseite. Er war allein. "Was macht Ihr aber auch für Geschichten?", rief er, noch bevor er an Khalils Bett angelangt war.
Aus den Augenwinkeln nahm Marvin wahr, dass auch Eden im Krankenhaus war. Noch dachte er sich nichts dabei und vermutete, dass sie Khalil beistand und deshalb bei ihm übernachtet hatte. Flüchtig winkte Marvin ihr zu. "Wir reden später." Er trat ans Bett.
Khalil hatte Zeit genug gehabt, um sich wieder zu fangen. Die Zeit nach ihrem Geständnis wurde Eden so gut wie unsichtbar. Sie hatte seinen Wunsch respektiert.
Ächzend arbeitete Khalil sich in Sitzstellung hoch und empfing Marvins kräftigen Händedruck. "Danke, dass du gekommen bist. Ich wurde zusammengeschlagen."
"Ich habe zu spät davon erfahren. Du weißt ja: Wir haben in der Siedlung kein Internet", erwiderte Marvin. "Du hast ja echt Glück gehabt. Aber was war das für eine andere Geschichte, was mir zu Ohren kam? Brauchen wir wirklich einen Anwalt für dich?"
Khalil verneinte. "Es hat sich aufgeklärt. Es ging um meinen Vater und meine Brüder. Ich habe den Cops erzählt, was ich weiß. Wahrscheinlich wird meine Mutter noch befragt, wenn ich es richtig verstanden habe. Ich hoffe, dass ich bis dahin wieder zu Hause bin."
"Hast du deine Papiere zusammen?"
"Ja, zum Glück. Das kam mir natürlich zugute, auch wenn es eher Zufall war." Khalil warf einen scharfen Blick zu Eden hinüber, der Marvin nicht entging.
Erst jetzt fiel ihm Edens gar nicht typische Schweigsamkeit auf. "Was ist da bei euch beiden los? Hattet Ihr Krach?", fragte er. "Und wo ist Jaden?"
Schlagartig wurde die Luft noch um ein Vielfaches dicker. Marvin ging zu Eden hinüber. "Könnte mir einer von euch beiden mal erzählen, was da in den paar Tagen los war? Ihr redet nicht miteinander, wie es aussieht. Und du und Jaden: So Kindereien wie am Flughafen hätte ich von dir nicht erwartet." Marvin zog einen Stuhl heran und setzte sich an Edens Bett. Ihm fiel ihre Blässe auf. Ihre gewohnte Wehrhaftigkeit bekam er trotzdem zu spüren. "Seit du selbst Vater bist, wirst du dieselbe Glucke wie meine Mutter", patzte sie ihn an. "Ich bin kein kleines Kind."
Eden stand auf, ging an ihren Schrank und suchte ihre Sachen zusammen. Mit wütenden Bewegungen packte sie alles in die Tasche, die Jaden vorbei gebracht hatte. Khalils verbliebenen Anteil an Kleidung warf sie auf den Boden. Ein verschmorter Insektenkörper streifte ihre zitternde Hand und machte ihr bewusst, dass ihr Elend noch nicht vorbei war. Weinend setzte sie sich auf ihre Fersen und klammerte sich an dem entstandenen Stoffhaufen fest.
Marvin stand auf und ging neben ihr in die Hocke. Bei der Gelegenheit bemerkte er ihren verbundenen Arm. "Ich dachte, du bist wegen Khalil hier. Habe ich mich da so sehr getäuscht?", fragte er vorsichtig.
"Nein, du hast dich nicht getäuscht. Natürlich bin ich wegen ihm hier." Mit trotzigem Blick wandte sie ihren Kopf Khalil zu. "Nur damit du es weißt: Du lebst nur, weil Jaden uns beide gerettet hat."
"Ach, und deswegen steigst du mit ihm ins Bett?", schlug Khalil zurück. "Mich würde interessieren, wie lange schon."
~ Eden ~
Marvin erhob sich, ging zum Eingang und legte die Hand auf die Klinke. "Ich suche eine Cafeteria. Und wenn ich wieder zurück bin, habt Ihr euch ausgespochen."
Eden stand auf und schritt mit hocherhobenem Haupt auf Khalil zu. Ihre Miene war ein einziges Strafgericht. Noch bevor Marvin die Tür hinter sich schloss, hörte er, wie sie sagte: "Du hast es ja nicht getan." Er lachte in sich hinein und machte sich auf die Suche. Offenbar hatte Jaden die erblühende Frau in ihr etwas früher entdeckt. Er hatte Khalil nicht nur einmal gewarnt ...
Eden war nicht bereit, sich in die Defensive drängen zu lassen. "Du hast Marvin gehört", fuhr sie fort und setzte sich auf den Bettrand. "Und jetzt hörst du mir zu. Ich habe nicht gewusst, wie du zu mir stehst."
"Und wenn du es gewusst hättest, wäre es nicht passiert? Das soll verstehen, wer will. Ich verstehe es nicht." Khalil rutschte so weit wie möglich weg von ihr und drückte sich fast gegen die Wand.
Eden senkte den Kopf und nestelte an ihren Fingern. "Ich liebe Jaden, aber ich liebe auch dich", gestand sie. "Ich kann es nicht rückgängig machen. Dass du derjenige bist, mit dem ich zusammen sein will, begriff ich erst heute Nacht."
~ Khalil ~
Wann es passiert war, wusste er nicht. Genau genommen machte sich Eden selbst etwas vor: Ihr schwacher Moment manifestierte sich fast vor Khalils Augen. Er ließ sich fallen, ignorierte sie und blickte zurück: Das war also die Spannung zwischen ihr und Jaden gewesen.
Dessen unterschwelligen Botschaften hatte er zwar nicht verstanden, begriff aber, dass ein Geheimnis zwischen ihm und Eden bestand. Nie und nimmer wäre Khalil darauf gekommen, dass es so etwas war.
Zu seinem Entsetzen fühlte er sich plötzlich schuldig. Er hätte Eden vor dieser Erfahrung beschützen müssen.
Khalil wandte sich ihr zu und überlegte, wie er sich ihr wieder nähern konnte, ohne sich selbst aufzugeben. Die vergangene Nacht ging ihm nicht aus dem Kopf. Warum hatte sie so dringlich versucht, ihn zu verführen?
Hatte sie versucht, das Verhältnis mit Jaden zu vertuschen oder war es pure Verzweiflung gewesen?
Hätte sie ihn gebraucht? Hatte er Eden womöglich selbst in Jadens Arme getrieben?
Ihm wurde klar, dass er über Frauen rein gar nichts wusste. Khalil kannte nur die Sicht seiner Mutter und dachte, dass sie genügend war.
Khalil tastete nach ihrer Hand. "Was hast du damit gemeint: Jaden hat uns beide gerettet?" Die Frage erschien ihm als Einstieg unverfänglich genug.
Eden erzählte ihm dankbar von ihrer Vision, die plötzlich lebendig geworden war. "Es muss genauso wie damals gewesen sein, als dein Vater dich zum Essen zwang. Nur noch viel schlimmer. Erst war es ein Traum, und ich sah deinen Mörder. Als ich erwachte, war über mir die Silhouette von einer Schere. Sie hat mich bedroht. Jaden wehrte sie ab."
~ Marvin ~
Offenbar war wieder alles in Butter, wie Marvin zufrieden feststellte, als er zurückkam. Er hatte ein Tablett mit drei Pappbechern Kaffee und mehreren Donuts dabei und stellte es auf den Tisch.
"So, und nun erzählst du mir mal, was bei dir alles passiert ist", forderte er Eden auf. "Ich habe gesehen, dass du verletzt bist." Er setzte sich auf einen Stuhl und winkte sie zu sich heran. Sie folgte ihm, brachte Khalil sein erstes Frühstück des Tages und nahm anschließend Platz. Eden erzählte Marvin das gleiche wie Khalil. "Eigentlich wollte ich nicht, dass es jemand erfahren würde. Aus ganz bestimmten Gründen fand ich es jedoch besser, wenn Khalil es weiß. Deshalb bin auch ich hier in der Klinik."
Entsetzt erfuhr Marvin auf diese Weise, dass Khalil fast umgebracht worden war. Eine harmlose Schlägerei war das also nicht gewesen, wie es zuerst aussah. Er hatte auch nur die einzigen zwei Filmbeiträge gesehen, die es in den Nachrichten gegeben hatte.
"Und was war das mit Jaden?", hakte er nach. "Damit meine ich jetzt nicht eure Karussellfahrt auf einem Transportband."
Eden warf einen schrägen Blick zu Khalil hinüber. "Darüber kann ich nicht mit dir sprechen. Aber ich fürchte, Jaden ist weg." Angelegentlich starrte sie auf den Tisch und zerbröselte nervös ihr rosa Donut.
"Wie meinst du das: Weg?", fragte Marvin.
Sie erzählte ihm von ihrem Traum in der Nacht und von dem schwarzen Schmetterling. "Es war mehr als ein Traum. Es war eine Vision. Ich habe meine Harfe ganz deutlich gehört und wusste, dass es sein Abschied war."
Marvin legte seine Hand tröstend auf ihre. "Manchmal sind Visionen nur Träume und Träume nur Ängste. Ob es wirklich so ist, wird sich doch klären lassen."
"Meinst du wirklich?" Mit Tränen in den Augen sah Eden ihn an. Hoffnung keimte in ihrem Herzen auf. Sie wünschte sich so sehr, dass sie sich irrte.
"Gib mir die Adresse von eurer Unterkunft, und ich schaue nach", bot Marvin sich an. "Wenn ich es richtig verstanden habe, bist du stationär in Behandlung. Weißt du schon, wann du entlassen wirst?" Er blickte zu Khalil hinüber und bezog ihn mit ein. "Und wie ist es mit dir? Weißt du schon, wann du nach Hause darfst?"
Khalil kämpfte sich aus seinem Bett und schlurfte zu ihnen. "Da zeichnet sich noch nichts ab. Mein Rückflugticket ist auch verfallen, ich muss erst neu buchen." Er setzte sich. "Ich hoffe, dass ich auch bald entlassen werde, doch ich glaube nicht. Heute werde ich noch einmal geröntgt."
Es wurde Mittag. Die Essensschwester fegte in gewohntem Tempo herein, warf einen missbilligenden Blick auf den Saustall am Boden und brachte das Lunch. Sie streifte den gutaussehenden Hünen am Tisch mit einem neugierigen Blick. "Heute gibt es etwas Feines, und es wird gegessen!", forderte sie Khalil und Eden auf. "Für das hübsche Fohlen da ist es das letzte Mahl, wie mir zu Ohren kam."
"Das wollen wir doch nicht hoffen", erwiderte Marvin und grinste sie an. Sie strahlte zurück und stellte ihre zwei Tabletts auf den Tisch.
"Endlich könnt Ihr manierlich speisen", warf sie in die Runde und meinte damit Khalil und Eden. Schon war sie wieder draußen. "Das war Schwester Hurricane", ging Khalil auf ihre Erscheinung ein. "Den Spitznamen hat sie verdient."
~ Eden ~
In den Nachmittagsstunden wurde Eden entlassen. Marvin ging nach dem Essen und holte sie später per Uber ab. Ein eigenes Fahrzeug hatte er nicht.
Bevor sie aufbrachen, setzte er Khalil und sie darüber in Kenntnis, dass sich ihre Befürchtung bestätigt hatte. Jaden war weg, und niemand in der Pension schien zu wissen, wo er sich befand. Als Khalil das hörte, rief er Eden zu sich. "Was auch immer zwischen dir und Jaden war: Für mich ist es Geschichte. Mir ist klar geworden, dass ich kein Recht dazu habe, dir etwas vorzuwerfen." Er umschloss ihre Finger mit beiden Händen. "Ich mag ihn genauso wie du. Vielleicht flüchtet er vor sich selbst, so wie ich das jahrelang tat. Wenn es so ist, wie ich denke: Dann lass ihn. Meine Liebe zu dir hat sich nicht geändert. Gib uns eine Chance."
Sie beugte sich zu Khalil hinab und gab ihm einen traurigen Kuss. Flüchtig nahm sie wahr, dass er sich nicht wehrte. "Warum hast du nur so lange gewartet? Ich glaube, Jaden war für mich nur eine Option, weil ich dachte, dass du mich nicht willst. Er gab mir das Gefühl, dass er MICH liebt und nicht die Göttin, die du in mir siehst. Ich bin weder Göttin noch Engel, sondern einfach nur Eden."
"Das wurde mir mittlerweile bewusst. Gewartet habe ich aus Rücksichtnahme auf deine Eltern." Er zog sie an sich. "Den Ring wollte ich dir zum Geburtstag geben. Es war schon immer mein Wunsch, dass du die meine wirst. Marvin weiß es, dein Vater weiß es. Deine Mutter ist davon nicht begeistert, aber sie weiß es auch. Wahrscheinlich weiß sie es schon länger als alle zusammen und sogar länger als ich."
***
Während der Fahrt zur Pension erzählte Eden Marvin den Rest. Ein Inder spitzte am Steuer einer quietschgelben Ente die Ohren. Sie hatten sich auf dem unkomfortablen Rücksitz zusammengequetscht, Eden saß fast auf Marvins Schoß. Ein anderes Fahrzeug hatte er nicht gekriegt.
Ohrenbetäubende Sitarklänge begleiteten in äußerst malerischer Weise ihr ernstes Gespräch. Wenigstens bekam so das Langhals-Unikum am Lenkrad nicht alles mit. Marvin sprach die Bettgeschichte mit Jaden noch einmal an, obwohl er wusste, dass es Eden nicht passte. "Ging das schon länger mit euch?", fragte er. "Gelegenheit hattet Ihr ja genug." Marvin bemühte sich, nicht dümmlich zu grinsen. Es war ihm unangenehm, doch ihm ging es um Khalil. Er konnte sich vorstellen, wie der sich fühlte.
"Stell mir nicht so dumme Fragen und sag mir lieber, wie ich damit umgehen soll", erwiderte Eden. "Ich wollte weder Jaden noch Khalil verletzen." In einer scharfen Kurve, die der Fahrer mit quietschenden Reifen nahm, rückte sie von ihm ab. "Es war ein einziges Mal, wenn du es genau wissen willst. Vorgesehen war es ganz bestimmt nicht."
Während der Fahrt schaute sie zu den kleinen, dreieckigen Fenstern hinaus und hoffte, dass sie Jaden irgendwo in der Menge entdeckte. Pulks von bunt gekleideten Fußgängern drängelten sich auf den Bürgersteigen zwischen Büschen und ziegelroten Fassaden. Ein Streifenwagen drängte den Uber beiseite. Aus einem Megafon klang die Botschaft, dass Demonstrationen zu erwarten seien. Die Stadtverwaltung bäte um besondere Vorsicht.
Es lenkte Eden nur kurzfristig von ihren Problemen ab. Marvin konnte ihr dabei bestimmt ebenso wenig helfen, doch wenigstens wollte er es versuchen. "Ich bin noch nie vor irgendeiner Entscheidung in vergleichbarer Weise gestanden außer der zwischen Leben und Tod. Ich habe mich für das Leben entschieden. Es reut mich keine Sekunde, ohne Adeela wäre ich nichts."
Er hielt sich am Wagendach fest, als die Ente unter den Flüchen des Fahrers ruckartig anfuhr. "Vielleicht war es notwendig, dass Jaden dir zeigt, was es heißt, zu begehren."
"Liebe bemisst sich am Schlag deines Herzens", philosophierte der Inder und lächelte sie weise im Rückspiegel an. Eden verdrehte die Augen. "Das Herz schlägt, solange man lebt", belehrte sie ihn.
"Es kommt darauf an, für wen es schneller schlägt, junge Dame", entgegnete der Fahrer mit einem Seufzen und drehte sich wieder nach vorn.
Ohne sonderlich neue Erkenntnisse kamen sie mit Hängen und Würgen am Zielort an. Durch die Einmischung des Möchtegern-Philosophen wollte sich Eden nicht noch mehr ihrer intimsten Gedanken aus der Nase ziehen lassen, so dass Schweigen die neue Lautstärke war. Auf Marvins Bitten stellte der Fahrer sogar seine Musik ab. Dafür begann er, zu pfeifen. Als die Ente mit einem Ruck, der sie fast in den Vorderraum schleuderte, hielt, waren alle Insassen erleichtert.
~ Josie ~
Ein großer Rabe zog seine Kreise, während Marvin und Eden den Zugangsweg zur Pension passierten. Mit einem beklommenen Gefühl behielt sie ihn im Auge. Das Tier machte Eden Angst, was für sie untypisch war.
Sie fragte sich, ob es derselbe war, den sie in der Nacht ihrer Ankunft bei Jaden sah. "Kannst du bitte hinter mir gehen?", bat sie Marvin. "Ich glaube, wir werden verfolgt." Er drehte sich um und war überrascht. "Seit wann fürchtest du dich vor Vögeln?"
"Es ist nur so ein Gefühl. Er erinnert mich zu sehr an den schwarzen Schmetterling." Sie blieb stehen. "Ich fühle Tod." Der Schrei des Raben hallte in ihren Ohren. Er flatterte knapp an ihr vorbei, setzte sich auf einen Baum und starrte auf Eden herab. Mit Abby brachte sie Josie nicht in Verbindung. Das Gefühl, dass der Vogel ihr etwas mitteilen wollte, ließ sie nicht los.
Marvin stellte sich hinter Eden und gab ihr einen Schubs Richtung Eingang. "Du glaubst doch hoffentlich nicht an den Quatsch, dass irgendwelche Tiere Boten der Totenwelt sind? Das lass mal keinen Algonkin hören. Raben sind Schutzgeister. Ich glaube kaum, dass ein Stamm Leben auf diese Art ehren würde, brächten sie Unheil."
Eden setzte sich in Bewegung. "Und du glaubst an Schutzgeister?"
"Nein. Ich glaube an Schicksal, manchmal an einen Talisman. Vielleicht sogar an Magie. Ich glaube aber nicht an die Unterteilung des Lebens in Diesseits und Jenseits. Trotzdem lasse ich jedem seine eigene Welt."
Eden hatte Marvin selten so ernst gesehen. Sie wusste, er hatte seine eigenen Erfahrungen mit Leben und Tod. Deshalb gab sie keine Widerworte. Mit seiner Rückendeckung nahm sie den Rest des Weges und fühlte sich erst sicher, als sie das Haus betraten.
Eden wünschte sich, dass Abigail ihr etwas über Jaden erzählen konnte. An der Rezeption stand jedoch ihre Mutter. Melinda Treeman fertigte drei Kunden ab.
Beiläufig und mit knappem Gruß überreichte sie Eden den Zimmerschlüssel und streifte Marvin mit einem abweisenden Blick. "Wir sind ausgebucht."
"Keine Panik, ich bin nur Begleitung." Zur Demonstration zeigte Marvin die Reisetasche, die er quasi als Kuli trug. "Haben Sie mittlerweile etwas von Jaden Basara gehört? Sie wissen schon, der junge Mann, der mit ihr das Zimmer teilte. Ich bin sozusagen Patenonkel der beiden." Er wies auf Eden.
"Ich kann Ihnen nichts anderes sagen wie vor ein paar Stunden. Der ominöse Bruder ist mit unbekanntem Ziel abgereist. Vielleicht weiß meine Tochter mehr darüber, sie hatte Dienst." Melinda schob den Ledervorhang hinter der Theke beiseite und rief in die Küche: "Abby, kommst du mal? Da ist jemand für dich."
Begleitet von Brutzelgeräuschen und Pommes-Duft kam Abigail wenig später hervor. Ihre Begeisterung, Eden zu sehen, stand buchstäblich in ihrem geschminkten Gesicht.
~ Eden ~
Mit einem solch frostigen Empfang hatte sie nicht gerechnet. Eden traute sich fast nicht, auf Abby zuzugehen und sie zu begrüßen. Fassungslos hielt sie sich an der Empfangstheke fest und fragte sich, was in ihrer Abwesenheit geschehen war.
Marvin spürte ihre Hilflosigkeit, streckte der schrillen Punk-Queen seine Hand entgegen und stellte sich vor. Zögernd nahm Abby sie an. "Jaden hat mir schon von Ihnen erzählt. Ich kann euch auch nicht mehr sagen als meine Mutter. Er hat etwas hinterlassen." Sie ging hinter die Theke, holte etwas darunter hervor und stellte es hin. "Du sollst es erst öffnen, wenn du allein bist", teilte sie Eden mit und legte zusätzlich den Schlüssel des Mietwagens hin.
"Seit wann ist er weg?", fragte Marvin. Abigail warf Eden einen vorwurfsvollen Blick zu. "Er ist mitten in der Nacht ausgecheckt. Soviel ich weiß, hat er umgebucht. Er sagte, er will dich nie wieder sehen. Ihr sollt ihn nicht suchen."
Das war mehr Information, als Eden erwartet hatte. Schockiert wich sie vor Abby zurück und umklammerte Jadens "Abschiedsgeschenk" wie einen Rettungsanker. 'Es kann nicht sein, dass er mich hasst', schrie es in ihr. Ohne ein weiteres Wort drehte Eden sich auf den Hacken um und rannte die Treppe hinauf. Aufgewühlt versuchte sie, die Tür zum Zimmer aufzuschließen. Ein ums andere Mal fiel der Schlüssel zu Boden. Beim fünften Mal setzte sie sich dazu.
Als Marvin ihr hinterher kam, saß sie wie ein Häufchen Elend da und hatte eine hölzerne Truhe zwischen den Beinen. "Ist das euer Zimmer?", fragte er geistesgegenwärtig im Versuch, es ihr nicht noch schwerer zu machen. Er streckte die Hand hin. "Gib mir den Schlüssel."
Eden gehorchte. Er schloss auf und zog sie auf die Beine. "Wenn du so weiter machst, landest du wieder in einer Klinik", warnte er sie. "Und damit meine ich nicht die, aus der du gerade kommst."
Sie zuckte zusammen. Marvin ließ keine weitere Schwäche zu und schob sie ins Zimmer. Er warf Edens Reisetasche aufs Bett, holte die Truhe herein und schloss die Tür.
***
Der Raum wies keinerlei Spuren auf, die darauf hinwiesen, dass er einstmals zu zweit bewohnt worden war. Hektisch öffnete Eden sämtliche Schubladen und Schranktüren. Nichts!
Marvin setzte sich an den Tisch und versuchte, Jaden mobil zu erreichen. Sein Klingelton erklang mitten im Raum. Er verfolgte ihn mit Blick und Gehör. Jadens Handy lag auf einer Kommode vor Edens Harfe. Er stand auf, nahm es an sich und steckte es in seine Jackentasche. Marvin erkannte, dass die Lage ernster war, als er vermutet hatte. Sein Blick fiel auf die Truhe. "Eden, schau doch mal nach, was die Tochter des Hauses dir da gegeben hat. Vielleicht weist ja irgendetwas darauf hin, was Jaden vorhat." Er überlegte, was zu tun war, wenn der Junge sich wirklich abgesetzt hatte. Jaden war noch nicht volljährig, also konnte es durchaus sein, dass die Polizei was unternahm.
Eden ließ von ihrer panischen Suche ab und kam zu ihm an den Tisch. "Abby hat mich gebeten, die Truhe erst zu öffnen, wenn ich allein bin."
"Sie muss es ja nicht erfahren."
Zögernd tastete Eden die mahagonifarbene Kiste ab. Sie zu öffnen, hieße, der Wahrheit ins Auge blicken zu müssen. Eden wusste nicht, ob sie bereit dazu war.
"Wenn du es nicht kannst, mache ich es", mahnte Marvin. "Ich muss wissen, was mit Jaden los ist. Wenn wir ihn nicht finden, kriegen wir mit deinen Eltern gewaltigen Ärger."
***
Eden setzte sich mit der Truhe auf Jadens Bettseite. Marvin ließ sie in Ruhe und nutzte die Zeit, um sich mit dem Airport in Verbindung zu setzen. Das Ergebnis war negativ. Bisher sei kein Ticket auf den Namen Jaden Basara umgebucht worden.
Also musste er noch in der Stadt sein. Um Eden zu motivieren, teilte er es ihr mit. "Ich lasse dich für ein paar Minuten allein und warte unten auf dich. Schau, was in deiner Kiste ist und erzähl es mir später."
Das Bett war gemacht, das Zimmer ordentlich aufgeräumt. Die Vorhänge waren geöffnet und ließen Sonnenlicht ein. Eden ließ ihre Hände über die Decke gleiten. Sie erschien ihr immer noch warm, als wäre es noch gar nicht so lange her gewesen, dass er darunter gelegen hatte. Eden ahnte, dass sie sich das nur wünschte. Sie nahm sich ein Herz, klemmte sich die Truhe zwischen die Knie und tastete sie noch einmal ab. Mit einem Seufzer der Trauer drückte sie auf den Schnappverschluss. Der Deckel sprang auf.
Auf dunkelblauem Samt lagen zwei Briefe auf Pergament. Sie waren zusammengerollt und mit Wachs versiegelt, die Siegel blutrot. Sie waren zugleich der Verschluss zweier handgemachter Bänder aus Hanf, welche die Schriften zusammen hielten. Dazwischen lag Jadens Panflöte.
***
Die Siegel waren mit einer schlichten Feder gestempelt. Als wäre diese Entdeckung ein Ruf, klopfte es an einem Fenster. Eden blickte auf und war nicht mehr überrascht, als sie Josie sah. Im Nu verflog ihre Angst. Beinahe schöpfte sie Hoffnung, dass die Rabin sie zu ihm führen könnte.
Eden ließ das Fenster zu, brach ein Siegel und entrollte das Pergament. Es enthielt eine Karte.
Jaden hatte sie selbst gemalt. Eden vertiefte sich in die feinen kalligraphischen Linien und Schriften. Sie erkannte die Konturen der Gegend um Cedar Rapids.
Je mehr sie sich konzentrierte und die Inschrift analysierte, um so sicherer war sie sich: Jaden wollte zurück in die Verbotene Schlucht.
Als Eden das zweite Siegel brach, stürzte ihre Hoffnung ein wie ein Kartenhaus. Sie sähe ihn niemals wieder!
Auf dem Grundstück einer Pension in der Innenstadt wurde während eines Feuerwehreinsatzes eine ebenso mysteriöse wie auch gruselige Entdeckung gemacht. Fast hatte es den Anschein der Niederlassung einer indigenen Kultur.
In den Überresten einer Schwitzhütte fanden die Rettungskräfte verkohlte Knochen, die eindeutig menschlicher Abstammung waren. Das Feuer dürfte gezielt gelegt worden sein. Die Anlegung eines mit Wasser gefüllten Grabens rings um den Brandherd gibt Rätsel auf. Ein weiteres Phänomen ist, dass ein nahegelegenes Blockhaus unversehrt blieb.
Der Fund mehrerer Artefakte im Innenbereich lässt vermuten, dass darin jemand lebte. Ob besagte Person auch das Brandopfer war, wird noch zu klären sein. Die Pension wurde bis auf Weiteres evakuiert und geschlossen. Weder die Wirtsfamilie noch das Personal wollten sich zu der Frage äußern, warum der Brand nicht rechtzeitig entdeckt worden war. Die Meldung kam anonym und vor Allem: Zu spät!
Washington Post/apa/10. Januar 2021
© Roger Walden
Schon als Eden Jadens Anrede las, zog sich ihr Herz angstvoll zusammen. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Mit einem Ärmel wischte sie sich die Tränen aus ihrem Gesicht. Ein Schuldgefühl hielt sie umfangen.
***
Jeder Mensch folgt seiner Bestimmung. Meine war, dir zu begegnen und dich zu lieben. Meine Mission ist vollbracht. Ich habe dir meine Liebe geschenkt. Bewahre sie in deinem Herzen und mich in deiner Erinnerung.
Nun folge ich meinem Wunsch und dem Fluss des Lebens. Meine Eltern werden in meiner Begleitung sein. In der Nacht hörte ich ihren Ruf und wusste, dass ich gehorchen muss. Ein Kajak bringt uns zum Ursprung zurück!
Wenn das Schicksal will, dass du und ich einander noch einmal finden, wirst du es wissen. Es wird dir ein Zeichen geben. Bedenke jedoch, dass Zeit endlos ist. Vielleicht finden wir einander erst in der Ewigkeit. ... Lebe dein Leben!
***
Erschüttert ließ Eden Jadens Brief sinken. Sie begriff: Er suchte den Tod. Dummerweise hatte sie keine Ahnung, wo sie Ausschau halten musste, um es zu verhindern.
Ihr Blick glitt zu ihrer Harfe, doch sie ahnte, dass sie ihr diesmal nichts nutzen würde. Jaden wollte nicht, dass sie ihn fand.
Ein lauter Knall schreckte sie auf. Vor der geschlossenen Balkontür saß die Rabin benommen am Boden. Eden öffnete und trat hinaus. Josie hüpfte leise krächzend vor ihren Füßen davon und flatterte auf die Brüstung. Eden folgte ihr auf den Flügeln und sah den Rauch!
Josie erhob sich in die Lüfte und flog darauf zu. Eden blickte ihr hinterher. Auf den Wegen des Parks flanierten Menschen und genossen lachend einen sonnigen Tag.
Ein rotes Flackern leuchtete zwischen den Bäumen hindurch. Wie gebannt starrte Eden es an und brachte es mit dem Rauch nicht in Verbindung. Die Welt wurde still, als hätte ein Riese eine Glasglocke darüber gestülpt.
Ein Schreckensruf ... der Fingerzeig eines Passanten ... das Leuchten erlosch ...
Im Unterbewusstsein nahm Eden wahr, dass es nicht von langer Dauer gewesen war. Noch immer begriff sie nicht, dass es irgendwo brannte.
Rennende Schritte im Flur, Sirenen, Josie kehrte schreiend zu ihr zurück. Ein Flügel war leicht angesengt, doch sie flog auf sie zu. Endlich kapierte Eden, dass sie gemeint war!
***
Noch bevor die Feuerwehr kam, stand sie gemeinsam mit Marvin und anderen Menschen zwischen Bäumen an einem Teich. Vor ihren Augen lag ein Ort aus der Vergangenheit, nicht aus der ihren, sondern der Vergangenheit einer Kultur. Das einzige Sujet, was das Bild störte, war eine angekohlte Edelstahlflasche, die neben einer niedergebrannten Schwitzhütte lag. Erst sehr viel später sollte Eden erfahren, was sie enthielt.
Abby hatte sie nicht mehr gesehen. Josie saß auf dem Dach eines Blockhauses und rührte sich nicht mehr vom Fleck. Gerüchte drehten die Runde, während Feuerwehr und Polizei ihre Arbeit aufnahmen. Es hieß, in der Schwitzhütte läge ein Mensch. Es gab nichts mehr zu löschen, das Feuer war von selbst in sich zusammen gefallen.
Eden arbeitete sich durch die Menge bis zu dem Blockhaus im Hintergrund vor. Die Tür stand auf. Sie schlüpfte hinein. Jadens Kleidung lag ordentlich zusammengelegt auf einem sauber gefegten Plankenboden. Daneben stand sein zuletzt getragenes Paar Mokassins.
Eden ließ sich auf einen grob gehauenen Holzblock fallen und legte ihren Kopf auf den Tisch. Sie war absolut tränenleer. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf Jadens Erbe, das er ihr hinterließ: Ein paar Bögen Pergament, eine Adlerfeder und seine Ausweispapiere, die er sich so schwer erworben hatte. Gegangen war er als Wabun Anung.
Der Schock ließ sie nicht mehr los. Noch Jahre später würde Eden unmöglich sagen können, wo, mit wem oder was sie die Zeit bis zur Heimkehr nach Cedar Rapids verbrachte. Es gab Tage, an denen sie auf Friedhöfen erwachte, und Nächte in Lauben. Lediglich die regelmäßigen Besuche im Krankenhaus blieben ihr in Erinnerung. An Khalils Seite wurde ihr sicherer Hafen.
In die Pension konnte Eden nicht mehr zurück. Aus ermittlungstaktischen Gründen war sie vorübergehend geschlossen worden. Marvin hatte zwar dafür gesorgt, dass sie in seinem Hotel unterkam, doch nachdem er abgereist war, hielt es sie nicht mehr in fremden Räumen.
Ihre Habseligkeiten befanden sich in einem Schließfach. Den Schlüssel verwahrte Khalil für sie. Die Sorge um Eden ließ ihn kaum noch schlafen, wenn sie ihn verließ, weil die Besuchszeiten der Klinik beendet waren. Jeden Tag musste er zusehen, wie sie abnahm und sich kaum noch auf ihren Beinen hielt. Manchmal befürchtete er, dass sie angefangen hatte zu trinken oder Drogen zu nehmen, doch sie versicherte ihm jedes Mal, dass es nicht so war.
Zwei Wochen hatte Khalil in der Obhut des Medical Health Centers verbracht, und zwei Wochen trieb sie sich in sämtlichen Ecken der Metropole herum. Ein richtiges Bett hatte sie in der Zeit nur selten gesehen, obwohl ihr Hotelzimmer bezahlt war.
Erst der Tag seiner Entlassung riss Eden aus ihrer Lethargie und veranlasste sie, ihre Kräfte zu bündeln. Der Zeitpunkt hätte nicht ungünstiger sein können: Demonstrationen blockierten Washingtons Gesundheitssystem. Die Behörden hatten alle Hände voll zu tun, um den Schlamassel, den Donald Trump durch seine laxe Pandemiepolitik verursacht hatte, wieder in den Griff zu bekommen. Jadens dramatisches Verschwinden geriet in Vergessenheit, die Ermittlungen waren eingestellt worden. Das FBI ging von Selbstmord aus, die gefundene Brandleiche wurde nicht einmal obduziert. Sie hatten ja Jadens Abschiedsbrief.
An das Steuer eines Mietwagens traute Eden sich nicht mehr. Als Khalil entlassen wurde, kam sie zu Fuß. Schon von Weitem sah sie den Aufruhr auf dem Gelände der Klinik. Es mussten an die fünfhundert Demonstranten sein. Die normalerweise verkehrsreiche Straße vor der Krankenhauszufahrt schien gesperrt zu sein, Ampeln waren außer Betrieb oder zerstört. Die Stimmung war aggressiv, etliche maskierte Männer posierten ungeniert mit Sturmgewehren. Das sich ihr bietende Bild erinnerte Eden an den Tag des Angriffs auf das Kapitol.
Das erste Mal spürte sie wieder Leben in sich. Die Wut auf diese dummen Menschen, die nicht wussten, was gut für sie war, durchbrauste ihre Venen wie ein Elixier. Selbst in ihrer schlimmsten Zeit hatte sie sich an die Regeln gehalten, obwohl es ihr schwerfiel. Sie hatte ihre FFP2-Maske nicht einmal gespürt.
Demonstrativ zog sie das schwarze Stück Stoff bis über die Nase und drängelte sich durch die ersten Reihen. Hände zerrten an ihr, eine Frau schrie sie wütend an. Eden ignorierte sie und benutzte ihre Arme wie eine Schwimmerin, um voranzukommen.
In der fünften Reihe rissen ihr drei Mädchen die Maske ab und warfen sie auf die Straße. Eden klaute ihnen ihr Banner und warf es hinterher. Ein Mann nahm sie bei der Hand und zog sie durch die Menge nach vorn. An einer lichteren Stelle bugsierte er sie an die Seite.
Noch bevor Eden sich bei ihm bedanken konnte, war er schon wieder verschwunden. Sie verschnaufte für ein paar Minuten, bevor sie den nächsten Pulk in Angriff nahm. Ihre Gedanken waren bei Jaden, der es niemals zulassen würde, dass jemand ihr weh tat.
Eden rief sich zur Ordnung. Für Khalil gälte dasselbe. Jaden konnte ihr nicht mehr helfen, er brauchte sie nicht einmal mehr. Entschlossen kämpfte sie gegen die Tränen an.
~ Khalil ~
Seit Stunden wartete Khalil darauf, dass sich die Lage entspannte und Eden käme. Er hatte es sich in der Lobby der Klinik bequem gemacht, nun ja: So einigermaßen. Seine Anspannung war alles andere als eine Begleiterscheinung des gebotenen Komforts in Form von Sesseln und Sofas, die mehr an einen Salon als an eine Empfangshalle erinnern sollten. Eine Armada von Sicherheitskräften zwischen Sitzgruppen und an der doppelflügeligen Eingangstür war auch nicht gerade dazu geeignet, sich zu entspannen.
Was draußen los war, konnte niemandem entgehen, der zum Warten verdonnert war. Das breite Portal war aus stabilem Panzerglas und transparent.
Khalil hatte sich in die Nähe des Eingangs gesetzt, um Edens Ankunft nicht zu verpassen. Damit niemand auf die Idee käme, es sich neben ihm allzu gemütlich zu machen, blockierte er mit seiner Reisetasche den verbliebenen Platz auf der purpurroten Zwei-Sitzer-Couch. Er trug noch immer Korsett. Bis zur endgültigen Heilung seiner Rippenbrüche würden nach Meinung der Ärzte noch einige Wochen vergehen, doch wenigstens bekam er wieder Luft.
Für Heldentaten war Khalil jedenfalls noch nicht in Form, und er hoffte, dass er es heil bis in Edens Hotelzimmer schaffen würde, natürlich in ihrer Begleitung. Marvin hatte an alles gedacht und für alle Eventualitäten vorgesorgt, sowohl räumlich als auch finanziell.
Irgendein Scherzkeks vor dem Klinikeingang machte sich einen Spaß daraus, den Automatismus der Tür zu verarschen, sodass sie sich im Minutentakt öffnete und wieder schloss. Bei jedem Mal strömte kalte Luft und Geschrei der Demonstranten von draußen herein. Flüche der Security wurden von trommelnden Fäusten gegen die Scheiben begleitet. Khalil hoffte, dass die Tür hielt.
Um seine Nerven zu schonen, hatte er sich in eine Zeitung vertieft. Soeben amüsierte er sich über eine nicht mehr ganz aktuelle Randnotiz, dass auf einem Friedhof ein Grab ausgehoben worden und die Leiche eines jungen Mannes verschwunden war. Die federführende Journalistin hatte anscheinend einen etwas schrägen und schwarzen Humor. Sie dachte an einen Zombie.
Khalil selbst dachte an nichts außer an Eden und dass ihr nichts passierte. Jadens Tod ließ er zumindest in der jetzigen Situation nicht an sich heran.
Erleichtert entdeckte er Edens Feuermähne zwischen einer Handvoll bunt gekleideten Iren. Er hörte sie lauthals mit drei Cops debattieren. Niemand dürfe passieren, wurde der Allgemeinheit beschieden. Vehement wehrte Eden sich und forderte Einlass. Mit einem stolzen Lächeln stellte Khalil fest, dass sein Engelchen endlich wieder in Hochform war.
Er stand auf und begab sich zum Eingang. "Sie will mich nur abholen“, erklärte er einem Securityfritzen im Innenbereich und zeigte auf Eden. Mittlerweile stand sie direkt an den Scheiben und drückte sich daran die Nase platt. Im Hintergrund pressten sich zappelnde Leute an ihren Körper. Khalil wurde es angst und bange.
"Bei dem Tohuwabohu kommt keiner raus oder rein“, antwortete ein Muskelprotz. "Wenn die erst mal hier drinnen sind, drehen sie völlig ab.“
"In der Zwischenzeit trampeln sie das Mädchen tot“, erwiderte Khalil. "Und warum ist die Tür dann nicht abgesperrt?“ Er versuchte, sich an ihm vorbeizuquetschen.
"Klemmt!“ Der Muskelprotz packte Khalil am Arm. "Du mogelst dich jetzt nicht an uns vorbei. Geh schön brav wieder auf deinen Platz, trink einen Kaffee oder ein Bier oder sonst irgendwas. Lass uns unsere Arbeit machen.“
"Autsch, Mann. Ich habe vielleicht gebrochene Rippen.“ Mühsam unterdrückte Khalil den Impuls, den Security anzuschreien. Sein Brustkorb ziepte und brannte. Er entzog sich dem brutalen Griff, wich zur Seite und atmete ein paar Mal tief ein und aus, um den Schmerz zu regulieren. Sterne tanzten ihm vor den Augen.
Die automatische Tür ging wieder auf. Mehrere Hände streckten sich durch die Luke. Schreie, als sie sich wieder schloss. Edens Antlitz nahm eine ungesunde Farbe an. Nicht mehr lange, dann würden ihre Gesichtszüge zerfließen. Khalil wurde bei dem Anblick beinahe verrückt. "Lauter starke Typen!“, ätzte er zum Nächsten in seiner Nähe. "Gucken hilflosen Opfern beim Sterben zu.“
"Hey, Du, das lassen wir uns nicht gefallen“, empörte sich einer. "Wir wollen nur nicht, dass jemandem hier drin was passiert.“ Seiner Körpersprache war zu entnehmen, dass er kurz davor stand, sich mit irgendjemandem zu prügeln. Zwei Uniformierte hielten ihn davon ab.
"Na dann.“ Khalil versuchte es noch einmal, an die Tür zu gelangen. "Wenn eure Kollegen im Kapitol auch so gestrickt waren, wundert mich nichts mehr.“
Fünf bis an die Ohren bewaffnete Sicherheitsleute berieten sich untereinander. Im Außenbereich hielt die Polizei die Menge in Schach. "Helfen wir ihm, seine Perle reinzuholen“, schlug einer vor. "Sonst kommen wir noch dran wegen unterlassener Hilfeleistung.“
Nach ein paar Minuten einigten sie sich. Zwei Männer stemmten sich zwischen die beiden Flügel der automatischen Tür. Khalil zog eine atemlose Eden herein. Drei andere hinderten die nachrückende Menge mit gezogenen Waffen, die Klinik zu stürmen. Glücklicherweise ging alles gut!
***
Eden war jedoch kurz davor, aus den Latschen zu kippen. Mit knallrotem Gesicht hing sie in Khalils Armen und rang krampfhaft nach Luft.
Sensationslüstern drängten sich Patienten der Klinik um den Schauplatz herum. Verbundene Arme und Köpfe, Verletzte an Krücken, Rollstuhlfahrer: Kaum einer schien sich dem Sog eines weiteren Schreckenstags entziehen zu können. Gespräche brandeten auf, Erinnerungen wurden geweckt. Angst griff um sich.
Eden und Khalil befanden sich mittendrin. Verzweifelt versuchte er, sie nicht zu Boden gleiten zu lassen. Wer wusste schon, was geschähe, wenn er sie nicht mehr halten konnte. „Hilft mir mal jemand?“, schrie er und blickte wild um sich. Seine schwarzen Locken kringelten sich fast zu einem Afro-Look. Der Muskelprotz, der Khalil am Wickel gehabt hatte, arbeitete sich zu ihm vor. Gemeinsam schafften sie Eden auf eine Couch. "Ich glaube, wir brauchen einen Arzt“, empfahl der Mann. "Ich heiße übrigens Ringo.“
"Ich Khalil.“ Er nickte knapp und bedankte sich. Er zupfte die nächstbeste Frau, die vorbei kam, an ihrer Jacke. "Seien Sie so nett und besorgen uns einen Arzt“, bat Khalil sie. "Wir müssen auf das Mädchen aufpassen.“
Die Passantin zeigte sich kooperativ. Eden kam in die Notaufnahme, wurde gecheckt und unversehrt wieder entlassen. Sie hatte Glück gehabt, doch der Tag war noch nicht vorbei. Erst kurz vor Anbruch der Dämmerung verlief sich die Menge. In der Eingangshalle tummelten sich noch immer einige Nachzügler herum. Die Tür war repariert worden, der Eingang freigegeben. Khalil bestellte ein Taxi.
Er wollte endlich an die frische Luft. Die Lobby war stickig, es stank nach Schweiß, Angst und Käsefüßen. Das Gesumse von ewig plappernden Mündern erinnerte ihn an einen Bienenstock. Die uniformierte Security und die aggressive Atmosphäre schon den ganzen Tag schickte ihn gedanklich zurück in den Krieg. Er war nur froh, dass er seine Sinne beisammen hatte. So selbstverständlich war das für ihn nicht, doch für Eden musste er stark sein.
"Hast du heute überhaupt schon was gegessen?“, fragte er sie. Halb schlafend saß sie auf einer Couch. Beim abrupten Klang seiner Stimme schreckte sie auf. "Was hast du gerade gesagt?“
"Ob du schon was gegessen hast."
Eden setzte sich aufrecht hin und schüttelte den Kopf. "Bin noch nicht dazu gekommen. Können wir endlich hier raus?“ Khalil lächelte sie aufmunternd an. "Das Taxi ist schon bestellt.“ Er streckte ihr seine Hand entgegen. "Wir können auch draußen warten.“
Eden ließ sich hochziehen und schnappte sich seine Reisetasche. Er nahm sie ihr wieder weg. Sie rangelten um die beiden Henkel und lachten. Schließlich errang Eden den Sieg. "Du bist noch nicht stark genug“, neckte sie ihn.
Khalil tat so, als ob er sie hochheben wollte. "Ich zeige dir gleich, wie stark ich bin.“ Eden quiekte.
Lachend ließ er sie wieder los und freute sich einfach, dass sie wieder bei ihm war. Es wurde Zeit, dass die Probleme ein Ende nahmen. Er nahm sich vor, künftig besser für sie zu sorgen.
"Komm, wir gehen.“ Khalil und Eden verließen das Gebäude. "Hast du alles?“, fragte sie ihn. Er klopfte die Taschen seines Survivals ab. Der obligatorische Parka war wie ein Talisman. Seltenst legte Khalil ihn ab. "Geldbeutel: Check. Schließfach-Schlüssel: Check. Handy und Autoschlüssel, den ich derzeit nicht brauche: Check. Ich habe noch etwas gefunden, das dir gehört.“ Er reichte ihr ein neues Plektrum. "Für deine Sammlung.“
Im Dämmerlicht des späten Nachmittags nahm Eden es an und begutachtete Khalils Geschenk. Das ovale Plektrum war aus Ebenholz und mit arabischen Lettern verziert. Gerührt ließ Eden die Tasche fallen. "Wann hattest du Zeit zum Schnitzen? Es ist einfach toll.“ Liebkosend umschloss sie das Werkstück mit ihren Händen.
"Ich trage es schon eine halbe Ewigkeit mit mir herum. Es entstand an einem gemütlichen Abend mit meiner Mutter bei Kerzenlicht. Ich hatte dich höllisch vermisst. Meine Sehnsucht und all meine Träume packte ich da mit rein.“
Überrascht sah Eden ihn an. "So etwas Wunderschönes hast du noch nie zu mir gesagt.“ Sie fiel ihm um den Hals und hätte ihn gern geküsst, doch sie traute sich nicht. Zu oft schon hatte Khalil sich dagegen gewehrt.
Er umschlang ihre Taille und legte den Kopf auf ihren Scheitel. "Das war ein Fehler“, murmelte er in ihr Haar. Gedankenverloren hielten sie einander umschlungen und schwiegen. Noch immer tummelten sich Demonstranten mit Transparenten auf dem Vorplatz der Klinik, doch Khalil und Eden nahmen sie kaum noch wahr.
Plötzlich riss lautes Geknatter sie auseinander. Jemand schubste Khalil zu Boden. Eden wich erschrocken zurück und versuchte, zu verstehen, was soeben geschah. Menschen schrien, einige wälzten sich auf dem Boden. Sie selbst fühlte sich gefesselt und eingesperrt. Ein paar Zentimeter von ihr entfernt lag eine Blutlache.
Schreiend wand sie sich aus dem Griff ihres Retters und wollte zu der Stelle, an der Khalil gestürzt war. Das Geknatter hörte nicht auf.
"Eden, bleib da!“ Es war seine Stimme. Ungläubig starrte sie auf das Blut. Drei Verletzte lagen am Boden, doch er selbst war weg. Hatte sie nur geträumt?
Khalil schnappte sich seine Tasche und Edens Hand. Gemeinsam rannten sie zwischen Containern ins Freie. Zeit zum Begreifen, was los war, hatten sie kaum. "Das sind Schüsse, Eden!“, erklärte er atemlos. "Komm! Renn um dein Leben. Um unser Leben.“
"Bist … du … okay?“, keuchte sie.
"Jemand hat mich geschubst, sonst wäre ich jetzt wahrscheinlich tot“, antwortete er und duckte sich mit ihr zusammen hinter zwei Bänke. Vorn auf dem Vorplatz wurde noch immer geschossen. Gellende Schmerzensschreie, die Khalil nur zu gut aus einem anderen Leben kannte, brannten sich in sein Gehirn.
Sie befanden sich nun an der Straße. Die Kakophonie wurde leiser. Eden hörte ein lautes Krächzen über sich und blickte nach oben. Ein großer Rabe flog über ihren Kopf hinweg und ließ etwas fallen.
Im ersten Moment dachte sie, dass es wieder Blut regnen würde wie an jenem Tag, bevor Jaden und sie nach Washington kamen.
Josie flog mehrmals krächzend davon. Fassungslos sah Eden ihr hinterher. Vor ihren Füßen lag sein rotes Stirnband!
~ Abby ~
Sirenen gellten die Straße entlang. Khalil bückte sich nach dem Bandana.
"Jaden lebt!", entfuhr es ihm.
Mit quietschenden Reifen fuhren zwei Panzerwagen vor dem Krankenhaus vor. Bevor Eden antworten konnte, klopfte jemand Khalil auf seine Schulter. "Das gehört mir!", behauptete eine weibliche Stimme.
Abby! Eden drehte sich um und musterte sie von oben bis unten. Sie vergaß, dass Khalil und sie sich noch immer in Gefahr befanden. "Das glaube ich nicht", erwiderte Eden. "Was machst du hier?"
Erstaunt blickte Khalil die Punkerin an. Er kannte sie nicht. Eden half ihm auf die Sprünge. "Das ist Abby aus der Pension. Ich habe dir von ihr erzählt."
Abby streckte Khalil noch immer auffordernd die offene Handfläche entgegen. "Jaden hat es mir geschenkt. Ich will es wiederhaben." Eden griff ein und steckte Jadens Stirnband in ihre Hosentasche. "Es ist alles, was von ihm geblieben ist. Und du bist eine Mörderin." Sie wandte sich verächtlich ab und zog Khalil von ihr weg.
"Ich habe ihn nicht umgebracht!", schrie Abby hinter ihnen her. "Du hast das zu verantworten, nicht ich!"
Ein maskierter Mann rannte an ihnen vorbei. Er war bewaffnet. Eine Spezialeinheit aus zehn Mann war ihm auf den Fersen. Er schoss um sich.
Khalil und Eden flüchteten über die Straße. Von dort aus sahen sie, wie Abby fiel.
"Um Himmels Willen!", stieß Eden aus. "Sie ist getroffen." Sie wollte wieder zurück, doch Khalil hielt sie davon ab. "Es sind genügend Polizisten da, die ihr helfen können."
Eden sah nicht, was mit Abby war. Zu viele Menschen standen mittlerweile in ihrem Blickfeld. "Deine Tasche ist noch da drüben." Sie riss sich los und überquerte die Fahrbahn. Die Straße war noch immer gesperrt.
Der Sniper rannte den linken Gehsteig entlang, hinter ihm die Polizei. Es fielen weitere Schüsse, doch die Zeitabstände dazwischen wurden allmählich größer.
Plötzlich hörte Eden Flügelschläge. Josie kam wieder zurück. Sie griff den Mann an und landete in seinem Nacken. Lauthals zeternd hackte sie auf ihn ein.
Eden kämpfte sich durch die Menge zu Abby. Von der anderen Seite taten drei Sanitäter dasselbe. Abby lag noch immer am Boden. Als Eden neben ihr stand, sah sie hasserfüllt zu ihr hoch. "Du brauchst nicht zu hoffen!", höhnte sie mit schmerzverrtem Gesicht. Blut rann ihr aus Mund und Nase. "Jaden ist tot. Josie hatte das Stirnband von mir!"
Die Sanitäter gelangten zu ihr und hoben Abby auf eine Bahre. Eden blickte ihnen hinterher, wie sie die junge Frau durch die Menge trugen. Plötzlich blieben sie stehen. Die drei Männer sahen einander bedeutungsvoll an. Einer nach dem Anderen schüttelte erschüttert den Kopf. Abby war tot!
***
Meine Einsamkeit war
dem Tode geweiht,
als du mir eine
Heimatschale schufst,
dein Lächeln damals
meinen Weg kreuzte.
Im Schlaf trinke ich
die Melodie des Himmels,
die anders ward,
seit deine leisen Töne in
die meiner Worte fielen.
Und brenne mir
Muscheln ins Herz.
Reiße mich auf
mit erdennahen Küssen,
wüstenheißem Atem
und bleib mir
Steinewigkeit.
© Enya Kummer
Von Khalil für Eden
Der Tag danach: Die Bilder des Amoklaufs geisterten durch sämtliche Medien. Insbesondere Josies Angriff auf den Sniper bot Gesprächsstoff genug. Die Spezialeinheit hatte ihn an Ort und Stelle geschnappt. Der Täter, dessen Identität nicht publik gemacht wurde, befand sich laut Pressesprechern der Polizei in Untersuchungshaft. Es wurde gemutmaßt, dass er Komplizen hatte.
Abby blieb nicht das alleinige Opfer. Zwei Männer, eine weitere Frau und zwei Jugendliche waren ebenfalls ums Leben gekommen. Darüber hinaus bezifferte ein Nachrichtenmagazin von NTV zwanzig Verletzte, acht davon schwer.
Wochen später, wenn Khalil und Eden schon wieder in Cedar Rapids sein würden, gäbe es neuen Gesprächsstoff. Es würde sich herausstellen, dass es ein Einzeltäter mit sehr persönlichen Motiven gewesen war. Ein Mann im mittleren Alter hatte seine gesamte Familie – Frau und drei Kinder – an den teuflischen Virus, der die Welt spaltet, verloren. Der Zufall wollte es, dass er obendrein ein Waffennarr war. Bei einer Razzia wurden fünfunddreißig verschiedene Gewehre und Pistolen in seiner Wohnung gefunden, bis hin zum Raketenwerfer. Am Tag seiner Tat hatte er zwei Schnellfeuerwaffen und eine Walther dabei. Sein Motiv: So viele Pandemieleugner wie möglich zu töten.
Er bekam lebenslänglich. Die Familie des Amokläufers lag auf dem Friedhof, Seite an Seite mit seinen Opfern. Eines schönen Tages, wenn kaum noch jemand an ihn denken würde, folgt er ihnen nach und erhängt sich in seiner Zelle.
~ Khalil ~
Abbys tragisches Schicksal erschütterte Khalil zutiefst, brachte Jaden wieder ins Spiel und stellte ihn vor brennende Fragen. Was, wenn er recht gehabt hatte und er noch lebte? War Edens Liebe zu Jaden stärker als die zu ihm?
Als sie über die Straße rannte, angeblich wegen der Tasche, folgte er ihr und wurde Zeuge von Abbys Häme, die sich mit ihren letzten Atemzügen über Eden ergoss. Der Hass, der aus ihren Worten gesprochen hatte, umschloss sie beide wie ein Schwall Wasser, der binnen Sekunden in Todeskälte zu Eis erstarrt.
Eden war fern jeglicher Antwort. Wie sie da stolz und aufrecht inmitten eines Ringes aus fassungslosen Gesichtern stand, brauste Wind um sie herum und ließ ihre Haare flattern. Es war irritierend. Ein loses Zeitungsblatt lag auf dem Gehsteig und bewegte sich nicht, ein Rabe saß starr mit ausgebreiteten Flügeln und aufgerissenem Schnabel auf einem eingefrorenen Mann. An einem Zierbaum wackelte kein einziger Zweig, es wehte kein Hauch. Nur da, wo Eden stand und mit leerem Blick den Abtransport von Abby verfolgte. Sie weinte nicht, und trotzdem hatte Khalil das Gefühl, dass in ihrem Herzen ein Meer von Tränen war.
Unter all den Menschen sah Khalil nur sie. Er versuchte, zu ihr zu gelangen und kam keinen einzigen Schritt voran, obwohl Eden in greifbarer Nähe war. Ihm schien, als trug ihr ureigenster Sturm sie von ihm fort und bis ans Ende der Welt. Doch dann fiel ein Schuss, und das Szenario erwachte wieder zum Leben. Eden trat aus der Menge heraus, riss seine Tasche vom Boden hoch und schaute verwirrt über die Straße. Khalil erkannte, dass sie ihn suchte und trat von hinten an sie heran.
"Wir müssen hier weg", flehte er sie an. Eden nickte mechanisch. "Der Rabe … er gehört Abby", murmelte sie immer wieder vor sich hin. Khalil zog sie mit sich wie eine Gliederpuppe, die nur durch seine eigene Energie in Bewegung kam.
~ Eden ~
Das bestellte Taxi kam genau im richtigen Moment. Eden war froh, dass Khalil sie führte. Ihre Knie waren so weich, dass sie sich fast wünschte, er würde sie tragen. Ihr war jedoch klar, dass das nicht ging. Er war ja noch immer körperlich eingeschränkt.
Sie riss sich zusammen und rannte mit. Die Tasche schlug ihr schwer gegen die Waden. Die Geräusche, die sie dabei machte, bohrten sich fast plastisch in ihre Ohren. Sie würde so gerne schreien, doch dazu war keine Zeit.
Khalil riss die Hintertür des vorgefahrenen Wagens auf, stieß sie auf den Rücksitz und ließ sich fallen. Noch bevor er richtig saß, gab der Fahrer auch schon Gas und raste mit ihnen die Straße entlang. Hektisch zog Khalil die Tür zu und gab keuchend die Adresse ihres Hotels an.
Eden beobachtete das Geschehen hinter sich vom Heckfenster aus. Es war der Horror! Ein schreiender Mann, ein flatternder Rabe in seinem Nacken, schwarz vermummte Gestalten, die um sich schossen. Abby und ihre Totenträger waren nirgends zu sehen. Sie war für immer in Sicherheit.
Eden machte sich bewusst, dass Abby nichts mehr davon hatte. Genau genommen hatte sie das Mädchen gemocht und war erschüttert über die Welle der Abneigung von ihrer Seite aus. Hatte sie womöglich doch ein Auge auf Jaden geworfen? Oder auf sie?
Sie starrte so lange nach hinten, bis das Schreckens-Szenario aus ihrem Blickfeld verschwand. Die Realität vermischte sich mit der Erinnerung an Abby, an ihren Blick aus tiefschwarzen Augen, in denen kein einziges Weiß zu sehen gewesen war. Sie war geschminkt gewesen wie eine Barbarin, mit einer riesigen Spinnwebe in ihrem Gesicht. Dann ihr Blutsturz, der sich mit der Lache am Boden vermischte … Sie würde bestimmt ewig lang Alpträume haben.
"Josie hatte sein Stirnband von mir". Die Worte kreisten durch Edens Gehirn wie ein verrückt gewordenes Karussell. Warum hatte der Rabe es zu ihr gebracht? Wusste Josie, wo Jaden war? War es eine Botschaft gewesen? Hatte Khalil am Ende recht?
Noch einmal drehte Eden sich um und hoffte für Josie, dass ihr nichts passieren würde. Hatte sie zuerst Angst vor ihr gehabt, so war das vorbei. 'Sie soll überleben ...'
Erleichtert sah sie, wie sich die Rabin in die Lüfte erhob und ihnen folgte. Sie machte Khalil darauf aufmerksam: "Ich glaube, wir haben ein neues Haustier."
Als er sie verständnislos ansah, wurde Eden bewusst, dass er kaum involviert war. "Ich habe dir viel zu erzählen, wenn wir im Hotel sind." Sie legte beide Hände an sein Gesicht, um die Angst daraus zu vertreiben. "Ich glaube, ich weiß, was dich beschäftigt. Was auch immer geschieht: Es ändert sich nichts. Du bist stärker als Jaden. Er wusste das immer, und deshalb entschied er sich für die Ewigkeit."
Eine Antwort darauf musste Khalil nicht geben. Sie waren am Ziel. Der Taxifahrer hatte sie zügig aus der Gefahrenzone gebracht.
Khalil bedankte sich bei dem jungen Mann für seine Geistesgegenwart und gab ihm ein großzügiges Trinkgeld. Dessen freudestrahlendes Gesicht wärmte sein Herz. "Ich habe zwei Kinder, die ihren Vater brauchen", erzählte der Fahrer bewegt. "Das, was heute passierte, erlebe ich nicht zum ersten Mal. Es ist ein schreckliches Jahr für Amerika, und es hat gerade erst angefangen. Hoffentlich wird das irgendwann besser."
"Umso mehr weiß ich zu schätzen, dass Sie gekommen sind", erwiderte Khalil. "Uns sind noch nie so viele Kugeln um die Ohren geflogen. Ich will mich auch nicht daran gewöhnen." Er stieg aus und half Eden aus dem Taxi. Sie schmiegte sich an ihn, verabschiedete sich ebenfalls und warf mit einem erleichterten Seufzer die Tür zu.
Ihr Blick glitt zum Hoteleingang. Auf einer Steinsäule saß Josie. Khalil nahm Eden die Tasche ab. "Diesmal trage ich sie, wie es sich gehört."
Er schlang seinen Arm noch fester um ihre Schultern und führte sie in die erste gemeinsame Nacht. Eden spürte ein leises Zittern in seinen Fingern und rief sich in Erinnerung, wie krass sie abgeblitzt war. Er hatte seine Dämonen mit ihr geteilt. Eden war vorgewarnt.
Gemächlich schlenderten sie den gepflasterten Weg entlang. Josie ließ sie nicht aus den Augen. An der Säule, auf der sie saß, hielt Khalil inne und sah zu ihr hoch. "Was denkst du", fragte er Eden, "wird der Rabe dich jetzt immer begleiten? Macht er dir keine Angst? Was will er von dir?"
Eden folgte seinem Blick. "Wir sind ihre letzte Verbindung zu Abby. Josie ist heimatlos. Sie trauert." Sie wand sich aus Khalils Umarmung und streckte eine gebogene Rückhand in Josies Richtung. "Ich habe keine Angst vor ihr."
Josie nahm die Einladung an und kam im Sturzflug zu ihnen herab. Zielsicher landete sie auf ihrer Faust. Trauer und Bedauern standen in ihren schwarz funkelnden Augen. Eden wünschte sich, sie könnte ihre Gedanken lesen. "Was soll aus ihr werden, wenn wir wieder zu Hause sind?", fragte sie traurig. "Sie hat Abby verteidigt, hast du das gesehen?"
~ Khalil ~
Mit Einbruch der Dunkelheit schalteten sich mit einem hörbaren Klicken unzählige Laternen in Washington ein. Der Vorhof des Hotels, das Marvin für seine Schützlinge gebucht hatte, zeigte sich in aller Pracht.
Khalil fühlte sich fast erschlagen. Blumenrabatte in allen Farben und Mustern, antike Säulen, labyrinthartig angelegte Hecken, Skulpturen aus Marmor, Stein oder Bronze. Der reinste Luxus, was ihm gar nicht behagte. Vor Allem fürchtete er sich vor der Nacht. Es wäre die erste gemeinsame Nacht mit Eden in einem Bett.
Im Moment war er froh, dass sie mit Josie beschäftigt war. Das gab ihm Zeit, sich darauf vorzubereiten, ihr zu widerstehen. Die Erfahrungen in der Klinik hatten Khalil beileibe gereicht, und Eden hatte ihn mit ihrem in aller Unschuld geäußerten Wunsch gewaltig ins Schwitzen gebracht. Er würde auf keinen Fall seinen Eid brechen, den er einst sich selbst, seiner Mutter und vor Allem Gabriel schwor: Bei ihm würde sie sicher sein. Niemals wollte er sie verletzen.
Als Josie in die Lüfte stieg und sie verließ, war seine Schonfrist zu Ende. Khalil spürte, wie ihn die Erregung befiel und war versucht, zu Allah zu beten, dass er sie ihm nahm. Ihm schien, als schlummere das Tier der Begierde in ihm, das sich brutal nehmen würde, was es begehrte. Wenn es jetzt schon so wild war, wie würde es dann in der Nacht, wenn Eden neben ihm schlief?
Khalil nahm kaum wahr, dass er ging, dass er mit ihr sprach, dass er den Eingang betrat und Eden zur Rezeption folgte, als würde er schlafen. Es war, als stünde er neben sich und sähe zu, was er tat.
Eden merkte wohl, was mit ihm los war. Bedächtig ging sie auf Abstand, insbesondere geistig. Tröstend strich sie Khalil über die Hand, noch während sie mit dem Empfangschef sprach. Sie nahm den Schlüssel entgegen und gab sich souverän. Ihr war bewusst, dass sie nun die Stärkere war. Sie übergab Khalil die Führung. Eden hatte das Gefühl, dass es ihm wichtig sein könnte, nicht von ihr abhängig zu sein. "Ich kenne das Zimmer ja schon", erklärte sie ihm. "Die Pension wäre mir zwar lieber gewesen, doch es war nichts mehr frei. Außerdem ist da zu viel passiert."
Wenig später schloss Khalil auf und ließ ihr den Vortritt. Erst, als Eden in der Mitte der hell erleuchteten Suite stand, folgte er ihr.
"Zimmer" war die Untertreibung schlechthin. Irgendwie war er erleichtert: Rückzugsorte gab es genug. Langsam zog er seine Jacke aus und hängte sie an die Garderobe in einem Vorraum zwischen Tür und Hauptbereich. Ein Bogengang erinnerte an einen Tempel.
Soweit Khalil überblicken konnte, war der Boden mit teuren Perserteppichen ausgelegt. Fast fühlte er sich daheim. Ehrfurchtsvoll zog er seine Schuhe aus und bat Eden darum, dass sie seinem Beispiel folgen möge. "Ich bin das so gewohnt", entschuldigte er sich für seine Bitte.
Auf Strümpfen betrat er eine Lounge und blickte sich um. "Was hat sich Marvin dabei gedacht?", fragte er scherzhaft. "Dachte er, wir bräuchten ein Märchenland?"
Eden lachte, ließ sich respektlos auf eine blausamtene Chaiselongue fallen und kickte ihre Schuhe mitten in den riesigen Raum. "Du kennst ihn doch, wie gern er seine Freunde verwöhnt. Dass der Himmel noch an seinem Platz ist, grenzt an ein Wunder."
Es tat Khalil gut, ihr keckes Lachen zu hören. Seine Furcht vor der Nacht verflüchtigte sich in den Ecken. Er hob seine Tasche hoch. "Wo ist der Schlafbereich?"
Eden stand auf, nahm sie ihm ab und führte ihn durch eine gesonderte Tür. "Es ist fast wie eine Wohnung", bemerkte sie. "Schlafzimmer gibt es aber nur eins." Sie warf seine große Reisetasche auf ein rundes Luxusbett. "Meine Sachen sind noch im Schließfach am Flugplatz. Die habe ich total vergessen. Den Schlüssel hast du."
Khalil betrachtete Eden mit einem seltsamen Gesichtsausdruck. "Wie oft hast du im Freien geschlafen?", fragte er. "Du siehst ziemlich verlottert aus."
Sie zuckte die Achseln. "Fast jeden Tag. Das dürfte für dich ja nichts Neues sein. Daheim schlafe ich auch öfter im Baumhaus oder auf Laub, wenn mir die Decke auf den Kopf fällt." Ihr Blick wurde traurig. "Meistens war Jaden dabei", flüsterte sie. "Du hattest ja zuviel zu tun."
Er wandte sich ab und verließ den Raum. In der Lobby trat Khalil an eine große Fensterfront und starrte auf die Dächer der Stadt. Abertausende Lichter verschluckten die Sterne. Das war nicht seine Welt. Gedankenverloren horchte er in sich hinein, was ihn mehr traf: Edens leiser Vorwurf oder dass sie noch an ihn dachte.
Als er sich umdrehte, stand sie in der Schlafzimmertür und beobachtete ihn. Eden war froh, dass er vernünftig zu sein schien und keinen Streit vom Zaun brach. Sie hatte genug an ihren Schuldgefühlen zu tragen.
"Ich habe nichts mehr zum Anziehen. Hast du mir zufällig ein Shirt oder ein Hemd? Sonst bleibt mir nichts anderes übrig, als nackt zu schlafen." Edens Ablenkungsmanöver war nicht sehr glücklich gewählt, denn er zuckte empfindlich zusammen. Sie wandte Khalil den Rücken zu, damit er nicht sah, dass sie grinste.
Streng verbot sie sich selbst, Jaden und ihn miteinander zu vergleichen. Sie musste achtsam sein.
Um sich aus der Affäre zu ziehen, verschwand sie im Bad und wusch ihr Gesicht.
Khalil hatte ja recht: Sie sah aus wie eine Pennerin. Die Nächte auf der Straße forderten ihren Tribut. Puuuuh, und sie stank! Hatte er das nicht mal gemerkt?
"Eden?", hörte sie seinen Ruf. "Ich rufe mir jetzt ein Taxi und fahre zum Flugplatz. Deine Klamotten holen."
Bevor sie antworten konnte, klappte auch schon die Tür. Sie zuckte die Achseln, zog sich aus und stellte sich unter die Dusche. Fast eine halbe Stunde lang schrubbte Eden an sich herum, bis sie zufrieden war.
Khalil glänzte mit Abwesenheit. Eden machte sich selbstständig und nahm den Hotelservice sowie den dazugehörigen Bademantel in Anspruch. Mit samtener Haut, frisch gewaschenen Haaren und rosigem Duft kuschelte sie sich in der Lobby auf eine weiße Lederrundecke, vertrieb sich die Zeit mit ihrem Smartphone und wartete darauf, dass er kam. Stunde um Stunde verging. Es wurde Mitternacht. Bei seiner Rückkehr war sie längst eingeschlafen.
Eden lernte eine ganz neue Seite kennen. Khalil polterte herein wie ein wild gewordener Weihnachtsmann. Er lachte und lachte und lachte.
Sein Krach riss sie abrupt aus dem Schlaf. Verständnislos sah sie ihm entgegen. "Hast du den Verstand verloren?", fragte Eden empört. "Wo warst du so lang?"
Khalil lachte noch mehr. Ihre Reisetasche landete in ihrem Schoß. Sie zuckte zusammen und starrte furchtsam auf ihre Harfentasche in seiner anderen Hand. "Pass bitte auf. Du weißt, dass sie mir wichtig ist", bat sie ihn leise und hoffte, dass sie den richtigen Ton getroffen hatte, um ihn aus seiner beängstigenden Laune zu reißen.
Eden schob das Hindernis von ihren Beinen, kniete sich auf die Sitzfläche und machte sich bereit für den Notfall. Ihr Bademantel klaffte auf, was sie nicht einmal bemerkte. Sie hatte nur noch Angst um ihre Harfe.
"Ich war im Puff", antwortete Khalil hämisch auf ihre Frage. "Du kannst dir jegliche Versuche sparen, mich zu verführen." Nichtsdestotrotz starrte er auf ihren Busen.
Immerhin kam er ihrer Bitte nach und stellte ihre Harfe vorsichtig auf einem Tisch ab. Plötzlich brach er in Tränen aus, stürzte zu ihr und barg seinen Kopf in ihrem Schoß. "Bitte verzeih mir!" Er schluchzte haltlos. "Wenn ich dir nicht widerstehe, wer weiß, was dann passiert. Ich habe es deinem Vater versprochen. Und meine Mutter erwartet, dass du bis zur Hochzeit unberührt bleibst."
"Es wäre schön, wenn ich auch gefragt würde", erwiderte Eden und wehrte ihn ab. "In jeder Hinsicht. Weder meine Eltern noch deine Mutter bestimmen über mein Leben. Was dich betrifft: Dir würde ich auch raten, dich von alten Zöpfen zu lösen. Dummerweise bin ich keine Jungfrau mehr. Entweder liebst du mich, oder du liebst mich nicht."
Er roch nach Alkohol. Eden hatte Khalil noch nie so erlebt. Er war immer besonnen gewesen, ruhig und kraftvoll, ein Ruhepol. Nie hatte sie ihn auch nur annähernd angeheitert gesehen. Seltsamerweise widerte er sie nicht einmal an. Sie war es nur nicht gewohnt.
Khalil saß auf dem Tisch und hatte seine Füße auf der Couch abgelegt. Eden sollte nur nicht denken, dass er nicht mehr klar im Kopf war. Seine dunklen Augen waren abschätzend auf sie gerichtet. "Ich habe dich angelogen", warf er in den Raum. "Natürlich war ich nicht im Bordell."
"Das habe ich dir sowieso nicht geglaubt." Eden verdeckte ihr Dekollete, stand auf und stieg über seine Beine hinweg. "Ich gehe ins Bett. Wenn du es nicht erträgst, neben mir zu liegen: Dann schlaf auf der Couch."
Bevor sie an der Schlafzimmertür angelangt war, rief Khalil ihr hinterher: "Dir ist schon klar, dass ich Soldat war?" Erstaunt drehte Eden sich um. "Na und? Dürfen Soldaten nicht lieben?"
Er sprang vom Tisch und ging auf sie zu. "Ich sagte es schon: Wir waren Monster. Ich glaube nicht, dass ich so sein kann, wie du es verdienst."
Eden legte beide Arme um seinen Hals und lehnte sich gegen die Wand. "Ich weiß, du hast viel erlebt und gesehen. Ich weigere mich, zu glauben, dass du schon alt genug warst, um zu wissen, was da passierte."
Khalil umschlang ihre Taille. "Ich würde dir so gern den Ort zeigen, wo mich die Mönche gerettet haben. Mein letzter Tag in der Wüste war magisch und voller Liebe und Licht. Ich habe Angst, dass ich niemals zärtlich sein kann. Vielleicht wäre das eine Chance."
Eden schob ihn von sich weg und nahm seine Hand. "Komm, wir gehen schlafen. Es ist spät. Das Bett ist breit genug für uns zwei, und du kannst mir noch etwas erzählen." Sie freute sich, als er darauf einging.
Khalil ließ sich von ihr führen, doch beim Anblick der luxuriösen Spielwiese überkam ihn Beklommenheit. Um sie zu übergehen, räumte er seine Tasche aus. Mit einer Pluderhose verschwand er im Bad.
"Lass dir Zeit", rief Eden hinter ihm her. "Nicht, dass du blind wirst, wenn du zu früh zurückkommst." Sie kicherte, eilte zurück in die Lounge und holte ihre eigenen Sachen. Als Khalil mit bandagiertem Oberkörper herein kam, lag sie bis obenhin zugeknöpft unter der Decke. "So also gehen Orientalen zu Bett", spielte Eden auf seine Hose an. "Ich dachte immer, die ziehen Frauen beim Bauchtanz an."
Er setzte sich auf seiner Seite auf die Bettkante. "Du würdest dich wundern. Es gibt sogar Männer, die Bursa tragen." Khalil musterte ihre Silhouette unter dem kuscheligen Federbett, als hätte er Röntgenaugen. Sie wurde rot.
~ Eden ~
Es war seltsam: Gegenüber Khalil verhielt Eden sich beinahe schüchtern.
Mit Jaden war alles so einfach gewesen. In keiner Sekunde hatte sie sich befangen oder unwohl gefühlt. Sich ihm hingegeben zu haben, war wie die Fortführung ihrer vorherig spielerischen Verbundenheit. Es war eine schmerzvolle Erfahrung, das schon. Ihr Schmerz setzte sich zusammen aus Zerrissenheit und Schuldbewusstsein, aber auch Trauer, weil sie ihn verlor.
Die Hoffnung, dass der Schein trog, hatte sie aufgegeben. Wenn es so wäre, wo sollte er sein?
Plötzlich sagte Khalil etwas, das sie aus der Bahn warf. "Ich glaube, ich muss dir erzählen, warum ich denke, dass Jaden noch lebt."
Eden setzte sich auf und lehnte sich an die Rückwand des Betts. "Es ist ausgeschlossen. Er hat den grausamsten und sichersten Tod, den ich mir vorstellen kann, für sich gewählt. Die Polizei hat ermittelt. Seine Überreste wurden gefunden. Das war kein Plastik."
"Trotzdem." Khalil schlüpfte unter seine eigene Decke, setzte sich ebenfalls hinter und nahm sie ganz fest in den Arm. "Eden, sag mir nur eines: Wenn er noch lebt, bleibt es dabei, dass sich nichts ändert?"
"Ich sage dir jetzt erst einmal was: Ich hatte Jaden nachts angerufen und ihm gesagt, dass ich dich liebe. Das war das letzte Mal, dass ich mit ihm sprach." Den genauen Wortlaut hatte sie noch gut in Erinnerung, doch den wollte Eden Khalil vorerst verschweigen. Wenn er sie wollte, müsste er noch einmal fragen, ob sie seinen Ring annehmen wolle. Sie hatte auch ihren Stolz.
"Ich verstehe nicht, wie du so nüchtern darüber sprechen kannst." Khalil schüttelte bestürzt den Kopf. "Das hieße, dass wir schuld daran sind." Er griff in eine Obstschale neben sich und entnahm ihr eine Feige. Nachdenklich lutschte er daran herum. "Aber wie dem auch sei: Ich glaube, er hat sein Verschwinden gut inszeniert. Bestimmt hatte er sogar Hilfe."
"Wie kommst du darauf?" Eden schwankte zwischen Hoffnung und Entrüstung, dass Khalil so etwas überhaupt in Erwägung zog. Er ließ sich jedoch nicht beirren: "Ich hatte genügend Gelegenheit, Zeitung zu lesen. An dem Tag, als Jaden verschwand, wurde ein Grab geschändet. Die Leiche wurde niemals gefunden."
"Du meinst also, er hat eine Leiche geklaut und sie angezündet? Das ist harter Tobak, und das traue ich ihm einfach nicht zu", warf Eden ein.
Khalil fuhr jedoch fort: "Ich sah auch Videos vom Tatort. Ich bin zwar kein Feuerwehrmann, doch einen Brandschutzgraben erkenne sogar ich. Der wurde gezogen, damit sich das Feuer nicht ausbreiten konnte."
"Die Zeit für soviel Vorbereitung wäre viel zu knapp gewesen", widersprach Eden, doch sie kam langsam ins Grübeln. Wenn Jaden Helfer gehabt hatte, könnte es sein. "Was machen wir, wenn es stimmt?"
"Wir müssen die Polizei informieren. Was sonst?"
Eden schälte sich eine Banane und legte die Schale auf ihren Nachttisch. "Sie ermitteln nicht mehr. Jaden hinterließ mir einen Abschiedsbrief, das war ihnen Beweis genug, dass er sich umgebracht hat." Sie biss in ihre Banane, reichte sie Khalil und sprang aus dem Bett. In ihrer Harfentasche hatte sie eine Kopie.
Fünf Minuten später krabbelte sie wieder unter die Decke und gab sie weiter. Schweigend begann Khalil, zu lesen. "Er hofft, dass er dich wieder sieht", sagte er ruhig, als er fertig war. "Der ganze romantische Klimbim zwischen den Zeilen ist ein Ablenkungsmanöver. Und du fällst drauf rein." Er kämpfte sich unter seiner Decke hervor und setzte sich rittlings auf ihre Beine. Eindringlich sah er sie an. "Wenn du mich fragst, ist er auf dem Weg in die Berge oder in die Verbotene Schlucht. Davon bin ich fest überzeugt." Er gab den Brief wieder an Eden zurück. Sie legte ihn in ihre Nachttischschublade. "Aber warum sollte Jaden so etwas tun?", fragte sie ratlos.
"Weil er hofft, dass du ihm folgst." Khalil griff nach ihren Händen. "Wenn du sagst, dass du mich liebst, vertraue ich dir und helfe dir suchen. Sei jedoch ehrlich zu mir: Wirst du meine Frau, wenn wir ihn finden?"
Eden lächelte ihn zärtlich an. "Du Schaf. Auch, wenn wir ihn nicht finden. Ich dachte schon, du fragst erst, wenn ich achtzig bin. Und ja, ich liebe dich." Überrascht lauschte sie ihrem Herzschlag und entdeckte, dass es die Wahrheit war. Plötzlich fühlte sie sich leicht und unbeschwert. Wenn doch nur Khalil etwas lockerer mit ihr umgehen würde …
Die letzten Stunden hatten sich Eden eingeprägt. Endlich ließ er auch Nähe zu, doch konnte er es auch genießen? Ihr schien, als würde Khalil sich dazu zwingen, sie zu berühren, mit ihr zu reden, sich ihr zu öffnen und ihr zu zeigen, dass er ein Mann war. Sie würde es brauchen, dass er sie führte …
~ Khalil ~
Eine Stunde später lag Eden friedlich und unberührt unter der Decke und schlief. Ihn selbst floh der Schlaf. Khalil starrte Ewigkeiten in die Nacht und dachte an das Mädchen, das neben ihm lag. In einem Wachtraum malte er sich aus, wie er sie überraschen konnte.
Sein Wunsch, mit ihr gemeinsam gegen den Horror seiner Kindheit zu kämpfen, war übergroß. In seiner Gedankenreise kehrte er an den Ort seiner Rettung zurück. Ein Jahr hatte er an der Seite seines Vaters auf blutigen Pfaden verbracht, solange, bis sein Peiniger fiel. Sein Ort des Schreckens war Sinai. Dort war das ehemalige Trainingscamp, das ihn darauf vorbereiten hatte sollen, zum Gotteskrieger zu werden. Normalerweise wäre er heute tot …
Es war sein letzter Tag im Verlies. Noch einmal hörte er das Pfeifen der Bomber, den Donner der Explosionen und entsetzliche Schreie. Die Strafmaßnahme seines Vaters, dieses elende Loch unter der Erde, war seine Rettung, doch Abdullah Sherman wurde erwischt!
Khalil hatte sich geschworen, nie wieder daran zu denken. Nicht an all das Blut, das damals floss, nicht an die Peitsche, die ihn so oft traf, nicht an die Schüsse aus seinem Gewehr und nicht an die flehenden Blicke der Opfer, die zu seinen Füßen lagen. Er wünschte, seine Schuld könne er irgendwie tilgen. Hätte er besser den Tod gewählt?
Dann jedoch hätten es andere büßen müssen: Kameraden im selben Alter wie er. Es war die wirksamste Sanktion der Scharführer gegen Ungehorsam: "Wenn du dich nicht beugst, wirst du gebeugt. Weigere dich, uns zu gehorchen, und andere werden dafür bestraft. Dein eigenes Leben bedeutet uns nichts, doch dir bedeutet es alles, wenn ein Anderer stirbt. Also gehorche!"
Es war die Philosophie seines Vaters gewesen …
Wenn er jemals mit Eden glücklich sein wollte, mussten seine Dämonen verschwinden. Vorher jedoch würde Khalil sich ihnen noch einmal stellen …
Leise schwang er seine Beine aus dem Bett und tappte blindlings durchs Zimmer. Er hatte in der Lounge eine Computeranlage gesehen, dort würde er alles finden, was ihm vorschwebte. Khalil brauchte Bilder, die seinen Wünschen entsprachen. "Wohin willst du?", murmelte Eden schlaftrunken, als er die Klinke herunter drückte. "Schlaf weiter", flüsterte Khalil zurück. "Ich bin gleich wieder da."
Vorsichtig zog er die Tür hinter sich zu. Im Vorraum gingen die Lichter an. Der Mond schien silbern durch deckenhohe Glasfronten und tauchte eine Reihe Palmen in ein unwirkliches Licht.
Die Laternen der Stadt waren erloschen. Er konnte die Sterne sehen. Eine Nacht, wie für die Liebe gemacht. Das, was sich Eden ersehnte, musste warten, bis er mit sich im Reinen war. Der Entschluss fiel Khalil von Mal zu Mal schwerer, wenn er sie sah. Die Angst war jedoch stärker. Würden sie jemals Kinder haben?
Er durchschritt den Raum bis zur gegenüberliegenden Wand und schaltete den hauseigenen Computer ein. Das Gerät war vernetzt, stellte Khalil erleichtert fest, und setzte sich hin. Nach einigen Surfrunden durch verschiedene Pages war er in der Wüste. Fast hörte er wieder die Glocken der Mönche, das Mahlen der Räder von Ochsenkarren, männliche Stimmen in verschiedener Mundart. Ob Bruder Rafael wohl noch leben würde?
Drei Jahre hatte er Obdach im Katharinenkloster gefunden, bis Marvin Beard in sein Leben trat. Diese Jahre waren Zeit des Lernens gewesen. Danach ging sein Wunsch in Erfüllung: Er durfte zu Eden. Und bald würde sie seine Frau …
***
Eine halbe Stunde später war Khalil wieder im Bett. In seiner Faust lag ein Stein. Woher er ihn hatte, wusste er nicht, doch er verfolgte ihn bis in seine Träume. Der ganz normale Kiesel wuchs zu einem Felsen an und ragte über ihm auf. Ein nackter Junge kreiste Stunde um Stunde durch eine Wüste aus Stein. Er hatte Stiefel an, war über und über verdreckt, das Gesicht tränenverschmiert. In der nächsten Sequenz kauerte er zwischen zwei Felsen in einem Gebet. Khalils erstes Gespräch mit Allah seit langer Zeit …
Er spürte wieder die Angst vor dem Fremden. Rettung hatte er sich nicht zu erhoffen gewagt, doch sie war gekommen und führte ihn Eden zu. Dort am Berg Sinai würde ein Schrein für ihre Liebe sein: "... und bleib mir Steinewigkeit!"
Dieses Kapitel ist Enya Kummer gewidmet. Ich bedanke mich für die wundervolle Inspiration und dein Gedicht. Es ist unbeschreiblich schön und sucht nach seinesgleichen. ♥ ♥ ♥
Khalils Verdacht bekam neue Nahrung. Eden zeigte ihm am Frühstückstisch die Truhe, die sie über Abby von Jaden erhalten hatte. Das rote Stirnband hatte sie mittlerweile dazu gelegt.
Gemeinsam entschlüsselten sie die Bewandtnis der handgemalten Karte, die Khalil bestärkte: Jaden war in der Verbotenen Schlucht.
Eden war nicht davon überzeugt. "Wie sollte er dahin gekommen sein? Marvin fand heraus, dass er Washington nicht verlassen hat. Es wurde kein Flug umgebucht." Sie biss in ein Croissant. Kauend fuhr Eden fort: "Jaden hat alles zurückgelassen." Sie zeigte auf den Inhalt der Truhe. "Sogar seine Panflöte. Würde er noch leben, läge die nicht hier drin." Khalil nahm sie heraus und drehte sie in alle Richtungen. "Das ist nicht seine eigene. Sie ist nagelneu und nicht handgemacht. Lass dich nicht länger täuschen."
Eden schluckte. "Wir müssen nach Hause. Die Polizei hat bis auf die Truhe bereits alles nach Cedar Rapids geschickt. Ich habe die letzte Zeit viel zu wenig an meine Eltern gedacht. Sie wissen Bescheid. Bestimmt geht es ihnen nicht sonderlich gut."
"Übermorgen geht unser Flug", erwiderte Khalil. "Ich habe für uns gebucht, sobald ich wusste, wann ich entlassen werde." Er nippte an seinem Orangensaft. "Hast du nie daheim angerufen?"
Eden setzte eine zerknirschte Miene auf. "Ich habe mich nicht getraut." Sie spielte mit einer Gabel. "Wir hatten ja Daddys Auto einfach genommen, ohne zu fragen. Das habe ich dir ja schon erzählt. Marvin hat es zwar bereits wieder zurückgebracht. Mulmig ist mir trotzdem. Meine Mutter reißt mir den Kopf ab, wenn ich nach Hause komme."
Khalil lachte. "Ich hätte nicht gedacht, dass du irgendwann mal ein schlechtes Gewissen bekommst. Deine Mutter hat eher Angst vor dir."
"Ich habe ja auch noch nie ein Auto geklaut", grinste Eden verlegen. Khalil wurde es warm ums Herz. Sie war so herrlich zerknautscht am frühen Morgen, eine Mischung aus Löwin und Kuschelkatze. Ihr Gesicht war gerötet vor Scham, die Augen gesenkt. Lange Wimpern zeichneten Schatten auf ihren Wangen.
Hungrig fiel sein Blick auf ihren sinnlichen Mund. Als Eden sich einen Krümel von ihren Lippen leckte, brachte ihn das fast um. Abrupt sprang er auf und warf fast den Tisch um. Mit rotem Gesicht folgte er seinem Fluchtinstinkt.
Eden schmunzelte ihm hinterher. Sie fand das irgendwie niedlich, dass ein gestandener Mann von dreiundzwanzig sich aufführte wie ein Marienkäfer im Wochenbett.
Erst, als Khalil überhaupt nicht mehr aus dem Schlafzimmer kam, wurde sie unruhig und folgte ihm. Er saß auf seiner Bettseite mit seinem Handy. Als sie hereinkam, sah er auf. "Ich muss dir etwas zeigen."
Sie setzte sich zu ihm. Er hielt ihr den Bildschirm entgegen. "Könntest du dir vorstellen, mit mir gemeinsam eine größere Reise zu machen?" Khalil zeigte ihr eine Animation, die ihr den Atem nahm. "Das ist wunderschön, aber das ist doch bestimmt kein Ort, den es gibt."
Khalil nickte versonnen. "Doch, diesen Ort gibt es. Das Video verfremdet nur etwas die Realität. Ich habe es heute Nacht selbst gemacht, um es dir zu zeigen." Die Animation begann mit einem Gedicht. Es folgten Bilder einer sonnenüberfluteten Wüste kurz nach einem Regen. Überall sprossen Blumen und wechselten sich mit Schlammlöchern ab. Er nahm Eden mit zu den Felsen, wo er sich einen marmorbehauenen Stein in Herzform vorgestellt hatte. Die Inschrift war: "… und bleib mir Steinewigkeit."
Es war die Fortführung des Intros und wiederholte die letzte Strophe des Poems. Untermalt wurde das Video von Harfenklängen. Selbst daran hatte Khalil gedacht.
Tränen der Rührung rannen Eden übers Gesicht. "Mit dir ginge ich bis ans Ende der Welt", schwor sie bewegt. "Und wenn es diesen Ort wirklich gibt: dann auch dahin."
Khalil nahm ihre Finger und umschloss sie zart mit beiden Händen. "Das wäre ein Platz für unsere Flitterwochen, findest du nicht?"
Seine Stimme war leise und sanft. Sie verursachte ihr Gänsehaut. 'Er denkt, er könnte nicht zärtlich sein?', sinnierte Eden. 'Er trägt so viel Liebe in sich, niemals müsste ich mich vor ihm fürchten.' Vor Jaden hatte sie beinahe Angst gehabt!
~ Berührungen ~
Nachdem der Frühstückstisch durch den Hotelservice abgeräumt wurde, telefonierte Eden auf Khalils Drängen mit ihren Eltern. Sie erfuhr, dass Jaden bereits überführt worden war. Seine Überreste befanden sich in einer Urne.
Das erste Gespräch führte Eden mit ihrem Vater. Gabriel wirkte gefasst, machte ihr keinerlei Vorwürfe und forderte sie auf, bald nach Hause zu kommen. Als Rahel übernahm, hätte Eden beinahe aufgelegt. Ihre Mutter war fix und fertig. Machtlos stand sie Rede und Antwort. Nein, sie wisse nicht, weshalb Jaden sich aus dem Leben schlich. Khalil saß neben ihr und hielt stumm ihre Hand. Eden hatte das Gefühl, sie müsse die ganze Welt um Vergebung bitten.
Als sie die Tiraden ihrer Mutter gar nicht mehr aushielt, beendete sie das Gespräch. Eden strich sich die Haare aus dem Gesicht. "Dein Verdacht wird sich nicht mehr überprüfen lassen", berichtete sie mit schleppender Stimme. "Jaden wurde schon beigesetzt. Außer Asche gibt es nichts mehr von ihm." Weinend legte Eden den Kopf auf den Tisch. "Ich fühle mich so unendlich schuldig", schluchzte sie.
"Hör auf, dich selbst zu zerfleischen", antwortete Khalil. "Du hast das ja nicht gewollt und auch nicht vorhergesehen." Seine Miene wurde grimmig. "Dem Rotzlöffel könnte ich auf die Schnauze hauen."
Eden schwankte zwischen Weinen und Lachen und bekam Schluckauf. Hilflos hicksend hob sie den Kopf, hielt sich beide Hände vor den Mund und starrte Khalil großäugig an. "Ich … auch", stammelte sie dumpf durch die Finger.
Er lachte. "Na komm schon. Wir lassen uns von dem Saukerl den Tag nicht vermiesen." Er stand auf und reichte ihr seine Hand. "Zieh dich an, wir gehen aus."
Mit dem Ärmel ihres Nachthemds trocknete Eden die Tränen und ließ sich bereitwillig führen. Wie es aussah, hatte Khalil mit ihr etwas vor. Sie spürte es an der Anspannung, mit der seine Hand in der ihren lag. Seine Augen glänzten verheißungsvoll. Neugierig streifte sie ihn mit einem Blick, wagte jedoch nicht, ihn danach zu fragen. Die Raumatmosphäre war plötzlich voller Elektrizität.
Kraftvoll schob Khalil Eden durch die Schlafzimmertür und machte sie zu. Er zog sie vor ihren Kleiderschrank. "Zeigst du mir, was du zum Anziehen hast?", fragte er forsch.
Khalil trat ein paar Schritte nach hinten und hielt ihren Blick im Spiegel fest. Seine Musterung war wie eine Liebkosung. Seine dunklen Augen verharrten nicht lang in ihrem Gesicht und umschmeichelten Edens Nacken, die Arme, die Taille, die langen Beine. Eden ließ ihn gewähren und öffnete ihren Schrank. "Schwebt dir etwas Besonderes vor?", fragte sie mit heiserer Stimme. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. "Viel zu bieten habe ich nicht."
Khalil stellte sich hinter sie und zog ein anthrazitfarbenes Satinkleid vom Bügel. Es war rückenfrei. "Das würde ich gern an dir sehen." Seine freie Hand verweilte samtweich in ihrem Nacken.
Eden war froh, dass es nicht das rotschwarze Minikleid war. Bei nächster Gelegenheit würde sie es zerschneiden, erinnerte es sie doch zu sehr an Jaden. Sie nahm das Ausgesuchte entgegen, warf es aufs Bett und drehte sich um. "Es ist ein bisschen zu leicht, findest du nicht?"
"Du wirst nicht frieren, das verspreche ich dir." Er öffnete seine eigene Schrankseite und legte einen weißen Midimantel um ihre Schultern. Er war aus Mohair. "Meine Mutter hat ihn selbst gestrickt", hauchte Khalil in ihr Ohr. "Er gehört dir." Seine Hände folgten dem Material und glitten an ihren Armen herab. Eden bekam weiche Knie. Sie schmiegte sich mit dem Rücken an seine Brust. "Die Ornamente sind wunderschön", hauchte sie und fühlte sich wie eine Prinzessin. Khalils Wärme umhüllte ihre sich sehnende Seele.
Selbstvergessen beobachtete er sie im Spiegel. Der Wunsch, ihre Haut auf der seinen zu fühlen, durchbrauste ihn wie ein Orkan. Wie in Trance nahm er den Mantel von ihrer Schulter und ließ ihn zu Boden gleiten. Eden drehte sich zu ihm um und schaute ihm in die Augen. "Khalil, was hast du vor?", fragte sie sanft. Er wurde rot. "Ich will dich sehen." Er drehte sie wieder mit dem Gesicht zum Spiegel. "Nur sehen ..." Seine Stimme verlor sich in ihrem Nacken. Begehrlich sog er ihren Duft ein.
"Du willst mich sehen?" Eden griff nach dem Rocksaum ihres Nachthemds und zog ihn langsam nach oben. Khalil verwehrte es ihr. "Nein. So nicht. Leg dich aufs Bett." Sie begriff, dass ihm nach Spielen war. Mit einem triumphierenden Lächeln gehorchte sie.
Khalil ließ die Jalousien herab und sperrte den Tag aus. Im selben Moment ging das Zimmerlicht an. Mit einer Fernbedienung dimmte er es, bis er zufrieden war. Nun würde Eden seine Mondgöttin sein. Vor Anspannung bebend stand er mitten im Raum und wagte es kaum, sich ihr zu nähern. Ihre Katzenaugen glitzerten erwartungsvoll.
Er lehnte sich gegen den Schrank und sah sie nur an. Ihr weißes Nachthemd leuchtete auf der nachtblauen Bettwäsche wie ein Stern am Himmel. Edens Haare erinnerten ihn an eine glühende Sonne. Sie war sein Universum.
Khalil gab sich einen Ruck. Wie ein Schlafwandler trat er an ihre Seite. Eden griff nach seiner Hand. "Ich bin für dich da", wisperte sie. "Nur für dich. Ich bin kein Geist. Bitte berühre mich."
Er setzte sich auf den Bettrand. Sie bot sich ihm dar wie ein Festmahl für einen Verhungernden. Genau so fühlte er sich. Wie sehr er sie brauchte …
Wie von selbst schoben Khalils Hände ihr Nachthemd nach oben. Zentimeter um Zentimeter eroberte er ihren Körper mit seinem Blick. Kurz vor der Quelle des Lebens hielt er in Ehrfurcht inne. Eden setzte sich auf und umarmte ihn. "Du musst keine Angst davor haben, dass ich zerbreche. Deine Vergangenheit hat keinen Platz in unserem Bett." Entschlossen stand sie auf und zog sich aus. Khalil stockte der Atem. Überwältigt wandte er den Blick von ihr ab.
Zart spürte er ihre beiden Hände an seinen Wangen und schmiegte sich in die verlockende Zuflucht hinein. Mit einem Aufseufzen erwiderte er ihre Zärtlichkeit und sank mit ihr aufs Bett. "Eden, ich will dir nicht wehtun. Vertraust du mir?", fragte er. Sie küsste ihn innig. "Ja", flüsterte sie an seinen Lippen. "Liebe mich und hör endlich mit Reden auf."
~ Cedar Rapids ~
Zwei Tage später kehrten Khalil und Eden nach Cedar Rapids zurück. Ihre gemeinsame Zukunft lag klar vor ihren Augen: Noch in diesem Jahr würde die Hochzeit sein. Marvin holte sie vom Flugplatz ab und war der Erste, der es erfuhr. "Das wurde auch Zeit", war seine lapidare Meinung, während er ihr Gepäck in den Kofferraum lud.
Khalil grinste. "Eden ist noch nicht mal volljährig. Das klingt grade so, als wären wir zwanzig Jahre zusammen." Er schüttelte den Schnee von seinen Stiefeln und stieg hinten ein. Eden bekam - standesgemäß und ganz Kavalier - ihren Königsthron. Das Gespräch der Männer bekam sie nicht mit, sie war schon auf der anderen Seite des Wagens. Eingemummelt in Khalils Geschenk kuschelte sie sich auf den Vordersitz. Sie trug den Mantel mit mehr Stolz als eine Diva die teuersten Pelze. Samira hatte sogar orientalisch anmutende Muster in das Strickwerk gestickt.
"Habt Ihr schon einen festen Termin im Auge?", fragte Marvin, als er am Steuer saß. "Daheim fallen sie bestimmt aus allen Wolken." Zufrieden bemerkte er Edens Strahlen.
"Wir haben uns für meinen Geburtstag entschieden", klärte Eden ihn auf. "Dann ist wenigstens ein Teil von Khalils Wünschen erfüllt. Am Sonntag sagen wir meinen Eltern und Samira Bescheid. Behalte es bitte für dich."
"Was machen deine Rippen?", fragte Marvin nach hinten und fädelte sich in den Berufsverkehr ein. "Langsam wird es", erwiderte Khalil. "Zumindest bin ich meine Zwangsjacke los. Eden ist die bessere Heilerin als jeder Arzt."
Eine Stunde später kamen sie in Cedar Rapids an und wurden bereits in der Einfahrt sehnlichst erwartet. Eden erschrak, als sie Rahel sah. "Was ist mit ihr?", fragte sie Marvin noch auf der Straße. "Ist sie krank?"
"So sieht eine Mutter aus, die sich sorgt, Eden. Es ist viel passiert. Du hast dich aus dem Staub gemacht, die Sache mit Jaden, dann hast du dich nie gemeldet. Das alles zusammen nahm sie gewaltig mit. Rahel hat die letzten drei Wochen kaum noch gegessen. Ich hoffe, dass es bald besser wird." Marvin tätschelte ihr beruhigend das Knie. "Fang bloß nicht zu heulen an. Das macht es nur schlimmer."
Noch bevor er seinen Porsche zum Stillstand brachte, befreite sich Eden von ihrem Gurt, riss die Tür auf und sprang ins Freie. Fast wäre sie im Matsch ausgerutscht, fing sich und stürzte auf ihre Mutter zu. "Mom, es tut mir so leid, dass du dir so viel Sorgen machen musstest." Schluchzend warf sie die Arme um ihren Hals. "Ich wollte das alles nicht." Ihr Ansturm war so heftig, dass sie gemeinsam in einen Schneehaufen fielen.
Tränenüberströmt, doch lachend, befreite sich Rahel aus ihrer Umklammerung. "Hauptsache, Ihr seid wieder bei uns." Sie drückte Eden von ihrem Schoß. "Du bist schwer." Ächzend rappelte sie sich wieder hoch. Gabriel reichte ihr seine Hand, um ihr zu helfen. "Der gleiche Wildfang wie immer", sagte er liebevoll zu seiner Tochter und strich ihr übers Haar. Eden stand ebenfalls auf und umarmte auch ihn. "Ich bin froh, dass ich wieder daheim bin."
Ihr Blick glitt zu Khalil. Ineinander versunken standen er und Samira mitten im Hof. Seine Augen leuchteten liebevoll, während er seine Mutter an beiden Händen hielt. Ein Kloß saß ihm im Hals. Sie schwiegen.
Sein Herz war voller Stolz. Ihre Haare leuchteten in der eisigen Luft wie Rabenschwingen. Samira ging auf die Vierzig zu, doch sie wirkte wie ein junges Mädchen. Khalil freute sich, dass sie sich nicht mehr versteckte und zu sich stand.
***
Eden bat im Verlauf des restlichen Tages um ein gemütliches Beisammensein am kommenden Sonntag. Es fiel ihr schwer, den Grund zu verschweigen.
Marvin und seine Familie gingen im Hause der Abels sowieso ein und aus, als wäre es ihr eigenes Heim, insofern ging es nur noch um Samira und Khalil. Eden war gespannt, ob er so lange dichthalten konnte.
Ganz wohl war ihr nicht. Jadens Geist lauerte in sämtlichen Ecken des Hauses und versetzte alle in Trauer. Sein Zimmer war unberührt und so, als käme er jeden Moment wieder zurück. Seine Urne stand auf einem Regal, flankiert von seinen Eltern.
Staub lag auf den Möbeln, die Farne, die jahrelang so liebevoll gepflegt worden waren, standen kurz vor dem Verdorren. Als Eden das sah, packte sie der Zorn. Am späten Nachmittag ließ sie alle Fünfe gerade sein, schnappte sich Gießkanne und Putzutensilien und brachte Jadens Zimmer auf Vordermann. Zur Abendbrotzeit wollte Rahel sie holen und blitzte ab. Minutenlang stand sie in der Tür und sah ihr beim Putzen zu. Eden wirbelte durch den vereinsamten Raum wie ein Tornado. Bekümmert ob ihrer Wut suchte die besorgte Mutter ihr Heil in der Flucht.
Als es auf Mitternacht zuging, war Eden noch immer nicht in den Schoß der Familie zurückgekehrt. Ruhelos tigerte Rahel durchs Haus und machte einen weiten Bogen um die verschlossene Tür. Sie hätte so viele Fragen, doch der, an den sie diese stellen hätte müssen, war nicht mehr da. Was war zwischen Eden und Jaden geschehen?
Gabriel kam die Treppe herauf und sah Rahel am Ende des Ganges stehen. Das helle Deckenlicht verschärfte die Falten in ihrem Gesicht und versilberte die Tränen, die ihr über die Wangen liefen. Leise trat er auf sie zu. "Warum gehst du nicht zu ihr?"
"Sie will mich nicht sehen", erwiderte Rahel. Noch immer rumpelte und raschelte es aus Jadens Zimmer heraus. "Manchmal denke ich, sie hat den Teufel im Leib."
"Und das aus dem Mund der größten Glucke der Welt", brummte Gabriel und nahm sie in den Arm. "Sie hat Temperament, und das nicht von mir. Das ist auch schon alles." Entschlossen nahm er sie bei der Hand und zog sie in Jadens Reich. Kerzen brannten im Raum.
Eden war nirgends zu sehen. Jadens rotes Bandana hatte sie um seine Urne gewickelt. Auf dem Tisch stand seine Truhe. Verdattert trat Gabriel vollends ein und stand mit einem halben Bein in kaltem Wasser. Rahel rannte in ihn hinein. Fast wäre der mit schlammiger Brühe gefüllte Putzeimer umgefallen. Gerade noch so konnte sie es verhindern. Gabriel zog sein Bein aus dem Kübel, Rahel schnappte ihn sich und entsorgte das Putzwasser im oberen Bad. Danach kehrte sie wieder zurück. Noch immer keine Spur von ihrer Tochter, dabei hatte sie Edens Werkeln ganz deutlich gehört. Gabriel begutachtete tropfend die Truhe auf Jadens Tisch und fand seinen Brief. Aus einer Ecke vernahm Rahel ein leises Schluchzen. Eden lag auf seinem Bett!
Rahel schob den Leinenstoff des Tipis beiseite und setzte sich zu ihr auf die Kante. "Er fehlt uns auch", versuchte sie, ihre Tochter zu trösten und streichelte ihr den bebenden Rücken. "Ach Mom, was ist, wenn ich von ihm schwanger bin?", brach es erstickt aus Eden heraus. "Oder von Khalil?"
Rahel schnappte nach Luft. Gabriel trat zu ihnen, mit Jadens Brief in der Hand. Er hatte ihn nicht gelesen, doch hörte auch er Edens Worte. Mit einem warnenden Blick sah er seine Frau an. Sie hatte sich indes ganz gut im Griff. "Ich glaube, du lässt uns besser allein", schickte Rahel ihn fort.
***
Überfordert verzog sich Gabriel ins untere Stockwerk. Seine Tochter war schwanger? Sie hatte etwas mit Jaden? Mit Khalil? Mit beiden?
Er ließ sich in seinen Sessel fallen, griff nach seinem Handy und spielte unentschlossen damit herum. Eigentlich war schon lang Schlafenszeit, morgen müsste er auf den Markt, seine Frau saß bei Eden.
Er traute ihr alles zu und fragte sich, ob er gut daran getan hatte, ihr zu gehorchen.
Sinnierend starrte er auf sein Display und entschied sich für Analog. Seufzend stand Gabriel auf, ging zu seinem alten Tastentelefon und wählte die Nummer von Khalils Handy. Es dauerte eine ganze Weile, bis dieser dran ging. Das ließ ihm Zeit, sich zu beruhigen. Ob es mitten in der Nacht war, juckte ihn nicht. Er musste an sich halten, um nicht zu schreien, eine erschütternde Facette, die Gabriel fremd war. Nach dem zehnten Klingeln hörte er Khalils schlaftrunkene Stimme. Ohne Einleitung schoss Gabriel los: "Hattest du nicht vorgehabt, Eden nicht anzurühren? Konntest du deine Griffel nicht bei dir behalten?"
"Ähmmm, was?", stotterte Khalil verdutzt. "Von was redest du da?"
"Am besten kommst du sofort zu uns, dann wirst du es schon erfahren. Sofort, ist das klar?" Ohne ein weiteres Wort legte Gabriel auf und stürmte wieder nach oben. Seine zwei Frauen saßen mittlerweile am Tisch. Rahel hielt Edens Hand. Er war erleichtert, dass seine Gemahlin nicht ausgeflippt war. Krisenmanagement war nicht sein Ding.
"Gehen wir nach unten", sagte Gabriel und reichte Eden den Brief. "Ich habe ihn nicht gelesen", erwiderte er auf die unausgesprochene Frage in ihrem Blick, "aber ich würde gern." Eden gab ihn wieder zurück.
"Du hast es gehört", schlussfolgerte sie. Gabriel nickte. "Khalil kommt gleich. Ich denke, er sollte es wissen."
"Es ist doch noch gar nicht sicher", warf Rahel ein, stand jedoch auf. Beschützend legte sie den Arm um Edens Schultern. "War das der Grund, warum Jaden durchgedreht ist?", fragte sie. "Weil du vielleicht schwanger bist?"
"Nein. Ich habe mich nur für Khalil entschieden und es ihm gesagt", erwiderte Eden. "Dass ich es sein könnte, fiel mir gerade erst ein." Sie erhob sich. "Hast du Khalil hierher zitiert?", fragte sie ihren Vater. "Wenn ja, dann lass dir was einfallen, warum. Er braucht das noch nicht zu wissen." Hoch erhobenen Hauptes rauschte sie an ihren Eltern vorbei. "Ach du lieber Himmel", murmelte Gabriel. Irritierenderweise war ihm zum Lachen, wie immer, wenn Eden die Diva gab. Er setzte sich an den Tisch und las Jadens Brief. Rahel schaute ihm abwartend über die Schultern. Je mehr sie las, umso größer wurden die Augen. Entsetzt schlug sie die Hand vor den Mund.
"Kommt Ihr endlich?", schrie Eden von unten herauf. Gabriel ignorierte den Ruf. "Shawnee, das war sein Name für Eden. In was hat sich der Junge nur reingesteigert?" Er vergrub seine Hände in seinem grauen Wuschelkopf und lehnte sich nach hinten. Minutenlang starrte er gegen die Decke. "Und dann noch auf so grausame Weise", bestätigte Rahel und brach in Tränen aus. "Jaden wäre mir tausendmal lieber gewesen als Khalil." Die Beine knickten unter ihr weg. Haltsuchend sank sie auf einen Stuhl.
Gabriel tätschelte ihr tröstend die Hand. "Weißt du nicht, dass Khalil Eden heiraten will? Das hat er mir schon vor Jahren gesagt."
"Und du meinst, das ist immer noch bindend? Da waren die beiden noch Kinder", erwiderte Rahel und wischte die Tränen aus ihrem Gesicht. "Wenn er weiß, dass Jaden und Eden miteinander zugange waren, wird er davon auch nichts mehr wissen wollen. Erst recht nicht mit einem Kind."
"Wir sollten uns daran gewöhnen, dass Eden demnächst erwachsen ist." Gabriel erhob sich und wandte sich in Richtung Tür. "Sie kommt besser mit ihrem Leben zurecht, als wir ihr zugetraut haben. Komm, wir gehen zu ihr und schauen, ob er schon gekommen ist."
Als sie nach unten gingen, kam ihnen Khalil auf der Treppe entgegen. "Was ist denn los?"", fragte er Gabriel. Eden stand hinter ihm, warf ihrem Vater strafende Blicke zu und legte den Finger auf ihren Mund. "Nicht viel", ergriff sie vorbeugend die Alternative. "Meine Eltern haben es nur nicht verkraftet, dass wir zusammen sind." Sie zupfte an Khalils Parka. "Du kannst wieder nach Hause gehen, ich will ins Bett." Eden schob sich an ihnen vorbei und verschwand in ihrem Zimmer.
Gabriel zuckte die Schultern. "Du hast sie gehört. Wenn du willst, kannst du aber auch bleiben und in Jadens Bett schlafen." Er ignorierte Rahels empörtes Schnappen und ging ins Wohnzimmer, um dort auf sie zu warten. "Du wirst dich an Khalil gewöhnen müssen", ging er in die Offensive, als Rahel ihm nachkam. "Ich hoffe nicht, dass Eden wirklich schwanger ist. Aber wenn, dann wäre es gut, den einzigen Menschen, der ihr gegenüber immer loyal war, auch weiterhin an ihrer Seite zu wissen. Deshalb, liebe Frau: Ich mag ihn." Gabriel stand mitten im Raum und hatte die Arme in die Hüfte gestemmt.
Rahel verschlug es die Sprache. Selten hatte sie so deutliche Worte von ihm gehört. Sie machte ein paar Schritte auf ihn zu, drehte sich und sah Khalil.
Er hatte alles gehört! Sie wurde rot. Widerwillig wich sie zur Seite, ließ ihn vorbei und warf Gabriel wütende Blicke zu. Sie prallten an seinem breiten Brustpanzer ab.
Krisenmanagement nachts um ein Uhr ...
Es bliebe ihm nichts Anderes übrig. "Am besten holst du Eden noch einmal herunter", schlug Gabriel vor und wandte sich dabei an Khalil. "Oder du klärst es selber mit ihr. Du weißt es ja nun, was sie befürchtet."
Khalil stürmte bereits die Treppe nach oben. Rahel setzte sich zu ihrem Mann auf die Couch und starrte stumm vor sich hin. Im Raum tickte die alte Standuhr ihres Vaters und machte die Stille noch ein bisschen lauter. Tick tick, tick tick! Die Zeit verging. Gern würde sie wissen wollen, wie Khalil damit umgehen würde, ob er alles wusste und wie er zu ihrer Tochter stand. Ihre Hände knetend lauschte sie in die Nacht. Als der Gong schlug, zuckte sie zusammen und warf einen Blick zu Gabriel. Sein Kopf war auf die Rückenlehne des Sofas gesunken, sein Mund stand offen. Die Augen waren gegen die Decke gerichtet. Rahel erschrak.
Seine Arme waren entspannt auf seiner Brust verschränkt. Erst dachte sie, er wäre nur eingeschlafen, doch die geöffneten Augen widersprachen der Theorie. Sein Teint schwankte zwischen rot und wachsweiß.
Sie schluckte und stupste ihren Mann zaghaft an. "Gabriel?", wisperte sie ängstlich. Rahel bekam keine Antwort.
~ Vaterfreuden? ~
Khalil forderte nicht erst Einlass in Edens Zimmer. Er riss die Tür auf und stürmte hindurch. Kurz vor ihrem Bett bremste er ab. "Stimmt es, was ich gehört habe? Bist du schwanger?", fragte er, bemüht, seine Erregung vor ihr zu verbergen. Sie riss die Augen auf.
"Konnten meine Eltern nicht dichthalten?", fragte Eden empört. "Und was, wenn es so wäre?"
Er ließ sich auf ihr Bett fallen und umschlang ihre Taille. "Ich würde mich freuen."
Eden stützte sich auf die Elle und blickte ihm ins Gesicht. "Und wenn du nicht der Vater bist?"
Khalil zuckte die Schultern. "Dann wäre es so."
Sie warf die Arme um seinen Hals. "Ich fasse es nicht." Eden drückte ihn vollends auf die Matratze und legte sich auf ihn. Mit ihren Lippen liebkoste sie seine Augen. Lachend wehrte er sich. "Du bist der großherzigste Mensch, den ich kenne", flüsterte Eden an seinem Mund und küsste ihn. Khalil schob sie von sich herunter und drehte sich auf die Seite. "Ich liebe dich viel zu sehr. Was auch immer passiert ist: Es ist Vergangenheit." Er umschlang ihre Taille, beugte sich über sie und grinste sie an: "Ich kann dir ja schnell ein Kind machen. Zur Sicherheit."
Eden lachte. "Das lassen wir lieber, jedenfalls jetzt. Meine Mutter bekommt sonst einen Anfall, wenn sie uns erwischt." Plötzlich starrte sie ihn fassungslos an. "Wie bist du an meinem Wachhund vorbei gekommen?"
Khalil kicherte. "Dein Vater hat mich geschickt. Er hat gesagt, ich dürfe in Jadens Zimmer schlafen."
"Oh oh. Da kriegt er bestimmt Ärger mit meiner Mutter." Plötzlich fiel Eden auf, wie still es war. "Khalil, sind meine Eltern schlafen gegangen?"
"Nicht dass ich wüsste. Sie saßen im Wohnzimmer und wollten warten." Er stand auf. "Ich gehe mal besser nach unten." An der Tür drehte er sich noch einmal um. "Willst du, dass ich bleibe, Eden?"
Sie nickte. "Du brauchst nicht in Jadens Bett zu schlafen. Meins ist breit genug." Gähnend kuschelte sie sich unter die Decke. Plötzlich hallte Rahels Schrei durchs ganze Haus. Eden sprang aus dem Bett und rannte hinter Khalil die Treppe hinab. Im Wohnzimmer angekommen, sah sie ihren Vater regungslos auf dem Sofa sitzen.
Ihre Mutter rüttelte ihn an der Schulter und schrie auf ihn ein. "Hör auf, Mom." Eden drängte sich an Khalil vorbei, schob Rahel beiseite und beugte sich über ihn. "Khalil, ruf einen Krankenwagen", befahl sie und begann, Gabriel zu beatmen. Nach zwei bis drei Atemzügen spürte sie wieder Leben in seinem Körper. Er hustete, schlug um sich und trat sie von sich weg. "Seid Ihr von allen guten Geistern verlassen?", schrie Gabriel, als er endgültig zu sich kam.
Rahel trommelte auf seine Brust ein. "Ich dachte, du seiest gestorben", keifte sie. Er griff nach ihren Händen und hielt sie fest. "Ich bin doch nur eingeschlafen."
Khalil stand im Türrahmen und beobachtete mit großen Augen den Tumult. Eden ließ sich in einen Sessel fallen und bog sich vor Lachen.
"Seit wann schläfst du mit offenen Augen?", schimpfte Rahel weiter auf Gabriel ein. "Du hast mir den größten Schock meines Lebens versetzt."
Aus der Ferne erklangen Sirenen. Der Krankenwagen war schon unterwegs.
Fünf Minuten später klingelte es an der Tür. Khalil machte auf und führte drei Sanitäter herein. Mit Ach und Krach klärte Eden die Situation.
Trotzdem bestand ein Sani darauf, Gabriel zu untersuchen. Im Crash-Verfahren dozierte er über Lagophtalmus, eine Krankheit, die es unmöglich macht, beim Schlafen die Augen zu schließen. Er empfahl Gabriel, dringend zum Arzt zu gehen. Nach einer Viertelstunde waren sie wieder weg.
***
Mittlerweile war es zwei Uhr. "Khalil bleibt heute Nacht hier", klärte Eden ihre Eltern auf und bereitete sich auf einen Kampf mit ihrer Mutter vor. "Und bevor Ihr fragt: Er weiß Bescheid." Sie sah ihn an. Er nickte bestätigend. "Es ändert sich nichts. Am Sonntag wollen wir uns verloben." Eden grinste. "Eigentlich sind wir es schon." Demonstrativ zeigte sie Khalils Ring, den er ihr vor der Abreise aus Washington ein zweites Mal übergeben hatte.
Rahel und Gabriel waren viel zu müde, um sich weiter Gedanken zu machen. "Ihr werdet schon wissen, was Ihr tut", seufzte sie resigniert. "Ich für meinen Teil gehe ins Bett." Rahel umarmte Eden. "Aber mach einen Test, damit du sicher bist." Gabriel klopfte Khalil burschikos auf die Schulter. "Willkommen in unserer Familie. Und jetzt ab in die Koje."
***
Am nächsten Tag befolgte Eden den Rat ihrer Mutter und radelte nach dem Unterricht zu einem Frauenarzt. Nach gefühlt zwei Stunden hatte sie Sicherheit: Es war blinder Alarm. Sie war erleichtert, denn sie hatte doch noch so viel vor. Der Gynäkologe riet ihr, in drei Wochen noch einmal zu kommen und verschrieb ihr die Pille.
Bis über beide Ohren grinsend kam Eden nach Hause. "Du wirst noch nicht Oma", begrüßte sie ihre Mutter noch vor der Tür, wo Rahel am Schneeschippen war. "Und du wirst es auch so schnell noch nicht sein."
Achtlos ließ sie ihr Fahrrad in einen Schneehaufen fallen und warf sich selbst hinterher. Kichernd malte Eden einen Schneeengel in das weiße Gold. "Du wirst doch ganz nass", schimpfte Rahel mit ihr. "Das wäre auch was: Du und ein Kind. Bist ja selbst noch nicht erwachsen."
Eden stand auf und wurde ernst. "Mir ist nicht zum Lachen, aber was hilft es?" Sie klopfte sich den Schnee aus der Kleidung und nahm ihrer Mutter die Schippe weg. "Du könntest auch mal langsamer treten." Mit zusammengepressten Zähnen fing Eden zu bahnen an. "Ich mache das fertig, Mom. Bleibst du bei mir oder gehst du lieber ins Warme?"
Rahel freute sich über das Angebot. Seit dem gestrigen Abend hatte sie das erste Mal das Gefühl, dass Eden sie liebte. Es gab eben doch Probleme, die nur Frauen untereinander zu lösen verstanden. Zärtlich lächelte sie ihre Tochter an. "Ich hole die zweite Schippe und helfe dir."
"Das musst du nicht, Mom. Vielleicht können wir einfach nur reden." Stürmisch schlitterte Eden über eine freigelegte Eisplatte. Sie lachte und drehte mit dem Stiel in der Hand Pirhouetten. Rahel hielt erschrocken die Luft an.
Eden steckte ihre Schippe in einen Haufen, rutschte zu ihr und griff nach ihren Händen. "Vor ein paar Jahren hast du noch mit mir getanzt, und jetzt hast du Angst um mich." Sie zog einen Kreis, so dass Rahel gezwungenermaßen mitschlittern musste. "Eden, ich bin eine alte Frau", stieß sie mit bebendem Atem aus, sträubte sich und setzte sich in den Schnee. Nachdenklich sah sie ihr hinterher. Ihr schien, als würde Eden alles daran setzen, um eine verlorene Kindheit wieder aufzuholen.
Wehmütig erinnerte sie sich an den kleinen Sonnenschein, der sie einst war. Mit fünf hatte sie ausgesehen wie eine Putte. Temperament hatte sie schon immer gehabt, und Khalil wollte Eden zur Frau. Rahel hatte Bedenken. Würde er diesem wilden Wesen wirklich gerecht?
Eden setzte sich neben sie. "An was denkst du, Mom?" Ihre grünen Katzenaugen blickten Rahel neugierig an. "An deine Zukunft", erwiderte sie. "Ich versuche, mir vorzustellen, wie eine Ehe mit Khalil aussehen wird."
"Ich sehe seinen Umgang mit seiner Mutter. Er lässt ihr Freiraum und ermutigt sie sogar, sich zu emanzipieren." Eden kicherte. "Ganz am Anfang hat er Samira einfach den Schleier geklaut, damit sie sich nicht mehr verstecken kann."
"Und was ist mit deinen Plänen? Du wolltest so vieles, wird er dich verstehen? Immerhin stammt er aus einer Kultur, in der Frauen nicht sehr viel gelten." Ungeachtet dessen, dass sie einen nassen Hintern bekam, lehnte sich Rahel auf dem Schneeblock zurück und schmiegte ihren Rücken an einen Baumstamm, als säße sie auf einer gemütlichen Bank. Ein Gefühl von Freiheit durchflutete sie.
"Khalil liebt mich", erwiderte Eden. "Mehr als das. Er hat mich respektiert." Sie kuschelte sich in Rahels Arme. "Ich möchte so glücklich wie du und Daddy sein, Mom. Bei ihm weiß ich, dass ich es werden kann, weil er mich versteht."
~ Illusionsschwund ~
Am Mittwoch wurde erfolgreich die Woche geteilt. Khalil kam von der Arbeit und ging gleich zu Eden. Erheitert ob des sich ihm bietenden Bildes der zwei Frauen im Schnee trat er auf sie zu, grub eine Mulde in den nächstbesten Haufen und steckte einen Strauß rote Rosen hinein.
Marvin hatte ihn dazu motiviert. Er hatte einen Abstecher in das Autopub von Cedar Village in Begleitung seiner Familie gemacht. Adeela bekam die Mutterschaft gut. Der siebenjährige Maurice gedieh prächtig, ähnelte sehr seinem Vater und eiferte ihm offenbar nach. Musketier-Mini, zumindest nach der Frisur.
Unwillkürlich malte sich Khalil seine eigene Zukunft aus. Minutenlang stand er da und musterte Eden, den Blick auf ihrem Bauch. Erst, als Rahel aufstand und ihn begrüßte, schreckte er auf. "Tut mir leid, ich habe geträumt", entschuldigte er sich für sein Versäumnis. Eden sah ihn an und schüttelte stumm mit dem Kopf. Sein Herz wurde schwer. Khalil hatte sich schon als glücklicher Vater gesehen, mit einem Söhnchen, das er mit auf die Arbeit nahm, das mit ihm zusammen an Oldtimern schraubte, mit dem er im Schnee tollen konnte, mit dem er abends bei Kerzenlicht saß. Er hätte ihm gewährt, was er nicht hatte.
Eden zog den Rosenstrauß aus dem Schnee. "Sind die für mich?", fragte sie Khalil und steckte ihre Nase mitten hinein. Mit geschlossenen Augen sog sie den Duft ein.
Er nickte und blickte sie flehend an. "Wirklich nicht?", fragte Khalil und legte ihr eine Hand auf den Bauch. Eden reichte Rahel die Blumen. "Sie frieren und wollen ins Warme, Mom. Bringst du sie rein? Ich mache den Hof fertig und komme dann auch."
Rahel begriff, dass Eden mit Khalil allein sein wollte. Sie wechselte ein paar unverbindliche Worte mit ihm und ging ins Haus. Melancholisch betrat sie die Küche und sah ihnen vom Fenster aus zu. Sie war froh, dass Gabriel noch nicht daheim war. Er hätte sofort gemerkt, was mit ihr los war.
***
Eden holte die zweite Schippe aus dem Geräteschuppen und reichte sie weiter an Khalil. "Du kannst mir ja helfen, solange ich dir alles erzähle." Sie warf einen Blick zum Haus, wo ihre Mutter am Fenster stand. Kaum merklich schüttelte sie mit dem Kopf und fing wieder mit Bahnen an.
Khalil orientierte sich an ihren Bewegungen sowie an ihrem Pfad und schob den Schieber neben ihr her. "Ein Kinderwagen wäre mir lieber", grinste er schief. Eden machte einen Schlenker und kippte einen Schwall Schnee vor seine Füße. "Du wirst dich gedulden müssen. Ich will nach Russland. Genau genommen zum Roten Platz. Natürlich nur mit dir!"
Khalil stolperte über das unverhofft aufgetauchte Hindernis und knallte hin, begleitet von Flüchen in seiner Muttersprache. Sein Schieber fiel auf ihn, der Stiel schlug ihm fast den Schädel ein. "Du bist ja mal wieder in Hochform", bemerkte er lapidar, als er wieder stand.
Eden lächelte süffisant. "Du kannst dich ja rächen, Schneemännchen", bot sie ihm an. "Du bist sowieso viel zu steif." Khalil schluckte und hoffte, dass Letzteres kein unsittlicher Antrag war. Er schubste sie in den Schnee.
Am Küchenfenster wich ein Schatten zurück in den Hintergrund. Dicke Flocken fielen ihm auf die Stirn, es fing wieder zu schneien an. Gabriel betrat soeben den Hof. Eigentlich hatte Khalil sich seinen Feierabend so nicht vorgestellt.
***
"Was willst du in Russland?", fragte Khalil Stunden später Eden im Bett. Es war nun schon das zweite Mal, dass er bei ihr übernachten durfte. Allmählich wurde er zu einem Part der Familie, was nicht einfach gewesen war. Vor Allem Rahel hatte ihm etliche Jahre zugesetzt.
Eden setzte sich auf, schmiegte sich in seine Arme und erzählte ihm von einem Kurs in der Schule, an dem sie teilnahm. Sie wirkte traurig. "Es brodelt überall in der Welt", orakelte sie. "Bald gibt es wieder Krieg, und Amerika wird dafür der Auslöser sein."
"Sagst du das?", fragte Khalil. "Ich bin erschüttert, mit welchem Stoff Ihr euch befasst. Das beantwortet meine Frage nicht."
Eden senkte den Kopf. "Es ist schwer, mit dir darüber zu reden. Du hast es selbst erlebt, und ich will nicht, dass du leidest." Um Fassung ringend, spielte sie mit ihren Fingern und wünschte sich, sie hätte ihre Harfe bei sich. Sie spielte eine zentrale Rolle bei ihrem Wunsch und war doch nicht genug. Ihr Traum ging sehr viel weiter. Würde Khalil ihn mit ihr teilen, wenn sie ihm davon erzählte? Bei Jaden hätte sie es gewusst. Wie sollte sie es ihm erklären?
Vor ihrem Inneren Auge erschien ein Flugzeug. Am Steuer saß ein junger Mann, und er war allein. "Es gibt nicht viele Menschen, die Träume leben und dafür etwas wagen, Khalil", fing sie an. "Die Meisten konzentrieren sich nur auf sich selbst und auf ihr eigenes Leben. Für mich ist das nichts."
~ Visionen ~
Eden kam nicht dazu, ihm noch mehr zu erklären. Ihre Seele gebar neue Bilder, die stärker waren als ihr Wille, sie zu ignorieren. Haltsuchend klammerte sie sich an Khalils Körper fest. Wie aus einer anderen Welt hörte sie seine Stimme, wusste, dass er sie etwas fragte, dass er sich sorgte, dass er spürte, wie sie ihm entglitt.
In Sekundenschnelle traf sie Vorbereitungen, um ihn mitzunehmen. Eden ließ sich in die Matratze sinken und zog ihn auf sich. Lallend vor Anstrengung erklärte sie Khalil, dass er keine Angst haben musste, dass er ihr vertrauen konnte und dass sie ihn beschützen würde.
Als er antworten wollte, legte sie einen Finger auf seinen Mund und hieß ihn, zu schweigen. Es war das Letzte, was sie noch tun konnte, bevor sie versank. Die Welt der Worte war ihr verschlossen. Mit beiden Händen an seiner Stirn teilte Eden ihm ihre Geschichte mit.
Sie befanden sich in einem Cockpit. Sie roch Benzin, hörte das Brummen einer Turbine, sah die Wolken weit unter sich. Khalil saß neben ihr. Gemeinsam steuerten sie durch eine "noch-nicht-geborene Zeit", eine Dimension der Vergangenheit. Weder Eden noch Khalil waren bereits auf der Welt. Ihr Ziel war der Rote Platz.
Die Bilder ihrer Vision waren verfremdet. Weder sah sie die Armaturen der Cessna noch deren Steuerung. Sie waren Zeugen. Eingriff auf das Geschehen hatten sie nicht. Die Zeitzone, die sie durchflogen, war ein Jahrzehnt, in dem Großes geschah. Edens Traumpilot hatte etwas gewagt!
~ Zeitgeschichte, 28. Mai 1987 ~
Am 28. Mai 1987 flog der 19-jährige westdeutsche Hobbypilot Mathias Rust ohne Vorankündigung über den „Eisernen Vorhang“. Er landete mit einer gecharterten Cessna 172P „Skyhawk II“ nahe des Roten Platzes in Moskau. Bis heute bleibt sein Überraschungscoup rätselhaft. Was wollte Rust mit dieser Tat bezwecken? Warum hielt ihn die sowjetische Luftverteidigung nicht auf? Im Westen entwickelte sich der Flug von Mathias Rust zu einem langlebigen Medienereignis. Ihm selbst brachte die Aktion 432 Tage Haft im Moskauer Lefortowo-Gefängnis ein. Der sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow nahm die Versäumnisse der eigenen Flugabwehr zum Anlass, einige seiner Kritiker im Militär abzusetzen.
Der Flug von Mathias Rust trieb damit nicht zuletzt Gorbatschows Politik der „Perestroika“ (Umgestaltung) in den sowjetischen Streitkräften voran. Trotz der tiefgreifenden innenpolitischen Folgen dieser Aktion liegt bis heute keine umfassende wissenschaftliche Studie darüber vor. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive trägt der Flug von Matthias Rust Züge einer Performanz der Selbstermächtigung.
Auszug aus: Zeitgeschichte online
18. August 2023, Autor: Stephan Horn
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Ein Palast wie aus Tausendundeiner Nacht lag unter ihnen. Er bestand aus mehreren Seitentürmen und einem Hauptturm. Auf dem Platz davor standen Menschen und sahen mit offenen Mündern zu ihnen auf. Das Flugzeug sank und kreiste mehrmals um sie herum. Manche rannten vor ihnen davon. Sie hörten Schreie.
Als der Motor zu stottern begann, startete Edens Traumpilot durch. Die Nase der Cessna hob sich steil nach oben. Ein strahlend blauer Himmel wölbte sich über ihnen. Schneeweiße Wölkchen wichen vor ihnen zurück.
Khalil hielt Edens Hand fest in der seinen. Da wusste sie, dass auch er alles sah. Sie ließen eine große Brücke und eine Kathedrale hinter sich. Das Flugzeug wurde schneller und stieg noch höher.
Die Bilder wechselten. Wieder durchflogen sie eine andere Zeit. Unter ihnen lag eine unendliche Weite mit blühenden Feldern. Goldgelber Weizen wogte auf hellblauem Grund. Sie waren nun in einem Land, das die Welt ernährt!
***
Ihre Rückkehr war sanft. Sie hörten Meeresrauschen, Wellen brandeten um sie herum. Das Brummen des Motors wurde leiser und leiser. Eden fühlte sich so geborgen wie nie. Als sie die Augen aufschlug, lag sie in Khalils Arm. Er war noch dort.
Sie stupste ihn an. Khalil räkelte sich. "Ich will noch nicht gehen", murmelte er. "Endlich Frieden." Seine Augäpfel rollten hinter den Lidern. "Wir müssen zurück", mahnte Eden ihn sanft. "Es ist eine andere Zeit, und diese Welt ist in Gefahr. Ich sah, was bald passiert." Khalil wehrte sich vehement gegen ihren Einfluss und flüchtete noch tiefer in Trance. Nachdenklich setzte Eden sich auf und musterte sein gelöstes Gesicht. Die Erkenntnis, dass er dieselbe Gabe besaß, traf sie wie ein Hammer. Deshalb fand er sie überall!
Sie wusste jedoch auch um die Gefahr ihrer Magie ohne Lernen. Deshalb verschmolz sie erneut mit der Matratze, bevor sie ihn verlor.
Prustend tauchte sie neben ihm auf und griff nach seiner Hand. Gerade noch rechtzeitig zog sie ihn empor. Hätte sie nur eine Sekunde länger gezögert, wäre Khalil ertrunken.
***
"War das die Reise, die dir vorgeschwebt hat?", fragte Khalil, als er wieder bei Sinnen war. Eden verneinte. "Ich wollte dir nur zeigen, warum ich noch nicht bereit für ein Kind bin. Wir haben eine Mission. Unsere erste gemeinsame Session spielt eine wichtige Rolle. Und ...", sie kuschelte sich in seine Arme, "hast du gesehen? Du hast die Gabe."
"Ich weiß." Seine Hand tastete nach ihrem Busen. "Sonst hätte ich dich nie gefunden." Khalil gähnte. "Wollen wir deine Mutter noch ein bisschen ärgern oder schlafen wir gleich?" Er rollte sich auf die Seite und drückte Eden noch fester an sich. Sie kicherte. "Ich kann auch leise sein." Mit diesen Worten begann die zweite Reise der Nacht.
Die restlichen Tage bis zur offiziellen Verlobung bestanden aus gemeinsamem Lernen und vielen Gesprächen in dieser Art. Jeden Abend nach der Arbeit kam Khalil zu ihr und blieb. Sie sprachen oft über Weltpolitik und Historie. Manchmal klimperte Eden auf ihrer Harfe und erzählte ihm von ihrem Lebenstraum. "Ich werde sparen", sagte Eden. "Ich habe dir vor Jahren die Geschichte von Theresa, Marvin und Alina erzählt. Sie war eine große Künstlerin. Für sie wurde gespendet, um ihr auf ihre letzten Tage noch einen Wunsch zu erfüllen. Eine solch edle Konzertharfe möchte ich auch." Khalil und Eden recherchierten Stunden im Internet, was es alles gab. Ihre Traumharfe war nicht dabei, wohl aber gesalzene Preise. Sie fanden einen Harfenhersteller in Deutschland. "200.000 Dollar!", blieb ihnen die Luft weg. Khalil hakte nach, was genau sie damit wollte und warum sie so teuer sein muss. Sie konnte es ihm nicht erklären.
***
Am Samstag wartete Eden vergeblich auf ihren Liebsten. Eigentlich hatten sie vorgehabt, den Nachmittag im Wald zu verbringen und einen Schneemann zu bauen, wenn es die weiße Pracht schon einmal gab.
Cedar Rapids in Oklahoma war in dieser Hinsicht nicht gerade gesegnet. Der Ort lag zu tief. Wer rodeln oder Schifahren wollte, musste ins Reservat. Umso größer war bei Schneefans die Freude, wenn es mal anders war.
Edens Wüstensohn machte sich gleich nach dem Frühstück vom Acker. "Ich muss nochmal ins Geschäft", erklärte Khalil und gab ihr vor den Augen ihrer Eltern einen innigen Kuss. Rahel errötete für ihre Tochter, doch wohl eher vor Zorn. Ihre Mimik sprach Bände.
Unterm Tisch trat Gabriel ihr verstohlen vors Schienbein. Strafend sah Rahel ihn an. Eden grinste, stand auf und begleitete Khalil bis in den Hof. "Du lässt mich hoffentlich nicht zu lange warten", mahnte sie ihn. "Du hast gesagt, ich soll deine Schneekönigin sein. Ich bin gespannt, was du vorhast."
Am Gartentor umarmte er sie und schaute Eden tief in die Augen. "Bis zum Lunch bin ich wieder da. Ich muss noch einige Angelegenheiten mit Marvin klären und meinem Mechaniker auf die Finger klopfen. Es gab Kundenbeschwerden, das kann ich nicht dulden."
"Oh holla, bin ich froh, dass ich nicht unter dir arbeiten muss." Eden lachte. "Na, dann verschwinde schon und mach deinen Job." Khalil winkte und stieg in sein Auto. Er legte einen Kavaliersstart hin und warf ihr noch einen Haufen Schnee vor die Füße.
Kopfschüttelnd sah sie ihm nach, verblüfft darüber, dass er so eine Show für sie abzog. Für einen Moment glitten Edens Gedanken zu Jaden und die Tage in Washington. 'Hoffentlich denkt Khalil nicht, dass er gegen dich konkurrieren muss', sandte sie Grüße an ihn. 'Was hast du uns angetan ...'
***
Später saß Eden mit ihren Eltern beim Mittagessen, doch Khalil glänzte mit Abwesenheit. Sie war es nicht gewohnt, dass er seine Versprechen brach. Alle fünf Minuten sah sie auf die Uhr, nahm abgelenkt an der Konversation am Tisch teil und stocherte missgelaunt in ihrem Teller herum.
Die nächsten Stunden ging sie wie gewohnt ihrer Mutter im Haushalt zur Hand. Es wurde zwei Uhr, drei Uhr, vier Uhr am Nachmittag, es wurde dunkel. Eden war sich fast sicher, dass etwas passiert sei. Auf seinem Handy ging nur die Mailbox dran, und auch Samira schien nicht zu wissen, wo er sich befand. Im Autopub war er nicht, weder als sie dort anrief noch war er dort erschienen. Marvin wollte ebenso wenig von einer Verabredung wissen. Konsterniert kam Eden zu dem Schluss: "Khalil hat mich tatsächlich angelogen." Noch verwunderter war sie über das Grinsen auf Marvins Gesicht, der vergessen zu haben schien, dass sie sehlefonierten. Hoch lebe Skype!
"Habt Ihr beiden schon wieder Geheimnisse vor mir?", bohrte Eden nach und konnte ihren Ärger kaum noch verbergen. "Ich sehe dich, Bursche."
Marvin gab sich erheitert, weil sie ihn "Bursche" nannte. "Warte einfach ab. Ich soll dir ausrichten, ihm sei nichts passiert. Khalil wird sich bald bei dir melden."
Im Hintergrund hörte sie ein männliches Lachen. "Er ist doch noch bei dir", hakte Eden misstrauisch nach. Marvin verneinte. "Das war nur Maurice."
"Dein Sohnemann ist aber schon beizeiten im Stimmbruch", erwiderte Eden, sah ein, dass nichts zu machen war und legte auf. 'Khalil kann was erleben!', nahm sie sich vor.
***
In den frühen Abendstunden fiel Eden das erste Mal bewusst auf, dass es auf der ansonsten ruhigen Zufahrtsstraße zum Haus ungewohnt geschäftig zuging. Den ganzen Tag schon fuhren Lastwagen vorbei und verschwanden seltsamerweise immer in dieselbe Richtung.
Eine Firmenzugehörigkeit war mangels Schriftzug nicht zu erkennen, nur eines: Alle sahen gleich aus.
Eden löcherte vergeblich ihre Eltern, ob sie wüssten, was da in der Nachbarschaft los sei, ob jemand zuziehen würde oder ob irgendwo eine Baustelle sei ...
Gegen acht Uhr abends brummte wieder einer heran. Eden warf ihr Geschirrtuch beiseite, hastete durch Küche und Flur, riss die Eingangstür auf und stürzte hinaus in den Hof. Mit Schwung schlitterte sie bis zum Gartentor und wartete, bis der Brummi herankam. Sie wollte wissen, wohin er verschwand. Der LKW fuhr vorbei, sie starrte ihm hinterher, machte ein paar Schritte nach rechts auf dem Gehsteig, sah die Biegung der Straße, lauerte auf ein Blinken als Richtungsanzeige ...
Ihr Handy klingelte. Eden zog es aus ihrer Hosentasche und nahm das Gespräch an. "Geh ins Haus!", hörte sie die resolute Stimme von Khalil. "Und dann warte, schau nicht mehr zum Fenster hinaus und setz dich irgendwo hin, bis du irgendetwas anderes hörst. Und, Eden, das ist keine Bitte!"
***
'Was bildet der Kerl sich eigentlich ein?' Zornig stampfte sie auf. Mit zusammengekniffenen Augen starrte Eden dem schwarzen Truck hinterher. Woher wusste Khalil überhaupt, was sie tat? Saß er womöglich am Steuer?
Sie hatte verpasst, wohin der LKW abbog. Ihr Handy lag wie angewachsen - aber vergessen - in ihrer Hand. "Eden, bitte geh ins Haus." Khalils Stimme klang verdächtig nah. "Ich will nicht, dass dir was passiert. Das war Militär." Seinen Tonfall hatte er auf Bitten verlegt.
"Wo bist du?", schrie sie. "Wenn du jetzt auch so ein Mistkerl wie Jaden sein willst, dann mach ruhig so weiter." Plötzlich fiel ihr wieder ein, dass er am Handy war. Sie rief eine App auf und versuchte, Khalil zu orten, doch er hatte seine Nummer geschützt. Sie hatte kein Bild, ihr Smartphone verweigerte ihr ganz offensichtlich den Dienst. Auf dem Bildschirm rieselte Schnee.
Verwirrt hielt Eden es vor ihren Mund und versuchte, noch einmal mit Khalil zu sprechen, doch er hatte schon aufgelegt. Von der Haustür her rief ihre Mutter nach ihr. "Da ist jemand für dich am Telefon. Du musst sofort kommen." Unwillig drehte Eden sich um und starrte zu ihr hinüber. Ein Hase hoppelte ihr vor die Füße. Sie wich ihm aus. "Ist es Khalil?", rief sie kratzbürstig.
"Nein, es ist ein Anruf aus New York." Rahel sah ihre Tochter einen Moment an, schüttelte den Kopf und ging ins Haus. Eden gab die Brummijagd auf und folgte ihr. Rahel wartete an der Wohnzimmertür, griff nach Edens Arm und schob sie hinein. "Was ist los, Mom? Was hat das zu bedeuten?" Gabriel hielt ihr den Hörer hin. Ein verschmitztes Lächeln lag auf seinem Gesicht. Es hatte den Anschein, als würde er gleich vor Stolz platzen. Eden nahm das Gespräch an. Als sie hörte, was auf sie zukam, bekam sie weiche Knie.
***
Fünfzehn Minuten später fand in der Küche wieder einmal eine Familienkonferenz statt. Eden schaukelte fassungslos mit ihrem Stuhl. "Habt Ihr das eingefädelt?", fragte sie mit großen Augen. Rahel behagte der Gedanke gar nicht, ihre Tochter irgendwann ziehen lassen zu müssen. "Ich jedenfalls nicht", schüttelte sie ihren Kopf. Sie sah ihren Mann fragend an. "Und du? Hast du was gewusst?"
Gabriel nippte an seinem Wein. "Es überrascht mich nicht. Der Maestro hat Eden nie aus den Augen verloren und war letztes Jahr sogar bei einem Auftritt von ihr dabei. Wahrscheinlich hat Marvin seine Finger im Spiel."
Rahel sah Eden an. "Willst du das überhaupt? Ich dachte, du willst in die Diplomatie." Eden stellte ihren Stuhl wieder fest auf den Boden. "Ich weiß es nicht, Mom. Ich wäre aber verrückt, mir eine solche Chance entgehen zu lassen. Von einem Stipendium in New York träumen viele."
"Und was ist mit Khalil? Was wird er dazu sagen?" Rahel suchte krampfhaft nach Argumenten, die verhindern könnten, dass Eden ging. Geistesabwesend knabberte sie an einem Cookie, die Augen auf die geschlossenen Vorhänge gerichtet. Das erste Mal wünschte sie sich, dass er da sei. "Ihr wollt doch heiraten", murmelte sie voller Hoffnung.
"Khalil!", stieß Eden aus. "Kriegt Ihr gar nichts mit? Irgendetwas ist in Cedar Rapids im Gange, und es hat was mit ihm zu tun." Erbittert umklammerte sie den Stiel ihres Weinkelchs. Gabriel griff ein und nahm ihr das Glas aus der Hand, bevor es zerbrach. "Was meinst du?", fragte er harmlos. Eden sah ihn prüfend an. Seine graugrünen Augen linsten tückisch unter seinem Pony hervor.
"Du weißt doch was!", warf sie ihrem Vater entgegen. "Khalil wollte mir weismachen, dass Militär einmarschiert. Seit wann ist unsere Stadt Manövergebiet?" Sie lauschte. "Hörst du das? Schon wieder! Das sind doch keine Soldaten."
***
Eden sprang auf und wollte zum Fenster, doch Gabriel hielt ihren Arm fest. "Wenn er das sagt, wird es schon stimmen." Rahel starrte angelegentlich auf das Tischtuch und zählte Veilchen.
"Du auch, Mom?" Eden war von den Socken. Ein klitzekleines Lächeln stahl sich auf Rahels Gesicht. Schnell senkte sie ihren Kopf, um es zu verbergen. Ein Kribbeln hinter der Stirn machte ihr bewusst, dass ihre Tochter sich nicht so einfach abspeisen ließ. "Eden, lass das! Meine Gedanken gehören ganz allein mir", wehrte sie sich.
"Dann sag mir einfach, was hier eigentlich los ist. Khalil versetzt mich, Ihr tut geheimnisvoll, und Marvin war auch so komisch, als ich ihn anrief." Eden befreite sich aus dem festen Griff ihres Vaters. "Warum darf ich nicht gucken, was da draußen passiert?" Als es klingelte, war sie nicht mehr zu halten. Sie rannte hinaus und riss die Eingangstür auf. Die Stadt lag im Dunkeln, nur zwei Laternen brannten im Hof. Vor ihren Füßen lag ein großes Paket. Beinahe wäre sie darüber gestolpert. Überrascht hielt sie die Luft an.
Vorsichtig tastete Eden sich auf den vereisten Stufen daran vorbei und spähte ums Eck. Weit und breit war niemand zu sehen. Wer hatte es abgelegt?
Schneeflocken wirbelten ihr um die Nase und glitzerten silbern im Mondlicht. Von weit her erklang Musik. Sie lauschte verzückt und versuchte, die Quelle zu orten. Vergeblich. Es war zu dunkel. Als Eden den Ruf ihres Vaters hörte, erinnerte sie sich an das Paket. Sie drehte sich um, nahm es an sich und ging ins Haus zurück. ... Es war für sie!
***
Eden hatte das Paket gerade auf dem Wohnzimmertisch abgelegt, als Khalil sie anrief. "Deine Neugier wird bald befriedigt", sprach er am Handy. "Ich möchte, dass du das trägst, was ich dir schicken ließ. Dich erwartet eine besondere Nacht." Er lächelte geheimnisvoll auf ihrem Bildschirm und sah ganz anders aus, wie sie ihn kannte.
"Sehe ich aus wie eine Anziehpuppe?", warf sie ihm schnippisch entgegen.
Er lachte. "Nein, du Diva. Du wirst doch bestimmt nicht frieren wollen. Ich warte auf dich am Baumhaus." Eden stellte ihr Smartphone hochkant in eine Halterung und suchte nach einer Schere. "Bleib aber dran, damit ich dich anmaulen kann, wenn mir dein Geschenk nicht gefällt." Sie schnitt die Klebestreifen durch. "Merk dir auch gleich mal eines: Befehlston kannst du dir abgewöhnen. Beim nächsten 'Ich möchte' kannst du dir eine andere suchen, an der du deine Macho-Allüren austoben kannst."
Ihre Eltern standen neugierig in der Wohnzimmertür. Gabriel grinste. "Was denn?", schnauzte Eden ihn an. "Ich lasse mich von niemandem gängeln." Sie klappte den Karton auf und hielt die Luft an. Ihr Blick glitt zu ihrem Handy. "Khalil, du bist ja verrückt!", stieß sie aus.
Eden wühlte herum und brachte den Inhalt zutage: Ein zweiteiliger Hosenanzug, ein kuscheliger Abendmantel mit Kapuze und schicke Stiefel. Khalil verschwand. Ratlos fragte sie ihre Mutter: "Was habt Ihr mit mir vor?"
Rahel hob beschwichtigend die Hände und trat neben sie. "Ich habe damit gar nichts zu tun. Dein Vater auch nicht. Das ist ganz allein eure Angelegenheit." Bewundernd tastete sie den weichen Samt des dunklen Anzugs ab. "So würde ich auch gern mal verwöhnt", entfuhr es ihr.
Gabriel verzog schmerzhaft das Gesicht. "Du musst es nur sagen, Rahel. Mangels Gelegenheit haben wir Schickimicki-Kleidung noch nie gebraucht." Er ließ sich in seinen Sessel fallen und sah den beiden Frauen beim Stöbern zu. "Eden, solltest du dich nicht langsam sputen? Lass mal sehen, wie das an dir aussieht."
"Na schön!" Eden raffte die edlen Klamotten an sich und verschwand in ihr Zimmer. Ihr Fenster stand offen. Die Melodie, die ihr schon vorher aufgefallen war, drang nun lauter zu ihr herein. Neugierig schaute sie hinaus. Vom Himmel rieselten bunte Lichtkaskaden wie ein Wasserfall, fast als schiene eine nächtliche Sonne von unten nach oben. Schneeflocken glitzerten und tanzten, als wären es winzige Feen. Im Garten herrschte reges Leben. Waldtiere sammelten sich zu ihrem Empfang wie an jenem Tag, als sie Jaden fand. Mit offenem Mund stand Eden am Fenster und staunte. Was hatte Khalil für sie arrangiert?
Fünfzehn Minuten später standen Gabriel und Rahel unten an der Treppe Spalier und warteten darauf, dass ihre Tochter erschien. Als es endlich geschah, blieb beiden fast die Luft weg. Ein nachtblauer, wadenlanger Mohairmantel schwang um Edens Körper wie eine Glocke.
Ihre Haare fielen wie flüssiges Kupfer unter der Kapuze heraus und ringelten sich auf ihrer Brust. Sie trug halbhohe, cremefarbene Stiefel zu einem schwarzen Samtanzug mit weiten Hosen. Alles an ihr wirkte teuer und exklusiv.
"Das bin nicht ich", murmelte Eden, als sie bei ihren Eltern angelangt war. Tröstend legte Gabriel ihr die Hand auf den Arm. "Wenn du in die große weite Welt hinaus willst, musst du dich daran gewöhnen. Ich weiß nicht, was Khalil mit dir vorhat, aber ich glaube, dir steht Großes bevor."
Rahel begleitete Eden zur Tür. "Wenn er nicht gut zu dir ist oder dich zu irgendetwas zwingt, kriegt er es mit mir zu tun", sprach sie mit Grabesstimme. Sie blickte über die Schulter nach ihrem Mann, wohlwissend, wie er dazu stand. "Und nun geh und hab Spaß."
"Ach Mom, ich lasse mich doch zu nichts zwingen. Mach dir keine Sorgen." Eden trat ins Freie und ließ sich für einen Moment Schnee um die Nase wehen. Sie raffte ihren Mantel. Der Weg zum Wald wurde von Fackeln beleuchtet. Wie hatte Khalil das alles hinter ihrem Rücken geschafft?
Eine Zieselherde spielte im Garten und forderte sie mit Pfiffen zum Mitkommen auf. Grauhörnchen und Hasen gesellten sich ihnen zu. Eden folgte ihnen. Es war so lange her. "Vielleicht ist ja Jaden da", flüsterte sie mit klopfendem Herzen. "Khalil hat mir versprochen, nach ihm zu suchen ..." Sie rannte und rutschte den hell beleuchteten Waldweg entlang. Zwei Mal stolperte sie, rappelte sich wieder auf und hastete weiter, begleitet von Orchestermusik und bunten, sich ständig wandelnden Himmelslichtern.
Als Eden beim Baumhaus ankam, war ihr Mantel voll Schnee. Khalil kam ihr entgegen. "Schneekönigin", grinste er schief. "Ich habe es dir doch gesagt."
Ihre tierischen Begleiter schlugen sich in die Büsche und ließen sie mit ihm allein. Eden fühlte sich seltsam beklommen. Khalil wirkte so ... anders. Er trug einen Anzug mit Smoking und Fliege. "Ist dir nicht kalt?", fragte sie mit ganz kleiner Stimme und blickte verlegen auf ihre Schuhe.
"Jetzt nicht mehr", antwortete er, hob ihr Kinn an und gab ihr einen Kuss. Zitternd schmiegte sie sich in seine Arme. "Die ganzen Lastwagen heute, gehörten die alle zu dir?", fragte Eden. "Ich hatte Angst."
"Das kann ich nicht glauben", erwiderte Khalil. Er führte Eden ein Stück zur Seite und wies in den Himmel. Sie schaute hinauf. Durch eine Luke im Blätterdach bildete sich die amerikanische Flagge als Lichtspiel. "Ein kleiner Vorgeschmack, was dich erwartet", fuhr er fort. "Was du heute erleben wirst, wird unsere gemeinsame Zukunft sein."
Schneekristalle glitzerten in seinen Haaren. Eine vorwitzige Locke fiel ihm in die Stirn. Eden sah zu ihm auf und wunderte sich über das Kribbeln in ihrem Bauch. War es Vorfreude? Galt es ihm? Khalil war plötzlich so stark, fast schon draufgängerisch. "Woher kommt die Musik?", fragte sie und drehte sich spähend im Kreis. "Das klingt, als wäre irgendwo ein Konzert." Eden zeigte in den Himmel hinauf. "Ist ein Fest, von dem ich nichts weiß?" Über ihnen zeigte sich eine gelbblaue Flagge. "Wie hast du nur erraten, was mir gefällt?" Sie wiegte sich im Walzertakt auf goldene Lichtstrahlen zwischen den Bäumen zu.
Khalil beobachtete sie lächelnd. "Ich habe mich in deine Träume gehackt." Er folgte ihr, griff nach ihrer Hand und legte sie sich in die Elle. Wie bei einer Gala führte er sie zwischen zwei Felsen hindurch und zeigte Eden ihren Palast.
***
Die Sehnsucht nach Jaden war schnell vergessen. Mitten im Wald fand sie ein Eisparadies. In den Bäumen waren goldene Strahler versteckt und erhellten die nächtliche Lichtung. Vor ihr stand eine runde Tafel mit köstlichen Speisen, Getränken und Skulpturen in verschiedenen Größen. Kerzen brannten in Leuchtern aus Eis.
Dahinter ragte ein baumhoher Nachbau des Kapitols auf. An der linken und rechten Flanke standen zwei ebenso riesige, baugleiche Harfen. Sie waren spiegelverkehrt einander gegenüber gesetzt, so dass sie wie Flügel wirkten.
Der Wald glitzerte und funkelte in sämtlichen Farben. Khalil ließ Eden los. Staunend drehte sie sich im Kreis, kaum konnte sie alles erfassen. Hologramme simulierten ein Kabinett. "So etwas habe ich noch nie im Leben gesehen." Begeistert klatschte sie in die Hände. Ehrfürchtig flanierte Eden an der Tafel vorbei und tastete eine der Harfen ab. "Sie sind aus Eis?", fragte sie.
Khalil war ihr gefolgt. Er nickte. "Alles, was du hier siehst, ist ein Symbol. Es steht für das, was du willst, aber auch für das, was ich selbst will. Wir wollen beide das Gleiche: Weltfrieden. Gemeinsam werden wir dafür kämpfen."
Er führte Eden ein Stück zur Seite. Sie hatte nun freie Sicht auf den Himmel. Sämtliche Flaggen der Welt erschienen im Wechselspiel. "Wenn ich könnte, würde ich dir das Universum zu Füßen legen", raunte er ihr ins Ohr. "Das kann ich nicht, doch ich will immer an deiner Seite sein."
Ihre Schritte knirschten im Schnee. Die Orchestermusik war nun leiser geworden, die Quelle war nicht zu orten. Khalil hatte an alles gedacht. Kaum etwas deutete auf die ausgefeilten Techniken und an den Aufwand hin, den es gebraucht hatte, um diese magische Welt zu erschaffen. Eden schmiegte sich mit dem Rücken an einen Baumstamm, zog ihn an sich und schlang die Arme um seinen Hals. "Du bist immer für eine Überraschung gut." Ihr Blick glitt zu den zwei Harfen. "Ich wünschte, ich könnte auf ihnen spielen."
"Wer sagt, dass du das nicht kannst?", erwiderte Khalil, nahm Eden bei der Hand und führte sie hin. "Das gibt es doch nicht!", rief sie. "Sind das echte Saiten?"
"Für diese Nacht ist alles echt. Horch!" Zarte Harfenklänge vermählten sich mit dem Gesang des Windes und der Musik von Ravel. Eden war nicht mehr zu halten. Sie riss sich von Khalil los und ließ ihre Finger begeistert über die im Licht funkelnden Saiten gleiten. Probeweise zupfte sie ein paar Akkorde. "Es funktioniert!", jubelte sie.
Voller Übermut simulierte Eden mit beiden Händen ein Glockenspiel. Ihre smaragdgrünen Augen strahlten mit den Sternen über ihr um die Wette. Die Kapuze ihres Mantels fiel in ihren Nacken. Ungebändigt ringelten sich ihre roten Haare fast bis zur Taille.
Khalil konnte den Blick kaum von ihr lösen und hätte sich ihr gern genähert. Ihre Ekstase hielt ihn davon ab. Eden spielte im Stehen und hatte sich in die ihr zugewandte Biegung der Harfe gelehnt. Ihre Bewegungen wirkten fast schon lasziv. Mit geschlossenen Augen wandte sie ihr Gesicht hinauf zum Firmament. Sie intonierte ein uraltes Friedenslied. Tränen rannen über ihre Wangen.
Khalil erschrak. Ihr plötzlicher Stimmungsumschwung machte ihm Angst. Er fragte sich, was sie vor sich sah. Er holte einen der Hocker vom Tisch. Leise trat er hinter sie und stellte ihn hin. Er legte die Hand auf ihre Schulter und signalisierte ihr, dass er für sie da sei.
Eden setzte sich und schmiegte ihr Gesicht an seinen Bauch. Die Töne der Harfe verstummten. Sie atmete schwer. "Du hast meine letzten Visonen mit mir geteilt", erklärte sie ihm. "In dem Land, in dem wir waren, wird bald etwas geschehen. Khalil, dort waren so viele Armeen und Panzer. Noch weiß ich nicht, wo es ist."
Geistesabwesend spielte er mit ihren Locken. "Ich sah zwei Länder. Beide sprachen dieselbe Sprache. Ich glaube, wir waren als Erstes in Moskau." Eden blickte fasziniert zu ihm auf. Khalil fuhr fort: "Von dem anderen Land habe ich die Flagge gesehen. Es ist ein fruchtbares Land, doch diese Fruchtbarkeit wird den Bewohnern geneidet. Als wir dort waren, war Frieden. Ich wäre so gern geblieben."
***
Für weitere Erkenntnisse blieb keine Zeit. Zwischen den Bäumen kamen geladene Gäste hervor. Überrumpelt sprang Eden auf. "Ich dachte, wir würden allein sein."
"Was wir zu besprechen haben, verdient einen gebührenden Rahmen", erwiderte Khalil. Er wies auf den festlich gedeckten Tisch, der wie fast alles aus Kunsteis war. "Das wäre ein bisschen zuviel für uns zwei." Marvin warf einen Schneeball und trieb sie auseinander. "Wir haben Hunger, Ihr Turteltäubchen", rief er von Weitem. Arm in Arm schlenderten er und Adeela auf Khalil und Eden zu. Vereinzelte Schneeflocken tanzten langsam und leicht um sie herum. Sie hatten Nokomis im Schlepptau.
Eden war überrascht, die Stammesälteste der Algonkin im Flachland zu sehen. Ihres Wissens verließ die Große Mutter des Himmels das Reservat nie. Tat sie es doch, hatte Nokomis wahrscheinlich triftige Gründe.
Hilfesuchend tastete sie nach Khalils Hand. Er drückte sie stumm und wandte sich den Neuankömmlingen zu. "Ihr habt es also geschafft, Nokomis zu überreden. Schade, dass ich Edens Wunsch nach Jadens Anwesenheit nicht so einfach erfüllen kann."
Nokomis trat vor. "Es ist niemandes Verdienst, dass ich hier bin. Ich vertrete Wabun Anung." Ihr braungebranntes Gesicht war von Furchen des Alters und des Kummers gezeichnet. Sie trug Stammestracht. Gegen die Kälte war Nokomis durch einen handgemachten Poncho aus Wolfsfell geschützt. Er reichte ihr bis zur Taille.
Dass sie Jadens Stammesnamen erwähnte, erschütterte Eden zutiefst. Nokomis' Auftritt machte ihr Angst. Sie wich vor ihr zurück und versteckte sich hinter Khalil. Die dunklen Augen der Weisen folgten ihr und bannten sie an Ort und Stelle. Eine stumme Frage brannte sich in Edens Geist: "Shawnee, hast du Wabun Anung jemals geliebt?"
Auf ihren Schultern spürte sie zwei schützende Hände und Wärme im Rücken. Sie sah nach hinten. Ihr Vater stand hoch aufgerichtet hinter ihr und lieferte sich mit Nokomis ein Blickduell. Ihre Mutter verstärkte den Schutz. Dankbar lehnte sich Eden zurück in die Geborgenheit ihrer Familie. Gemeinsam mit Khalil bildeten sie einen Kreis. Edens Glücksgefühl des Tages verschwand in der Dunkelheit. Das Eis der geschaffenen Kunstwelt ließ ihr Herz frieren, obwohl es vorher noch voller Wärme gewesen war.
Gebieterisch hob Nokomis den linken Arm. Die Musik, die das Ambiente erfüllte, verstummte abrupt. "Du fürchtest dich?", fragte sie laut und blickte Eden streng an. "Bei eurer Stammesaufnahme warst du meine Gehilfin, und nun hast du vor mir Angst? Was ist aus dir geworden?"
Die Kraft des Zorns durchfuhr Eden wie Strom. Sie befreite sich aus dem schützenden Bann der Familie. Eine zarte Hand versuchte, sie aufzuhalten. Es war Samira. "Die alte Frau trauert genauso wie du. Sei geduldig und hab Verständnis", riet Khalils Mutter.
Eden fuhr zu ihr herum. "Sie trat mir feindselig entgegen, nicht ich ihr. Ich möchte ihr nur zeigen, dass ich nichts fürchte." Sie zwängte sich zwischen Marvin und Adeela hindurch und baute sich hoheitsvoll vor Nokomis auf. "Ich hätte mich über dein Kommen gefreut", sagte sie, "aber nicht so. Wenn du Jaden vertrittst, dann verrate mir, wo er ist."
"Wenn du das nicht weißt, wer weiß es dann?", fragte Nokomis. "Ich erfülle nur seinen Wunsch, den er mir mitteilte, als die letzten Blüten seines Lebensbaums trieben." Sie umklammerte Edens Handgelenk und zog sie fort. "Ich habe euch etwas mitgebracht."
Widerwillig ließ Eden sich führen. Als Khalil folgen wollte, hielt sie ihn ab. "Lass gut sein, kümmere dich um deine Gäste. Ich glaube, das ist eine Sache zwischen Nokomis und mir." Er blieb stehen. "Wenn Ihr euch einig seid, kommt an den Tisch. Wir warten auf euch." Versöhnlich blickte er die alte Frau an. "Komm nicht im Zorn. Jaden war auch unser Freund, wir alle vermissen ihn. Setz dich zu uns und genieße die Nacht. Eden und ich planen unsere Zukunft und wollen das feiern."
"Ich habe gewusst, dass Ihr zusammenkommt", antwortete Nokomis. "Ich hätte mir nur gewünscht, dass Wabun Anung weisere Entscheidungen getroffen hätte. Dann wäre ich heute nicht hier."
"Ich glaube, dass der Schein trügt", erwiderte Khalil. "Edens Frage nach Jadens Aufenthaltsort war durchaus berechtigt. Nokomis, wenn du mehr darüber weißt, wäre es nur recht und billig, nicht mit uns zu spielen." Er ging zurück.
***
Nokomis führte Eden zum Baumhaus. "Das war euer gemeinsamer Lieblingsort", sagte sie und wies hinauf. "Der Wald war Jaden genauso wichtig wie dir." Offenbar kam sie in der normalen Welt an. Eden verlor ihre Beklemmung. Sie umarmte die alte Frau. "Wie sehr habe ich dich vermisst", wisperte sie. "Du gabst mir den Namen 'Shawnee", doch ich fürchte, ich werde dem nicht gerecht."
"Doch, das wirst du." Nokomis löste sich aus der Umarmung und kniete sich in den Schnee. Mit bloßen Händen begann sie, zu graben. Als sie damit fertig war, brachte sie ein Etui aus brüchigem Leder hervor. Sie stand auf und reichte es weiter. "Jaden hat dir und deinen Freunden etwas vermacht. Ihr werdet eine gemeinsame Aufgabe haben."
Neugierig nahm Eden das Täschchen entgegen. Eifrig nestelte sie an den vielzähligen Schnüren. "Hat Jaden das selbst gemacht?", fragte sie.
"Dazu war er nicht mehr in der Lage", erwiderte die Stammesälteste der Algonkin. "Ich kannte jedoch seine Wünsche. Er vertraute sie mir an, als er das letzte Mal bei uns war." Nokomis blickte traurig zu Boden. "Ich wünschte, ich wäre nicht seine Botin."
Eden zog die letzte Verschnürung auf und entnahm dem Etui ein Pergament. "Er hat also so weiter gemacht", zog sie ihr Fazit. "Wenn ich nur wüsste, was er damit bezweckte." Sie setzte sich auf einen Baumstumpf und las. Nokomis schaute ihr über die Schulter.
Als Eden fertig war, blickte sie fragend in ihr faltiges Antlitz. "Wir sollen ein Kanu bauen? Verstehe ich das richtig? Zu welchem Zweck? Wer von uns würde das können?"
"Dreh dein Blatt um, dort steht noch mehr." Eden gehorchte und sah eine Skizze, bestehend aus mehreren Teilen. "Das Holz dazu soll aus dem Stamm meines Lieblingsbaums sein?" Sie war erbost. "Das kann Jaden nicht wirklich wollen, dass wir unser Baumhaus zerstören. Es ist mein einziger Zufluchtsort."
"Es ist sein letzter Wille, wie du in deiner zivilisierten Welt wohl dazu sagen würdest", erwiderte Nokomis ungerührt. "In deiner Hand liegt es, ob du seine Wünsche erfüllst." Sie wandte sich von Eden ab und entfernte sich. Bevor sie zwischen den Bäumen verschwand, drehte sie sich noch einmal um. "Baut Ihr das Kanu, geht damit zur Verbotenen Schlucht. Wabun Anung will sich mit seinen Ahnen vereinen. Alles, was ihm gehörte, ist in deiner Hand. Lasst das Kanu gemeinsam zu Wasser und gebt es ihm mit."
Fragen brannten Eden auf den Lippen, doch sie kam nicht mehr dazu, sie zu stellen. Nebelschwaden verhüllten Nokomis, brausend toste eine Böe heran und wirbelte sie durcheinander. Für Sekunden befanden sie sich in einer anderen Welt. Als sich der Nebel wieder verzog, war die Große Mutter des Himmels verschwunden, Eden allein. Der Wind spielte mit ihren Haaren, Schnee fiel auf sie herab. Der Wald hatte sich in Schweigen gehüllt.
Halt suchend lehnte sie sich an den Stamm ihres Lieblingsbaums. Eden wähnte sich in einem Traum. Nur die Skizze in ihrer Hand wies darauf hin, dass es anders war.
***
Khalil war vollauf mit Bewirtung der geladenen Gäste beschäftigt. Seine opulente Eistafel stand in einer Art Pavillon mit elektronisch steuerbarem Glaskuppeldach. Ein gut versteckter Generator versorgte das gesamte Equipment draußen und drinnen mit Strom. Marvin beteiligte sich an den horrenden Kosten, allein hätte er die Organisation dieser künstlichen Märchenwelt niemals geschafft.
Als Eden nach einer halben Stunde noch immer nicht zurückgekehrt war, machte Khalil sich auf die Suche. Wie vermutet fand er sie bei ihrem Baum, regelrecht verwachsen mit dessen Stamm. Von Nokomis war weit und breit keine Spur.
Es zerriss ihm das Herz. Eden stand mit dem Rücken zu ihm und schien ihn nicht zu hören. Ihre Schultern zuckten heftig. Er begriff, dass sie weinte.
Reglos blieb er im Dickicht stehen und dachte nach. Seine Haare wurden allmählich nass, sein eleganter Mantel bekam feuchte Flecken. In einem Schneehaufen lag ein durchweichter Bogen Papier, die Tinte verlief.
Khalil zog seine Schlüsse. Bestimmt hatte ihr Kummer einmal mehr mit Jaden zu tun. Er versuchte, seine nagende Eifersucht zu ignorieren und gab sich einen Ruck. Er würde sie nicht noch einmal verloren geben, Fehler hatte er schon genügend gemacht. Er hob das Dokument auf und sah es sich an. Wut breitete sich in ihm aus. Wann würde Jaden endgültig aus ihrem Leben verschwinden? Hatte er sie nicht schon genügend verletzt? Trieb er sein morbides Spielchen mit Eden jetzt auch noch mit der Hilfe einer Komplizin weiter? Niemals hätte er von Nokomis gedacht, dass sie so grausam war.
Khalil setzte sich in Bewegung. Um Eden nicht zu erschrecken, rief er sie an: "Wo ist deine Freundin?"
Mit tränenumflortem Gesicht drehte Eden sich zu ihm um, krampfhaft bemüht, den Kontakt zu ihrem Baum nicht zu verlieren. "Ich weiß es nicht, Khalil."
Er streckte die Hand nach ihr aus. "Komm zu mir. Unsere Gäste warten auf dich." Eden schüttelte wild ihren Kopf. "Ich kann nicht. Jaden will alles zerstören, was uns einmal verband. Das Baumhaus, den Wald, meine Erinnerung."
Khalil ging zu ihr hinüber. "Wenn das so ist, dann ist er es nicht wert, dass du dich an ihn erinnerst." Tröstend legte er seine Hände auf ihre Schultern. "Ich lasse nicht zu, dass er dir weh tut."
"Warum will er, dass ich unglücklich bin? Ich verstehe es nicht." Eden wischte die Tränen aus ihrem Gesicht. "Jaden will ein Opfer von mir, das ich nicht leisten kann." Sie löste sich aus Khalils Griff und trat ein paar Schritte vor. "Sieh dir das an." Mit weit ausgestreckten Armen drehte sie sich um die eigene Achse. "Nie kam ein Lebewesen durch Menschenhände zu Schaden. Kein Baum wurde jemals gefällt. Dieser Wald ist uralt und wurde kaum je betreten, außer von uns. Hier haben wir als Kinder gespielt, gelacht und gesungen. Wir haben im Baumhaus geschlafen, wann immer einer von uns unglücklich war. Nie ließen wir einander allein." Ratlos schmiegte sie sich an Khalils Brust. "Das alles wirft Jaden weg. Sag mir, weshalb."
Er streichelte ihre Haare. "Gehen wir davon aus, dass er noch lebt. Ich denke, dass er alles Mögliche versucht, um dich zurückzugewinnen. Er kennt dich gut, besser als ich. Ihr wart wie Geschwister. Jaden weiß, wo er dich packen kann. In ihm tobt jedoch auch seine Eifersucht. Vielleicht will er dich deshalb verletzen. Oder es ist nur ein Test, wen du mehr liebst: Ihn oder mich."
Ein Ruf aus dem Wald unterbrach ihre innige Zweisamkeit. Khalil faltete das Blatt zusammen und steckte es in seine Manteltasche. "Komm. Dieser Abend gehört uns und nicht Jaden. Ich habe dir viel zu erzählen, und wir haben etwas zu feiern. Das soll uns niemand nehmen."
Verlegen sah Eden an sich herunter. "Ich bin voller Schnee." Sie lächelte zaghaft. "Ich würde sagen, dass ich nicht salonfähig bin."
Khalil trat zurück und betrachtete sie mit einem Lächeln. "Es sieht aus, als glitzerten Sterne an dir. Ich würde sagen, dass dir das ganz wunderbar steht." Mit einem Seitenblick gewahrte er, dass Marvin zu ihnen trat.
Zu dritt gingen sie zur Lichtung zurück. Es hörte zu schneien auf. Ein silberner Sichelmond kam hinter Wolken hervor, begleitet von Travolos, der sie vor sich her trieb wie eine Herde Schafe.
Es wurde still. Eden blieb stehen und lauschte dem Lied, das der Wanderer sang. Es war die Ballade von Pan.
***
Wie einst, als Jaden noch lebte, wie einst in der Verbotenen Schlucht, als Eden ihn fand, erklang die Melodie, die sie zu ihm führte. War es Imagination, war es Magie?
Weder Marvin noch Khalil wagten, den Zauber zu brechen. Fast rechnete Eden damit, dass Jaden auf dieselbe Weise auftauchen würde wie Nokomis verschwand …
Im Schweigen geeint starrten sie zwischen die Bäume. Der verschneite Wald glitzerte im Bann des Mondes und der funkelnden Sterne. Tiere kamen aus ihren Bauten, als wollten sie mit ihnen feiern. Eden wünschte sich ein Einhorn herbei.
Sie waren noch etliche Schritte von der Lichtung entfernt. Khalil vergaß seine Ungeduld und dass sie erwartet wurden. Gemeinsam gedachten sie ihres Gefährten, der sie so grausam verlassen hatte. Noch wusste Marvin nichts von ihrer Mission.
Jaden kam nicht. Statt seiner transformierte sich Edens Wunsch. Das Einhorn bot kein klares Bild, es erschien als Hologramm. Eden spürte ein Kribbeln im Kopf. Sie blickte zu Khalil, der zu ihrer Herzseite stand. Sein verschmitztes Lächeln verriet ihr: Er hatte seine Finger im Spiel. Verblüfft bemerkte sie die Stärke seiner Magie. Bald würde er sie übertreffen. Schnell spannte sie einen geistigen Schutzschirm auf. Er wich zurück.
Im selben Moment verschwand das silberne Einhorn zwischen den Bäumen. Bedauernd blickte Eden ihm hinterher. Die Spannung zwischen Khalil und ihr war beinahe greifbar. Sie setzte sich in Bewegung. "Kommt!", forderte sie ihn und Marvin auf. "Ich möchte endlich wissen, was Ihr angestellt habt."
Unterwegs erzählte sie, was Jaden von ihnen verlangte. Zorn sprach aus ihren Worten. "Und wenn Nokomis sich auf den Kopf stellt: Kein einziger Baum wird gefällt." Mit bitterer Miene wandte sie sich an Marvin: "Stell dir mal diese Gemeinheit vor: Du hast ihren Lebensraum wieder hergestellt, und unseren wollen sie dafür vernichten."
Begütigend legte Marvin einen Arm um ihre Schulter. "Ich denke, Nokomis will uns nur testen. Ihr Stamm liebt die Natur, ich glaube nicht, dass sie irgendetwas zerstören will."
Khalil kam sich verloren vor. Es hätte ihr gemeinsamer Abend sein sollen, ein erster Schritt zu ihrem künftig gemeinsamen Weg. Eden wusste nicht, was auf sie zukam.
Heimlich blickte er sie von der Seite an. Sicher konnte er niemals sein. Schließlich war ihre Gabe um einiges stärker. Noch hatte er nichts unter Kontrolle.
"Wirst du gehorchen?", fragte er sanft.
"Auf gar keinen Fall", fuhr sie ihn an. "Ich weiß nicht, warum Jaden ein solches Abschiedsritual von uns verlangt. Ich weiß ja nicht mal, ob er nicht doch noch lebt und uns alle zum Narren hält."
"Also glaubst du mir nun?" Khalil verlangsamte seine Schritte und dirigierte sie und Marvin in eine andere Richtung. Es galt, noch etwas zu klären, bevor sie zu ihren Familien kamen. Zu dritt verschwanden sie in einer Höhle. Als hätten sie sich abgesprochen, bildeten sie einen Kreis und ließen sich nieder. Marvin hatte einen Ast mitgenommen und machte Licht. "Ich habe eine Idee", schlug er leise vor. "Jaden soll sein Kanu bekommen."
"Aus meinem Wald jedenfalls nicht", widersprach Eden. "Mein Baumhaus bleibt ganz!"
Khalil zog die Skizze aus seiner Manteltasche und reichte sie weiter an Marvin. "Wenn er einen herkömmlichen Kajak von uns verlangte, wäre es einfach. Wir könnten einfach was kaufen. Er will jedoch ein Ritual seines Stamms. Es muss ein Einbaum sein."
"Wer sagt, dass Jaden von uns etwas zu fordern hat?" Wutentbrannt sprang Eden auf. Ihre Worte prallten von einer Höhlenwand ab. Khalil packte ihre Hand und zog sie an sich. "Wenn wir uns weigern, erreicht Jaden sein Ziel. Wir halten ihn damit am Leben. Wir sollten vielleicht erst einmal heraus finden, was er sich davon verspricht."
"Abby könnte uns das ganz bestimmt sagen, doch Abby ist tot." Eden krabbelte auf Khalils Schoß und schmiegte sich an seine Brust. Sein Mantel wurde von ihren Tränen durchtränkt. Geistesabwesend streichelte er ihren Kopf.
"Jaden erzählt eine Legende", machte sich Marvin Gedanken. "In vielen Kulturen gibt es Fähren ins Totenreich. Vielleicht will er darauf hinaus."
Eden fielen Nokomis' Worte ein. Sie gab sie weiter: "Er will mit seinen Eltern den Fluss hinab." Sie drehte sich aus Khalils Umarmung und setzte sich wieder auf ihren eigenen Platz. Sollte sie ihren Gefährten den Inhalt seines Abschiedsbriefes erzählen? Er war nur für sie gedacht gewesen. Sie entschied sich dafür, obwohl die Scham über ihr eigenes Verschulden überhand nahm. "Jaden schrieb, wenn ich ihn lieben würde, sähe ich ihn wieder hinter dem Wasserfall." Mit rotem Gesicht starrte sie auf den Boden und wagte nicht, Khalil anzusehen. Mit stoischer Miene nahm er es hin, doch Marvin griff den Faden auf: "Und? Liebst du ihn?"
Edens Kopf fuhr ruckartig hoch. "Klar war Jaden mir wichtig, er war mein Bruder. Momentan hasse ich ihn."
"Mit einem Bruder schläft man nicht", murmelte Khalil milde.
"Ich habe es dir schon mal gesagt: Du hast es ja nicht getan." Eden sprang erbost auf und ging zum Höhlenausgang. "Es war mir klar, dass ich den Schwarzen Peter bekomme. Und ich dachte, du würdest mir das nicht noch einmal zum Vorwurf machen."
"Kindereien!", schaltete sich Marvin ein. "Hört euch doch erst einmal meinen Vorschlag an. Er stand ebenfalls auf. "Wir sollten nicht noch länger Zeit verplempern. Dafür war das, was Khalil auf die Beine gestellt hat, nicht gedacht."
Die drei brachen auf. Marvin erzählte, dass im Reservat noch immer Waldrodungen notwendig waren. Es würden neue Bäume gepflanzt. "Wir nehmen Altholz, dann kann Eden ihr Baumhaus behalten", war seine Idee. "Natürlich sollte es niemand erfahren."
"Hast du schon einmal einen Einbaum gebaut?", fragte Khalil, bevor sie an der Lichtung ankamen.
"Wir beauftragen eine Firma damit", erwiderte Marvin. "Nur den Baum holen wir selbst."
Eden grinste und schmiegte sich wieder in Khalils Arme. "Wir wollen Jaden also verarschen. Wie damals, als wir noch Kinder waren." Diesmal jedoch war sie dafür.
Im Leben läuft nicht immer alles nach Plan. Diese Erfahrung hatte auch Khalil an jenem magischen Abend gemacht. Darüber nachzudenken, war müßig. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich zusammenzureißen und weiterzumachen. Nach außen hin gelassen, führte er Marvin und Eden zurück. Ihre staunende Miene beim Anblick eines flimmernden Torbogens entschädigte Khalil um Längen.
Die drei Freunde querten das fulminante Lichtspiel und gingen zu ihren Familien. Am Ende der Nacht wusste Eden endlich Bescheid: Sie würde ihren Traum leben, Seite an Seite mit ihm. Ihre gemeinsame Heimat war nun die Welt!
~ Ein Mädchentraum ~
Fröhliches Feiern in Amerikas Straßen fiel dieses Jahr flach: Versammlungsverbot!
Der sechste Januar 2021 war inzwischen knapp drei Wochen her. In die Annalen ging er ein als Blutkarneval. Bürgerkriegsähnliche Zustände, von Trump provoziert, hatten ihre Opfer gefunden. Es hatte Tote gegeben, rechnet man Jaden und Abby dazu, waren es sieben. Nicht zu vergessen unzählig viele Verletzte.
Auch Khalil und Eden würde dieser Tag für immer und ewig in Erinnerung bleiben. Er war vor Ort gewesen, und sie hatte um ihn gebangt, weil er unter die Räder gekommen war. Wie einst im Mittelalter wurde er von Barbaren durch die Straßen geschleift, beinahe hätte er es nicht überlebt.
In diesen stürmischen Tagen fanden sie zueinander. Hatte Eden lange an ihm gezweifelt und wandte sich deswegen Jaden zu, so wusste sie jetzt, dass sie Khalil liebte. Er hatte um sie gekämpft, an sie geglaubt und sie unterstützt. In ihm hatte sich ihre Bestimmung erfüllt.
Khalil hätte ihr das Universum zu Füßen gelegt, wenn er es könnte, oder zumindest das Capitol. Während er in Washington im Krankenhaus lag, hatte er sich gefragt, wie es so weit kommen konnte, dass es Eden zu Jaden hinzog. Er fand seine Antwort: Es war die Musik und ihre Kindheit, die sie verband.
Letztendlich war er stärker gewesen. Sie hatten eine gemeinsame Vergangenheit und teilten Welten miteinander, die nur sie beide kannten. Eden und Khalil hatten denselben Traum: Nie wieder Krieg!
Mittlerweile wusste er, dass er während ihrer Session mit ihr in der Ukraine gewesen war und verstand ihr Wunschziel Moskau. Nach dem Abend im Wald lagen sie Arm in Arm miteinander im Bett und träumten sich um die Welt. Kummervoll redete sie darüber, dass sie Schlimmes sah. „Wir stehen kurz vor einem Weltkrieg“, orakelte Eden. Kaum konnte er sie beruhigen.
Jadens „Erbe“ hatte sie zu seiner Erleichterung vorerst verbannt. „Du siehst Gespenster“, spottete Khalil, „und selbst wenn, was willst du dagegen tun?“
„Du warst Soldat“, begann sie. „Was denkst du: Käme jemand wie ich zwischen die Fronten, was würde geschehen? Würdet Ihr auf mich schießen?“
Edens Stimme klang plötzlich nicht mehr wie die einer Frau, wie Khalil verblüfft bemerkte. Sie war wieder Kind.
Er kuschelte sich in ihre Arme. „Ich war kein Soldat“, erwiderte er. „Wäre es nach meinem Vater gegangen, wäre ich Terrorist oder tot. Aber was willst du mir sagen?“
„Ich bin froh, dass wir darüber reden können, ohne dass du gleich durchdrehst. Ich sehe ein Mädchen. Es sieht aus wie ich. Rings um sie herum liegen Trümmer und viele Tote. Sie trägt ein weißes Nachthemd und hat eine Harfe dabei.“ Eden setzte sich auf und sah ihn an. „Das Mädchen hat Angst. Links von ihr stehen vermummte Gestalten und richten Gewehre auf sie, rechts von ihr auch. Noch vor ein paar Minuten haben sie aufeinander geschossen.“
Khalil umschloss ihre Wangen mit beiden Händen und lehnte seine Stirn gegen ihre. „Und? Bist du dieses Kind?“ Sein intensiver Blick ließ sie erröten. „Ich fürchte, ja. Was wäre, wenn meine Harfe zu singen begänne und ich ein Engel bin? Könnten diese Soldaten noch schießen?“
Eine Welle der Zärtlichkeit durchflutete ihn. Er sah sich wieder in seinem Verlies, aus dem sie ihn befreite. „Ich könnte es nicht“, raunte er ihr gerührt zu.
Schweigen legte sich über den Raum. Ineinander versunken starrten sie zum Fenster hinaus. Silbern glänzte der Mond, ringsherum Millionen Sterne. Über den Bäumen sah er die Spitze vom Capitol. Bald würde es nicht mehr sein.
~ Cedar Village ~
Am anderen Morgen lagen zwei elegant beschriftete Briefumschläge auf einem weißen Dessertteller. Rahel pendelte geschäftig zwischen Esszimmer und Küche umher und trug das Frühstück auf, während Gabriel bereits saß und sich hinter seiner Sonntagszeitung versteckte. Als Eden gähnend den Raum betrat, linste er neugierig über den oberen Rand und ließ sie nicht aus den Augen. Sie spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. Sich räkelnd lehnte sie sich in den Türrahmen und versperrte ihrer Mutter den Weg. „Was habt Ihr jetzt schon wieder ausgeheckt?“, fragte sie streng.
Khalil kam von hinten und schob beide zur Seite. „Setz dich und schau einfach nach“, schlug er lakonisch vor. Gemächlich schlurfte er zum Esstisch, nahm Platz und schenkte sich Kaffee ein.
Eden folgte ihm auf dem Fuß und setzte sich zu ihrem Vater. „Was ist das?“, fragte sie Khalil.
„Ich wollte es dir gestern schon geben, aber ich kam ja nicht dazu. Mach auf!“ In aller Seelenruhe klöppelte er an seinem Frühstücksei herum und bedankte sich bei Rahel für die üppige Tafel. „So lässt es sich leben“, lobte er. Sie wurde rot, klopfte ihm auf den Arm und schwebte unter dem erheiterten Blick ihres Mannes in die Küche zurück.
Wohlig brummend fläzte sich Gabriel in seinen Stuhl und stupste Khalil verschwörerisch unter dem Tisch an. „Cedar Village, ja?“, fragte er und tippte raschelnd auf die Rückseite seines mehrlagigen, bunt bedruckten Medienpapiers. „Sowieso!“, erwiderte Khalil. „Es wird ein Anfang sein.“
Eden blickte irritiert auf. Ein halb geöffneter Umschlag verharrte vergessen in ihrer Hand. „Von was redet Ihr da?“, fragte sie. Ihr Wüstenprinz grinste sie liebevoll an: „Wenn du dich dauernd ablenken lässt, erfährst du es nie.“
Sie ließ es sich gesagt sein und schlitzte die beiden Briefe mit einem spitzigen Messer auf. Es waren zwei Einladungen zu einer Charity. „Ah, Cedar Village!“, merkte sie auf. Rahel stand im Türrahmen und beobachtete besorgt das Gesicht ihrer Tochter. Sie hatte keine guten Erinnerungen an ein ähnliches Event am Rapids Lake. Das letzte Mal, als Eden mit den Veranstaltern in Berührung kam, war zwölf Jahre her, und sie war schwer krank gewesen.
„Haltet Ihr das für eine gute Idee?“, äußerte Rahel ihre Bedenken. „Gab es keine andere Option als eine Kundgebung für die Opfer vom Capitol? So bitter es ist und so sehr sie es verdienen, dass um sie getrauert wird: Ich habe Angst. Wer weiß, was da passiert!“
Sie wagte es nicht, einzugestehen, dass ihre Furcht vor allem Eden galt. All die Erinnerungen an ihr kleines Mädchen, das nicht mehr sprechen konnte und in fremden Welten gefangen war, kamen wieder zurück.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Selbstvergessen griff sie sich an die Brust. Scheppernd fiel ihr Tablett auf den Boden und schreckte die Anderen hoch.
Khalil war als Erster bei ihr und fing Rahel auf. Bestürzt musterte er ihr rotes Gesicht. „Du musst dir keine Sorgen um deine Tochter machen“, versuchte er, sie zu beruhigen. „Sie hat keinerlei Erinnerung an ihre Kindheit.“
„Du … weißt?“, wisperte sie.
„Ja. Ich habe dieselbe Gabe wie Eden und komme auch nur schwer damit klar.“ Fürsorglich führte er sie zum Tisch und drückte sie auf ihren Stuhl. „Wir regeln das, Rahel!“, versprach er und wies mit dem Kopf auf die Scherben am Boden. Schwer atmend lehnte sie sich zurück.
„Mom!“, mahnte Eden. „Ich bin bald achtzehn. Allmählich könntest du aufhören, mich in Watte zu packen. Ich komme zurecht. Wenn du jedes Mal einen Herzinfarkt bekommst, wenn ich irgendwie mit Politik zu tun habe, kann ich mein ganzes Leben vergessen. Das wirst du doch nicht wollen.“
"Warum kannst du nicht einfach nur ein normales Mädchen sein, Kinder bekommen und mit Khalil ein gutes Leben führen?", klagte Rahel. "Ich frage mich, von wem du das hast. Weder dein Vater noch ich hatten jemals das Bedürfnis, Helden zu sein."
"Vielleicht ist Daddy ja fremdgegangen, und ich bin gar nicht dein Kind", spottete Eden. Gabriel verschluckte sich und wurde knallrot. "Wenigstens hast du den Humor deines Vaters geerbt", erwiderte Rahel trocken. Sie hatte sich wieder gefasst. "Du bist also vorbereitet auf Cedar Village?"
Khalil kam aus der Küche und setzte sich zurück an den Tisch. "Wir sind nicht nur als normale Gäste eingeladen", berichtete er, "wir treten auf." Aufgeregt zappelte er auf seinem Stuhl herum. "Eden muss ein paar Lieder einstudieren, und ich gebe ein Interview." Sein Erlebnis in Washington hatte die Aufmerksamkeit der Medien erregt.
Eden stand auf und setzte sich auf seinen Schoß. Unter den indignierten Blicken ihrer Mutter schlang sie die Arme um seinen Hals und gab ihm einen Kuss. "Wir sind VIPs", kicherte sie. "Jetzt wäre es nur noch toll, wenn ich eine Konzertharfe hätte." Keck nahm sie ihm ein Donut aus der Hand und biss herzhaft hinein.
Khalil schob sie von sich herunter. Sie zog einen Schmollmund. Er lachte. "Du bist auch mit gar nichts zufrieden", erwiderte er. "Soviel Geld habe ich nicht, dass ich dir deine Wunschharfe schenken kann."
Eden schlenderte um den großen Esstisch herum und umarmte Rahel von hinten. Innig schmiegte sie das Gesicht in ihren Nacken. "Ich habe Lampenfieber", gestand sie leise, "das ist aber alles. Bis es soweit ist, wird es vergehen."
Gerührt lächelnd hob Rahel ihren Arm und gab die unverhoffte Schmuseeinheit zurück. "Wir werden auf jeden Fall bei dir sein. Du wirst alle verzaubern."
"Dein Wort in Gottes Ohr", erwiderte Eden und ging zurück zu ihrem Platz. Khalil hatte ihr inzwischen ein Programmheft auf den Teller gelegt. Neugierig nahm sie es auf und blätterte darin herum. Sie stupste Gabriel an. "Ich habe noch nie in einem Orchester gespielt. Daddy, meinst du, ich kriege das hin?"
Er legte seine Zeitung weg und blickte seine Tochter stolz lächelnd an. "Du bekommst alles hin, so wie ich dich kenne. Ich habe da gar keine Bedenken."
Khalil sah nachdenklich zu den beiden hinüber. Marvin hätte Eden zwar gern damit überrascht, wer ihr bei den Vorbereitungen helfen würde. Es fiel ihm jedoch schwer, es für sich zu behalten.
Er gab sich einen Ruck und ließ die Bombe platzen. "Eden, weißt du, wer dir das Stipendium in New York ermöglicht hat?", fragte er über den Tisch.
Überrascht blickte sie auf. "Darüber habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht", erwiderte sie. "Ich hatte mich ja nicht einmal beworben."
Schelmisch zuckte Khalil mit den Augenbrauen in Gabriels Richtung. Der grinste wissend. Rahel nestelte angelegentlich an einer Serviette. Beide schwiegen.
Eden nahm es zur Kenntnis. "Wer hat das arrangiert? Nun sagt schon!"
Khalil atmete aus. "Wir alle zusammen. Ich habe mich für dich beworben, Marvin sprach mit dem Maestro, deine Eltern stellten die Unterlagen. Du hast einen berühmten Paten. Der setzte sich für dich ein." Zufrieden sah er das freudige Strahlen in ihrem Gesicht. "Das ist aber nicht alles", fuhr er fort. "Du bekommst morgen Besuch. Er wird mit dir üben und bleibt bis zum Schluss."
"Das ist doch nicht dein Ernst, Khalil!", fuhr Eden ungläubig auf. "Xavier de Maestre wird bestimmt etwas anderes zu tun haben als nach Cedar Rapids zu kommen."
"Du vergisst, dass Marvin mit ihm befreundet ist", erwiderte er. "Eigentlich hätte ich es nicht verraten sollen." In Marvins Leben hatte de Maestre eine entscheidende Rolle gespielt, als Alina noch lebte. Edens schicksalhafte Kinderjahre hatten Xavier berührt. Er hatte ihren Werdegang nie aus den Augen verloren und würde sie unterrichten.
Rahel stand auf und begann, den Tisch abzuräumen. "Wo wird er übernachten?", fragte sie. "Wir haben bis auf Jadens Zimmer zu wenig Platz."
"Marvin hat ihm ein Gästezimmer zur Verfügung gestellt. Es ist alles geregelt." Khalil machte sich daran, Rahel zu helfen. Wenig später war das Esszimmer sauber und leer.
~ Ein Schauplatz ~
Cedar Rapids ist ein kleiner, unbedeutender Ort in Oklahoma und liegt in einem Tal. Die nächste größere Stadt ist Cedar Village. Dort in einem Krankenhaus wurde Eden vor nunmehr bald achtzehn Jahren geboren. Sie ist ein Maienkind.
Ähnlich oder gleich klingende Orte gibt es in den Vereinigten Staaten zuhauf, nicht alle sind unbekannt. Unser Cedar Rapids ist eher ein Dorf, gehört ebenso wie Cedar Village zum County Tulsa und fiel historisch bisher noch nicht auf. Die einzige Besonderheit ist der Zugang zur Verbotenen Schlucht, ein geheimer Pilgerort der Algonkin, ein von den Sioux abstammendes Volk, das in der Nähe ansässig ist. Sie leben in einem Bergreservat, ungefähr achtzig Meilen entfernt. Vor Jahren wurde es bei einem Großbrand zerstört. Dort zu leben, war nicht mehr möglich.
Marvin rief eine Stiftung ins Leben und sanierte die Siedlung. Eine einfache Gesamtschule wurde gebaut, ein Verwaltungsgebäude, ein kleines Krankenhaus. Auch die Infrastruktur wurde erweitert, ohne die Stammestradition zu beschneiden.
Angehörige der Algonkin leben von Handwerk und Jagd. Zu ihrem Reservat gehört ein großer Wald. Den Mittelpunkt der Siedlung bildet ein Handelsplatz, wo sie handgemachte Waren und Wild feilbieten. Zweimal in der Woche ist Markt, viermal im Jahr ein größeres Fest.
Der Wiederaufbau der Siedlung wirkt sich auch auf die Regionen von Tulsa aus. Etliche Städte griffen die Legende auf und veranstalten thematisch passende Messen.
Aus der Luft sieht Cedar Rapids aus wie ein Wagenrad. Eine zehn Meter hohe, vergoldete Weizenähre sticht ins Auge, doch ein klassisches Zentrum in Kreisform sucht man vergeblich. Zwei langgezogene städtische Gebäude und eine Kirche bilden ein Dreieck.
Der Platz ist gepflastert und für Autos gesperrt; das Ährendenkmal steht auf einem Podest. Ringsum verläuft eine zweispurige Straße, die einen Highway mit Cedar Rapids verbindet. Gassen und Nebenstraßen führen strahlenförmig auf die zweite Ringstraße zu.
Dazwischen wohnen die Abels. An manchen Tagen sähen wir Rahel, wie sie ihre Beete pflegt, oder einen Marktstand direkt auf dem Grundstück. Gabriel verkauft dort Gemüse und Obst, manchmal auch selbstgebackenes Brot, Tiere haben sie keine. Linkerhand grenzt ein langgezogener Holzzaun den gepflasterten Hof von der Straße ab, rechterhand führt ein Weg in den Wald. Dort fänden wir Eden, und - als er noch da war - auch Jaden.
Khalil lebt mit seiner Mutter auf der gleichen Seite in direkter Nachbarschaft. Die Grundstücke ähneln sich, doch die Abels wohnen in einem zweistöckigen Farmhaus im viktorianischen Stil. Das Haus der Shermans ist gleich groß, hat aber nur eine Etage.
Der Wald spielt in Edens Leben eine wichtige Rolle. Ihr ganzer Stolz ist ihr Baumhaus und ein weiteres Höhlenversteck, das prädestiniert für mysteriöse Botschaften ist. Behütet werden Edens und Jadens Geheimnisse von einem Mammutbaum. Hier versteckt sie auch ihre Harfe.
~ Ungebetene Gäste ~
Am Nachmittag durchbrach Chorgesang die sonntägliche Stille. Von Trauer getragen, zog eine Prozession durch die Stadt. Die Meisten waren dunkel gekleidet, Männer trugen Melonen.
Eden hörte sie schon von Weitem. Als der Zug in ihre Wohnstraße einbog, stürzte sie hinaus in den Hof und blickte ihnen entgegen. Fünf Minuten später kam Khalil ihr nach. Was sie sahen, versetzte ihm einen Stich.
Die Prozession wurde von einem ungleichen Paar angeführt. “Nokomis!”, entfuhr es Eden. “Was will sie schon wieder hier?”
Die Stammesälteste der Algonkin war festlich gewandet. Ihre glatten, grauen Haare waren mit einem Diadem geschmückt, an ihren Ohren baumelten Federn. Von Kopf bis Fuß war sie in Wildleder gehüllt. Sie trug ein großes Plakat. Es war ein Foto von Jaden.
Ihr Begleiter marschierte direkt neben ihr. Er war ein älterer, untersetzter Mann in einem dunklen Sonntagsanzug. Das Jackett war wattiert. Sieben Menschen im Zug trugen Plakate auf Stangen: die Opfer des Capitols!
Gabriel und Rahel folgten Khalil und Eden. Die Prozession hielt direkt auf ihr Wohnhaus zu. “Das ist der Bürgermeister der Stadt”, konstatierte Gabriel.
“Sieht so aus, als wollten die Leute zu uns”, erwiderte Rahel. “Was ist das?”
Schneeregen unterstrich die Melancholie der Szenerie. Nokomis schritt feierlich neben John M. Bourke den Abels entgegen. Es schien, als zähle sie ihre Schritte.
Die Frauen in der Menge trugen dunkle, bodenlange Gewänder und breitkrempige Hüte. Nokomis wirkte so fremd wie ein Eskimo am Äquator. Ihre Haltung war jedoch die einer Königin.
Die Familie stellte sich nebeneinander, um sie zu empfangen. Samira kam ebenfalls aus ihrem Haus. "Warten wir ab", raunte Gabriel seiner Frau zu.
Der Stadtvorsteher von Cedar Rapids trat den Abels entgegen, nahm seine Melone ab und drehte sie verlegen zwischen den Händen. Die Prozession verharrte schweigend im Hintergrund. Wasser tropfte von ihren Hüten.
"Jaden Basara war ein Kind dieser Stadt", ergriff John M. Burke das Wort. "Wir wollen Euch unsere Aufwartung machen, wart Ihr doch seine Familie." Er klopfte ein paar Schneegrieselchen von seiner Melone, verbeugte sich und setzte sie wieder auf. Nokomis übergab ihr Plakat an einen Träger in der zweiten Reihe und trat ebenfalls vor. "Auch ich gehöre zur Familie von Wabun Anung", wandte sie sich an den Sprecher. "Das solltet Ihr nicht unterschlagen."
John wurde rot. "Verzeiht." Er kratzte mit seinen Füßen im Matsch. "Nun, wie dem auch sei: Gestern nacht machte ich kaum ein Auge zu. All diese Menschen wollten zu Euch." Mit einer Rundumbewegung deutete er in die Menge.
"Ich verstehe nicht, was ich für Sie tun kann", erwiderte Gabriel. "Wir sind einfache Leute. Welchem Umstand genau verdanken wir soviel Aufmerksamkeit?"
"Nun, unsere Stadt ist mit Wundern nicht gerade verwöhnt. Lasst uns teilhaben an dem, was in der Nacht bei Euch geschah." John deutete auf den Waldrand. "Uns ist nicht entgangen, dass Ihr etwas gefeiert habt." Die Eiskuppel des Capitols war über den Bäumen zu sehen. "Dort wollen wir hin. Wir bitten um Eure Erlaubnis."
Khalil hatte bis soeben nur zugehört, doch nun schaltete er sich ins Gespräch. "Guter Mann, Sie sitzen da einem Irrtum auf. Was Sie da sehen, ist kein Wunder, sondern eine Installation. Es ist ein Geschenk an meine Verlobte." Er zeigte auf Eden und lächelte sie liebevoll an. "Sie hat ein Faible für Märchen. Wenn Sie sich das aus der Nähe anschauen wollen, habe ich nichts dagegen."
Eden musterte den Pulk aus dunkel gekleideten Menschen. Die Bürger von Cedar Rapids wirkten auf sie, als wären sie soeben dem Mittelalter entsprungen. Die langen Kleider der Frauen waren über Reifröcke gebauscht, die meisten trugen spitzige Stiefel.
Auch die Männer waren in Tracht: Jacketts mit goldenen Knöpfen, dazu passende Hosen und derbe Knöchelschuhe. In die obersten Knopflöcher waren Uhrenketten geknüpft, die dazu gehörigen Taschenuhren waren wahrscheinlich in ihren Brusttaschen verstaut. Mancheine schmückten sich sogar mit einem Monokel.
Die Disziplin war bemerkenswert: Keiner sprach, die einzigen Geräusche waren Windgesäusel, Baumblätterrascheln und Stoffgewisper. Aller Augen waren auf ihren Vorsprecher gerichtet, unbeweglich und vorwurfsvoll starrten Plakatgesichter auf Stangen sie an. Fröstelnd schlug Eden die Arme um sich. Sie hatte Angst!
Khalil nahm ihre Hand, sie tastete suchend nach der ihrer Mutter. Beschützend nahm Rahel sie an und gab die Geste weiter an Gabriel. Samira trat hinzu und gliederte sich an Khalils Seite mit ein. Sie waren vereint und bildeten eine Barriere gegen all diese Dunkelheit.
Flehend blickte Eden Nokomis an und versuchte, sie mental zu erreichen. 'Gehörst du zu uns?', sendete sie. Kein Laut kam ihr über die Lippen, doch in ihrem Geist hallte es wider wie ein hilfloser Schrei. 'Nokomis, gönne mir nur ein bisschen Glück! Bitte sei nicht mein Feind!'
Die alte Algonkin näherte sich der Familie und fixierte Eden mit einem bezwingenden Blick. "Vergiss du nicht deine Mission", sagte sie laut. "Ich hege gegen dich keinen Groll. Wenn du das denkst, dann ist es dein eigenes Gewissen, was dir zu schaffen macht."
Haltsuchend umklammerte Eden Khalils Hand fester. "Immerzu bringst du Jaden bei mir in Erinnerung", antwortete sie. "Ich weiß auch so, dass wir Mist gebaut haben, doch das war ich nicht allein. Ich habe nicht zu ihm gesagt, dass er sein Leben beenden soll." Sie straffte die Schultern und hob den Kopf. Herausfordernd sah sie Nokomis in die Augen. "Es ist eine Farce, dass du ihn mit wirklichen Opfern vergleichst. Sein Antlitz gehört nicht auf ein Plakat. Dass du ihn mitbringst, sollte ein Schlag ins Gesicht sein für all diese Menschen, die Grund zum Trauern haben."
Eden ließ Khalil los und drehte sich um. John M. Burke wich vor ihr zurück. Der Wind spielte mit ihren Haaren. Für einen Moment sah Khalil sie wieder in Washington, als Abby vor ihren Augen starb. Sein Herz lag in seiner Brust wie ein Stein, über seinen Rücken lief eine Gänsehaut. Er schluckte. "Eden", wisperte er voller Angst, "lass nach!"
"Nein!", widersprach sie, trat von ihrer Familie weg und blickte zu den dunkel gekleideten Menschen. Die Prozession ruckelte vor und zurück wie ein Zug beim Rangieren. Weiße Lilienblüten aus Trauersträußen rieselten wie Flocken zu Boden und vermischten sich mit dem letzten Rest Schnee. Die mitgebrachten Plakate durchweichten.
Jadens Bild prangte hoch über ihr. Eden hob ihren Kopf. Regentropfen fielen auf das Papier. Es sah aus, als würde er weinen. Ihr wurde bewusst, wie sehr sie ihn vermisste. Sie drehte sich zu Nokomis um und griff hilfesuchend nach ihren Händen. "Große Mutter des Himmels", flüsterte sie, "oh brächtest du ihn nur wieder zu uns zurück."
Das Gesicht der alten Frau wurde weich. "Endlich wirst du wieder normal und stehst zu dir selbst. Du darfst ihn vermissen, auch wenn du Khalil liebst." Nokomis führte sie an die Seite. "Hör zu, was ich dir sage. Ich entbinde euch von eurer Aufgabe. Du hast die Prüfung bestanden."
"Heißt das, wir brauchen kein Kanu zu bauen und mein Baumhaus bleibt ganz?", hakte Eden zaghaft nach. Nokomis nickte. "Ja, das heißt es. Glaubst du wirklich, dass Jaden gewollt hätte, dass Ihr den Wald zerstört? Ich wollte dich testen. Du hast genau auf die Art reagiert, wie ich es hoffte."
Eden lachte. "Du hast mich mit deinem Hokuspokus ganz schön verwirrt. Jaden hätte seinen Einbaum gekriegt. Khalil, Marvin und ich hatten das schon gemeinsam beschlossen. Ich bin aber froh, dass wir es nicht müssen."
Nokomis umschloss Edens Gesicht mit beiden Händen. Zärtlichkeit sprach aus ihrer Miene. "Ich bin froh, dass Ihr euch gefunden habt. Khalil ist der Mann, der dir auf deinem Weg folgen kann. Jaden hat das erkannt, weil er wusste, dass er nur ein Traumtänzer ist."
Flüchtig streifte Eden die Hoffnung, dass er noch lebte. Kaum nahm sie den Umschwung des Wetters wahr. Ihre nassen Locken glänzten wie flüssiges Kupfer.
Jemand zog sie weg und drückte ihr Jadens Plakat in die Hand. "Führe uns nun in den Wald", forderte Nokomis sie auf. "Geben wir Wabun Anung sein letztes Geleit an dem Ort, den Ihr miteinander geteilt habt." Die Ritualsprache bewies Eden, wie ernst es ihr war. Sie nahm es hin.
Ihr war, als befände sie sich in einem Kokon. Ihre Finger umkrampften das feuchte Holz ihrer Stange. Eine warme Berührung zeigte ihr an, dass sie nicht allein war. Ihr Blick glitt zur Kuppel des Capitols über den Wipfeln der Bäume. Es würde bald schmelzen, hatte ihr Khalil in der Nacht noch gesagt. "Märchenwelten sind nun mal vergänglich."
Ungeduldige Füße scharrten auf dem Asphalt. Stimmengemurmel erinnerte Eden daran, dass sie eine Führerin war. Regen trommelte auf die Dächer der Stadt, doch niemand entfernte sich aus der Menge.
John M. Burke trat auf sie zu. "Kommen Sie, es ist an der Zeit, bevor wir hier ertrinken."
Sie war nicht bereit! Alles in ihr bäumte sich dagegen auf, ihren heiligen Ort mit all diesen Menschen zu teilen. Mit Jadens Ikone in beiden Händen drehte sie sich im Kreis und blickte sich um, als suche sie nach einem Fluchtweg. Sie sah ihre Eltern am Wegesrand, dicht vor dem Tor zu ihrem Grundstück. Rahel und Gabriel schauten abwartend zu ihr hinüber und sprachen kein Wort, doch sie fühlte die Anspannung, die von ihnen ausging. Eden wusste, niemand von ihnen war so viele Menschen gewöhnt. Die ganze Stadt schien auf den Beinen zu sein.
Ihre Mutter war blass, das Gesicht glänzte im Regen, der noch verhalten war. 'Ob sie nicht friert?', fragte sie sich. 'Geht doch ins Haus ...' Die eigene Kälte spürte sie kaum.
Eden machte einen Schritt auf Khalil zu. "Hilf mir", wisperte sie. "Ich schaffe das nicht allein. Was wollen all diese Leute von mir?"
Sie hatte die Prozession nun in ihrem Rücken. Der Bürgermeister von Cedar Rapids hatte sich von ihr entfernt. Sie hatte nichts mehr unter Kontrolle, sah nur noch ihn und schwarze Wolken am Horizont.
Plötzlich ertönte ein Knall. Mit weit aufgerissenen Augen fiel Khalil zu Boden. Sintflutartig prasselte Regen auf ihn. Stakkatoartiges Geknatter mischte sich mit dem silbernen Klingeln winzigster Hagelkörner. Und Eden schrie, sah ihn liegen in seinem Blut. Sie warf das Plakat auf die Seite und bedeckte Khalil mit ihrem Körper.
Es war wie vor ein paar Wochen in Washington. Würde sie ihn verlieren? "Bleib bei mir", stammelte sie, "oh bitte bleib! Ich liebe und brauche dich doch!"
Eine warme Hand legte sich auf ihre Schulter. "Eden! Khalil ist nichts passiert", sagte ihr Vater und zog sie hoch. Verwirrt stand sie auf. Samira und Rahel halfen Khalil, der nicht weniger verdattert war. "Ich weiß nicht, was das war", versuchte er eine Erklärung. "Ich war wieder im Krieg und sah, wie der Feind auf mich schoss. Und nun bin ich hier?" Sein roter Pullover wurde dunkel vor Nässe.
Die Familie blickte auf ein riesiges Schirmmeer, unter dem sich die mittelalterlich gekleideten Besucher verbargen. "Das waren deine Schüsse", raunte Gabriel Khalil zu. "Das nächste Mal jagst du uns nicht so einen Schrecken ein." Entschlossen wandte er sich an die Menge: "Geht alle nach Hause. Es regnet stark, und wir fühlen uns nicht sehr wohl", rief er mit weit ausgebreiteten Armen. Vereinzelte Stimmen murrten und äfften ihn nach.
Eden hörte es, Wut ergriff sie. Ihre Augen glühten wie Flammen, als sie die Meute ansah. "Ihr hört meinen Vater, Ihr befindet euch auf Hoheitsgebiet." Sie schrie nicht, dennoch hallte ihre Stimme wie Donner.
Einige zogen ängstlich die Köpfe ein. Abwartend blickten sie ihre zwei Führer an. "Sie hat magische Kräfte", murmelte eine ältere Frau. "Besser, wir hören auf sie, das ist eine Hexe. Ich habe schon viel von ihr gehört."
"Das ist doch die mit der Harfe", widersprach eine männliche Stimme. "Sie hat ihren zwei Freunden das Leben gerettet. Das muss ein Engel sein."
"Und doch trägt die alte Indianerin ihren Jungen zu Grabe", folgte die verächtliche Antwort. "Es stand in der Zeitung." Es war das erste Mal, dass Eden ihren Status in Cedar Rapids zu spüren bekam. Ihre Sorge galt ihren Eltern.
Sie spürte den Aufruhr der Menge schmerzhaft, fast körperlich. Der Zug bewegte sich nicht vom Fleck, doch Eden ahnte, dass die erzwungene Ordnung nicht von Dauer war. Vor ihrem Inneren Auge entstanden Bilder des Schreckens. Ein Hagelkorn traf sie am Kopf, sie dachte, es sei ein Stein. Erschüttert griff sie sich ins Haar und starrte entsetzt ihre blutigen Finger an. Sie blickte in den Himmel und wünschte sich, dass der Regen sie alle fortschwemmen möge.
Ein Ruf des Bürgermeisters bewegte den Mob zur Umkehr. In selbiger Ordnung wie bei ihrer Ankunft wandten die Bürger von Cedar Rapids Eden und ihrer Familie den Rücken zu. Ihre Stiefel hallten auf dem nassen Pflaster wie von einer Armee, die marschiert.
Die mitgebrachten Ikonen lagen durchfeuchtet im Graben, von weißen Lilienblüten bedeckt. Khalil griff tröstend nach Edens Hand. "Ich hoffe, dass der Spuk bald ein Ende hat. Hätte ich das nur gewusst ..."
"Es ist noch nicht vorbei", orakelte sie. "Wir müssen unsere Eltern in Sicherheit bringen. Wir beide werden vielleicht damit fertig, doch meine Mutter wird darüber krank." Sie hatte noch gut im Gedächtnis, wie sehr Rahel sich um sie sorgte. Eden ging zu ihrem Vater. "Daddy, bring Mom und Samira ins Haus. Khalil und ich werden all diesen Menschen zu Willen sein und führen sie in den Wald. Vielleicht ist dann gut." Ihr Blick suchte Nokomis. 'Du musst mir helfen', sandte sie ihr in Gedanken. 'Sie werden wieder und wieder kommen, bis sie ihren Kopf durchgesetzt haben. Du hast die Kraft.'
Wie von Zauberhand tauchte Nokomis neben ihr auf. "Das glaube ich kaum. Nicht der Wald war ihr Ziel, sondern das Gebilde, das Khalil dir schuf. Es wird vergehen." Sie zeigte nach rechts. "Das Dach ist schon nicht mehr zu sehen."
~ Schuld und Sühne ~
Nachdem die Prozession sich aufgelöst hatte, erinnerten nur noch traurige Hinterlassenschaften an ihren Aufmarsch. Trauersträuße lagen im Matsch, die Plakate wurden zu Pappmaché. Von weit entfernt hörte Eden noch verhaltenen Chorgesang. Sie und ihre Familie waren klitschnass. An diesem Tag hörte es nicht mehr zu regnen auf.
Auch Nokomis war wieder aus ihrem Leben verschwunden. Die letzte Zeit tauchte sie auf wie ein Spuk, erinnerte Eden an ihre Sünden und ließ sie mit ihrer Buße allein. Fände sie jemals Vergebung dafür, dass sie mit Jaden schlief?
Am frühen Abend schickte sie das erste Mal seit Langem Khalil wieder nach Hause. Sie wollte allein sein. Bei Einbruch der Dunkelheit verkroch Eden sich in Jadens Zimmer. Die Schatulle, die er ihr vererbt hatte, stand auf dem Tisch. Sie öffnete den Deckel, nahm seine Panflöte heraus und warf sich damit auf sein Bett. Sie schloss die Augen und legte sich das Instrument auf die Brust. Ein warmes Gefühl der Zuneigung durchströmte sie.
Der Regen trommelte an das geschlossene Fenster und erinnerte sie an die Höhle hinter dem Wasserfall. Dort hatte sie Jaden kennengelernt. Er wurde ihr Bruder, ihre Eltern hatten ihn adoptiert. Er war so verloren gewesen, ängstlich und scheu, er wähnte sich unsichtbar. Für sie war er Pan, er selbst sah sich meistens als “Der-mit-dem-Wind-spricht”. Mit seiner Musik hatte Jaden ihre Seele berührt …
Aus Liebe zu ihr hatte er sie verlassen. Diese Last würde sie niemals verlieren, und würde sie darüber steinalt. Vielleicht würde das Leben ihr einmal verzeihen …
Eden öffnete ihre Augen und starrte gegen die Decke. Noch immer atmete das Zimmer Jadens Flair aus. Seit ihrer Heimkehr aus Washington hatte sie darauf geachtet, dass alles sauber blieb. Hier lebte der Geist Wabun Anungs ...
Sie stand auf und legte die Panflöte zurück in die Schatulle. Geistesabwesend streichelte sie über die Farne am Fenster. Deren Blätter schmiegten sich um ihre Hand. Eden sah es als Zeichen, dass alles gut war! Mit einem erleichterten Seufzen verließ sie den Raum und ging zu Bett.
~ Flashback ~
Khalil verbrachte den Rest des Abends mit seiner Mutter. Zu allem Überfluss hatten sie Stromausfall. Bei Kerzenschein saßen Samira und er in der Küche und spielten Karten. Wie sehr hatte ihm das gefehlt!
“Heute Nacht schlafe ich mal wieder daheim”, seufzte er und sah ihr ins Gesicht. “Madame hat Mucken.”
“Ich freue mich, Sohn”, erwiderte Samira und legte ihren Stapel Karten verdeckt vor sich hin. “Und vor allem bin ich erleichtert, dass es dir gut geht. Du hast uns alle erschreckt.”
“Nicht nur euch!” Er grinste schief. “Mein letzter Flashback hatte wesentlich dramatischere Folgen als der von heute. Bei Allah: Ich wünschte, ich müsste nie mehr dran denken.”
Khalil legte seine Karten beiseite. Er konnte sich nicht auf das Spiel konzentrieren. Verspannt räkelte er sich in seinem Stuhl und verzog sein Gesicht. Hoffentlich hatte er sich bei seinem Sturz nichts geprellt. Morgen hatte er einiges vor, und da sollte er fit sein. “Momma, muss ich mir um Eden Sorgen machen?”, fragte er leise. “Was rätst du mir? Sie bekommt Jaden einfach nicht aus ihrem Leben.”
“Geister musst du nicht fürchten. Hab Vertrauen. Ihr seid die letzte Zeit viel aufeinander gehockt, möglicherweise braucht sie den Abstand. Beide seid Ihr noch nicht erwachsen, doch du solltest weiser sein.”
“Es ist schwer, zu wissen, dass ich nicht der erste bin”, verteidigte Khalil sich vehement. “Ich habe ihr zwar verziehen, doch so schnell vergessen kann ich es nicht.”
“Und trotzdem wird sie bald deine Frau. Du hast dich entschieden, also wirst du mit der Vergangenheit abschließen müssen.” Samira stand auf und sah aus dem Fenster. Eisige Tränen rannen an den Scheiben herab. ‘Was für ein seltsamer Winter’, sinnierte sie. ‘Und was für ein Tag.’
“Ich hatte mein ganzes Leben lang einen einzigen Mann.” Sie drehte sich wieder zu Khalil um. “Ich war sein Besitz. Das Schlimmste ist jedoch, dass ich mich nicht dagegen wehrte. Ich habe deinen Vater so sehr gehasst. Schon immer, vom ersten Tag an, doch ich wurde niemals gefragt. Ich war ihm bestimmt. Trotz meines Hasses gebar ich ihm Kinder. Zwei davon gerieten nach ihm, du bist der Einzige, der mir noch blieb. Deine Brüder sind tot, wie man mir sagte, doch ob ich das glauben soll? Wenn, dann bin ich darüber froh.”
Khalil stand auf und umarmte sie. “Fast hätte ich dir genauso viel Kummer gemacht. Danke, dass du mir das so erzählst. Und ich bin froh, dass wir jetzt frei sind.”
Samira küsste ihn auf die Wange. “Ich durfte euch nie umarmen, nie küssen, nie zärtlich sein. Wenn ich es tat, schlug dein Vater mich. Als er in den Krieg zog, war ich das erste Mal froh, dass er ging. Doch du zahltest für mich den Preis. Er nahm dich mit. Manchmal fühle ich mich dir gegenüber schuldig und schlecht.”
Gemeinsam und eng umschlungen standen Mutter und Sohn am Fenster und starrten hinaus in die Dunkelheit. Schweigen trat ein, und Khalil hing seinen Gedanken nach. Sie hatten im Gazastreifen gelebt, das ist, was er noch wusste. Er war zehn Jahre alt.
Eine flüchtige Erinnerung streifte ihn: Er als Kind auf einem Laster, seine Mutter hatte geschrien und heftig geweint. Noch einmal roch er den Gestank ungewaschener Männer, hörte hämisches Lachen, hasserfülltes Gebrüll, sah drohende Fäuste, die ihren grausamen Gruß durch die geöffnete Plane sandten. Die verdreckte Plane fiel wie ein Theatervorhang und er … fuhr zur Hölle!
Gänsehaut kroch ihm über den Rücken. Sein Vater saß neben ihm und hielt ihn fest, damit er nicht entkam …
Ein dumpfer Glockenschlag brachte Khalil zurück in die Gegenwart. Weitere folgten und schallten weithin durch Cedar Rapids. Es klang so einsam!
“Mitternacht!”, flüsterte Samira in sein Ohr. Warm lag ihre Hand auf seiner Schulter. Dankbar schmiegte er seine Wange dagegen. “Bist du nicht müde?”, fragte er sie.
“Die Nacht ist so seltsam, da fällt mir das Schlafen schwer.” Samira trat vom Fenster zurück und verschmolz mit den flackernden Schatten der Kerzen.
In den Straßen draußen ging plötzlich das Licht an. Der Strom war wieder da!
Khalils Blick fiel auf das Haus der Abels. Es lag im Dunkeln. Wie sehr hätte er Eden jetzt an seiner Seite gebraucht: Die Magie der Vergangenheit hatte ihn wieder im Griff!
~ Eifersucht ~
Stunden später wälzte er sich in seinem Bett. Obwohl sein Körper eiskalt war, stand ihm der Schweiß auf der Stirn. Verschiedenste Bilder rasten durch sein Gehirn. Sein Geist taumelte durch die Nacht zwischen Wachen und Schlaf. Khalil befand sich wieder im Krieg, träumte von der Zeit im Verlies, hatte Kakerlaken und Erde im Mund, roch Blut und Tod. Wie viel davon hatte er selbst über die Menschheit gebracht?
Übergroß beugte sich Abdullah Shermans verzerrtes Gesicht über ihn. “Du wirst mir gehorchen”, donnerte seine Stimme. “Du bist zu Großem bestimmt.”
Khalil fuhr auf. “Nein, niemals!”, schrie er wie damals zurück. “Gotteskrieger sind Gesandte des Teufels, du machst mir nichts vor. Es hat ein Ende!” Er schlug um sich.
Als er bei seinen wilden Bewegungen auf keinen Widerstand traf, wachte er endgültig auf. Es war nur ein Traum, sein verhasster Vater war tot!
Er ließ sich wieder ins Kissen sinken und tastete um sich. Der Platz neben ihm war so leer. Khalil fiel ein, dass er wieder daheim war. Eden hatte ihn fortgeschickt!
Obwohl die Heizung in seinem Zimmer auf Hochtouren lief, fror es ihn. Es war nicht die Kälte von außen, sondern die in seinem Herzen, die seine Beine gefrieren ließ. Sie fühlten sich bleischwer an.
Vorsichtig versuchte er, sie zu bewegen, um seinen Kreislauf wieder in Gang zu bringen.
Als es Khalil etwas besser ging, setzte er sich wieder auf. Er würde nicht dulden, dass er Eden noch einmal verlor.
Entschlossen stand er auf und zog sich an. Kaum war er sich dessen bewusst, was er tat. Noch weniger wusste er, was er zu tun gedachte.
Leise öffnete er seine Tür und schlich durch den Korridor, darauf bedacht, seine Mutter nicht zu wecken. Khalil machte kein Licht, sondern tastete sich an den Wänden entlang bis zum Eingang. Bevor er ins Freie trat, öffnete er die Schublade einer Kommode und suchte nach seiner Taschenlampe. Als er sie fand, steckte er sie in die Brusttasche seines Parkas. So gewappnet verließ er das Haus.
~ Vereitelung ~
Das Haus der Shermans war schlicht. Einstöckig und langgezogen stand es der Straße zugewandt, eingebettet in eine Wiese. Weiß leuchteten Ahornbalken und Bretter im Mondlicht. An manchen Stellen dunkelte das Holz bereits etwas nach, bedingt durch den Regen.
Fünf kunstvoll gedrechselte Laternen standen im Hof, zwei davon direkt neben dem Eingang. Ein Schatten löste sich von der Wand, blieb einen Moment stehen und rannte kurz darauf quer durch das Gelände. Khalil hielt auf einen Schuppen zu. Dort hatte er sein Equipment.
Binnen Sekunden war er pitschnass. Er spürte es kaum, setzte jedoch seine Kapuze auf. Als er die blecherne Tür öffnete, schepperte sie, und er zuckte zusammen.
Verstohlen sah er sich um, doch es blieb ruhig. Seine Mutter hatte offensichtlich einen gesegneten Schlaf, anders als er. Ihn trieb es hinaus in die Nacht.
Bevor er den Schuppen betrat, fiel sein Blick auf das Nachbarhaus. Auch bei den Abels war offenbar alles in Ordnung. Nur in seinem Herzen tobte ein Sturm. Träumte Eden gerade von Jaden?
Mit brennendem Blick starrte er hinauf in den ersten Stock. „Bald spielt er keine Rolle mehr in deinem Leben, das schwöre ich“, flüsterte er vor sich hin. Er öffnete die Schiebetür nur einen Spaltbreit und schlüpfte hinein.
Khalil holte die Taschenlampe aus seinem Parka und legte sie eingeschalten auf seine Werkzeugbank. Er brauchte sie kaum, in seinem Reich fand er sich auch blindlings zurecht. Nach einem Augenblick der Orientierung begann er zu packen.
Fünf Minuten später lag das quaderförmige Wellblechgebäude wieder im Dunkeln. Eine einsame Gestalt schob einen Schubkarren vor sich her und wandte sich in Richtung Wald, beladen mit einer Kettensäge und einer Axt. Nichts hielte Khalil von seinem Vorhaben ab!
Nach einer weiteren Viertelstunde befand er sich an seinem Bestimmungsort und wurde vom Gebrüll der Generatoren begrüßt. Die schwarzen Lastwagen der Installationsfirma säumten noch immer den matschigen Pfad, erst morgen im Laufe des Tages würden sie wieder verschwinden.
Ihm wurde bewusst, wie hässlich dieser Ort plötzlich war: Maschinen statt einer Märchenwelt. Ihm war, als wichen die Bäume vor ihm zurück. Khalil war froh, dass Eden das jetzt nicht sah. Diesmal könnte die Imagination sie nicht beschützen.
Trotz seiner Beklommenheit ließ er sich nicht beirren, betrat den Wald und suchte nach Edens Baumhaus. Noch heute Nacht würde es fallen, und dann wäre Jaden aus ihrem Leben verbannt. So ungefähr stellte er sich das vor.
„So schlecht war deine Idee doch gar nicht, Nokomis“, sandte er einen hämisch grinsenden Gruß ins Reservat. „Leider habe ich nicht so viel Zeit!“
Als er eine Turbine passierte, riss es ihm die Kapuze vom Kopf. Ein eiskalter Luftstrom traf ihn mit aller Macht und trieb ihn zurück. Mit der Kraft des Zorns kämpfte er dagegen an und arbeitete sich durch das spätwinterliche Unterholz. Der Nachbau des Capitols lag vor seinen Augen, nicht mehr prachtvoll funkelnd und mächtig, sondern schmelzend und grau. Eiszapfenreste tropften auf sein Gesicht.
Khalil stellte seinen Schubkarren zwischen zwei Bäumen ab. Die meisten der Installationen hatte die beauftragte Firma bereits wieder abgebaut, nur das Capitol und die dazugehörigen Harfen wurden noch immer gekühlt. Es schien, als kämpften zwei Windmaschinen mit den Elementen. Ihr Brüllen klang zornig und laut wie ein Hurrikan.
Am vergangenen Abend war es anders gewesen. Nichts hatte darauf hingedeutet, dass diese Welt eine künstliche war. Die Imagination war perfekt: Für Eden und ihn.
Aufrecht erhalten hatte er die Illusion durch ihre gemeinsame Gabe. Nun jedoch waren seine Kräfte erschöpft, und er sah auch keinen Anlass mehr. Seine Wut verlangte eher nach Zerstörung als nach Ästhetik und Schönheit. Noch jedoch hatte er sich im Griff.
Es hörte zu regnen auf. So schlagartig, dass es Khalil verblüffte. Soeben noch goss es aus Kübeln, und plötzlich fiel kein einziger Tropfen mehr. Der Mond linste neugierig durch die Blätter der Bäume, ganz schwach. Es war ein Sichelmond, wie am Abend zuvor. Was er zu sehen bekam, schien ihm nicht zu gefallen, denn binnen Sekunden zog er sich wieder zurück.
Khalil war mit seinen Gedanken allein. Übertönt wurden sie nur von der Kakophonie der Maschinen.
Voller Sehnsucht nach Eden trieb es ihn auf die beiden Harfen zu. Ihr Korpus war bereits fast vollständig zerstört, Drahtseile wickelten sich um seine Beine. Er keuchte entsetzt und kämpfte sich frei. Was würde geschehen, wenn er hier fiele? Khalil fürchtete, dass ihn das Dickicht verschlänge. Vor seinen Augen wurde es schwarz. Er blinzelte dagegen an und wünschte sich das gleißende Weiß der Eiswelt zurück. Sein Wunsch ging nicht in Erfüllung. Rings um ihn war es finster, und an seine Taschenlampe dachte er nicht. Khalil tastete sich an den Resten der Eiswelt entlang, auf der Suche nach seiner Karre. Ihm fiel wieder sein Vorhaben ein, doch wo war das Baumhaus? So weit entfernt vom Capitol konnte es doch nicht sein!
Er stieß sich das Schienbein an einer Strebe und fiel vornüber. Die Mulde der Schubkarre hielt ihn gefangen, er fühlte die Zacken der Säge an seiner Brust. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Wenn sich jetzt das Schicksal gegen ihn stellen würde …
Fast rechnete er damit, dass die Kettensäge von selbst zu laufen begann und ihn zerteilte. Adrenalin riss ihn aus der drohenden Agonie. Er holte die Taschenlampe aus seiner Brusttasche, klappte deren Bügel aus und stellte sie auf. Sofort fühlte er sich wieder sicherer.
Khalil richtete sich vollends aus der Schubkarre auf und sah sich um. Teils standen Bäume dicht an dicht und griffen nach ihm, teils rückten sie von ihm ab. Verwundert schüttelte er seinen Kopf, im Versuch, sein Sichtfeld zu klären. War dieses seltsame Waldleben Realität oder doch Illusion? Spielte seine Psyche ihm einmal mehr einen Streich?
Erneut traf ihn der Luftstrom einer Turbine und schleuderte ihn durchs Geäst. Khalil verlor seine Bodenhaftung, flog durch die Nacht und prallte an einen Fels. Stechende Schmerzen rissen ihn fast entzwei. Minutenlang kämpfte er gegen die Ohnmacht an. Eiseskälte ergriff sein Herz.
Überarbeitungsphase
Fortsetzung folgt
***
Anmerkung der Autorin: Vorerst gehts hier nicht weiter. Ich habe keine Ahnung, ob ich irgendwann mal wieder in die Puschen komme, was Schreiben angeht. Ich weiß zwar, wie das Ende von "Sturmnacht-Melodie" (ehemals Edens Song) aussehen soll, habe aber dummerweise gar keine Lust, eine Tastatur zu mehr als ein paar Plaudereien anzufassen. Deshalb warte ich erst mal ab, wie es bei BookRix weitergeht, schaue mich nebenbei nach was Anderem um und überlege mir dann, ob ich überhaupt wieder schreibe. Auf Streetlib bin ich übrigens auch. Wartemodus - wie hier.
Gruß Sina Katzlach
Jahr: 2021
6. Januar: Blutkarneval
7. Januar: Schlafende Hunde, Ankunft Jaden und Eden
7. Januar, nachts: Erwachen, Echo der Gewalt
8. Januar, tagsüber: Bekenntnisse, Jaden und Eden
8. Januar, nachts: Eden entscheidet sich
9. Januar: Flügel der Nacht, Jaden ist weg, Marvin kommt. Aktuelles Geschehen: Tagsüber, der Brand.
23. Januar: Khalils Entlassung, Demonstration, Abbys Tod. Kapitel Leerraum, Steinewigkeit.
24. Januar: Kapitel "Schneewelten"
30. Januar: Kapitel "Flagge der Freiheit", Edens Eisweltnacht, Missionsüberbringung Nokomis, Kapitelabschluss
16. Februar: Faschingsdienstag, Friedenskonzert in Cedar Village, Kapitel "Ein Weg voller Dornen"
Notizen: Schießerei auf Klinikgelände, jemand schubst Khalil, bevor er getroffen wird. Eden sieht Josie. Diese lässt Jadens Stirnband fallen. Abby ist in der Nähe und fordert es von Eden zurück. Sie sagt, dass sie aus der Stadt abhauen soll, Eden habe schon genug angerichtet.
Check, Kapitel Leerraum aufgelöst.
Nächster Kapiteltitel: Steinewigkeit?
Was fällt mir dazu ein: Schauplatz Katharinenkloster, wo Khalil als Junge gerettet wurde. Gutes Ziel für eine Hochzeitsreise nach Sinai. Khalil könnte Eden seinen Fluchtweg zeigen. An der Stelle, wo die Mönche ihn fanden, errichtet er einen Schrein zwischen den Felsen für seine Liebe zu Eden. Anschließend geht es ans Meer. (Zukunftsmusik!)
Kapiteltitel: Flagge der Freiheit
Khalil bereitet auf einer Lichtung eine Eiswelt für Eden vor. Zwei große Harfen aus Eis, echte Saiten. Eine Tafel, festlich gedeckt. Die ukrainische Flagge. Er hat sich nachts in ihre Träume gehackt (sagt er). Sein Plan: Sie vorzubereiten auf ihre Zukunft. Sie üben ein Kabinett. Gemeinsam erhalten sie eine Einladung in das Capitol. Eden soll spielen und eine Rede halten. (hat sich aber anders ergeben).
Brainstorming für "Ein Weg voller Dornen": Ausgangspunkt Kapitel Flagge der Freiheit, wo Nokomis die Feier versaut. Es waren nur die Familien versammelt. Das heißt: Marvin und Adeela, Khalil und Samira, Eden und Eltern. Nokomis kam später dazu, verschwand aber wieder.
Was war der Sinn? Eden erfuhr von ihrem Studienplatz in New York, Fachrichtung Musik. Khalil wird ebenfalls noch einmal studieren und seinen Job bei Marvin aufgeben. Grund: Er will Botschafter werden und gemeinsam mit Eden in Krisengebiete reisen. Das hätte er ihr an jenem Abend gesagt. Frage: Kam er dazu?
Antwort: Ja, er hätte es ihr im Bett sagen können. (Erledigt durch Kapiteleinführung in "Ein Weg voller Dornen").
Welche Besonderheit hätte besagter Abend gehabt? Antwort: Es war nicht Khalils einziges Anliegen, das Eden zu sagen. Er hatte etwas für sie organisiert und wollte ihr das in Metaphern erzählen (in Form ihrer Märchenwelt). Gescheitert durch Jadens Mission.
Frage: Was genau hatte er vor? Antwort: Ein Friedenskonzert in naher Zukunft. Genau genommen als Gastredner mit musikalischer Begleitung im Kapitol.
Realistisch gesehen: Gibt es dafür Optionen? Antwort: Nein, eher nicht. Weder Eden noch Khalil taten sich bisher politisch hervor, außer im Hintergrund. Sie müssten erst öffentliche Aufmerksamkeit erregen, und das am besten global.
Inspiration: "Ein Weg voller Dornen" könnte ich doppeldeutig gestalten. Da ist zum Einen der Weg in die Diplomatie und zum Andren Jadens Mission. Letzteres steht erst mal im Hintergrund.
Kommen wir zurück auf "Realistisch gesehen": Im Jahr 2021 wurde der Karneval ausgesetzt, vermutlich wegen des Angriffs aufs Kapitol. Das bietet Chancen. Wie wäre es mit einem regionalen Friedenskonzert als erster Schritt? Termin: Faschingsdienstag.
Frage nun: Wo? Was bietet sich an? Cedar Rapids wäre zu klein. Antwort: Wo öfter mal so was stattfindet. War Cedar Village. Dort fand Eden als Kind wieder zu sich zurück (Kapitel "Cedar Rapids").
Rückblick sinnvoll? Antwort: Ja. Unterkapiteltitel: Cedar Village.
Entscheidung: Eden kehrt an einen Ort ihrer Kindheit zurück (Stichpunkt für Szenarieneinführung).
Was ist zu beachten? Antwort: Edens damaliges Alter (sechs Jahre). Durch das damalige Konzert fand sie zur Musik. Besondere Merkmale: Zwei Ulmen mit Querverweis auf einen Terroranschlag in Oklahoma, sie stehen noch immer. Aufgeführt wurde das Konzert von der Sibling of Light Commonwealth.
Das könnte auch die Verbindung sein: Khalil und Marvin haben sich mit den Organisatoren kurzgeschlossen.
Die Handlungen in dieser Geschichte sind frei erfunden.
Einige Schauplätze existieren tatsächlich, wurden jedoch zur Inspiration zweckentfremdet.
Die vorkommenden Akteure sind bis auf drei Ausnahmen nicht existent. Eventuelle Namensähnlichkeiten sind unbeabsichtigt, jedoch nicht ausgeschlossen. Rückschlüsse auf tatsächlich existente Personen sind in keinem Fall zu ziehen.
Hintergrund Nahost-Konflikt: Die im Rahmen der Geschichte vorkommenden Militär-Aktionen sind frei erfunden, wurden jedoch an tatsächliche Geschehnisse angelehnt.
Washington: Die Szenarien ähneln der Realität und bauen auf dementsprechenden Recherchen auf. Eventuell real existierende Persönlichkeiten wurden verfremdet. Die Basis der vorliegenden Inspiration zu den betreffenden Kapiteln sind Medienberichte, Social-Media-Debatten und TV-Reportagen. Edens Denkweise zu Trump ähnelt der meinen.
Die Zeit- und Ortsangaben können abweichen.
Trotz penibelster Recherche sind Ungereimtheiten nicht ausgeschlossen. Das sollte jedoch nicht wesentlich sein.
Die im Rahmen des Geschichtsverlaufs eingeflochtenen Zeitungsartikel sind Enten und wurden von der Autorin verfasst. Die dazugehörigen Zeitungs-Redaktionen sind fiktiv, ebenso wie die Signaturen der jeweiligen Journalisten. Sollte ein anderer Eindruck entstanden sein, beruft sich die Verfasserin auf künstlerische Freiheit. ... Sorry for that :-)
Eventuelle Geschäftsideen entspringen darüber hinaus der Fantasie der Autorin, ebenso wie Mr. Squintie. Des Weiteren ist nicht zu erwarten, dass es in Cedar Village und in Indianapolis ein Nostalgie-Auto-Pub gibt. Wohl aber gibt es in Amerika eine Autogarage im Stil der Fünfziger Jahre, die als Inspiration herhalten durfte. Dreimal dürft Ihr nun raten, wie der Geschäftsinhaber heißt!
Die Sycamore Hills sind für Touristen empfehlenswert.
~ Abby und Josie ~
~ Flagge der Freiheit ~
"Eden's Song" ist das erste Buch von mir, an denen viele Leute durch Feedback, ständige Begleitung und sowohl durch Begeisterung als auch teilweiser Betroffenheit mitgewirkt haben. In erster Linie bedanke ich mich bei Phil Humor, ein BookRix-Autor, der durch mehrere Kommentare und Ratschläge weitere Inspirationen freisetzte und mir über Schreibblockaden half.
Bei Michael Gertges bedanke ich mich für die Idee mit den Zeitungs-Annoncen, für seine Begleitung beim Schreiben und seine sanfte, jedoch konstruktive Kritik, die zum Innehalten und Einnehmens verschiedener, teilweise auch entgegengesetzter Sichtweisen anregte.
Mein Dank gilt auch Sonja Bambey, meiner Mutmacherin. Meine Facebook-Freunde Ingrid, Franziska, Jessica, von denen ich regelrecht vorangepeitscht wurde, um das Buch zu Ende zu bringen.
Bedauerlicherweise muss ich mich auch bei Israel und Palästina bedanken, weil das Haudegentum dieser Länder erst dafür sorgte, dass es "Eden's Song" überhaupt gibt.
Last but not least bedanke ich mich bei all meinen bisherigen und künftigen Lesern und hoffe, dass euch die Geschichte um die kleine Eden und ihren Freund Khalil gefällt.
Herzlichst
Sina Katzlach
die Verfasserin dieses Buchs
Plattling, 16.09.2014
Zur Person: Im Oktober 1961 wurde Sina Katzlach als Bodenseenixe in Lindau geboren. Ihr Sternzeichen Skorpion prägt ihr Leben: Voller Ecken und Kanten, ehrgeizig, stachlig, spitze Zunge, die oft genug für Scherereien sorgt. Haare auf den Zähnen, sagt ihr Umfeld, zumindest manchmal. Da jedoch ihr Geburtsdatum gleich am ersten Tag des Sternzeichens liegt, werden zumindest die negativen Eigenschaften ihres Tierkreiszeichens etwas abgeschwächt, und so geht es noch ein kleines bisschen in Richtung Waage.
Vier Geschwister, davon eine Schwester, aufgewachsen in Oberschwaben, doch zuhause in der ganzen Welt, zumindest in ihren Gedanken: Dies ist ihr Profil und der Beginn eines literarischen Weges. Sina ist die älteste von Fünfen und die Einzige von ihnen, die sich für Literatur interessiert. Kreativität wurde ihr dennoch bereits in die Wiege gelegt, vonseiten der Mutter, die gern bastelt und mit Stoffen rumspielt. Ihr momentaner Wohnort ist in Niederbayern, dort wohnt sie mit Partner und Katze seit 2011. Ein Oberschwabe in Niederbayern, ein Kulturschock, zumindest am Anfang!
Literarisches Statement: Das Schreiben war schon immer voller Faszination und ist es noch heute. Der Schwerpunkt ihres Schaffens ist eher selten die Eigenperson, sondern eine gewisse Vorliebe für Psychologie und Philosophie. Schicksale bestimmen Sina Katzlachs Geschichten und verfolgen bevorzugt die Richtung „Gesellschaftsentwicklung“. Die Werkzeuge, derer sie sich beim Schreiben bedient, sind die Genres, in denen sie sich bewegt – von Poesie bis hin zu Dystopie, Fantasy oder Mystery-Dramen. Auch satirische Texte fließen hin und wieder aus ihren Fingern, diese jedoch bevorzugt für Social Networks und Bücherplattformen.
Schulbildung und Beruf:
Mit einem abgebrochenen Realschulabschluss war es zu damaliger Zeit schwierig, sich einem vorgefertigten Weg anzupassen. Dies dürfte jedoch für Sina Katzlachs heutigen Status in der literarischen Welt nicht mehr maßgeblich sein. Denn heute zählt nur noch das Schreiben. … Sonst nichts!
© Sina Katzlach
Man sagt aller zehntausend Monde wird ein Wolf geboren, der so stark ist,
dass er sogar einen Bären erlegt und das jeden Morgen.
Ein Wolf, der so schnell ist,
dass ihm selbst kein Jaguar davonrennt mit seiner List.
Ein Wolf, der die Augen eines Adlers hat und die Ohren eines Luchses
und wenn du das nicht wusstest, dann höre gut zu was er noch für Fähigkeiten hat,
denn von dieser Geschichte wirst du niemals satt.
Ein Wolf, der so schneeweiß ist, dass sein Fell Kilometer weit schimmert,
so dass ihn niemand vermisst und man sich immer an ihn erinnert.
Er hat himmelblaue Augen, man kann es kaum glauben,
er ist ein Wunder der Natur, er ist der Glanz pur.
Er ist schlauer als ein Fuchs und hat das Herz eines Kämpfers,
erlegen kannst du ihn nur mit Hilfe eines Speers mitten ins Herz.
Dieser Wolf ist heute Nacht zum Leben erwacht.
Den Namen gibt ihm die Mutter des Lichtes, so war es immer und so ist es.
Auch sucht sie sich den Ort aus wo er geboren wird
und nach einem langen Leben wieder stirbt.
Diesmal war es Arendyll, weit entfernt von jedem Meer, diese Entscheidung fiel ihr gar nicht schwer.
Dort ist er heute Nacht geboren worden
und man sieht noch immer das Licht an den Himmelstoren.
Ein helles Licht am Horizont erschien
und hat ihm all seine einzigartigen Gaben verliehen.
Der Name Akela spricht für sich, denn er bedeutet das Wunder des Lichts.
Siehst du die Narbe in seinem Gesicht, das ist das Zeichen des Lichts.
Bist du bereit mit diesem Wolf zu ziehen, der heute Nacht ist erschienen?
Akela ist geboren und ein Geschöpf der Natur hat noch nie einen Kampf verloren
und kämpft mit Liebe pur.
Zieh mit diesem Wolf und höre sein Geheul, geh auf ihn zu und zeig keine Scheu.
Willkommen im Leben Akela, wir haben auf dich gewartet und nun bist du da.
Die Mutter des Lichts schrieb dir Kampf ins Gesicht.
Zeig uns deine ungeheure Kraft, mit der du jeden Gegner erlegst und schaffst.
Wenn du der seltenste Wolf dieser Erde bist, dann möchte ich,
dass ihr alle wisst, dass ein Wolf eben nicht nur ein Wolf ist.
Nein, du bist was du nun mal bist, Akela, und genau dich haben wir hier vermisst.
Verblüffe uns mit deinen Taten, denn auch wir wollen nicht mehr länger warten.
Eine Legende sollst du werden und erst nach einem langen
sowie siegreichen Leben sterben.
Akela höre uns an, wir sind deine Boten des Lichts,
sag es uns jetzt und nicht irgendwann, wann du durch die Mauern brichst.
Städte willst du erobern und der Ruf soll dir vorauseilen,
dann zieh los und lass uns hier nicht verweilen.
Man gab dir besondere Gaben, also lass mich nicht noch einmal fragen.
Zieh endlich los, denn Arendyll ist groß.
Auf in den Kampf und zeig uns wie der Wolf tanzt.
Willkommen im Leben!
Willkommen auf Arendyll!
Lass die Erde erbeben,
denn jeder Anfang ist sehr leise und still.
Gesegnet seist du mit all deinen Gaben, lang sollst du bei uns bleiben,
bevor wir dich begraben.
Feen, Elfen, Drachen und auch @Alidona stehen dir zur Seite,
nun zieh los und verbreite, dass du der Wolf des Lichtes bist,
so dass dich jeder kennt und niemand mehr vermisst.
Alles Gute wünsch ich dir und ich hab so ein Gespür,
dass man dir mit allem entgegenkommt und du Arendyll zu neuem Leben formst.
@Alidona lässt dich ziehen und handeln wie du willst, weil sie weiß,
dass du so dein Verlangen stillst.
Das Verlangen nach Kampf, Sieg und Ehre, also zieh Akela, du hast keine Sperre.
Der Weg ist frei, der Tag ist gekommen, wir haben dein Dasein alle vernommen.
~ ~ ~ ~ Wenn @Alidona mit den Wölfen zieht ~ ~ ~ ~
Wenn es Nacht wird auf Arendyll, dann zieht @Alidona mit einem Wolf umher, ganz leise und still.
Ihren Namen muss ich dir nicht verraten,
denn auch sie verbringt meisterhafte Taten.
Akela ist sein Name, aber Achtung ich warne, denn mit diesem Wolf spielt man nicht,
weil das Wort Kampf steht in seinem Gesicht.
Er kämpft mit purer Leidenschaft, kein anderer Wolf hat so enorme Kraft.
Akela ist vom Herzen her für jeden da, aber wittert er Gefahr,
dann komm ihm besser nicht zu nah.
Mit seinen Zähnen zerreißt er dich und du siehst nie wieder das Sonnenlicht.
Wenn Akela auf Raubzug geht, dann weiß man,
dass es schlecht um seine Feinde steht,
denn er ist von Natur aus mit vollem Elan dabei
und somit setzt er seine wahren Kräfte frei.
Dieser Wolf hat außerdem die unglaubliche Gabe,
dass er den Feind schon zuvor erkennt,
wenn Akela dann auf ihn zu rennt, dann ist es zu spät
und ich hoffe sein Feind hat noch genügend Zeit, für sein letztes Gebet.
Akela lebt nun hier auf Arendyll, sein Leben hier, macht alles andere als still.
Doch nun ist er geboren, darum spitz deine Ohren.
Wenn du es im Wald mal rascheln hörst, dann lauf so schnell du kannst,
bevor er dich zerstört und um dich tanzt.
Akela ist der gefährlichste Wolf auf Arendyll, jenseits vom Meer,
Feinde zu zerreißen fällt ihm ganz gewiss nicht schwer.
Er liebt den Kampf und das besonders in der Nacht,
also sei auf der Hut und gib gut auf dich Acht.
Präge dir seinen Namen ein, denn du wirst bald merken,
auf Arendyll bist du nicht allein.
@Alidona hat seine Freunde und Kämpfer mit Bedacht ausgewählt,
weil für ihn genauso wie für Akela nur der reine und unumstrittene Sieg zählt.
Eines muss ich euch noch sagen, in guten wie in schlechten Tagen,
musst du das Heulen des Wolfes vor und nach der Schlacht ertragen.
Akela ist gefährlich und wild zugleich, also überlege dir gut,
ob du ihm die Hand reichst.
Der Wolf kommt nie allein, das solltest du wissen,
denn du wirst von seinem gesamten Rudel gebissen.
Der Biss von Akela schmerzt nicht nur, nein, er bereitet Akela Freude pur.
Er zerreißt dich in tausend Stücke und mit purer Leidenschaft,
also gib Acht, denn besonders in der Nacht hat er diese enorme Kraft.
@Alidona wacht, steht und kämpft mit Akela,
zusammen sind sie schneller als du glaubst und unschlagbar.
Der Ruf des Wolfes ist gefallen, also zieh los Akela und schärfe deine Krallen.
Wir heulen mit dir heute Nacht, Bewohner Arendylls nehmt euch in Acht.
Wir ziehen mit den Wölfen über Arendyll
und es wird dabei ganz sicher nicht still, denn den Kampf wollen wir, genau das ist unser Ziel.
Lauf Akela und treib uns an, denn dein Rudel ist hungrig und wartet schon lang.
Wir warten auf dein Heulen und wollen alle mit dir ziehen,
also heul auf, damit Andere Zeit haben zu fliehen.
Akela heule lauter als der Wind, weil wir heute alle bei dir sind.
Gott vergib uns unsere Schuld, doch Akela hat keine Geduld.
Er will es mit aller Macht jetzt wissen und hat seine ersten Feinde bereits gebissen.
Akela ist das Wunder der Natur, drum lieber Herr Gott sei nicht so stur.
Gib Akela keine Schuld, denn warten heißt Geduld.
Geduld jedoch, das hat er nicht, denn Kampf steht in seinem Gesicht.
Für Akela und für unsere Allianz ist @Alidona heute die,
die mit dem Wolf tanzt.
Akela nun lass uns laufen und um deine Beute raufen.
Lass dein Heulen ertönen, denn deine Feinde wollen wir bestimmt nicht verwöhnen.
Bekämpfen wollen wir sie, also lauf los und zieh.
Zieh uns alle in die Schlacht hinein,
denn heute sind alle Freunde da und wollen bei dir sein.
Mit dir kämpfen und mit dir siegen, komm Akela, lass uns alle Feinde heut bekriegen.
Du bist der Wolf des Lichts, drum lass uns zusammen kämpfen,
was Anderes und mehr wollen wir nicht.
Als Wolf bist du ein Ureinwohner auf dieser Welt und egal ob das was zählt,
du hast mit uns dein Schicksal schon gewählt.
Wir sind zusammen eine Allianz und @Alidona ist heute die,
die mit dem Wolf heult und tanzt.
Hast du jemals in die Augen von Akela gesehen, wenn ja,
dann wirst du diese Geschichte um ihn verstehen.
Gelobt sei der Wolf, denn sein Tag ist gekommen,
nun hast auch du das hoffentlich vernommen.
Der Startschuss ist somit gefallen, nun sollst auch du dieser Geschichte verfallen.
Nun weißt du, dass hier ein Wolf des Lichtes lebt
und @Alidona stets neben ihm wacht und steht.
Wenn die Feen tanzen auf Arendyll, dann schleicht Akela umher, ganz leise, achtsam und still.
Wenn Blut durch die Flüsse fließt, dann schau genau hin,
weil du darin die Taten von Akela liest und bist so mittendrin.
Am Tag schläft er in seinem Bau, sei klug und schlau,
halt dich fern von seinem Bau.
Denn Akela ist nun hier zu Haus und ihre Geschichte ist noch lange nicht aus,
denn viele Taten wird er verbringen und ob ihm alle gelingen,
diese Nachricht wird mir eine Fee dann bringen.
Nun lassen wir Akela erst mal ziehen,
denn diese Geschichte ist wahr und nicht geliehen.
... ...... ...... und solange es Akela gibt, ist @Alidona die, die mit den Wölfen zieht,
damit es bei dieser Geschichte kein Ende gibt.
Wenn man Akela's Geschichte versteht, gebt ihr ihm so die Kraft und er lebt.
Er lebt ihn euren Herzen, in eurer Fantasie und ich vergewissere euch,
so hat er niemals Schmerzen und lebt in Harmonie.
Akela hat die Kraft des Lichts und damit du diesen Bann auch niemals brichst,
ist es wichtig, dass du an ihn glaubst,
weil du ihm sonst die Kräfte und alle Hoffnungen raubst.
Drum lebe diese Geschichte, von der ich hier berichte,
denn nur so wird Akela ewig leben, da wir ihm so die Kräfte und die Hoffnung geben.
Der Glaube an Akela zählt, damit er seinen Weg mit voller Kraft und Sorgfalt wählt.
~ von Robert Kremser ~
Texte: Sina Katzlach
Bildmaterialien: dito
Cover: Sina Katzlach
Lektorat: Die Fans von Eden und Khalil :-)
Satz: Sina Katzlach
Tag der Veröffentlichung: 01.04.2014
Alle Rechte vorbehalten