Cover

Copyright

Cover: Leo Kirchner

Bildquelle: derselbe

Storytelling: Sina Katzlach             

        

Herausgeber: Siehe Impressum

             

Hinweis: Sämtliche Inhalte dieses Werks sind urheberrechtlich geschützt.

Bei widerrechtlicher Verwendung ohne schriftliche Genehmigung vonseiten der Urheberin (siehe oben, it's me) gibt's Haue, und Haue macht ganz feste Aua!

 

 

Widmung

Für eine Jugend, die ihrer Welt nicht entrinnen mag

 

Für Kinder, die in den Klauen der Furcht leben müssen

 

Für verzweifelte Eltern, welche die Sonne nicht sehen

 

Für alle Gefangenen, für Ignoranten, gegen die Angst

 

***

Für alle Lebenden, denn für die Toten ist es zu spät!

Kapitel-Verzeichnis

Vorwort

 

Thiaras Tod

(begleitende Lyrik)

 

Erstes Buch:

Eine gewesene Welt

 

Sternenkinder

(begleitende Lyrik)

 

Astril und Yoras

 

Das Regenbogen-Portal

 

Zweites Buch:

Der Fluch des Aquamarins

(begleitende Lyrik)

 

Die Goldene Stadt

 

Genevieve und Tronador

 

Zwei Kronen voller Tränen

 

Die Halle der Sieben

 

Die Heimkehr

(begleitende Lyrik)

 

Der Vormarsch

 

Zwischenbilanz

 

Drittes Buch:

Du bist das Licht meines Lebens

(begleitende Lyrik)

 

Adravanta

 

Die Schmach der Rache

 

Das Tribunal

 

Des Königs letzte Reise

 

Das Ende Avalonias

 

Epilog

 

Nachhall

 

***

Die Autorin

(Vita)

 

Anhang: Wie alles begann ...

(Die Geschichte einer Geschichte)

 

Vorausschau:

Reinkarnation

(Begleitende Lyrik)

Thiaras Tod

Flammen lohen hochauf in die Vollmondnacht

Grausames wird in seinem Scheine vollbracht.

In die Lüfte erhebt sich ein laut gellender Schrei,

ein Menschenherz bricht leise klirrend entzwei.

 

Das Höllenfeuer knistert und prasselt gar laut

Es versengt Thiaras Henkern die eiskalte Haut.

Demütig haben sie heuer Gottes Amtes gewaltet,

in das sich scheinfromm die Inquisition geschaltet.

 

Um den glühenden Balken johlt die entfesselte Meute:

„Ewig brennen sollst Du, Braut aller Satansbräute.“

Eine grausige Wahrheit lag in dem Schreckensfluch

und wob ihren Mördern baldigst das Leichentuch.

 

Bis in alle Tage soll jener Balken lodernd brennen

und jene Heuchler auf ewig von Avalonia trennen.

Bei Vollmond wird sie das gerechte Schicksal ereilen

und auf ewig bis hin zu  ihren Söhnen verweilen.

 

 Und plagt uns Sünder noch so sehr das Gewissen:

Dies wird geschehen, solange wir Demut vermissen.

Niemand darf sich in Seine heilige Ämter schalten

und dreist das Werk Seiner gütigen Hände verwalten.

 

 Habt Ihr verstanden, um was es sich hierbei handelt?

Lernet, Mensch, wie Gutes zum Bösen sich wandelt.

Vieles geschieht gegen der Himmelsmacht Willen,

um scheinbarer Jünger Durst nach Macht zu stillen.

 

  Hört auf, nach unerreichbaren Dingen zu streben

und Ränke um das Schicksal der Erde zu weben.

Und sollte ich selbst auf dem Scheiterhaufen brennen:

Mich könnt Ihr niemals vom Regenbogenland trennen.

 

© Sina Katzlach

Vorwort

Im Süden Dänemarks, an der Grenze zu Schleswig, befindet sich der Staat Sonderjylland - noch heuer. Zwischen Vilsby und Hadersleff, in einem fruchtbaren Tal zwischen Wäldern und lang gezogenen Gebirgsketten, liegt das Städtchen Oslinfjord, späterhin aus gegebenem Anlass in Thiaragard umbenannt.

Die kleine Stadt, anno dazumal mit dreißigtausend Einwohnern besiedelt, wurde im 13. Jahrhundert nach Christus unter dem Namen Oslinfjord von Pilgern gegründet. Im Jahre 1520 n. Chr. kam in einem feudalen Herrenhaus ein kleines Mädchen zur Welt. Von ihren Eltern, die von zwei alteingesessenen Adelsgeschlechtern - den Häusern de Vilje und da Mojna - abstammten, erhielt sie den Namen Thiara.

 

***

Bereits im frühesten Kindesalter zeichnete sich eine Andersartigkeit bei dem Mädchen ab, die ihre Eltern ängstigte. Durch ein unerklärliches Phänomen wandelte sich das lange Blondhaar der Fünfjährigen in eine einzigartige, silbrige Farbe, die zudem metallisch glänzte. Ihre bis dahin blauen Augen veränderten sich in einen katzenhaften Grünton, der am Rande der Iris goldfarben umrandet war.

Darüber hinaus begann Thiara, mit Tieren und Pflanzen zu reden. Das kleine Mädchen verfiel des Öfteren in Trance und beherrschte in jenem unsäglichem Zustand, der ihr offensichtlich Schmerzen bereitete, eine unbekannte Sprache. Wenn sie aus ihrer Entrückung erwachte, nahm sie nichts mehr von ihrer Umgebung wahr und hatte alles vergessen.

Selbst  ihre Haar- und Augenfarbe stieß in weitläufiger Umgebung bei der abergläubischen Bevölkerung auf großes Befremden. Hinter vorgehaltener Hand wurde gemunkelt, dass dieses Kind des Teufels sei.

Verschiedene Diener des Christentums gaben sich in dem schlossartigen Gebäude am Stadtrand die Klinke in die Hand, um das Rätsel, welches Thiara umgab, zu ergründen. Ein um das andere Mal wurde von den Befehlshabern der Stadt erwogen, das unheimliche Wesen aus dem Weg zu schaffen. Lediglich die Macht ihrer Eltern und der Respekt, der ihnen entgegen gebracht wurde, verhinderten ein größeres Unglück.

Das ansonsten hübsche Kind führte ein Leben wie im sprichwörtlichen Goldenen Käfig. Ständig war sie von Beschützern und Ammen umgeben. Im Alter von acht Jahren bekam Thiara auf eigenen Wunsch eine Garde von fünf Privatlehrern zur Seite gestellt. Diese unterrichteten sie in den Fächern Lesen und Schreiben, Mathematik, Naturkunde und Erdgeschichte, zu damaligen Zeiten eher verpönt.

Später, im Alter von zwölf Jahren, befasste Thiara sich mit Fremdsprachen und Kalligraphie. Sie lernte, mit ihren Besonderheiten umzugehen und diese gezielt einzusetzen. Ab 1536 n. Chr. brachte sie die Visionen, die das Mädchen während ihrer Trancezustände heimsuchten, zu Papier und verfasste auf diese Weise verschiedenste Schriften auf etlichen Rollen Pergament. Zu diesem Zweck benutzte Thiara mehrere Runenarten, die durch Eingebungen entstanden sein sollen und niemand entziffern konnte.

Darüber hinaus verbreitete sie bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahr Lehren, die von der Frömmigkeit als heidnisch angesehen wurden. 1540 n. Chr. festigte die katholische Kirche ihre Macht unter der überwiegend protestantischen Bevölkerung, indem sie in den Grenzgebieten Dänemarks die Inquisition einführte. Thiara war eins der ersten Opfer, an denen unter unsäglichen Folterqualen ein Exempel statuiert wurde. Keine Macht der Welt konnte verhindern, dass die junge Frau, zu unvergleichlicher Schönheit erblüht, als Hexe gefangen genommen wurde.

Nach zwei Monaten ständiger, endlos langer Verhöre, in denen ihr nahe gelegt wurde, ihre Lehren zu widerrufen, besiegelte sich ihr trauriges Schicksal. In einer Vollmondnacht im Oktober wurde für Thiara auf einem Feld außerhalb der Stadt ihr Scheiterhaufen errichtet.

Die von ihr verfassten Chroniken wurden gemeinsam mit ihren sterblichen Überresten, die nahezu bis zur Unkenntlichkeit verkohlt waren, innerhalb eines kleinen, ungeweihten Grundstücks der katholischen Kirche beigesetzt.

Der Balken jedoch, an den Thiara während ihrer Hinrichtung gekettet war, sollte bis in die heutigen Tage bestehen bleiben. Jeder Versuch der nachfolgenden Generationen Stadtväter, das Schandmal - in einer Zeit, zu der es längst keine Hinrichtungen mehr gab - zu entfernen, scheiterte. Sobald Hand an ihn angelegt wurde, stand er lichterloh in Flammen. Der Legende nach brachte er allen den Tod, die unmittelbar an Thiaras Verbrennung beteiligt waren, bis hin zu deren heutigen Nachkommen.

 Im 18. Jahrhundert, kurz vor dem Wechsel in ein neues Zeitalter, brachte ein Zufallsfund des damaligen Ortspfarrers im selbigen Gelände einer neu errichteten Kirche die Lehren Thiara de Viljes zu Tage. Gleichzeitig wurde ein Dokument gefunden, das den Schlüssel zur Entzifferung der fremden Runen beinhaltete. Nach jahrelangen Studien jener Annalen wurden ihre Lehren – in  sonderlich anmutender Schreibweise verfasst - sowie ihr grausiges Schicksal offenbar. Das Unheimliche daran war, dass sie über ihre eigene Hinrichtung schrieb. Den Beweis für die Übereinstimmung ihres Epos mit den Geschehnissen boten die Stadtchroniken von Oslinfjord. Sie belegten, dass es sich genauso zugetragen haben musste, wie ihre Legende erzählte.

1850 n. Chr. wurde Thiara rehabilitiert. Auf Betreiben des Pfarrers, der großen Anteil an ihrem rückwirkenden Freispruch hatte, wurde Oslinfjord in Thiaragard umbenannt.

Erstes Buch

 

Eine gewesene Welt

Anmerkung der Autorin: Avalonia, ein Kleinkontinent, der vor zirka 550 Millionen Jahren entstand, birgt die Inspiration vieler Legenden und war eine Absplitterung von Gondwanaland.

Die avalonische Plattform gibt es noch heute. Wales und Schottland zählen zum Beispiel dazu. Wer die Sage von König Artus kennt, weiß wahrscheinlich Bescheid: Der Schauplatz "Avalon" leitete sich von deren Namen ab.

Auch für Thiara de Vilje - unserer Erzählerin - wurde Avalonia wichtig. Der Einfachheit halber - und aufgrund der geographischen Zugehörigkeit - wurde auch der Lebensraum des Meervolks im vorliegenden Buch danach benannt.

 

***

Recherche:

 

Das Kambrium begann ungefähr vor 570 Millionen Jahren und war der erste Abschnitt im Zeitalter des Vorherigen Lebens. Die meisten heutigen Kontinente waren zu einer riesigen Landmasse, dem Großkontinent Gondwanaland, verbunden. Er umfasste die Vorformen der vier heutigen südlichen Kontinente Südamerika, Afrika, Antarktis und Westaustralien und außerdem Indien, Teile des heutigen Mexiko und Florida, Südeuropa und möglicherweise China.

Eigene Landmassen waren die baltische, die sibirische und die chinesische Plattform sowie Kasachstan und Laurentia. Letzterer Kontinent beherbergte Ur-Nordamerika und umfasste erste Teile Kanadas und Grönlands. Der Großteil der Landmassen lag in der Nähe des Äquators. Gondwana erstreckte sich fast bis zum Südpol. Die Antarktis lag am Äquator, Ur-Europa in der Nähe des Südpols.

Durch die Lage der Kontinente teilte sich das Meer, die Paläo-Thetys, und umgab die neu geformten Kontinente. Dadurch entstanden die Urformen der heute bekannten Ozeane. Zwischen Laurentia und Baltica lag der Urvater des Atlantiks und wurde von der Wissenschaft als Yapetus benannt, der Schauplatz des Buchs.

Gegen Ende des Kambriums, kurz vor dem Übergang in eine neue Epoche der Erdgeschichte, wurde die Erde von allen Hauptstämmen der Evolution, außer den Wirbeltieren, bevölkert. Das Leben beschränkte sich auf Meeresräume, auf das Land drangen die Organismen noch nicht vor. Die kambrischen Lebewesen besaßen harte Schalen und Skelette aus Chitin oder Kalk. Um einige der Stämme anzuführen: Zum Beispiel Schwämme und Würmer, aber auch Weichtiere und Gliederfüßer, die Vorläufer von Muscheln oder Kraken sowie die ersten Krebs- und Skorpionarten. Die einzigen Pflanzen waren jenerzeit eine Urform von Meeresalgen.

 

(Quelle: Microsoft Corporation, Enzyklopädie 2003)

 

***

  Stellamaris

 

Vor 550 Millionen Jahren erhob sich aus dem Meer Yapetus eine Inselgruppe vulkanischen Ursprungs. Sechs Inseln davon gruppierten sich zu einem Ring. In dessen Zentrum lag Stellamaris, die spätere Heimat von Astril und Yoras, den Urahnen der ersten Zivilisation in den tiefsten Gewässern des Panthalassischen Ozeans. Majestätisch erhob sich die größte der insgesamt sieben Inseln über die Köpfe der anderen Landmassen hinweg, die sie umkosten wie eine Perlenkette den Hals einer schönen Frau.

Das Inselreich barg jedoch eine Gefahr, denn in unmittelbarer Nähe von Stellamaris befand sich ein aktiver Vulkan.

 

***

Mehrere Millionen Jahre nach seiner Entstehung hatte sich Avalonia zu einer Oase inmitten der tobenden Elemente entwickelt. Die Erde war noch immer dabei, sich zu formen. Ihre Oberfläche hatte sich in keinster Weise beruhigt, und so veränderte sich ständig das Urbild der Welt.

Die Inseln hatten sich näher an die Küste des späteren Europas geschoben. Der Vulkan bei Stellamaris war einige Male ausgebrochen und hatte die Gruppe noch einmal beeinflusst. Durch dessen Ausbrüche verteilte sich ringsum Magmagestein, schnitten sich Buchten in die unmittelbare Umgebung, Gebirge aus erkalteter Lava entstanden.

Auch Stellamaris barg eine raue Schönheit in sich. Noch gab es weder Flora noch Fauna. Felsen aus glänzend schwarzem Gestein prägten die Landschaft, als hätte ein Riese die Insel aus Marmorbauklötzen gebaut. Möglicherweise nannte der frühe Mensch deshalb das Gebiet den Ring der Titanen, doch bis dahin bliebe unendlich viel Zeit.

Zu Beginn des Ordoviziums, zeitlich gesehen vor 510 Millionen Jahren, hatte sich das Bild der Inseln verändert. Heiß brannte die Sonne wie eine glühende Orange über ein gebirgiges Land. Eine Felsenlandschaft schmiegte sich an den Rand von Stellamaris.  Mittig eines langgezogenen Gebirgsmassivs mit mehreren Gipfeln schwangen sich sanft geschwungene Hänge neben schneeweißen Gesteinsblöcken hinab in die Tiefe. Wiederum schienen Riesen am Werk gewesen zu sein, als hätten sie sich eine Treppe aus Elfenbein zum Himmel gebaut.

Das erste Grün zeigte sich bereits auf den Terrassen. Lindgrünes Moos - kaum mehr als Flaum - klammerte sich hungrig an den Felsen fest. Aus der Höhe schossen reißende Bäche ins Tal der Insel herab und formierten sich zu einem See. In diesem spiegelte sich ein schwefliger Himmel: Noch war die Welt nicht bereit, den Atem des Lebens zu spüren.

 

***

Weitere Millionen von Jahren gingen vorbei. Es entstand die Halle der Sieben. Auf einem Plateau hatte sich in einem großen Becken Regenwasser gesammelt. Aus dem neuen See entsprang ein tosender Fluss.

Das Gewässer schien zur Heimkehr entschlossen zu sein: Zwischen gigantischem Gefelse hindurch suchte sich der Strom hurtig seinen Weg, eilte und schnellte voran und stürzte sich todesmutig brüllend in silbern schimmernden Kaskaden in eine Bucht.

Nebel bildete sich an seinem Gipfel. Hinter seinem breiten Wasservorhang hatte die Meeresbrandung im Laufe der Zeit ein Höhlensystem geschaffen, das sich durch die unteren Gesteinsschichten zog. Der Urozean durchlief in sieben Kammern, von denen eine jede ihre Besonderheiten hatte, das Gebirge und schuf eine Unterwasserwelt, die märchenhafter nicht sein hätte können.

Mehrere Öffnungen führten hinein, eine davon direkt hinter dem Fall. Das Innere der ersten Höhle erschien wie eine riesige Kathedrale und beherbergte Basaltgesteinssäulen in sämtlichen Formen. Einige davon waren so hoch, dass sie das fast rund geformte Deckengewölbe erreichten. In einer Höhe von fünfzig Metern war eine Luke, durch die Tageslicht fiele, hätte die Welt das Dunkel der Urzeit verdrängt.

Das Wasser des Ozeans brodelte und gurgelte am Eingang um das bizarr geformte Gestein, als würde es kochen, doch die Höhle war groß. An ihrem Ende wurde das Meer ruhiger und durchquerte friedlich gekräuselt ein breites Tor zur nächsten Kammer, die aus mehrfarbigen Gesteinsschichten bestand. Schön geschwungene Linien zeichneten Bilder von uralten Göttern, von seltsamen Wesen, von Leben und Tod.

 

 

Sternenkinder

Vor langer Zeit waren große Dinge geschehen,

die kein menschlich' Auge hatte gesehen.

Eine Insel wurde Stellamaris benannt,

in einer Muschel warden zwei Sterne gebannt.

 

Die unglücklichen Seelen voller Liebe trunken,

vom Himmel gefallen, bei Avalonia versunken.

Astril und Yoras waren der Liebenden Namen,

aus dem Schoße des Universums sie kamen.

 

Die jungen Herzen, die füreinander geschlagen

in unerfüllter Liebe in jenen frühesten Tagen,

von göttlichen Händen auseinander gerissen,

zum Wohle des Lebens, wie wir heuer wissen.

 

Ihr Schicksal hatte das Urteil gesprochen

und jener Tage ihre liebenden Seelen zerbrochen.

Der Sternenkinder Schicksal ließ die Erde erbeben.

Sie suchten den Tod und fanden das Leben.

 

© Sina Katzlach

Astril und Yoras

In die Ära des späten Ordoviziums fällt die Weiterentwicklung von Mollusken, dem Stamm, dem auch Muscheln angehören. Kurz vor dem Wechsel in eine neue Epoche - das Silur - bereitete sich Stellamaris gemeinsam mit der Welt auf die Ankunft des Göttlichen vor.

Mittlerweile waren mehr als vier Milliarden Jahre seit der Entstehung der Erde vergangen, und aus einem kleinen Bällchen wurde ein stolzer Planet. Die Meereswelt des Yapetus wurde seinerzeit von urtümlichem Leben bewohnt.

Das Areal rund um die Inseln Avalonias herum war voller Wunder – dem Wunder des Werdens. Augenlose Fische stießen sich mit Hilfe von Tentakeln durch die Gewässer, wurmartiges Getier bewegte sich auf Stacheln über den steinigen Meeresboden. Dieser war über und über mit gelblichen Korallen bedeckt, eine der ersten Lebensformen, die bereits im Präkambrium - vor mehr als drei Milliarden Jahren - ihren Ursprung fand.

Stellamaris war wie eine Königin über die damalige Welt, und die sechs anderen Inseln schienen ihr Hofstaat zu sein. Das Inselgebirge ragte wie eine Krone gen Himmel. An klaren Tagen schimmerten Goldadern im Sonnenschein. In den Nächten funkelte der Meeresspiegel geheimnisvoll im blauen Licht von Ctenophoren, einer fluoreszierenden Quallenart. Sie waren die Kronleuchter der Meere und begleiteten lange Zeit jedes Fest der ozeanischen Völker.

Tief unten am Meeresboden jedoch, nicht weit von der Wurzel der Insel Stellamaris entfernt, lag die Riesenmuschel Aquaria, so groß und majestätisch, dass alles Meeresgetier einen ehrfürchtigen Bogen um sie machte. Sie war die Urmutter aller Mollusken. Ihr perlmuttfarbenes Gehäuse war geschlossen und hatte die Form eines Fächers. Goldadern durchzogen ihre  Muschelschalen und strahlten wie das Lächeln der Sonne.

Aquaria schlief, doch alle Hundertmillionen Jahre – so erzählte Avalonias Legende – öffnete sie sich, und ihr Inneres schimmerte so wunderschön, dass der Ozean in herrlichsten Edelsteinfarben zu leuchten begann. Die Riesenmuschel spielte eine tragende Rolle und begleitete zeit ihres langen Lebens das Meervolk durch viele Höhen und Tiefen.

 

***

Die Ankunft

 

Während Aquaria am Meeresgrund schlief, läuteten wundersame Ereignisse im All eine neue Ära ein. Laut der Legende entbrannten zwei Sterne aus dem Hofstaat der Venus füreinander in Liebe. Beide waren sehr jung und reinen Herzens.

Astril und Yoras waren ihre himmlischen Namen, die sie vom allmächtigen Schöpfer des Universums erhielten. So traten sie vor Äonen von Jahren vor ihre Schirmherrin hin und baten um ihre Vermählung. Flehentlich blickten ihre funkelnden Augen sie an, ihre Hände waren demütig ineinander gefaltet. Venus hatte jedoch allergrößte Bedenken und sprach: „Da eine solche Bitte zu keiner Zeit an mich heran getragen wurde, sollte ich mich mit dem himmlischen Vater beraten! Ich werde für Euch um Audienz ersuchen!“

Unglücklich ließen die Liebenden ihre Köpfe hängen, fügten sich jedoch der vorläufigen Zurückweisung und begaben sich wieder zu den ihnen zugewiesenen Plätzen am Himmelszelt. Das Sternenmädchen flocht traurig ihre güldenen Haare zu einem strengen Zopf und hüllte sich in weite Gewänder, um ihre Schönheit zu verbergen. Sie gab ihrem Geliebten einen züchtigen Kuss auf die Wange und verabschiedete sich. Der Junge, ein stattlicher Bursche, drückte sie noch einmal an sich, drehte sich um und verließ sie. Auch er hüllte sich in Trauer, und beider Gram war so stark, dass kaum noch Glanz von ihnen ausging.

Astril und Yoras standen dort oben in den unendlichen Weiten des Universums und warfen sich aus der Ferne schmachtende Blicke zu. Silberne Tränenbäche rannen über ihre Antlitze und durchtränkten ihre Gewänder. Sehnsüchtig warteten sie auf die erlösende Botschaft von Venus.

Jene hatte wichtige Aufgaben, die sie nicht vernachlässigen durfte. So folgte die Göttin ihrer Bestimmung und vollführte ihre ewigen Runden um Solveigh, die Sonne.

Eines Tages jedoch erinnerte sie sich an die Bitte des Paares und eilte, um ihnen zu Gefallen zu sein. Mit größter Ehrerbietung brachte sie dem Schöpfer das Anliegen von Astril und Yoras vor.

Die Liebe seiner Kinder war dem Herrn nicht verborgen geblieben, und dennoch wusste er: Die Vorsehung wollte, dass ihnen ihre Erfüllung verweigert blieb. Voller Trauer wandte der Himmelsfürst seiner Dienerin Venus das Antlitz zu und sprach: „Ich habe keine guten Botschaften für Astril und Yoras. Ich bitte Euch jedoch um Euer Schweigen, da ich sie ihnen selbst überbringe. Lasst sie bei mir vorsprechen!“

Fragend sah Venus ihn an, wagte jedoch keinen Widerspruch. Schweren Herzens verabschiedete sie sich von ihrem Gebieter und tat, wie ihr geheißen. Die Göttin sandte nach dem jungen Paar und ließ Astril und Yoras bei sich vorsprechen. Es fiel ihr nicht leicht, ihr auferlegtes Schweigegelübde zu wahren, als die Liebenden schließlich mit ineinander verschränkten Händen vor ihr standen. Der Junge und das Mädchen warfen sich halb bange, halb hoffnungsvolle Blicke zu, während sie mit angstvoll pochendem Herzen auf die Antwort ihrer Herrin warteten.

Nach endlos scheinender Stille, in der keines von ihnen auch nur einen Laut von sich gab, vermochte es Yoras indessen nicht mehr, zu schweigen und fragte leise und dennoch forsch: „Wir bedanken uns bei Euch, hochgeschätzte Herrin, für Eure Mühen! Was konntet Ihr ausrichten? Sprecht, was Ihr zu sagen habt, um uns die Ungewissheit zu nehmen, wir flehen Euch an!“

Astril und Yoras warfen sich vor ihre Füße und huldigten ihr. Tränen der Angst schimmerten wie Seen in ihren Augen und schnitten sich schmerzvoll in die barmherzige Seele der Göttin. Gütig legte sie ihre weichen Hände auf die Häupter des knienden Paars und sprach: „Ich heiße Euch willkommen, Astril, und auch Euch, Yoras. Ich drücke Euch mein allergrößtes Bedauern aus, dass ich Euch so lange warten ließ! Ich habe für Euch um Audienz bei dem Vater des Himmels ersucht. Eilet hinfort und hört, was Er Euch zu sagen hat!“

Hoffnung schimmerte silbern in Astrils Augen auf. In dem Jungen jedoch kochten siedend Zweifel hoch, ob ihr sehnlichster Wunsch in Erfüllung ginge. In seiner Verzweiflung umkrampfte er die Hände von Venus und fragte mit bebender Stimme: „Könnt Ihr uns raten, wie die Entscheidung des Allmächtigen Vaters für uns ausfallen wird? Ich flehe Euch an, oh göttliche Dienerin, verratet es uns!“ Mühsam versuchte Venus, ihr Erbarmen als unfreiwillige Mitwisserin zu verbergen. Sie umfasste die Hände des Jungen und erhob ihn zu sich. Danach bat sie Astril, sich ebenfalls zu erheben und sprach: „Alles, was ich Euch raten kann, Yoras, ist Eile. Ich kann Euch den Willen des Herrn nicht kundtun, da es seine Aufgabe ist, ihn Euch mitzuteilen. Begebt Euch zu ihm und legt Euer Geschick vertrauensvoll in seine Hände. Er allein weiß, wie er an Euch handeln will!“

 Astril nahm den geliebten Gefährten bei der Hand und versuchte, ihn zu beruhigen. „Wir müssen stark sein!“, sprach sie mit einer Weisheit, die für ein junges Sternlein ungeheuerlich schien. „Ich vertraue auf ihn, was auch immer er uns zu sagen hat! Kommt also, Yoras, lasst uns hurtig eilen, auf dass er unser nicht allzu lange harren muss!“

Nachdem Astril und Yoras ihre Herrin verlassen hatten, traten sie bangen Herzens vor den Himmelsgott hin und warfen sich ihm zu Füßen. Gesenkten Blickes warteten sie demütig darauf, dass sein Wort an sie gerichtet werde.

 Gott gefiel die Schönheit des jungen Paares, doch er sah auch deren Jugend und Kindlichkeit, die sich nicht verleugnen ließ. Lange schwieg er, in seiner Trauer versunken ob der Entscheidung, die er getroffen hatte.

Schließlich rang er sich zu seinen schicksalsträchtigen Worten durch: „Euer Anliegen ist mir vorgebracht worden, und Eure Liebe adelt Euch! Um so mehr bedauere ich, dass ich Eurem Wunsch nicht entsprechen kann! Es ist nicht die Zeit, um Eurer Bitte Genüge zu tun!“

Astril zuckte schmerzlich zusammen und blickte den Herrscher flehentlich an. Ihr güldener Teint verblasste so sehr, dass ihr Antlitz fast durchsichtig wirkte. Sie bat ihn inbrünstig: „Herr, wir lieben uns! Bitte lasst uns zusammen sein!“ Yoras griff behutsam nach ihrer Hand und drückte sie liebevoll. Danach erhob er stolz seinen Blick und fragte mit energischer Stimme: „Weshalb könnt Ihr unserem  Wunsch nicht entsprechen?"

Die Forschheit des Jungen verärgerte ihn. Der Schöpfer des Universums sah jedoch, dass Yoras reinen Herzens war und honorierte dessen Mut, indem er seinen Zorn vor ihm verbarg. Lange hatte er über die Folgen einer Vereinigung von zwei Sternen nachgedacht und war zu der Einsicht gekommen, dass die Schöpfung für ein solch großes Ereignis längst nicht bereit war. Sie war noch zu jung im Gesamten, um die Folgen tragen zu können.

Er bezweifelte, dass die zwei Sternenkinder, von denen eines demütig bittend und das andere beinahe dreist und trotzig in sein Antlitz starrten, seine Einwände verstünden. Zwar hatte er niemandem gegenüber Rechenschaft abzulegen ob seiner Entscheidung, doch sein allsehendes Auge sah ihren Schmerz, der ihn rührte. Deshalb versuchte er mit gütigen Worten, ihren verletzten Seelen Linderung zu verschaffen, wo kein Trost möglich war.

Astril versuchte noch einmal mit flehenden Worten, sein Herz zu erweichen, doch Yoras’ Miene versteinerte zusehends. Ohne weiteres Zögern sprach er mit bitterer Stimme: „So wollen wir nicht länger leben, wenn unsere Liebe keine Erfüllung findet!“

Der Sternenjunge nahm seine Geliebte in die Arme. Astril klammerte sich weinend an ihn, und gemeinsam stürzten sie sich vom höchsten Punkt des Alls hinab in die Tiefe. Eng umschlungen fiel das junge Paar durch die unendlichen Weiten des Universums zur Erde hinab. Die langen Haare Astrils und ihre goldenen Gewänder flatterten durch die Dunkelheit, so dass sie einen glühenden Schweif hinter sich her zogen. Bei Avalonia schlugen sie auf dem Spiegel des Meeres auf, und noch im Umkreis von tausend Kilometern war die Nacht für Sekundenbruchteile erhellt.

Viele Dinge geschahen gleichzeitig: Das Meer schlug meterhohe Wogen, der Meeresboden verschob sich. Der Vulkan bei Stellamaris brach aus und spuckte Feuer und Asche durch die ewige Nacht.

Die nah beieinander liegenden Kontinente überall auf der Welt drifteten aufeinander zu und kollidierten. Wiederum wurden neue Gebirge geboren, und das Wasser der Meere überflutete die umliegenden Landmassen.

Flüsse und Täler wurden geschaffen, und der erste Grundstein für Leben an Land wurde gelegt. Die Welt war jedoch noch nicht reif!

Die Riesenmuschel Aquaria in den Tiefen des Yapetus öffnete sich. In ihrem Inneren spiegelten sich rot glühend die Unruhen des nahen Vulkans.

Noch immer eng umschlungen schwebten Astril und Yoras hinab auf den Meeresgrund. Sie waren so tief in ihrem Kummer und in ihrer Liebe versunken, dass die brodelnden Gewässer ihnen nichts anhaben konnten. Als sie direkt neben der Muschel in den Schlamm in den Tiefen des Ozeans sanken, lebten sie noch immer. Und die Muschel sprach wundersamerweise zu ihnen: „Schlüpft in mein Gehäuse, ich werde Euch beschützen!“

Astril und Yoras schauten sich erst gegenseitig an, dann nickten sie und taten, wie ihnen geheißen. Im gleichen Moment, da sie mit ineinander verschlungenen Händen in ihr Innerstes schwammen, verschloss Aquaria ihr Gehäuse.

 

***

 Während die zwei Sterne zur Erde stürzten, hatte der Schöpfer des Universums ein Einsehen. Als er die Konsequenzen ihrer Liebe - die er ihnen verwehrte - erkannte, beschloss er, ihnen den Weg zueinander zu ebnen.

Zuerst jedoch sollten sie reifen, und ihr Schicksal würde sich auf Erden erfüllen. Der Himmlische Vater versetzte Astril und Yoras im Inneren der Muschel in den Ewigen Schlaf.

Das Regenbogen-Portal

Sehet jenen prunkvoll schillernden Regenbogen,
den Solveigh über die Gipfel der Insel gezogen.
Höret der Universen liebliche Chöre erklingen,
wie sie zu Ehren von Astril und Yoras singen.

 

***

Während Astril und Yoras im Schoße Aquarias ruhten, bastelten die Götter an ihrem künftigen Reich. Neue Lebensformen wurden in den Weltmeeren geschaffen, doch bei Avalonia schien das fruchtbarste Gewässer für das Wunder des Lebens zu sein.

Zwischen Korallen und Seegras hielten sich kleine, sandfarbene Seesterne mit rot umrandeten Zacken versteckt. In flacheren Gewässern, unter den steil abfallenden Uferrändern der Inseln, lebte eine Gattung von Schnecken, Latouchella genannt, deren Gehäuse wie die Büchse der Pandora geformt war.

Nautiloiden schossen durch die türkisfarbenen, kaum eingetrübten Gewässer des Yapetus. Blitzschnell pumpten sie ihre stromlinienförmigen, großen Körper voran. Die Kopftentakel der Urkraken wehten wie graue Banner vor ihnen her.

Und während die Meere bevölkert wurden, der Kreislauf des Wassers seine Anfänge nahm und Flussbetten baute, während die Himmlischen Mächte der Erde allmählich eine Ruhepause gönnten, reifte die Zeit.

Es schien, als würde die Welt der Ereignisse harren, die durch die Ankunft zweier Liebenden ihren Anfang nahmen. Noch war die Muschel verschlossen, denn Aquaria schlief!

 

***

Das Wasser des Urozeans funkelte im Glanze Solveighs wie Diamanten. Leichter Wind strich über den Meeresspiegel und bildete spielerisch kleine, weiße Schaumkrönchen. Die Berge von Stellamaris spiegelten sich im klaren Wasser der Bucht, die rechterhand vom Festland lag.

Weiße, niedrige Findlinge ragten schräg aus dem flachen Wasser hervor und begrenzten den Sandstrand. Bunte Kiesel und Muscheln suhlten sich am Strand im Tageslicht und bauten kleine Treppen ins Meer.

Einige Steinwürfe weiter änderte sich die ruhige und friedliche Idylle und wich der faszinierenden Urkraft des Wassers. Vom Gipfel eines Gefelses rauschte ein Wasserfall mit ohrenbetäubendem Getöse in die Tiefe und rang mit der Brandung des Ozeans.

Gischt spritzte an seiner Spitze in feinsten Tröpfchen gen Himmel und schimmerte silbern im Glanz der Sonne. Der Sog, den er verursachte, strudelte bis hinab auf den Meeresgrund und wirbelte um eine große Muschel, die ihr Gehäuse geschlossen hielt. Es war die Zeit des Erwachens!

 Astril und Yoras schlugen fast zeitgleich ihre Augen auf und sahen sich orientierungslos in ihrer unfreiwilligen Heimstatt um. Verwirrung zeichnete die Mienen des Paars, denn während ihres langen Schlafs hatten sie alles aus ihrem vorherigen Leben vergessen.

Ihre Blicke glitten ängstlich durch den kleinen Raum, ohne einander zu bemerken. Das Gehäuse der Muschel war noch geschlossen, doch in ihrem Gehäuse herrschte kein Dunkel. Ein warmes, blaues Leuchten bot dem Sternenpaar Licht. So fanden sich Astril und Yoras allmählich in der neuen Umgebung zurecht. Beide hatten erkannt, dass ihnen kein Unheil drohte. Sie setzten sich auf und sahen sich neugierig um.

Die Körper der einstigen Sternkinder hatten sich verändert, und Astril war die Erste, die es bemerkte. Ihre Augen weiteten sich voller Entsetzen und Erstaunen, als sie an sich herunter sah. Ihre einstens getragenen Gewänder, aus Licht gesponnen, waren verschwunden, und sie war nackt.

Ihr ehemals kindliches Aussehen war dem eines schönen, grazilen Wesens mit langen, goldenen Haaren gewichen. Astril hatte ebenmäßige Gesichtszüge und einen wohlgeformten Leib mit weiblichen Formen. Die Haut schimmerte wie Seide im weichen Licht des Gehäuses. Ihr gesamter Körper waren mit zierlichen, glitzernden Schuppen bedeckt, der Unterleib endete in zwei großen goldenen Flossen.

Yoras‘ Leib hatte sich gleichermaßen verändert. Er hatte jedoch silbernes Haar, und sein Antlitz war das eines verwegenen Burschen, abenteuerlustig und forsch. Seine dunklen Augen blitzten keck durch das Innere der Muschel, bis sie auf seine schöne Nachbarin trafen. Bewundernd ließ er den Blick über Astrils Körper schweifen.

Einige Wimpernschläge später hatte auch diese den Junker an ihrer Seite bemerkt. Astril sah seine anerkennenden Blicke, die ihr dreist erschienen, und errötete verschämt. Just während jenes Moments, da ihre Augen sich trafen, hob sich der Schleier des Vergessens. Astril und Yoras erkannten einander und umarmten sich voller Glück.

Im selben Moment öffnete Aquaria ihr Gehäuse und entließ das einstige Sternenpaar aus ihrem behütenden Schoß. Hand in Hand schwammen die Beiden aus ihrem Inneren heraus, und wunderbarerweise wussten sie augenblicklich Gliedmaßen und Atmung unter Wasser einzusetzen. Umgeben von bunten Fischen und sonstigem Meeresgetier jagten sie einander spielerisch durch die in herrlichsten Farben leuchtenden Gewässer Avalonias.

Liebliche Sphärenchöre aus tausenderlei Kehlen, die direkt aus den unendlichen Weiten des Universums zu erklingen schienen, begleiteten ihre muntere Hatz.

Wie Delphine schnellten sie zwischen schroffen Felsen hindurch, suchten unermüdlich die Nähe zueinander und umarmten sich überglücklich. Schließlich nahmen sie einander erneut bei den Händen, stießen sich kraftvoll in die Höhe und stiegen spiralförmig zur Oberfläche des Meeres auf. Kleinste Wassertropfen, die wie Perlen schimmerten, umwirbelten die schön geformten Leiber des ehemaligen Sternenpaars, das den Tod gesucht hatte und neues Leben fand.

 

***

Der Meeresspiegel des Yapetus lag glatt und in der Sonne wie Diamanten glitzernd unter dem strahlend blauen Himmel, über den schneeweiße Wölkchen wie Federn schwebten. Unweit der Stelle, wo der Ozean die Wassermassen des Falls auffing, bildeten sich ringförmige, silberne Schaumkronen, die allmählich in die Höhe wuchsen. Bis auf das Rauschen der Brandung und dem Getöse des Wasserfalls von Stellamaris war kein Laut in Avalonia zu hören. Selbst der leise Gesang des Windes, der bis vor Kurzem noch über das Wasser strich, war verstummt.

Plötzlich brach das Wasser auf. Zwei schlanke, biegsame Wesen schnellten aus der Mitte der berstenden Meereskronen empor. Schemenhaft glitzerten ihre schuppenbesetzten Leiber durch den sprühenden Nebel, der von einer meterhoch aufsteigenden Fontäne verursacht wurde. An der obersten Stelle brach das Wasser auseinander und zerstob in feinste Gischttröpfchen, die wie edelste Perlen unter der Sonne Avalonias funkelten.

Während Astril und Yoras abermals eintauchten und sich elegant in die Höhe schraubten, erstrahlte der Himmel in bunten Farben. Über den Gipfeln von Stellamaris, dort, wo Gischt die Sonne küsste, leuchtete ein schillernder Regenbogen einladend am Horizont. Und, so wie die Mar von Astril und Yoras erzählte: Dies war der erste Regenbogen der Erde. Er blieb bestehen, sooft Solveigh ihr güldenes Licht über Avalonia warf.

Die Legende sagt auch: Wer des Nächtens eine Sternschnuppe durch die Weiten des Alls ziehen sieht, achte auf deren Begleitung. Wenn zwei Sternschnuppen einander umschlingen, so erstehen in den Tiefen der Meere die Nachfahren des Meervolks. Doch zieht das Sternlein seine Runden allein, ist es ein Bote der Liebe. Wer es sieht und geliebte Menschen ersehnt, dessen Herzenswunsch findet Gehör.

 

***

Zwischenbilanz

 

So nahm das tragische Schicksal des einstigen Sternenpaars doch noch eine überaus glückliche Wendung. Jener dramatische Tag, an dem die Beiden aus der Muschel erstanden, war das Ende einer Ära und zugleich der Anfang einer neuen Legende, die wesentlich bedeutsamer war. Die göttliche Bestimmung hatte Astril und Yoras eine große Aufgabe gestellt, denn sie waren die ersten Wesen mit den ebenmäßigen Zügen der Menschheit. Durch die ehemaligen Sternenkinder sollte das Wunder der Schöpfung lebendig gehalten werden. Ihr weiteres Schicksal ging jedoch eigene Wege. Nachdem Thiaras Chroniken gefunden wurden, redeten die Menschen noch lange über das Paar.

Nach den Lehren der Seherin waren sie die wirklichen Vorfahren der Menschheit, denn sie vertrat die These, dass alles Leben dem Meere entsprang. Weiteren Studien ihrer Dokumente zufolge wurde jedoch klar, dass es von den Populationen der Meere bis zum ersten Leben an Land und hin zum Menschen noch ein weiter Weg war.

Thiara de Vilje selbst brachten die Chroniken Avalonias kein Glück. Zeit ihres jungen Lebens war sie als Hexe verschrien und erhielt grausame Strafe für ihre Worte.

Doch auch das Schicksal des Meervolks sollte tragisch enden! Astril und Yoras teilten das Schicksal ihrer Nachkommen jedoch nicht. Sie lebten glücklich in der märchenhaften Unterwasserwelt Avalonias, setzten wunderschöne Meermaiden und Junker in die Welt und wurden steinalt. Als das Paar die Lebensuhr ablaufen sah, begaben sie sich gemeinsam zu Aquaria und baten ein letztes Mal um Obdach. Freudig wurden die Beiden empfangen, denn auch die viele Hundertmillionen Jahre alte Venusmuschel fühlte, dass ihre Zeit gekommen und ihre Aufgabe auf Erden beendet war.

 

 

Zweites Buch

 

Der Fluch des Aquamarins

Ein blau funkelnder Stein, wunderschön und hart,
ein schwebendes Wesen, äußerst lieblich und zart,
umschwirrt ihn mit Flügeln aus gesponnenem Gold,
licht und klein, jedoch Blumen und Tieren hold.

 

Ein Land, das mit edelsten Steinen bestückt
hatte schon so manch reisende Seele verzückt.
Doch waren die Herzen jenerzeiten noch rein,
ohne Verblendung bei schimmerndem Schein.

 

Gebrochene Augen nur konnten sie sehen
bevor die Seele nach Hause durft' gehen.
Trost spendendes Licht in der letzten Nacht
wurde von blau gleißendem Steine gebracht.

Dem Meere enthoben, aus Feuer geboren
wer heuer ihn sieht, ist für immer verloren.
Wird des Steines Bann von Feen gesprochen,
sei gewiss: Es ist dein Sternentag angebrochen.

 

Es leuchtet ein blaues Licht in finsterster Nacht
das vom Fluch des Aquamarins wurde gebracht.
Heißer als Feuer, strahlend wie Sonnenschein
bringt der Edelstein reisende Seelen heim.

 

An jenem Tage quert jener das letzte Portal
und kehrt heim in den Himmlischen Sternensaal
von den Farben des Regenbogens begleitet:
wer in Reinheit ein goldenes Einhorn bereitet.

Nur ein jungfräuliches Herz kann es bändigend binden
und den rettenden Schlüssel nach Avalonia finden.
Und siehst Du Gold und Blau am finsteren Himmelszelt:
wurde ein Herzenskrieger in die Heiligen Hallen bestellt.

 

© Sina Katzlach

Die Goldene Stadt

Bevor der Mensch mit seiner tödlichen Intelligenz und Habgier die Macht über die Erde an sich reißen wollte, beherrschten Eiszeiten und Hitzeperioden die gequälte Mutter Natur. Mächtige Feuergürtel entstanden, von denen etliche bis an das Ende aller Tage zu fürchten sein werden.

Beben mit überdimensionalen Ausmaßen trugen seit über fünf Milliarden Jahren dazu bei, dass der Welt ihre heutige Beschaffenheit verliehen wurde. Seit Bestehen des Blauen Planeten bevölkerten unzählige Lebewesen die Meere und Kontinente. Etliche der im Vorfeld geschilderten Ereignisse zerstörten riesige Territorien und waren der Abschluss vieler weltgeschichtlicher Ären.

Nur die widerstandsfähigsten Arten überlebten und passten sich den neuen Umweltbedingungen, welche jeder Übergang zur  nächsten Epoche der Erdgeschichte mit sich brachte, an. Viele Gattungen starben indessen aus und versanken für alle Zeiten in Vergessenheit. Einige von ihnen nahmen gleichwohl Einzug in die unendliche Welt der Legenden.

 

***

Vorgeschichte:

 

In den tiefsten Abgründen des Yapetus, in Avalonias Gewässern, ward sie erbaut: Aquaria, die Goldene Stadt, benannt nach der Urmutter aller Mollusken, der Riesenmuschel, Amme von Astril und Yoras und Schirmherrin des Meervolks. Formvollendet aus maritimen Felsgrotten des Ozeans gehauen, zogen sich kunstvoll gestaltete Säulenhallen über den Meeresgrund. In die hohen, aus gebleichtem Vulkangestein bestehenden Pfeiler waren unbekannte Zeichen und Ornamente mit verblüffend exakter Genauigkeit gehauen worden. Goldenes Nixenhaar umrankte sporadisch die bis zur Decke reichenden Pilaster. Einzelne, mit Korallen ausgelegte Ruhenischen waren in die naturbelassenen Felswände der Wohnhöhlen gearbeitet worden.

Das größte Höhlensystem zog sich durch die auf dem Meeresgrund ruhende Wurzel von Stellamaris und beherbergte eine ehedem königliche Residenz: Die Halle der Sieben. Die Räumlichkeiten bestanden aus mehreren verzweigten Abteilungen, deren gewölbte, naturbelassene Decken auf bis zu zehn Meter hohen Stützpfeilern ruhten.

Die Eingangshalle war zugleich der Regierungssaal. In der Mitte des hohen Raums stand eine große Tafel aus schwarzem, unbehauenem Marmorgestein. Um sie herum waren zehn niedrige, mit kleinen Korallenteppichen ausgepolsterte Findlinge als Sitzgelegenheiten verteilt. Gegenüber der runden, offenen Pforte - am Ende des Saals - war in einer höher gelegenen Nische ein Thron eingearbeitet worden. Die beiden Seiten des Hochsitzes wurden von je zwei mannshohen Säulen, die in derselben Weise wie jene der Wohnhöhlen verarbeitet waren, flankiert.

Zwischen den Pilastern befanden sich wiederum länglich behauene, weiße Findlinge, die mit leeren Muschelgehäusen verziert waren. Die Nische insgesamt war mit Korallen ausgelegt worden und wurde von einem Baldachin aus schwarzem Obsidian überdacht. Rechterhand des Throns befand sich eine kleine Grotte, soeben geräumig genug, um eine große Venusmuschel zu beherbergen. Die Felswände des oktogonal geformten Schreins waren von glitzernden Adern durchzogen, die der letzten Ruhestätte von Aquaria, Astril und Yoras einen sanften Lichtschimmer verliehen. Linkerhand der Tafel, an der in der Regel die Versammlungen des Hofstaates stattfanden, führte eine Öffnung in Privatgemächer, hinter denen sich eine weitere meridiane Halle befand.

 

***

 Der Stammbaum

 

Der Stammbaum des Meervolks begann mit Astril und Yoras. Zwei kleine Meerjungfrauen und drei Junkerlein krönten ihre von Aquaria gesegnete Verbindung. Die Maiden erhielten die Namen Isamer und Tiankia, die Junker hießen Tamlos, Arktos und Tamasch.

Nach einer sorglosen Kindheit war es an der Zeit, dass auch sie sich Gefährten nahmen, um den Fortbestand des Meervolks zu sichern. Sie wählten sich ihre Gemahle unter den bis dato vorhandenen Gattungen aus, und so entstand manch seltsam anmutende Verbindung in ihren Reihen.

Tiankia nahm Malinar aus einem alten Geschlecht der Pterigotus als Gemahl und hatte mit ihm vier Kinder. Aus deren Zweig des Stammbaums entstammt Genevieve, Avalonias künftige Königin und auserwählte Chronistin.

Isamer nahm sich Trontor, einen Nautiloiden, und bekam von ihm drei Junker und eine Maid. Aus ihrem Geschlecht entstammt aus indirekter Linie Tronador, der avalonische König und Gemahl von Genevieve.

Tamlos nahm sich Malvi aus dem Geschlecht der Latouchella, einer Schneckengattung. Aus dieser Verbindung entstanden drei kleine Nixlein. Sie waren Tamilas Ahnen. Arktos erwählte sich Stella aus der Gattung der Seesterne und hatte mit ihr sechs Kinder. Ihnen entstammt Fronkalis.

Tamasch buhlte erfolgreich um Majram, die Schwester von Malinar. Ihrer Verbindung entstammten neun Kinder, sie waren die Ahnen von Marianis, die Verbündete Genevieves. Die Erbanlagen von Astril und Yoras waren indes so stark in ihren Nachkommen verankert, dass keine noch so skurrile Verbindung ihnen auf ewig etwas anhaben konnte.

 

***

Die Nachkommenschaft

 

Der Grundstein zur Goldenen Stadt war noch zu Astrils und Yoras‘ Lebzeiten von deren männlichen Nachkommen gelegt worden. Von mehreren Generationen wurde die Heimat des Meervolks in solch vollkommener Weise erbaut, dass sie sich nahtlos in die paradiesische Unterwasserwelt einfügte. Die Halle der Sieben war nachträglich ausgebaut worden, als der Bau der Goldenen Stadt bereits beendet war. Sie beherbergte den Regierungssitz von Königin Genevieve und ihrem Gemahl Tronador.

Die Meermaid, die in direkter Linie von Astril und Yoras abstammte, war auf Anraten Aquarias von ihren Artgenossen zur Königin gewählt worden. Tronador, ein Meerjunker aus den Gewässern der Kraken, buhlte seinerzeit um die Gunst der schönen Nixe und wurde kurzerhand in die Festivitäten mit einbezogen.

Der Vermählung und Krönung des Regentenpaars gingen einige Ereignisse voraus, die eine Führung überhaupt erst erforderten. Die Wahl war auf Genevieve gefallen, da sie von der Natur einige überragende Fähigkeiten verliehen bekommen hatte. Junker Tronador wiederum zeichnete sich durch Mut, Kraft und Charakterstärke aus. Darüber hinaus frönte er der Erkundung von Vulkanen. Diese Eigenschaften erkoren ihn ebenfalls zum Hoffnungsträger.

Die erste Amtshandlung des Paars war die Einberufung eines Hofstabs. Er bestand aus vier Junkern und drei Maiden, die gewissermaßen geadelt wurden. Willentlich wurde von Genevieve und Tronador eine Etikette eingeführt, die erforderte, dass bei wichtigen Entscheidungen zum Wohle des Volks eine Versammlung einberufen wurde.

Ergebnisse dieser Zusammenkünfte des kleinen Hofstaates waren teils privater Natur, jedoch auch festliche Gremien für koordinierende Zwecke. Zu einem späteren Zeitpunkt wurden etliche Gesetzesreformen verabschiedet, die eine Art Demokratie innerhalb einer Monarchie schaffen sollten.

 

 

Genevieve und Tronador

Hoch lebe unser künftiges Königspaar,
holdeste Meermaid mit dem Silberhaar
und Tronador, edel, stark und voll Macht,
nur durch Euch gebührt Avalonia Pracht.

 

 ***

–—Genevieve war die Tochter der Meerjungfrau Mirja und des Meerjunkers Tikar, dem Urenkel von Tiankia, einer reinrassigen Meermaid, und Malinar aus dem Geschlecht der Pterigotus. Mirja wiederum war die Urenkelin von Malvi und Tamlos. Ihre Kindheit verbrachte Genevieve überwiegend in der geräumigen Wohnhöhle von den mittlerweile betagten Urahnen des Meervolks. Sie liebte es, sich von Astril und Yoras Geschichten erzählen zu lassen, vor Allem die ihrer Liebe und ihrer Ankunft auf Erden. In ihrer Lieblingsposition – halb sitzend, halb liegend mit überkreuzten Flossen – saß sie gemeinsam mit ihnen in einer Ruhenische und lauschte mit staunenden Augen ihren Erinnerungen. Aus ihren Erzählungen erfuhr Genevieve beizeiten Einzelheiten über das Schicksal von Astril und Yoras.

Eines Tages reiste Genevieve durch den Yapetus. In ihrer Begleitung hatte sie fünf Artgenossinnen, mit denen sie seit ihrer Kindheit befreundet war. Es war ein sonniger Tag, und die avalonischen Gewässer leuchteten wie ein Türkis.

Pfeilschnell stießen die sechs Freundinnen ihre grazilen Körper durch die unteren Regionen des Meers. Sie wollten zu Yamdar, einem nahe gelegenen Vulkan, wo sie des Öfteren auf Schatzsuche gingen. In dessen Nähe gab es geräumige Höhlen, die so manche wertvolle Sujets verbargen. Die Objekte ihrer Begierde waren bunte Steine, leere Schneckengehäuse in verschiedensten Farbtönen und sonstiges Kleinzeug, mit denen sie in der Regel ihre Heimstätten wohnlicher machten. Gutgelaunt tauchten sie durch Seegräser und Felsen ihrem Ziel entgegen.

Unterwegs plauderten sie über dies und jenes, belangloses Zeug, und kicherten unentwegt. Vereinzelt kamen ihnen kleinere Oktopusse entgegen. Zwischendurch griffen sie neckisch in vorbei huschende Fischschwärme, so dass diese in alle Himmelsrichtungen auseinander stoben, oder sie schlangen sich lange, schlanke Seelilienstängel um die Taille. So fuhren sie unentwegt mit ihren schelmischen Spielen fort und woben einen unsichtbaren Zauber in die unergründlichen Tiefen.

Am Vulkan angekommen, schwammen die sechs Freundinnen in eine lang gezogene Felsgrotte in dessen Umgebung. Dies war vor allem Genevieves bevorzugter Spielplatz, und nur Auserwählte durften sie zu ihrem Rückzugsort begleiten. Die Wände der Höhle glühten rot durch die Nähe zum pulsierenden Erdkamin und tauchten die Untermeereswelt in schimmerndes Licht voller urtümlicher Magie. Kuschelige Nischen, in denen Korallen-Kolonien ihr Domizil hatten, luden zu kurzer Rast.

Das hohe Deckengewölbe war von glitzernden Adern durchzogen. Auf dem Boden der Höhle wechselten sich zarte, in der Strömung wiegende  Seegräser mit dunklem Felsgeröll ab. Vereinzelt schwammen den Freundinnen bunte Fischlein entgegen und blickten sie neugierig an.

Es schien, als würde jener geradezu heilig anmutende Ort Genevieve und ihre Freundinnen zum Schweigen auffordern, denn das bis dahin recht freudige Geplauder verstummte sofort angesichts dieser Gewaltigkeit der Natur. Marianis und Tamila, Genevieves engsten Gefährtinnen, drängten sich an ihre Seite und staunten. Die Gesichter der beiden Freundinnen  leuchteten voller Ehrfurcht, als sie ihre Blicke durch das große Gewölbe streifen ließen.

Sirja, Megalis und Tweja waren neugierig und erforschten sogleich die Höhle. Etliche Male entschwanden sie dem Blickfeld ihrer Kameradinnen und stoben in zigtausend Richtungen davon, um die verzweigten Kammern zu erkunden.

Bald darauf stießen Genevieve, Marianis und Tamila zu ihnen. Gemeinsam durchforsteten die Freundinnen die Grotte auf der Suche nach ihren begehrten Objekten.

Nachdem sie Genevieves Zufluchtsort, an dem sie eines Tages ihrem Glück begegnen sollte, wieder verlassen hatten, um ihre Schätze miteinander zu vergleichen, befand sich in ihrem Besitz ein Kleinod, das die Phantasie der künftigen Königin aufs Äußerste anregte.

Verblüfft betrachtete die Meermaid den hellen Stein in ihrer Hand. Er war von feinen Linien durchzogen, die ein Abbild einer ihr unbekannten Tierart darstellten. Hierbei handelte es sich um Graptolithen, einer ausgestorbenen, polypenartigen Gattung. Die kleinen Tierchen bauten sich damals winzige Wohnröhren in sämtlichen Formen und Größen. Diese versteinerten im Verlauf von Hunderten Millionen von Jahren. Was verblieb, sah aus wie fremdartige Runen.

 

***

Vom Hintergrund ihres Funds wusste Genevieve nichts. Die folgende Zeit kehrte sie allein zu der Höhle am Vulkan zurück, um weitere jener Relikte aus längst vergangenen Tagen zu suchen. Ihre Gedanken kreisten unentwegt um die Geheimzeichen, die sie darin sah. Sie weckten in ihr den Wunsch, das Mysterium der Insignien zu erforschen und nachzugestalten.

 Genevieve war indessen klar, dass sie für diese Zwecke geeignete Materialien benötigte, über die sie jedoch nicht verfügte. Immerhin stieß sie auf weitere Graptolithen, die jeweils eine andere Beschaffenheit hatten. Doch eines Tages beschloss sie, mit drei ihrer Freundinnen zum Regenbogen zu reisen, und da brachte Tamila sie auf eine Idee.

Bei ihrem Aufstieg befanden sie sich in der Nähe von Stellamaris, am Fuße der Insel, an einer der tiefsten Stellen des Yapetus, ungefähr tausend Meter unter dem Meeresspiegel. Die gigantische Wurzel des Eilands bestand aus verschiedenfarbigen Schichten Vulkangestein, das noch von der feurigen Vergangenheit der Erde herrührte. Sie erstreckte sich in der Größe einer mittleren Großstadt fast im Oval über den unebenen, an dieser Stelle von Geröll übersätem Meeresgrund. Die Insel selbst ragte noch einmal ungefähr zwei Kilometer über den Meeresspiegel hinaus.

An einigen Stellen war das Gestein schroff und klippig, an anderen wiederum durchlöchert wie ein Schwamm. Eine dunkle Algenschicht überzog über weite Strecken die Felsen. Einige Male gähnte einem imaginären Betrachter ein Höhleneingang entgegen.

Im Umkreis des Inselfußes umrundeten kleinere, ungefähr haushohe Felsen das Massiv. Etliche standen sehr eng beieinander und bildeten teilweise nach hinten hin geöffnete Grotten, durch deren Pforten bei guter Sicht das Meer in den verschiedensten Farben schillerte. Zwischen den Felsen selbst waren die Gewässer leicht eingetrübt, und an Stellen, an denen der Boden absank, blubberten kleine Strudel nach oben. Hier fühlten sich größere Meerestiere wie Nautiloiden - eine Krakenart mit einem bis zu fünf Meter langen, schmalen Körper - und Urhummer wohl.

In den unteren Regionen von Stellamaris hatten Genevieve und ihre Freundinnen genügend Gelegenheiten, um sich auszutoben. Das Areal war trotz der vielen Felsen weitläufig und geräumig und somit für das Meervolk der geeignete Ort, um von hier aus die oberen Gefilde Avalonias zu erkunden. Die kleine Gruppe begab sich ergo in ein freies Gebiet und formierte sich zu einem Reigen.

Eine nach der Anderen stieß sich kraftvoll mit wedelnden Flossen und triangelförmig nach oben gerichteten Armen in die Höhe. Die Köpfe hatten sie während dem Auftrieb leicht nach hinten geworfen, und die langen, glänzenden Haare umflatterten ihre schlanken Körper. Eine Weile wurden sie von bunten Fischschwärmen begleitet, doch bald hatten sie das Meer für sich allein.

Je weiter sie nach oben kamen, desto heller wurde das Meer, und alsbald waren sie am Reiseziel angelangt. Ein strahlend blauer Himmel über einem beinahe schon aufreizend glänzenden Ozean erwartete sie.

Über dem Wasserfall von Stellamaris stand ein gigantischer Regenbogen, dessen Konturen weithin sichtbar in den bunten Farben des Lichts schillerten. Sobald die vier Meerjungfrauen spürten, dass sie den Meeresspiegel erreichen würden, konnten sie es kaum erwarten, sich aus dem Wasser zu katapultieren.

Mit freudig pochendem Herzen legte Genevieve die letzten Meter zurück, stieß sich einmal kraftvoll ab und durchbrach mit silberhell jubelnder Stimme die ruhig daliegende Oberfläche des Yapetus. Gischt umgab ihren sekundenlang schwebenden, funkelnden Körper. Ihre drei Begleiterinnen ließen ebenfalls nicht allzu lang auf sich warten. Während Genevieve sich in elegantem Bogen erneut in den wie Diamanten funkelnden Spiegel hinabfallen ließ, schnellten sie mit derselben Inbrunst dem Regenbogen entgegen.

Genevieve, Marianis, Tamila und Tweja zogen in der Bucht von Stellamaris ihre Kreise, bis die Sonne wanderte und sich das goldene Licht über den Gipfeln der Inseln allmählich in ein verlöschendes Glühen wandelte. Das Regenbogen-Portal Avalonias verblasste, um gemeinsam mit Solveigh in das Reich der Träume zu sinken. Bedauernd verabschiedeten sich die Maiden von ihrem Paradies, um gemeinsam in ihre Heimat am Meeresgrund  zurückzukehren. Sie waren erschöpft, jedoch auch glücklich, und bei der Heimreise ließen sie sich genügend Zeit, um miteinander zu plaudern. Gemeinsam verarbeiteten die vier Freundinnen ihre gewonnenen Eindrücke, sprachen über dies und jenes, und kamen dabei auf Genevieves Steine zu sprechen.

Die junge Meermaid erzählte: „Ich habe viele dieser seltsamen Steine gefunden. Welch herrliche Bilder sie in sich bergen. Man sollte diese nachahmen können.“

Es entspann eine Debatte, und die jungen Maiden überschlugen sich vor Feuereifer, um ihrer vergötterten Gefährtin zu Gefallen zu sein. Die temperamentvolle Tweja wollte sogleich zu ihrer Höhle eilen, um dort weiterhin nach Gesteinen zu suchen, und rief aufgeregt: „Ihr braucht spitzes Gestein, um diese Zeichen zu schaffen. Möglichenfalls könnt Ihr dort etwas finden. Hurtig, hurtig, Ihr Maiden."

Marianis war über die neuerlich drohende Anstrengung nicht sehr erfreut und widersprach: „Lasst uns vorab zu unserer Heimstatt zurück kehren. Wir sind entkräftet.“ Genevieve stimmte ihr zu und schlug vor, zu einem anderen Zeitpunkt zum Vulkan zurück zu kehren.

Tamila hatte sich bei der Debatte zurück gehalten. Sie war die Kreativste von allen. Etliche Geschmeide der Meerjungfrauen, aus ihren eigenen Haaren oder Pflanzenfasern geknüpft, filigranste Gebilde und festliche Kleidung aus den Materialien derselben, entstammten bereits ihren begnadeten Händen. Schließlich schlug sie vor: „Genevieve, weshalb fragt Ihr nicht Fronkalis um Rat? Jener hat möglicherweise Materialien in seinem Besitz, die Euch von Nutzen sein könnten.“

Fronkalis war Höhlenbauer und hatte gemeinsam mit einigen anderen Junkern die Forschungen, die Tamasch - ein Sohn von Astril und Yoras - einstens begann, fortgeführt und verfügte über ein beachtliches Arsenal von Werkzeugen.

Genevieve hielt den Vorschlag von Tamila für einen guten Einfall und nahm sich vor, ihn aufzusuchen und um Hilfe zu fragen. Bald darauf setzte sie ihr Vorhaben in die Tat um und begab sich zu ihm.

Mittlerweile war sie dementsprechend ungeduldig und konnte es kaum erwarten, ihr neues Spielzeug zu nutzen. So hatte sie kaum ein Auge für ihre nasse Umgebung und eilte so flott dahin, dass ihre goldenen Flossen wie Blitze durch die Düsternis am Meeresgrund gleißten. Binnen Kurzem erreichte sie die Wohnhöhle des Junkers.

Genevieve tauchte in die Grotte hinein und sah sich allein in dem düsteren Gewölbe. In einigen Nischen lagen etliche unbehauene Klamotte in verschiedenen Steinmaterialien. Wiederum erblickte Genevieve ovale Hämmerwerkzeuge, die dem Zweck dienten, Felswände auszuhöhlen und weiches Gestein umzuformen. Einige Steinbrocken waren länglich und spitz, diese schienen der Maid für ihr Vorhaben geeignet zu sein. Sie wartete jedoch auf Fronkalis. Um sich die Zeit nicht zu lang werden zu lassen, sah Genevieve sich weiterhin in der Heimstatt, die eine Art Lager darstellte, um.

Bald kam ihr aus einem Nebengewölbe ein Wesen entgegen, dessen Körperbau dem ihren ähnelte. Allerdings verfügte jenes Geschöpf nicht über Genevieves lange, wie flüssiges Silber glänzende Mähne.

Sein Haupt war von einem grünen Gewirr bedeckt, das den Algen auf dem Grund des Meeres ähnelte. Ansonsten hatte der Meerjunker ein ebenmäßiges, schmal geschnittenes Antlitz, das von Falten der Reife durchzogen war.

Fronkalis glitt auf sie zu, kreuzte zum Gruß beide Arme auf der Herzseite seiner nackten Brust und verneigte sich leicht in Genevieves Richtung.

Die Meermaid erwiderte die Huldigung mit selbiger Geste und dankte. Schlussendlich zögerte sie nicht länger und brachte euphorisch ihr Anliegen vor. Fronkalis betrachtete das von ihr gezeigte Fund-Exemplar und überlegte. Schließlich fragte er sie: „Verstehe ich das recht, dass Ihr diese erforschen und weiter verwenden wollt?“

Genevieve antwortete: „Ich möchte sie gern nachahmen. Mir fehlt jedoch die Erkenntnis, wie mein Vorhaben am Sinnvollsten durchgeführt werden kann.“

Fronkalis wiegte nachdenklich sein Haupt. Schließlich durchschwamm er mit ihr seine Werkstatt und zeigte ihr dieses und jenes. Hin und wieder nahm er spitzige Edelstein-Splitter zur Hand, um sie Genevieve vor Augen zu führen. Erklärend sagte er: „Werkzeuge für Eure Zwecke habe ich vorrätig. Was Ihr jedoch benötigt, ist eine ebene Fläche." Er nutzte einen breiteren Stein und ritzte damit einen Kreis in eine geeignete Wand. "Damit kann ich vorerst nicht dienen“, fügte er bedauernd hinzu.

„Ihr seid in solcherlei Dingen geschickt. Könnt Ihr nicht etwas fertigen in der Art des Steines, den ich fand?“, bat ihn die Maid und führte ihm noch einmal ein weiteres, flacheres Fundstück vor Augen. „Wäre Gestein in dieser Beschaffenheit dafür geeignet? Was meint Ihr, Fronkalis?“

„Dies wäre wohl so, Genevieve“, antwortete Fronkalis. „Doch seid Ihr mit seiner Größe sehr eingeschränkt. Wollt Ihr selbst dergleichen nachmachen oder sogar erweitern, wie Ihr sagtet, dann braucht Ihr größere, ebene Flächen aus weicherem Stein-Material. Wenn Ihr Euch geduldet, werde ich Euch zusammen mit einigen unserer Junker etwas suchen, das für Eure Zwecke geeignet sein wird.“

Genevieve wollte sich gern gedulden, wenn sie baldigst ihre heiß begehrten Kleinode nutzen konnte, und so dankte sie Fronkalis inbrünstig für sein Entgegenkommen. Mit dem Versprechen, binnen Kurzem zurück zu kehren, nahm sie einstweilen einen länglichen Diamantsplitter entgegen.

 

***

Während Fronkalis seine Arbeit tat, um den Auftrag der Meerjungfrau zu erfüllen, hatte jene Muße genug, um durch Avalonia zu streifen. Sie nutzte die Zeit und suchte mehrfach ihre Urahnen auf. Die junge Frau stellte ihnen bei ihren Stippvisiten Fragen über Fragen: Die Himmelsmächte übten eine ungeheure Faszination auf sie aus. Doch über die Vielzahl der göttlichen Mächte machte sie sich ihre eigenen Gedanken. Vieles von dem, was ihr Astril und Yoras erzählten, machte für sie keinen Sinn, und so entstanden in vielen Stunden mit ihren Ahnen interessante Gespräche, bei denen etliche kritische Einwände von ihrer Seite kamen. Dennoch: Genevieve lernte, zu glauben, weil sie begriff, wie wichtig dies für das einstige Sternenpaar war.

Astril und Yoras waren indessen alt geworden. Ihr Interesse für weite Reisen war einem Wunsch nach Behaglichkeit und Zweisamkeit gewichen. Noch waren sie bei Kräften, und Astril besaß immer noch Schönheit. Und dennoch: Innerlich fühlten sie die Zeit rinnen, auch wenn ihnen deshalb nicht bange war. Sie hatten mittlerweile viele Generationen hinter sich gelassen, die sich allesamt als wohlgeratene Vertreter ihrer Gattung entpuppten. Die Vorfahren des Meervolks hatten ihre Bestimmung auf Erden erfüllt und somit den Preis für ihr nachträgliches Glück bezahlt, wie sie vermeinten.

Was Astril und Yoras jedoch nicht wussten: Der Obolus stand noch offen, und die Erfüllung ihrer Mission oblag Genevieves Händen. In ihrem Besitz befand sich ein weiteres Kleinod, das ihrem Volk für die Zukunft wertvolle Dienste erweisen sollte.

Die Himmlischen Mächte allein mochten wissen, was Genevieve dazu veranlasst hatte, jenes unscheinbare Etwas an sich zu nehmen. War es die Laune einer jungen Maid oder Vorsehung?

Hierbei handelte es sich um eine gemeine Auster, deren Äußerem um nichts in der Welt anzusehen war, welchen Schatz von unermesslichem Wert sie beherbergte. Jenes schwarze Gehäuse, obendrein von Schlammspritzern verunziert, enthielt die Geheimnisse des Universums. Das Kleinod passte soeben zwischen Genevieves überaus zierlichen Hände. Die Muschel entstammte demselben Ort wie jener mysteriöse Kiesel, um nicht zu behaupten: Die beiden Objekte gehörten untrennbar zusammen. Nichts deutete darauf hin oder bereitete Genevieve auch nur annähernd darauf vor, was ihr bevorstand. Weder brach der Himmel auf noch gingen die Ozeane zurück. Es erklangen keine Himmelschöre oder sanken gar Sterne zur Erde.

Die Meerjungfrau lag an jenem Tag entspannt in einer Nische jener Höhle, in der sie die Graptolithen fand. Ihre langen, silbernen Haare schimmerten schemenhaft durch das dunkle Gewässer. In ihrer Hand hielt sie eine Auster.

Kritisch beäugten ihre Augen die verschmutzte Muschel. Sie war bereits im Begriff, sie angewidert von sich zu schleudern, doch plötzlich öffnete sich das Gehäuse des unscheinbaren Objekts.

Im Inneren ruhte nicht etwa eine schöne Perle. Nein, was da in jenem unscheinbaren Behältnis schlief, war ungleich herrlicher als alle Perlen und Diamanten der Welt. Ein weiches Leuchten schien der Meerjungfrau aus der Seele der Muschel entgegen, umschmeichelte ihre Augen und zeichnete goldene Kreise auf ihr in Ehrfurcht erstarrtes Antlitz.

Genevieve fühlte innerlich mehr wie zu hören eine Stimme, die den Namen der Meerjungfrau rief. Sie ertönte weder laut noch leise, nicht sonor oder lieblich, ihr Klang war weder hell noch dunkel. Die Stimme sprach zu ihr aus der Tiefe der strahlenden Auster: „Ahnst Du bereits, wer sich Dir offenbart?“

Und so erzählte der Epos vom bedeutendsten Moment ihres Lebens: Das Wunder der Schöpfung ward ihr offenbar an jenem heiligen Tag, und Genevieve erblickte das Licht der Himmlischen Mächte. Sie war berufen zu großer Mission.

 

***

Genevieve, die Meerjungfrau

 

 Es hielt die Maid das Universum in ihrer Hand,
jene göttliche Schale im Schlamme sie fand.
Solveigh sandte der Auserwählten ihr Licht
zu Genevieve rief’s: „Weißt Du, wer spricht?“

 

 Die Jungfrau war wie vom Donner gerührt.
Wurde sie von Spuken in die Irre geführt?
Litt die Meermaid gar im Geiste an Nacht?
Wohl sprach die Stimme: „Jungfer, hab’ Acht.“

 

„Du wurdest vom Schicksale auserwählt,
lausche, was es über das Später erzählt.
Mit reinem Herzen wirst Du alles wissen,
meinen Segen sollest Du indessen nicht missen.“

 

„Du wirst zu einer Königin der Meere erkoren,
in jenem Sinne wurdest Du einstmals geboren.
Leite Dein Volk sicher durch Missgeschick,
auf euch allen ruht mein wohlwollender Blick.“

 

„Das Kommende liegt indessen in weiter Ferne.
Inzwischen gebiete ich Dir Folgendes: Lerne.
Eines Tages sollst Du Avalonias Chronistin werden
für all jene, geformt aus dem Schoße der Erden.“

 

„Sie werden Deiner Urahnen Blut in sich tragen,
von jenen, die ich gesandt vor Äonen von Tagen.
In Astril und Yoras schlummern göttliche Gaben,
jedwelche solle meine Gefolgschaften laben.“

 

„Genevieve, höre weiterhin, was ich Dir sage:
Ein Gelehrter wird zu Dir kommen die Tage.
Ihr werdet füreinander in Liebe entbrennen,
niemand wird Euch denn dem Tode trennen.“

 

„Jener, dem Solveighs Licht jäh begegnet,
wird von mir als Dein Gemahl gesegnet.
Aquaria wird von mir Weisung erhalten,
um an Euch in meinem Sinne zu walten.“

 

 „Eile hin, um diese Botschaft kund zu geben:
Wer in meinem Sinne lebt, wird ewig leben
in den Herzen, an denen er nur Gutes getan,
im Ewigen Licht, in dem sein Leben begann.“

 

Die Maid erschauerte indessen in Ehrfurcht erstarrt.
„Seid Ihr ein Geist, der in diesem Gehäuse verharrt?“,
wisperte sie leise und senkte demütig den Blick.
„In der kleinen Muschel, verunziert mit Schlick?“

 

„Willst Du gar an meinen Worten Zweifel hegen?“,
zürnte er: „Du, der ich gab den göttlichen Segen?“
„Herr, verschont mich, nein!“, rief sie voller Bangen
erbleicht: „Meine Seele ist nur von Angst befangen.“

 

Noch immer glomm aus der Auster goldener Schein,
die Stimme ward weicher: „Dein Herz ist noch rein.
Du musst nichts fürchten, wenn Du auf jenes hörst,
im Glauben lebst und die heiligen Kreise nicht störst.“

 

Dies war‘s, was Genevieve der Muschel entnommen.
Rief die Maid ihn an, war der Herr zu ihr gekommen.
Stets hatte er sie mit schützenden Händen geleitet,
sie durch Glück und Leid bis zu ihrem Tode begleitet.

 

***

Genevieve war zutiefst ergriffen, nachdem sie erkannt hatte, wer zu ihr sprach. Lange noch, nachdem sich die Muschel bereits wieder geschlossen hatte und nichts mehr als eine normale, verschmutzte Auster war, saß sie in ihrer Nische in der Höhle am Fuß des Vulkans und träumte vor sich hin. Das große Gewölbe wurde noch immer leicht von rötlichem Glimmern beleuchtet. Genevieves innere Uhr gemahnte sie, nicht mehr allzu lange an jenem Ort zu weilen und zu ihren Lieben zurück zu kehren.

Die Auster würde sie nicht mehr aus der Hand geben wollen, war jene doch offenbar eine magische Muschel. Sie nahm sich vor, das neue Kleinod zu säubern und sich von Tamila ein Medaillon anfertigen zu lassen.

 Im Schlaf wurde Genevieve in jener Nacht von Träumen heimgesucht, die ihr wie ein Weg erschienen, den sie verfolgen musste. Wieder und wieder hörte sie die Prophezeiung ihrer Mission. Kaum, dass die Meerjungfrau die Augen aufschlug, überdachte sie die Traumbilder und erkannte, was sie ihr sagen hatten wollen: Es war an der Zeit, sich in die Werkstatt des Höhlenbauers zu begeben, um zu erfahren, ob er ihren Auftrag bereits abgeschlossen hatte.

Träge räkelte sie sich, um sogleich vor Ungeduld hoch zu fahren und mit nervös zuckenden Flossenenden von ihrem Lager zu schnellen. Jede Umsicht vergessend, schoss Genevieve dermaßen temperamentvoll in das Zentrum der Höhle, dass sich in ihren langen Haaren die Tentakel eines handgroßen Tintenfischs verfingen.

Ein ärgerliches Geräusch entfleuchte etwas unflätig ihren vollen Lippen, während sie an ihr Haupt griff, um sich zu befreien. Genevieve gab das harmlose Geschöpf, welches sich mit ihr die Wohnstatt geteilt hatte, frei und fegte ungestüm durch die Gewässer.

Bald befand sie sich schließlich und endlich im Lager der Höhlenbauer, wo Fronkalis bei ihrer Ankunft vor sich hin werkelte. Er schliff mit rauem, undefinierbarem Material ein granitähnliches, jedoch weicheres Gestein, Gabbro genannt, zu einem Karree. Genevieve schwamm auf ihn zu und bobachtete fasziniert seine Handgriffe. Taktvoll wartete sie darauf, dass der Junker seine Arbeit beendete, und schwieg.

Ihre Geduld wurde nicht sehr lange auf die Probe gestellt. Fronkalis begrüßte die Maid gebührlich und zeigte ihr das soeben gefertigte Werkstück. Der Handwerksmeister des Meervolks hatte Erstaunliches mit seinen Händen geschaffen, wenn bedacht wird, dass er in den nassen Gefilden des Ozeans arbeiten musste und nur Gesteine und Pflanzenmaterial zur Verfügung hatte. Er hielt Genevieve eine Steintafel entgegen, deren Oberfläche nur wenige Unebenheiten aufwies. Mit sichtbarem Stolz demonstrierte er, wie sie das gelungene Utensil nutzen konnte, indem Fronkalis es mit einem  länglich zugespitzten Diamanten anritzte.

Nun, was meint Ihr, ist dies für Eure Zwecke geeignet, holdeste Maid? Wie Ihr jedoch damit umgeht, bleibt Euch überlassen, “ sprach er.

„Ich danke Euch, Junker Fronkalis. Eure Arbeit übertrifft meine kühnsten Erwartungen. Könnt Ihr mir noch mehr davon machen?“, fragte sie überschwänglich. Ihre großen, meergrünen Augen strahlten ihn voller Begeisterung und Dankbarkeit an, so dass dem reifen Wassermann das Herz aufging. Gern sagte er Genevieve seine weitere Unterstützung zu und verabschiedete sie mit Worten voller Wärme.

 

***

In der Folgezeit suchte die Meerjungfrau die Abgeschiedenheit ihres Lieblingsplatzes am Vulkan und verbrachte nur noch wenig Zeit mit ihren Freundinnen. Die Worte, die ihr in der Grotte aus der Muschel entgegen geklungen waren, hallten wider in ihrem Geist, und so arbeitete sie beständig ihrer Bestimmung entgegen.

Viel Zeit verging, bis die ersten Runen aus Genevieves Händen die Steintafeln zierten. Einstweilen sollte ihr die Liebe begegnen, und so führte Wunder zu Wunder. Sein Name war Tronador. Er stammte aus indirekter Linie von Astril und Yoras ab. Seine Mutter Girantrama entstammte dem Meervolk, sein Vater jedoch kam aus den Gewässern der Kraken. Golmor war ein Nautiloid, ein großer Krakenmann mit zuckertütenartiger Form und Tentakeln am Kopf.

Tronador sah nur unwesentlich anders aus als ein Junker avalonischer Abstammung. Von der Mutter hatte er attraktive Gesichtszüge und den entsprechenden Körperbau eines Meermanns erhalten. Was ihn jedoch etwas abhob, waren die grauen Kopftentakel aus dem Erbgut seines Vaters. Sie hatten indessen keinerlei Funktion und dienten als Kopfschmuck.

Nicht allein durch sein Aussehen hob er sich von den Artgenossen aus dem Stamm Golmors ab. Seit frühester Kindheit war er mit einem nie endenwollenden Forschungsdrang behaftet. Tronador hatte sich der Ergründung von Vulkanen verschrieben, seit er denken konnte. Unermüdlich reiste er durch den Yapetus.

In weitläufiger Umgebung gab es nicht viele jener Erdkamine, die ihm unbekannt waren. Der Meerjunker versprach sich einiges von seinem Wissen. Seine Untersuchungen beruhten hauptsächlich darauf, den ozeanischen Wurzeln von Vulkanen Gesteinsproben zu entnehmen, deren Beschaffenheit zu orten und Rückschlüsse hinsichtlich der Arbeitsweise eines Vulkans zu ziehen. Mit unglaublicher Sensibilität spürte Tronador dessen Schwingungen und konnte vulkanische Aktivitäten im Voraus mit beinahe akribischer Genauigkeit erkennen. Tronadors größter Wunschtraum war, einen Vulkanausbruch verhindern zu können, seit er mit eigenen Augen gesehen hatte, welche verheerenden Schäden ihre immensen Kräfte selbst unter Wasser anrichten konnten.

 

***

Die Begegnung

 

Der Junker reiste oft durch Avalonia, um Yamdar, den Vulkan gegenüber von Stellamaris, zu untersuchen. So wollte er ihm eines Tages neuerliche Gesteinsproben entnehmen, da ihm Anomalien in den unweit liegenden Gewässern der Kraken aufgefallen waren.

Tronador eilte durch die Goldene Stadt, bewunderte deren mit goldenem Nixenhaar umschlungene Säulen und die Schönheit der Maiden, verteilte galante Worte und reiste weiter zum westlich liegenden Vulkan. Er wollte sich soeben zu dessen Wurzeln begeben, da verharrte er wie gebannt auf der Stelle. Verzaubert vermeinte er, nie solch Liebreiz und Grazie erblickt zu haben – das musste eine Meergöttin sein. Auf einem Felsen vor ihm ruhte ein weibliches Wesen in vollendeter Schönheit. Die Maid hatte ihm den Rücken zugewandt und Tronador noch nicht bemerkt. Tief in Gedanken versunken betrachtete sie einen Stein.

Um sie nicht zu erschrecken, wich er in das Innere einer Höhle zurück und verbarg sich hinter einem Findling. Das Herz, in unheilbarer Liebe entbrannt, schlug ihm bis zum Hals. Regungslos wie eine Statue harrte er in seinem Refugium aus und vermochte es keinen Wimpernschlag lang, seinen Blick abzuwenden.

Wie aus einem Guss lag sie auf jenem kleinen, weißen Findling an ihrem Zufluchtsort am Vulkan. Sie hatte einen ihrer makellosen Arme, auf denen winzige goldene Schuppen glimmerten, angewinkelt und stützte ihr gedankenschweres Haupt.

Die goldenen Flossen, die ihren Unterleib bildeten, wedelten leicht in der Strömung. Ihre langen Haare ergossen sich wie ein Wasserfall aus flüssigem Silber über den Felsen. Um ihren Schopf wirbelten kleine, bunte Fische und umhüllten sie wie ein lebender Schleier.

Tronador erschienen seine eigenen Atemzüge wie eine kleine Ewigkeit, die – wenn es nach ihm ginge – kein Ende nehmen müsse. Er verweilte gern, wenn er nur weiterhin jenes Wesen betrachten dürfte. Doch plötzlich – der Junker vermeinte, sein Herz bliebe stehen – machte Genevieve Anstalten, ihren Hochsitz zu verlassen.

Er wich weiter in das Innere der Höhle hinein, sie hatte ihn indes bereits entdeckt. Vor Schreck erbleichend warf sich die Meerjungfrau nach vorn, um zu flüchten.

Tronador schoss blitzschnell aus seinem Hinterhalt heraus und packte sie an den Flossen. Genevieve schrie auf vor Angst und wehrte sich panisch. Der Junker entließ sie aus seinen Händen, jedoch nur, um sie sogleich an der Taille zu umfassen. Nichts lag ihm ferner, wie der Maid etwas anzutun. Tronador gedachte jedoch, eher zu sterben, als den Gedanken zu ertragen, sie ohne die Aussicht auf weitere Begegnungen entkommen zu lassen.

Entgegen seinen Erwartungen entwickelte die Nixe ungeahnte Kräfte und wehrte sich vehement. Verbittert miteinander ringend, sanken die beiden Kontrahenten wieder und wieder auf den schlammigen Meeresgrund. Das Wasser trübte sich allmählich durch vom Kampf aufgewirbelten Schlick ein, und Tronador und Genevieve vernebelte es die Sicht. Ein um das andere Mal attackierten sie sich gegenseitig, ohne übereinander den Sieg zu erringen.

Irgendeinmal jedoch verließen die Meerjungfrau ihre Kräfte, und sie lag regungslos in seinen Armen. Genevieve hatte die Angst vor ihm verloren, doch der Junker spürte ihre unbändige Wut. Ihre meergrünen Augen, in denen tausend Flämmchen zu glühen schienen, funkelten ihn voller Zorn an, und sie zischte ihm entgegen: „Ist es unter Euresgleichen Sitte, auf diese Art eine Maid zu behandeln?“

„Verzeiht, Holdeste, ich glaubte, mir sei eine Göttin erschienen. Ich wollte jene unbedingt fangen und in meine Heimat entführen“, entgegnete er unbekümmert und schmunzelte sie verschmitzt an.

„Unterlasst gefälligst Euer unverschämtes Grinsen, Ihr Rohling, und lasst mich endlich los!“, fuhr Genevieve ihn entrüstet an. Insgeheim musste sie sich eingestehen, dass ihr der Junker nicht so sehr missfiel, wie sie vorgab. Es schien der Maid allerdings an der Zeit, ihn in seine Schranken zu verweisen. Zu dreist erschien ihr der bewundernde Blick.

Auf ihr Anliegen hatte er indessen ebenso eine Antwort parat. Mit unschuldiger Miene lächelte er sie an und sprach: „Das kann ich nicht, denn offenbar seid Ihr ein schrecklicher Wassergeist und habt meine Glieder gelähmt.“

Tronador spürte, wie sich ihr Körper versteifte. Ehe er sich’s versah, trommelte Genevieve mit Fäusten gegen seinen muskulösen Brustkorb. Er umfasste ihre beiden Hände und lockerte seinen Griff. „Wenn Ihr mir auf Ehre und Gewissen versprecht, nicht auf der Stelle zu entfliehen, seid Ihr frei, holde Maid“, versprach er mit zärtlicher Stimme.

„Ich weiß zwar nicht, weshalb Ihr meine Gesellschaft so sehr begehrt, dass Ihr sämtliche Manieren zu vergessen scheint. Wenn ich Euch jedoch nicht anders entkommen kann, sei es, wie Ihr wünscht!“, gestand sie ihm mit herausforderndem Blick zu.

Zu Genevieves Bedauern hielt er sein Versprechen und entließ sie aus seinen Armen. Die Maid war beinahe versucht, erneut zu entfliehen, um Tronador die Gelegenheit zu geben, sie zu erhaschen. Eingedenk ihrer Erziehung verwarf sie den Gedanken und blieb noch eine Weile bei ihm.

 

 ***

Entgegen der ersten, reichlich wilden Begegnung von Tronador und Genevieve verlief ihre vorerst platonische Verbindung ungleich harmonischer. Die Meerjungfrau hatte beizeiten erkannt, dass sie nicht mehr ohne ihn sein wollte, und so wurde das Paar unzertrennlich.

Oft begleitete Genevieve den Junker auf seinen Reisen zu den Vulkanen und beeindruckte ihn mit ihrer schnellen Auffassungsgabe und Klugheit. Sie lernte durch ihn etliches von seiner Wissenschaft und trug bei ihren Diskussionen selbst einiges bei. Im Gegenzug lehrte sie ihn die avalonische Schrift, die im Lauf der Zeit ihrem Forschergeist und ihren gesegneten Händen entsprang. Bald hielt auch er seine Forschungsergebnisse auf Steintafeln fest.

Wann immer es Tronadors Arbeit erlaubte, verbrachte er die Zeit mit ihr in der Goldenen Stadt und war beim Meervolk hoch angesehen. Er hätte Genevieve gern etwas forscher den Hof gemacht. Eine innere Stimme riet ihm jedoch davon ab und gemahnte ihn, sich noch zu gedulden.

Er gastierte somit regelmäßig in Avalonia und verweilte mit ihr oft am Ort ihrer ersten Begegnung, der mittlerweile zu ihrem persönlichen Schrein ihrer Erinnerungen geworden war. Eines Tages saßen sie wieder gemeinsam auf ihrem Lieblingsfels.

Die Meerjungfrau hatte ihr silbern umflortes Haupt an seine Schulter gelehnt und blickte mit verträumten Augen zu der Grotte hinüber. Der Junker spielte abwesend mit ihren Haaren und ließ seine Finger zu ihrem Hals gleiten, wo sie ihren Talisman an einer Kette aus ineinander verknüpften goldenen Haarsträhnen trug. Neugierig tastete er nach der nur unwesentlich ansehnlicher gewordenen Auster und fragte sie zärtlich: „Welch seltsames Gebilde tragt Ihr da um Euren Hals, Genevieve?“

Die Maid lächelte ihn verschmitzt an: „Eine Muschel, seht Ihr das nicht?“, erwiderte sie in neckendem Ton. Schmunzelnd verabreichte er Genevieve einen Nasenstüber und sprach: „Dies sehe ich sehr wohl, doch weshalb schmiegt sie sich wie ein Kleinod um Euren Hals? Sie ist äußerst schlicht und schmückt Euch nicht sonderlich.“

Mit leisen Worten gestand sie ihm zögernd: „Aus dieser Muschel schien mir die Sonne entgegen, und aus ihrem Inneren vernahm ich eine Botschaft des Himmels.“ Tronador war sichtlich irritiert. „Erklärt mir das näher, ich verstehe Euch nicht“, forderte er sie auf. Daraufhin berichtete Genevieve dem erstaunten Junker von ihrem Erlebnis, das sie seinerzeit in der gegenüber liegenden Grotte hatte. Mit zunehmender Begeisterung lehrte sie ihm alles, was sie von ihren Urahnen über die Himmelsmächte erfahren hatte.

Als sie mit ihrer Erzählung geendet hatte, hinterließ die Meerjungfrau einen beeindruckten, jedoch etwas ratlosen Mann. Ehrfürchtig griff er immer wieder nach der schwarzen Auster und fragte sie schließlich: „Vertraut Ihr sie für einen Moment meinen Händen an und lasst mich dieses schlichte Wunder etwas genauer betrachten?“

Genevieve verwehrte ihm dieses Ansinnen jedoch mit den Worten: „Ich weiß nicht, ob dies in des Vaters Sinne ist, geduldet Euch etwas, bis er es erlaubt.“

„Ihr könnt ihn doch fragen, wenn Ihr mit Ihm Kontakt aufnehmen könnt“, antwortete Tronador lapidar.

„Das werde ich tun, wenn es an der Zeit ist. Doch nicht jetzt, und auch nicht bald, dringt gefälligst nicht weiter in mich!“, wehrte sie mit entschiedenen Worten ab, und somit war die Angelegenheit für sie erledigt. Jeder weitere Versuch, sie zu überreden, wurde brüsk von ihr abgeschmettert.

 

***

Die Stimmung zwischen Tronador und Genevieve war merklich abgekühlt. Ihre Ablehnung hatte den Junker verletzt, und er drängte zeitig zum Aufbruch. Nachdem sie in der Goldenen Stadt angekommen waren, verließ er Avalonia ohne sie. Es war das erste Mal seit Langem, dass die Wege des Paars sich trennten, und Genevieve sah ihn eine kleine Ewigkeit nicht mehr. Hoffnungsvoll kehrte sie regelmäßig zu ihrem Refugium am Vulkan zurück und wünschte ihn an ihre Seite. Ihr trauriges Sehnen erreichte Tronador jedoch nicht. Er blieb der schönen Meerjungfrau fern.

In ihrer Verzweiflung suchte Genevieve nicht selten Trost bei ihrer Muschel und flehte inbrünstig, dass der Himmlische Vater sich zeigte und ihre frierende Seele erwärmen würde. So kam es, dass sie wie so oft auf jenem Felsen verweilte und jener zu ihr kam, als sie bitterlich weinte.

Wie einst öffnete sich die Reliquie und überströmte Genevieves Antlitz mit Sonnenlicht. Und wie ehedem vernahm sie seine Stimme, die ihr prophezeite: „Er wird zurück kehren, kleine Meerjungfrau. Hab‘ noch etwas Geduld und Vertrauen, und Du findest Dein Glück.“

„Ist er der, den Ihr mir geweissagt habt, Herr?“ fragte die Nixe den Schöpfer verzweifelt mit dünner Stimme.

„Das wirst Du erfahren, wenn es an der Zeit ist. Denk‘ an die Prophezeiung von einst“, antwortete er.

„Herr, weshalb ist er nicht bei mir? Ich fürchte, er liebt mich nicht genug“, erwiderte sie verzweifelt.

„Und nun höre und lerne!," donnerte die Stimme zornig. "Du solltest niemals an meinen Worten zweifeln. Ich bin derjenige, der das Universum erschuf. Durch meinen Geist wurdest Du wie alles Leben auf Erden geformt. Was durch mich entstand, ist gesegnet und untersteht meinem Schutz. Überanspruche jedoch nicht meine Geduld!“

Die Meerjungfrau gab sich indessen noch nicht geschlagen und erwiderte: „Das würde ich nicht wagen. Doch wann wird Tronador zurückkehren?“

Genevieve vermeinte, einen leisen Seufzer zu hören, bevor sie die Antwort erhielt: „Du wirst es spüren.“ Mit diesen Worten verhallte die Stimme. Die Muschel schloss sich und ließ sie mit ihrem Schmerz allein. Es verstrich noch etliche Zeit, doch die Prophezeiung erfüllte sich.

Die Sehnsucht nach Genevieve trieb Tronador durch die Goldene Stadt, und er wünschte sich mit klopfendem Herzen, dass er sie fand. Die Meerjungfrau hatte den Zeitpunkt erahnt. Als er dort ankam, erwartete sie ihn, just ebenso schön wie beim ersten Mal.

Diesmal gab es jedoch keinen Kampf. Tronador umwarb sie zärtlich und inniglich. Als er jedoch um ihre Hand anhielt, erbat sie sich etwas Geduld und erklärte ihm den Grund. Er hatte Verständnis und gewährte ihrer inbrünstig ersehnten Antwort Aufschub.

Der Junker musste sich indes nicht lange gedulden, bis ihm das Schicksal Genevieves Jawort gab. Wiederum saßen sie beim Vulkan, als die Muschel sich öffnete und Solveigh - die Sonne - sich auch Tronador zeigte. Überglücklich fiel ihm Genevieve um den Hals und schwor ihm ewige Treue.

Zwei Kronen voller Tränen

Einer Königin gebührt prachtvolles Geschmeide fein,

in ihrem Palast sollte ein prunkender Hochsitz sein.

Maiden, suchet reichlich Muscheln im Sand,

formet Krone und Thron von zarter Hand.

 

 ***

Die Riesenmuschel Aquaria könnte aufgrund einiger herausragenden Eigenschaften getrost als ungekrönte Königin der Meere bezeichnet werden. Wenn jedoch Alter, Größe und Schönheit beiseite gelassen wurden, eines war sie gewiss: Eine Abgesandte der Himmelsmacht, deren Auftrag auf Erden begann, als sie zwei aus den Weiten des Alls gestürzten Sternen Obdach bot, um sie Hunderte Millionen Jahre später als Urahnen des Meervolks wieder hervor zu bringen. In ihr schlummerten die viele Milliarden Jahre alten Geheimnisse der Schöpfung. So hatte Aquaria in den weiten Kreisen des Yapetus fast den Status einer Göttin.

Darüber hinaus war sie durch ein unsichtbares Band mit dem Volk der Meere verbunden, sah durch deren Augen, hörte mit deren Ohren und atmete deren Odem. Sie spürte Glück und Leid eines jeden Einzelnen am eigenen Leib, und es gab nichts, was ihr in den Gewässern Avalonias verborgen blieb.

Aquaria fühlte sich jedoch alt und verbraucht; sie sehnte sich nach Ruhe. Sie wusste indessen, dass sie jene erst finden würde, wenn das Volk ihrer nicht mehr bedurfte. Die heimliche Regentin hatte gleichwohl längst die Vorboten der Zukunft erkannt, die sich ihr seit Längerem zeigten.

 

 ***

Das Meervolk Avalonias liebte die schönen Künste und das Handwerk. Ihre Fähigkeiten – jene Gaben, die sie durch ihre Urahnen erhalten hatten – ermöglichten ihnen den Bau ihrer Domizile, das Knüpfen von Geschmeide und sogar einfache Kleidungsstücke oder die Urform einer Schrift. Hierzu verwendeten sie alles, was der Ozean bot: Von Gesteinen bis zu Pflanzenfasern, von Schneckengehäusen bis zu Muschelschalen oder die prunkende Haarpracht der Frauen, die sich von jener der Männer um einiges abhob.

Dem Schaffensdrang des Meervolks waren kaum Grenzen gesetzt. Es gab keinen einzigen unter ihnen, der nicht mindestens ein überragendes Talent innehielt. Die Meereswesen waren friedfertig und verspielt, unbefangen und naturverbunden. Sie konnten sich für alles begeistern, was um sie herum geschah, und die Welt unter dem Regenbogen – in der Bucht von Stellamaris - war für sie das Paradies.

Natürliche Gegner fehlten fast gänzlich, da sie wie durch ein Wunder in keinerlei Beuteschema passten. Es war geradezu, als wären die unbedarften Kreaturen von einem unsichtbaren Schirm umgeben, der sie vor jeglichem Unbill beschützte. Selbst das Schreckgespenst des Ozeans, die Urhummer, mussten sie nicht sonderlich fürchten, obwohl jene durchaus ab und zu Jagd auf ein ahnungsloses Nixlein machten. Dies geschah jedoch eher selten.

De facto hatten sie bisher keiner Führung bedurft, zumal Aquaria für die Bürger Avalonias eine wertvolle Ratgeberin war. In ihnen war Weisheit und erstaunliches Können verankert, vererbt von Vater zu Tochter, Mutter zu Sohn, von den Ahnen zur Nachkommenschaft. Eine Kunst fehlte den arglosen Wesen jedoch gänzlich, da sie ihrer bisher nicht bedurften: Jene des Überlebens. Die Zeichen standen jedoch auf Sturm, und auch dies blieb Aquaria nicht verborgen.

Sie fühlte hingegen, dass sie gegenüber den kommenden Ereignissen machtlos war, denn sie - als unbewegliches Wesen - konnte nur an ihrem angestammten Platz im Schlamm des Yapetus verweilen. Sie konnte nur als Mentor der Bürger Avalonias fungieren.

Aquaria wusste jedoch, wenn ihre Ahnungen sich erfüllten, bräuchte das Meervolk jemanden, der sie wie Kinder bei der Hand nahm und ihnen all das beibrachte, was fehlte: Den notwendigen Lebenskampf. Sie wusste allerdings nicht, wie schnell ihre unguten Vorahnungen eintreffen würden.

 

 ***

Die Einberufung

 

Große Ereignisse werfen in der Regel ihre Schatten voraus und verdienen gebührende Beachtung. So hatte auch Aquaria ihren Fingerzeig, das Amt der Regentschaft einem aus dem Volk zu reichen, mit Macht erhalten.

Alle Vorzeichen deuteten darauf hin, dass die Anzahl der Pterigotus in Avalonia sich mehrten. Zwei Meerjungfrauen waren seit ihrer Beobachtung zudem unauffindbar, und sie ahnte, dass jene ihnen zum Opfer gefallen waren. Die Abgesandte des Himmels spürte, dass Eile geboten war. Aquaria zögerte nicht länger und sandte all ihre Sinne aus, um das Meervolk an ihre Seite zu rufen.

Wo auch immer sich die Maiden und Junker auch gerade befanden, ob in den Lagern der Höhlenbauer oder in den Wohnhöhlen der Alten, ob in fremden Gewässern oder ganz nah: Alle vernahmen sie ihren Appell zugleich, als wären sie eins. Und so wimmelte es im Reich des Meeres innerhalb kürzester Zeit von  diesen seltsamen Wesen, halb Mensch und halb Fisch.

Alt und Jung waren vertreten. Gemeinsam sammelten sie sich zwischen den Säulenhallen der Goldenen Stadt, um wie die Motten dem Licht Aquarias unwiderstehlichem Ruf zu folgen. Die Unterwassergefilde Avalonias verdunkelten sich von der Vielzahl der Leiber. Es mussten unzählig viele von ihnen gewesen sein, die durch den Ozean tauchten, mit blitzenden Flossen, über Seegräser und Findlinge hinweg, durch Tore und an Höhlen vorbei, aus denen so manch heimliches Auge sie verdutzt verfolgte.

Wie eine ungeheure Schar Lemminge, die dem Ruf der Meere folgen, um sich gemeinsam in die Todesfluten zu stürzen, wandten sie simultan ihre Leiber gen Stellamaris, wo Aquaria ihrer harrte. Das erste Kabinett in der Geschichte Avalonias zur Bestellung eines Regenten hatte begonnen!

 

***

 Genevieve wusste derzeit nichts von dem Kummer, den Aquaria hegte. Wie sollte sie auch?

Sie war glücklich, Tronador wieder an ihrer Seite zu haben, und dachte nicht mehr an die Prophezeiung, außer jener ihrer Vermählung.

Die Meerjungfrau spürte nichts von Aquarias sehnsüchtiger Erwartung des einzig richtigen Zeitpunktes, ihr die Regentschaft zu überreichen. So war die junge Frau überrascht, als sie Kunde von einer Versammlung erhielt, noch bevor Tronador und sie  wegen  ihrer Vermählung vorsprechen konnten. Auch sie eilte, um Aquaria zu Willen zu sein.

 Das Domizil der Urmutter aller Mollusken befand sich im Schatten der Wurzel von Stellamaris. Dort lag ihr großes Muschelgehäuse, welches einstens Platz für zwei Meereswesen in menschlicher Größe bot, halb eingegraben zwischen dunklem Geröll und Korallen. Das Wasser des Ozeans schimmerte in einem dunkleren Grün.

Dem festlichen Anlass gebührend hatte Aquaria ihre reinweißen Schalen geöffnet. Aus ihrem Inneren strömte ein Leuchten, vergleichbar mit dem silbernen Schein des Mondes, und tauchte ihre illustre Gefolgschaft in prunkendes Licht wie das Brechen kostbarster Diamanten.

Die Schar der Nymphen hatte sich ringförmig um sie versammelt. Kinder schwirrten aufgeregt plaudernd um die Muschel herum, während Stimmen aus dem Kreis der Erwachsenen versuchten, sie zur Ruhe zu gemahnen und zu ihnen zu dirigieren. Alte, zerfurchte Antlitze sahen Aquaria mit ernster Miene entgegen, während einige jugendliche Schönheiten vergeblich ihre Angst zu verbergen suchten.

 

***

Das Kuratorium

 

Alle, wie sie da die Muschel umringten, gaben Aufschluss über die Besonderheit und Wichtigkeit der Versammlung. Genevieve und Tronador hatten ihre Plätze innerhalb eines steinernen Torbogens eingenommen und harrten Hand in Hand der Dinge, die da kommen sollten.

Ihre Eltern sowie Astril und Yoras hatten sich ebenfalls zu der Versammlung begeben und weilten neben dem jungen  Paar. In der Menge herrschte andächtiges Schweigen, doch die erwartungsvolle Atmosphäre war zum Zerreißen gespannt. Die nervöse Neugier war nahezu körperlich zu spüren, während alle darauf warteten, was Aquaria ihnen mitzuteilen hatte. Noch bevor die ersten Worte gesprochen wurden, fühlte Genevieve einen unbarmherzigen Lockruf. Wie in Trance befreite sie sich von Tronador und folgte dem Befehl Aquarias. Sie glitt durch die versammelte Menge, die ihr ein Spalier auftat, und begab sich wie geheißen an die Seite der Muschel. Angst hatte sich ihrer bemächtigt, denn die Meerjungfrau ahnte, was auf sie zukommen würde.

Liebend gern wäre sie erneut in die bergende Zuflucht von Tronadors Armen geflüchtet, um den folgenden Botschaften zu entgehen, indessen: Aquarias stählerne Fessel in ihrem Innersten hinderte sie an ihrer Flucht.

Das unsichtbare Band zwischen dem Meervolk und der Sendbotin der Himmlischen Mächte verstärkte sich. Alle vernahmen sie ehrfürchtig und bis ins Mark erschüttert ihre schicksalsträchtigen Botschaften.  Aquaria sprach:

 

„Wie ich sehe, folgtet Ihr meinem Rufe ergeben.

Sehnen nach Ruhe lässt meine Seele erbeben,

und ich werde künftig nicht unter Euch weilen.

Ruhm und Ehre wird gleichwohl Genevieve ereilen."

 

"Jene hat sich den Händen des Herrn anvertraut,

und die Allmacht und Glorie Seiner geschaut.

Höret, Volk Avalonias, meine Worte:

Gefahr und Tod droht euch an aller Orte."

 

"Gebet Acht, Ihr Maiden, wo Ihr Eurer Wege zieht,

dass Euch niemals eines Urhummers Auge sieht.

Ich weiß, dass ich bringe Euch schreckliche Kunde.

Vernehmt indes auch frohe Botschaft aus meinem Munde."

 

"Genevieve, auch Ihr habt meinen Appell vernommen,

seid getreu und ergeben an meine Seite gekommen.

Ihr habt von der Himmelsmacht die Mission erhalten,

Eure Zeit ist gekommen, um Eures Amtes zu walten."

 

"Nehmet Euch einen wehrhaften und treuen Gemahl,

Eure Weisheit helfe Euch bei der bedeutenden Wahl.

Tapferkeit und Scharfsinn soll sein, was Euch bewegt,

weil Er Avalonias Geschick in Eure Hände gelegt.“

 

„Ihr Volk der Meere, sehet Eure künftige Königin,

die Euch führen soll, zu ruhmreichem Ehrensieg hin.

Die Zeit ist an Euch, ihr Euer Vertrauen zu schenken.

Ich kann Euch nur raten, dies sollt Ihr indes bedenken."

 

"Das letzte Wort hat aus Euer aller Munde zu kommen,

ob Ihr, Meervolk, die Wahl des Herrn angenommen.

Ihr, Genevieve, sollte das Volk für Euch sprechen:

Für Eure Heimstatt sollen Junker Felsen brechen."

 

"Lasset Euch den Palast Eures Herzens erbauen

und Euch einem Gespons Eurer Wahl angetrauen.

Wer immer auch Eure Liebe empfangen werde:

Gesegnet sei er vom Schöpfer unserer Erde."

 

"Volk Avalonias, seid Ihr zu Beschlusse gekommen?

Habt Ihr, Genevieve, das heil’ge Amt angenommen?

Ihr Maiden und Junker, ich will Euch alle jubeln hören,

schreit, was Ihr könnt, um selbst Gestein zu betören.“

 

***

Der Jubel ließ noch etwas auf sich warten. Zu erdrückend waren die Nachrichten, die Aquaria den Avaloniern mitgeteilt hatte. Angespannte Stille lag in den Gewässern des Yapetus, das Volk im Bemühen, das Vernommene zu verarbeiten.

Astril und Mirja, Ur-Urgroßmutter und die Mutter von Genevieve, lagen sich in den Armen und weinten vor Rührung. Die Junker Tronador, Yoras und Tikar hatten sich zueinander begeben und tuschelten voll Stolz auf das Amt, das einer aus ihren Reihen angetragen wurde. Noch war Genevieve jedoch nicht bestätigt worden. Jene befand sich noch immer an der Seite Aquarias und vermeinte, sich in einem bizarren Traum zu befinden.

Widersprüchliche Gefühle hatten sich ihrer bemächtigt. Sie fragte sich zweifelnd, ob dies nun beglückende Traumbilder seien oder aber ein Schreckensszenario. Ein Blick in die versammelte Menge sagte der Maid indessen, dass sie sich keineswegs träumend am Fuße der Insel befand.

Aquaria ergriff noch einmal das Wort, um das Meervolk zu einer Entscheidung zu bringen. Genevieve war sich durchaus nicht sicher, ob es in ihrem Sinne war, als Königin angenommen zu werden. Andererseits war ihr durchaus die Ehrerbietung bewusst, die ihr zuteil kam, wenn sie auch nicht wusste, weshalb ausgerechnet sie ihre Wahl traf.

Noch bevor sie sich jedoch weitere Gedanken machen konnte, griff die Mahnung der alten Muschel. Brandender Jubel brach in den Reihen der Nymphen los, mit den Rufen: „Heil Euch, Genevieve. Hoch lebe unsere künftige Königin.“ Aquaria sprach zu der Meerjungfrau, die ergriffen und regungslos vor dem felsigen Hintergrund von Stellamaris verharrte: „Ihr habt die Stimme des Volkes vernommen. Nehmt Ihr dessen Wahl an?“

Genevieves Antlitz leuchtete von den vielfältigsten Gefühlen übermannt. Ihre Stimme wollte ihr kaum gehorchen, als sie hauchte: „Es ist mir eine Ehre, dem Volk Avalonias dienen zu dürfen. Ich nehme die Wahl an.“

Die Stimme der Meerjungfrau ging im Freudentaumel der tobenden Menge unter, als sie anschließend jubelnd über deren Köpfe hinweg rief: „Und höret, Avalonia, ich berufe Tronador, Sohn der Nixe Girantrama und des Kraken Golmor, an meine Seite. Eilt herbei, auf dass Ihr dem Volke vorstellig werdet, mein Herzens-Gemahl.“

Tronador wusste nicht, wie ihm geschah. Raunend wandten sich ihm vielzählige Gesichter zu und warfen ihm teils neugierige, teils skeptische Blicke zu. Auch wenn es kein Geheimnis war, dass er der Gefährte an Genevieves Seite sei: Es war noch längst nicht zu allen Maiden und Junkern Avalonias durchgedrungen.

Einen winzigen Augenblick lang war ihm bange, doch dann nahm er sich ein Herz und wandte sich mit einem einzigen, energischen Flossenschlag der Menge zu. Respektvoll wichen sie zur Seite und ließen ihn passieren.

Ein um das andere Mal fühlte er zarte Hände auf seinem Körper, doch er ließ sie gewähren. Seinen Dank murmelnd, begab er sich durch den schmalen Korridor, den ihm die Nymphen geschaffen hatten und eilte auf Genevieve zu, die ungeduldig seiner harrte. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als sie ihm ihre zarten Hände entgegen streckte, um ihn zu empfangen. Nie war sie ihm schöner erschienen!

 

***

Der Palastbau

 

Das Kuratorium des Meervolks war bald darauf vorüber, doch im Gedächtnis der Nixen blieb es noch lange haften. Es hatte keine weiteren Einfälle der Urhummer gegeben, hingegen war das Volk nun dank Aquarias mahnender Worte gewarnt.

Genevieve und Tronador hatten kaum Zeit zur Besinnung, denn es hieß, die Vorbereitungen für ihre Amtseinführung und ihrer Vermählung zu treffen. Aquaria hatte ihnen noch einmal dringlichst geraten, alsbald eine Wahl für den Regierungssitz zu treffen und dabei ihr Amt und die Bedürfnisse des Volkes zu berücksichtigen.

Hätten sie auf ihr Herz hören wollen, wäre die Wahl der Verlobten auf den Ort ihres Kennenlernens gefallen. Tronador wies jedoch auf die Gefahr des nahen Vulkans hin. Daraufhin vereinbarten sie, ihr Domizil zumindest in der Nähe ihres Refugiums zu errichten. Die felsige Wurzel von Stellamaris bot etliche Höhlen, die sich bis tief in das Innere der Insel hinein zogen. Einige davon bildeten ein weitläufiges System mit mehreren Gängen und wirkten stabil genug, um ohne größere Eingriffe in den stützenden Kern des riesigen Felsmassivs ausgebaut zu werden. Darüber hinaus waren in deren Umgebung weitere Felskammern, die eine Erweiterung der Goldenen Stadt ermöglichten.

Die weitläufigen Grotten, von denen zwei Kammern gigantische Ausmaße erreichten, hatten die besten Voraussetzungen, um der gesamten Einwohnerschaft Avalonias im Fall drohender Gefahren Obdach zu bieten. Zwischen den beiden großen Gewölben lagen kleinere Räume, die hervorragend für Privatgemächer geeignet waren. Von pragmatischen Erwägungen einmal abgesehen, lag Stellamaris nicht weit entfernt vom Vulkan, was die Wahl von Genevieve und Tronador nicht unwesentlich beeinflusste. Die Gefahr bei kleineren Aktivitäten war indes geringer.

Das Zeremoniell für Avalonias künftiges Herrscherpaar sollte erst stattfinden, wenn der Palast fertig gestellt war. Es hatte keiner größeren Debatte bedurft, um hinsichtlich ihres Domizils eine Einigung zu erzielen. Was jedoch weitaus unwägbarer war: Die Planung der räumlichen Beschaffenheiten und der mit dem Bau verbundene Zeitfaktor.

Hinsichtlich dessen war für Genevieve und Tronador etliches zu bedenken, um ihrer Führungsrolle gerecht zu werden. Die Anfangsphase der Planungen nutzte das Paar, um ihre knapp bemessene Zeit miteinander zu verbringen.

Genevieve und Tronador zogen sich zu diesem Zweck regelmäßig an den Ort ihres Kennenlernens  zurück, wo sie im rötlichen Schein des naheliegenden Vulkans eng aneinander geschmiegt in einer Nische saßen. An jenem friedlichen Ort lauschten sie den Stimmen der Erinnerungen, die ihnen wispernd noch einmal ihre schönsten Momente erzählten. Unter dem Dach des großen Gewölbes schwelgten sie andächtig in ihrer Liebe und genossen ihre Zweisamkeit. Ihre Zukunft nicht außer Acht lassend, ließen sie ihren Phantasien und Wünschen freien Lauf und beratschlagten über die Belange des Volkes.

Nur mit einigen Fischen als Zeugen, gestand Genevieve schließlich ihre Zweifel an sich selbst ein. „Es gibt mancherlei zu bedenken, und Gefahr droht dem Meervolk“, sprach sie zu Tronador. „Wenn Aquarias Befürchtungen eintreffen, wie soll ich Entscheidungen zum Wohl Avalonias treffen können? Ich fürchte mich vor der Zukunft, Geliebter.“ Er barg Genevieves Haupt zärtlich an seiner muskulösen Brust und strich ihr über das wie flüssiges Silber glänzende Haar. „Mein Platz soll immer an Eurer Seite sein, welche Kämpfe Ihr auch zu führen habt, Genevieve. Ich werde Euch von ganzem Herzen und mit all meiner Kraft unterstützen.“

Die Meerjungfrau schmiegte sich enger an ihn und hauchte mit einer Stimme, die aus einer anderen Welt zu kommen schien: „Wie sehr muss die Vorsehung mich lieben, dass sie mir Euch an meine Seite gesandt hat, Tronador.“

„Die ganze Welt müsste Euch huldigen, meine kleine Meergöttin. Ihr verdient es, geliebt zu werden“, raunte der Meerjunker seiner künftigen Gemahlin zu.

Genevieve lächelte ihn mit einer solchen Zärtlichkeit an, dass Tronadors liebendes Herz überwältigt zu bersten schien. Entrückt vernahm er ihre Worte: „Ihr werdet das Schmeicheln wohl nie verlernen, mein Herzenskönig. Dennoch: Was wäre zu tun, wenn es den Urhummern beliebt, sich an uns  laben zu wollen?“

Ganz in ihrem Bann gefangen, zögerte der Junker mit seiner Antwort. Nach einigen tiefen Atemzügen erwiderte er: „Eine starke Gemeinschaft kann wahre Wunder vollbringen. Unser Ziel muss sein, das Volk zu vereinen und zu stärken. Gefechte, welcher Art sie auch seien, gelten von vornherein als verloren, wenn sie nur halbherzig geführt werden, Genevieve.“

„Weise gesprochen, Tronador. Woher verfügt Ihr über soviel Wissen?“, fragte die Meermaid neugierig.

„Ich bin Kämpfe gewohnt. Meine Gegner und zugleich meine Verbündete sind die Vulkane, die ich erforsche. Es spielt jedoch keine Rolle. Was auch immer mein Bestreben ist, wird mit ganzem Herzen geschehen.“

„Ihr nehmt mir viel von meinen Bedenken. Wie sollen wir indessen gegen die mächtigen Pterigotus bestehen? Die Hummer sind stark und nahezu unverwundbar, und wir sind das Kämpfen nicht gewohnt“, beharrte Genevieve.

„Die Zeit wird es weisen. Sie werden es lernen, nur Mut, kleine Königin. Darüber hinaus zweifle ich nicht, dass Ihr Euren Weg voller Weisheit und Kraft nehmen werdet. Ihr seid stärker, als Ihr vermutlich glaubt“, erwiderte er ruhig.

Bald darauf brachen sie gemeinsam zum Rückweg in die Goldene Stadt auf, die in naher Zukunft um einige Hallen erweitert sein würde. Einträchtig schwammen sie nebeneinander her und tauschten Banalitäten aus, wie es Verliebte seit Anbeginn der Zeit zu tun pflegen. Die Gewässer um Stellamaris herum färbten sich allmählich in undurchdringliches Schwarz, das nur in Bereichen von einigen Höhlen fluoreszierend leuchtete.

Zwischendurch funkelte das Paar ein glühendes Auge an, welches einer kleinen, zyklopenäugigen Fischart zugehörte. Von kleineren Fischschwärmen begleitet und von Meeresräubern unbehelligt, kamen sie unversehrt in der Goldenen Stadt an, in der Tronador ein gern gesehener Gast war.

 

***

Vorläufig fanden Genevieve und Tronador kaum weitere Gelegenheiten, um in trauter Zweisamkeit Liebesgeflüster auszutauschen. Die Vorbereitungen waren mittlerweile in vollem Gange, was bedeutete, dass der Ausbau der Höhlen um Stellamaris kurz vor der Ausführung stand. Um die letzten Details zu klären, wurde Fronkalis zu den Besprechungen hinzu gezogen, da ihm die Leitung des großen Vorhabens übertragen worden war. Mit vereinten Kräften und vollem Körpereinsatz waren die drei Verbündeten durch die Goldene Stadt gereist, um Hilfskräfte für die Errichtung der neuen Hallen zu rekrutieren. Sie hatten es doch tatsächlich erreicht, dass sich sage und schreibe fünfhundert Junker in den Startlöchern befanden, ausgewählt unter dreitausend Höhlenbauern. Nachdem diese Aufgabe erledigt war, hatten sie kaum die Möglichkeit, einmal erleichtert aufzuatmen. Nun hieß es, die Belange für die Festivitäten aufzuarbeiten.

Nach ausführlicher Debatte einigte sich das Paar darauf, die Organisation der Feierlichkeiten ausschließlich in Genevieves zarte Hände zu legen und Tronador zum Bauherrn zu küren. Dies hatte zur Folge, dass in der Wohnhöhle von Genevieve und ihren Eltern das reinste Tohuwabohu herrschte. Zwischen Säulen, Nischen und in Nebengewölben tummelten sich zahlreiche Frauen jeglichen Alters, um der Meerjungfrau ihre Aufwartung zu machen und sie für das Fest auszustatten.

Mirja und Tikar ergriffen des Öfteren verzweifelt die Flucht und verlagerten ihren Aufenthaltsort zu Astril und Yoras. Genevieve hätte sich etliche Male gern selbst in einem Anflug von Panik die Haare gerauft, wenn dort nicht schon andere Hände zugange gewesen wären. Es wurde gerupft, geknüpft und gefädelt, was das Zeug hielt, obwohl die Aussicht auf ein in kürzester Zeit steigendes Bankett nicht einmal ansatzweise vorhanden war.

Um dem ganzen Tumult noch die Krone aufzusetzen, gesellten sich andere Tiere wie Fische und Oktopusse, Seesterne und bunte Schnecken zu der illustren Gesellschaft, was absolut ungewöhnlich war. Jene mieden in der Regel die Wohnhöhlen der Avalonier. Es war, als würden sie einer großen Königin in deren Gewölben huldigend ihre Aufwartung machen. Tamila und Marianis unterstützten Genevieve jedoch tatkräftig, um die wild gewordene Horde zu bändigen.

Die Sonne zog indes etliche Male ihre Runden über den Gipfeln von Avalonia. Irgendeinmal jedoch war schließlich das letzte Festgewand geknüpft, das eine oder andere Geschmeide aus Muscheln und sogar kunstvolle Diademe aus Perlen und Nixenhaar gefädelt. Es wurden kichernde Frauengespräche geführt und was Maiden vor einem Freudenfest sonst zu tun pflegen. Der Palast des künftigen Regentenpaars befand sich noch immer im Bau, und somit musste Genevieves und Tronadors heilige Weihe noch warten.

 

***

In den Gemächern der bereits im Vorfeld über alle Maßen gefeierten Meerjungfrau war endlich wieder Ruhe und somit auch deren Eltern Mirja und Tikar mitsamt Tronador eingekehrt. Jener hatte ebenfalls Reißaus genommen gehabt und war bei den Höhlenbauern verblieben. Der Vulkanologe half regelmäßig bei den Arbeiten mit, da er der Meinung war, dass jede starke, helfende Hand zählte. Somit lernte er bald die Geschicklichkeit und Erfindungsgabe des Volkes kennen und schätzen. Er führte viele Gespräche mit den Höhlenbauern und knüpfte mit etlichen von ihnen unverbrüchliche Freundschaftsbande, die sich späterhin - in Zeiten der Not - bewähren sollten.

Genevieve nutzte die verbleibende Zeit, um weiterhin an den Steintafeln Avalonias zu arbeiten. Mittlerweile hatte sie ein auf Runen basierendes Schriftbild entwickelt, das sie teilweise den vermeintlichen Zeichen der gefundenen Fossilien entnommen hatte. Nach und nach war sie in der Lage, ihre Gedanken, Gefühle und Erlebnisse festzuhalten und ermöglichte es auf diese Weise der Nachwelt, das Leben des Meervolks im Yapetus nachzuvollziehen.

Die Höhlenbauer werkelten weiterhin fleißig in den Gewölben von Stellamaris. Mit ihren einfachen, selbst geformten Steinwerkzeugen hämmerten und meißelten tausend Hände Säulen und Nischen aus den hohen Felswänden heraus. Die Mühsal der Junker nahm allmählich verblüffende Konturen an, so dass sich bereits abzeichnete, wie die Säulenhallen auf der Rückseite des Inselfußes beschaffen sein sollten.

Der Goldenen Stadt zugewandt, beherbergte das Unterreich der Insel den Eingang in das erste Gewölbe des verzweigten Höhlensystems. Die gerundete Pforte wurde von vier hohen Säulen, die Stalagmiten ähnelten, jedoch wohlgeformter und stärker waren, flankiert. Sie stützten deren obere Kante, so dass jenes Portal wie von einem gigantischen Baldachin aus Felsgestein überdacht wirkte.

Die Grotte, mit den Ausmaßen eines Doms, sollte späterhin den Thronsaal bilden, von dem aus Genevieve und Tronador gemeinsam mit ihren Getreuen regierten. Im Inneren des Raumes führte linkerhand ein kleiner Einlass in fünf weitere, kleinere Kammern, die künftigen Privatgemächer des Paars. Sie verzweigten wie durch einen Korridor nach drei Seiten und waren bis auf einige eingearbeitete Ruhenischen naturbelassen worden.

Am Ende des vorletzten Gewölbes, gegenüber der großen Halle, war ein weiterer Durchgang, der von sechs Säulen gestützt wurde. Er war ungefähr doppelt so hoch und so breit wie der erste und führte in eine weitere Grotte, die nach Fertigstellung wesentlich größer als die zukünftige Regierungshalle sein sollte und als Rettungsraum für das Volk in Zeiten der Gefahr - zum Beispiel bei Invasionen - gedacht war.

Eines Tages befand sich Tronador gemeinsam mit Fronkalis innerhalb einer kleinen Gruppe von Höhlenbauern. Gemeinsam pausierten sie im bläulich schimmernden Licht einer Vielzahl von Ctenophoren vor der Rückwand der Halle und unterhielten sich über den Bau eines Hochsitzes. Die Anregung hierzu kam von Fronkalis, der bereits die große Nische in der Festungshalle eingerichtet hatte. Er war der Meinung, dass dem künftigen Königspaar ein Statussymbol gebührte. Sein Vorschlag hatte Tronadors Zustimmung gefunden. Gemeinsam beschlossen sie, das Vorhaben baldigst in die Tat umzusetzen und Genevieve zu überraschen.

Ihre Idee war jedoch nichts gegen die Aktion, die von der holden Weiblichkeit des Meervolks in aller Heimlichkeit durchgeführt wurde. Solveighs fröhliches Lachen spiegelte sich wonnig in den grünlich leuchtenden Gewässern, als sich die weibliche Bevölkerung Avalonias in der Bucht von Stellamaris versammelt hatte. Als stumme Zeugen ragten die Massive der umliegenden Inseln wie uralte Wächter aus dem Yapetus empor.

Seit der Wiedergeburt von Astril und Yoras hatte sich einiges an Land verändert. Die ehedem nackten Felsen wurden von einem lindgrünen Flaum bedeckt, die erste kontinentale Vegetation war auf dem Vormarsch. Winzige Farne schlängelten sich an den Flanken der Berge über den sandigen Boden des Strands und versuchten verzweifelt, Halt auf der flachen Oberfläche zu finden. An den trockensten Stellen wurden sie von hellem Geröll zurück gedrängt und wandten sich in die Richtung der Bucht, in die der Wasserfall seine Unmengen feuchtes Silber ergoss. Tosend brachen sich Brandungswellen zwischen schneeweißen Klippen, welche Stellamaris umringten.

Auf der Vorderseite der Insel war das Meer spiegelglatt und ließ an den flacheren Stellen helles Gestein und verschiedenste Muscheln erkennen, die sich in dem schwarzen, wellenförmigen Sand des Eilands kontrastreich fortsetzten. Wie gewohnt schillerte einladend und bunt das Tor nach Avalonia über den Gipfeln, weit geöffnet für jene, die sich nach Herrlichkeit, Schönheit und Frieden sehnten.

Hin und wieder wurde die ruhige Meeresfläche von Schaumkronen durchbrochen, denen gleich darauf ein langfloriger, glänzender Schopf folgte. Silberhelles Gelächter erfüllte vielstimmig die Luft und wechselte sich mit Triumphgeschrei ab. Jeder Siegesruf, der aus dem Munde der einen oder anderen Meermaid erklang, wurde von einem strahlenden, anmutigen Antlitz und einem wohlgeformten Arm begleitet, der ein weißes Etwas aus dem Wasser empor hob. Die Meerjungfrauen von Avalonia sammelten weiße Muscheln, um ihren Beitrag zur Krönung von Genevieve und Tronador beitragen zu können.

Die künftige Königin sollte eine Weile sehr einsam sein, denn die Goldene Stadt war aufgrund besagter Vorbereitungen für den Krönungs- und Hochzeitstag fast unbewohnt.

 

***

Während die Maiden sich in den Oberen Regionen von Avalonia aufhielten, verschwanden aus dem Gefolge von Tronador und Fronkalis zwei Junker und wurden seitdem nicht mehr gesehen. Es war zu befürchten, dass Aquarias Warnungen in Kürze eintreffen sollten und die Vermissten im gierigen Schlund eines Pterigotus, dem Schrecken der Meere, gelandet waren. Auch in der Goldenen Stadt war nicht mehr zu übersehen, wie viele sich mittlerweile in Avalonia aufhielten, denn sie verbargen sich nicht im Geringsten. Angst und Verunsicherung machte sich nicht nur unter den Arbeitern am Bau breit. Männer und Frauen, die aufgrund ihres hohen Alters in der Goldenen Stadt verblieben waren, suchten Zuflucht bei Genevieve. Kleine Nymphen weilten nach ihren Familien jammernd in der Höhle ihrer Eltern.

Es war die erste Feuerprobe für die künftige Königin, denn ihr Volk benötigte Zuspruch. Genevieve klangen noch die Worte ihres Bräutigams im Ohr, als sie, noch mit dem Kopf in den Wolken schwebend, an der Höhle beim Vulkan saßen. Eingedenk seiner, was er ihr im Gefahrenfall riet, versuchte sie, Stärke zu zeigen und den ängstlichen Bürgern Avalonias Zuspruch zukommen zu lassen. Ihr war jedoch aufgefallen, dass alle ihre Freundinnen abhanden gekommen waren, und dies bereitete Genevieve Angst.

Wut hatte sich der künftigen Königin Avalonias bemächtigt, weil Tronador just in den Momenten der Furcht nicht an ihrer Seite verweilte. Darüber hinaus machte sie sich ernsthafte Sorgen, dass auch er zwischen die todbringenden Zangen jener gigantischen Wesen, die mittlerweile das Meer besiedelten, geriet.

„Eile herbei, hilf mir, Tronador!“, sandte ihre Seele ihm verzweifelte Botschaften zu. „Unser Volk fürchtet sich, ebenso wie ich. Ich benötige Deine Kraft, Deine Weisheit. Weshalb geschieht dies alles, sag‘ Du mir das. Lehre mich, eine gute Königin zu werden. Ich kann nicht zu Dir kommen, denn sie brauchen mich hier. Ich brauche Dich.“

Tronador spürte ihre Not tief in seinem Herzen. Er fühlte Genevieves Sehnsucht, ihre Angst und Unsicherheit, jedoch auch ihre Stärke, die sie selbst nicht erkannte. Seine Seele krampfte sich schmerzvoll zusammen und schrie: „Kehr‘ zu ihr zurück, in ihre Arme. Du bist ebenso bedürftig wie sie. Und sie schwebt in Gefahr!“

Auch er hatte Angst. Es war nahezu unmöglich für ihn, standhaft zu bleiben und an der Seite seiner Gefährten zu verbleiben. Ihm blieb jedoch keine Wahl. Tronador befand sich in weitaus schlimmerer Position als Genevieve, denn in den Gewässern der zukünftigen Halle der Sieben hatte er alle Hände voll zu tun, um seinen Mannen den Rücken zu stärken. Von ihm hing es ab, zu verhindern, dass sie willenlos den zwei gelbrot getupften Hummern, die sich inmitten der Junker auf Beutezug befanden, zum Opfer fielen.

Keiner von ihnen war bisher angegriffen worden, ihre Geschlossenheit hielt die drei Meter großen, plumpen Monster glücklicherweise davon ab. Ihre Furcht einflößenden, fünfzig Zentimeter langen Zangen blieben geschlossen. Es schien, als hätten sie sich soeben zu einem netten, nachbarschaftlichen Besuch eingefunden.

Tronador ließ sich jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass sie zuschlagen würden, sobald einer seiner Junker sich aus den Reihen entfernte, sei es in einem Anfall von leichtsinnigem Mut oder der Versuch einer Flucht. Er und seine knapp fünfzig Junker befanden sich auf der Höhe des kürzlich fertig gestellten Podestes in der Festungshalle, etwa zwei Körperlängen oberhalb der Positionen der  beiden lauernden Pterigotus. Jene hielten sich unbeweglich zu beiden Seiten der Truppe auf zwei auseinander liegenden großen Findlingen auf.

Die Bestien warteten ungerührt auf ihre Chance, ohne jegliche Regung von auch nur eines einzigen ihrer starken Gliedmaßen. Lediglich ihre schwarzen, kleinen Augen funkelten listig durch die von den Höhlenarbeiten eingetrübten Gewässer, ab und an zuckten ihre langen Fühler in Richtung der Junker.

Tronador und seine Gefährten waren zum momentanen Zeitpunkt im Vorteil. Ihre geschmeidigen Körper erlaubten es ihnen, schneller zu reagieren, falls einer der Hummer sich zum Angriff entschloss. Obwohl jene ebenfalls Meereslebewesen waren und durchaus schwimmen konnten, hielten sie sich bevorzugt auf gefestigtem Grund auf, der ihrer Plumpheit mehr Halt geben würde.

Die Stärke der Hummer war die Beschaffenheit ihres Körpers, sowohl deren Panzer als auch ihre unbezwinglichen Waffen. Ihre Defizite glichen die Tiere aus, indem sie aus dem Hinterhalt angriffen oder, wie in jener Situation, per Zufall und in einer Interessengemeinschaft vereint. Bräche einer der Junker aus der Gruppe aus, würden sie ihn sich gegenseitig zuspielen wie unsereins einen Ball.

Die Angst schwebte wie ein Schatten im Raum, doch Tronador blieb mit seinen Junkern an Ort und Stelle. Er hatte sich schützend an die Spitze seiner Truppe begeben. Seine ganze Körperhaltung war bis auf das Äußerste gespannt und deutete an, dass er bereit war, sich todesmutig auf die Bestien zu stürzen, falls sie sich näherten.

Jeglichen Gedanken an Genevieve hatte er beiseite geschoben. Jeder kleinste Fehler konnte der letzte sein, zuviel hing von ihm ab. Er benötigte keinerlei Worte zu seinen Gefährten. Im Moment der Gefahr waren sie untereinander verbunden, als wären sie eins. Ob zwei oder fünfhundert, gar fünftausend oder Millionen des tödlichen Feindes, hätte in diesem Moment für keinen Einzigen der Junker eine Rolle gespielt, ebenso wenig, wie den Tod zu finden. Ihre Einigkeit machte sie stark und bereit für den Kampf.

Die Kontrahenten beobachteten sich gegenseitig, regungslos, starr wie Statuen, die Anspannung war beinahe greifbar. Sowohl die Hummer als auch die Meerjunker warteten wachsamen Auges darauf, dass sich der Gegner eine Blöße gab, um gegebenenfalls mit blitzschneller Reaktion antworten zu können.

Kein einziger der tapferen Wassermänner senkte den Blick voller Furcht. Es war, als wenn es nie etwas anderes gegeben hätte als diese Wendung der Vorsehung, die den Bürgern Avalonias  den ehedem natürlichen Schutzschirm entzog.

Schlussendlich bissen sich die Pterigotus an einer kleinen Schar Meerjunker die Zähne aus und zogen nach vielen Stunden der Belagerung gelangweilt von dannen, um willfährigere Opfer zu suchen. Ob sie jene ehedem unter den Bürgern Avalonias fanden, ist nicht belegbar, doch auch nicht zu befürchten. Zumindest war an jenem Tag die tödliche Bedrohung noch einmal glimpflich ausgegangen, doch die mahnenden Zeichen der Zukunft standen auf Sturm!

 

***

Genevieve spürte die Gefahr beinahe körperlich, in der sich Tronador befand. Sie hatte seine kurze Unsicherheit und die Sehnsucht ebenso wahrgenommen wie seine Angst. Die Maid hätte am liebsten ihren Schmerz und ihre Furcht laut in die Welt gebrüllt, doch auch sie durfte sich keine Schwäche erlauben. Jedes kleinste Zugeständnis an ihre Gefühle hätte ihre Schützlinge, die sich in ihrer Nähe befanden, noch mehr verunsichert. Ihr Herz lag wie ein Stein in ihrer Brust, und es schrie: „Begib‘ Dich zu ihm, er ist in Not.“ Tapfer überhörte sie den verlockenden Schrei und harrte weiterhin bangend aus, so schwer es ihr fiel. Es waren nicht viele Bürger in der Goldenen Stadt verblieben. Lediglich einige ältere Paare und Kinder hielten sich in der kleinen Wohnhöhle auf. Es stand in den Sternen, wann die Jüngeren, die sich noch in der Residenz oder in der Bucht von Stellamaris aufhielten, zurückkehren sollten.

Astril und Yoras hielten sich ebenfalls bei Genevieve auf und leisteten ihr wertvollen Beistand. Ihnen war es gewesen, als hätten sie ihren Ruf vernommen, und hatten – soeben noch in trauter Zweisamkeit versunken – nicht lange gezögert, um diesem zu folgen. Während sie durch Avalonia getaucht waren, hatten sie die prekäre Situation, in der sich das Meervolk befand, sogleich erkannt.

Das alte Paar hatte keinen erfreulichen Anblick gehabt. Zwischen Korallenriffen und Felsen lagen die unüberwindbar scheinenden Gegner aller Wesen der Weltmeere des Vorherigen Lebens auf der Lauer. Einige Hummer krochen offen am Grund des Yapetus entlang, während zwei inmitten eines Schwarms kleiner Haie wüteten. Das Wasser war voller Blut und von Skeletten verseucht.

Astril und Yoras hatten die Gefahrenzone gemieden und einen weitläufigen Bogen gemacht, um besorgt ihren Lieben zur Seite zu eilen. Es hatte nicht allzu lange gedauert, bis sie auf weitere Flüchtlinge gestoßen waren. Sie schlossen sich ihnen an und lotsten sie schließlich zu Genevieve.

 Diese fiel aus allen Wolken, als der kleine Pulk überfallartig ihre Heimstatt aufsuchte. Doch die Familie hieß wie zuvor auch die Neuankömmlinge willkommen, nachdem sie von Astril und Yoras erfahren hatten, was sich zugetragen hatte. Das kleine Völkchen zitterte vor Angst ob der Gefahr, der sie durch Zufall knapp entronnen waren. Sie waren zwar durchaus den Anblick der Pterigotus gewohnt, da sich auch in der Vergangenheit einige nach Avalonia verirrt hatten, ohne allzu großen Schaden anrichten zu können. Diesmal schien jedoch eine Invasion Urhummer die Gewässer Avalonias gezielt aufzusuchen, vermutlich, um neue Terrains zu erschließen.

Um so mehr fürchtete Genevieve um die Junker, von denen sie wusste, dass sie gemeinsam mit Tronador am Fuß von Stellamaris verweilten.

Die Aufregung in ihrem Domizil hatte allmählich nachgelassen, vor allem deshalb, weil Astril und Yoras mit ihrer wohltuenden Gelassenheit für Ruhe sorgten. Mittlerweile hatten sich die alten Paare in mehreren Nischen versammelt und schienen sich in Genevieves Gegenwart relativ sicher zu fühlen.

Diese fühlte sich in ihrer unfreiwilligen Position so hilflos wie ein soeben geschlüpftes Nixlein und suchte die Nähe zu ihrer Familie. Gemeinsam mit Astril und Yoras hatte sie sich in ein kleines Nebengewölbe zurückgezogen und flanierte dort neben ihnen durch die bläulich schimmernden Gewässer. Schweigsam blieben sie beieinander, ein jeder hing seinen Gedanken nach.

Tausenderlei Fragen huschten der jungen Nixe durch ihr hübsches Köpflein, quälende Schicksals­fragen, nach deren Beantwortung ihre Seele regelrecht schrie. „Tronador, mein Herzenskönig, was ist Dir geschehen?“, sandte sie ihre Gedanken zu ihm. „Bist Du wohlauf, kehre zurück. Ich brauche Dich an meiner Seite. Wie soll ich ohne Dich weiter leben?" Astril beobachtete besorgt die abwesende Miene der geliebten Meermaid, die seit ihrer Geburt kaum jemals von ihrer Seite gewichen war. Ihr gequältes Antlitz schnitt der alten Nixe wie ein Dolch in ihr Herz. Behutsam tastete sich Astril an Genevieve heran und umfasste ihre Hände.

Wie ein Lavastrom flossen deren bohrenden Fragen in ihre mitfühlende Seele und offenbarten ihr, was die künftige Königin quälte. Sie sah der Nixe in ihr Antlitz und sprach leise: „Du würdest es spüren!“

„Weshalb, weise Urahnin, weilt er nicht an meiner Seite?", antwortete Genevieve bitter und sah Astril dabei unverwandt in die Augen. "Bin ich für ihn geringer als jener verfluchte Palast? Dann will ich niemals dort leben!"

„Aus Dir spricht die Unerfahrenheit der Jugend, Genevieve. Er hat eine Aufgabe zu erfüllen, ebenso wie Du. Es ist nicht der Palast, der ihn fern von Dir hält. Dein Volk, Du dumme Maid, das er an Deiner Seite führen soll, ist so bedeutend für ihn!“, schalt Astril liebevoll mit ihr und sah ihr lang in die Augen.

Nach einem bedeutsamen Schweigen fuhr sie fort: „Tronador leistet Dir Beistand, aus Liebe zu Dir. Danke es ihm, indem Du Deiner Bestimmung folgst und getreu an der Seite des Volkes verweilst. Erweise Dich ihm als ebenbürtig und sei voller Mut.“

In Genevieves Miene spiegelte sich eine Mischung aus Schuldbewusstsein, Hoffnung und Dankbarkeit. Deutlich war ihr anzusehen, wie es in ihr gärte, als sie über Astrils Worte nachdachte. Wiederum herrschte längeres Schweigen, das schließlich von Junker Yoras gebrochen wurde, der seine Gemahlin bestätigte. Er legte liebevoll einen schuppigen Arm um Astrils Schultern und sprach: „Ich wundere mich abermals, woher Ihr über Eure unendliche Weisheit verfügt, geliebte Gemahlin. Du solltest auf ihre Worte hören, Genevieve, denn Astril hat sich noch niemals geirrt. Bereits als junges Sternlein hatte sie Recht behalten, im Angesicht der Himmlischen Mächte, bevor ... “

Er beendete den Satz nicht. Genevieve und Astril wussten dennoch, was in dem alten Junker vorging. Zärtlichkeit und Liebe erstrahlten im Antlitz der Greisin und verliehen ihr solch Schönheit, die manch junges Ding vor Neid erblassen ließe. Das Paar nahm einander bei der Hand und bezog Genevieve in ihre Gemeinschaft mit ein, so dass sie wie ein Dreigestirn am Himmel durch die dunklen Gewässer glimmerten. Astril richtete noch einmal das Wort an ihre jüngste Nachkommenschaft und sprach: „Wie der Herr es verfügt, ist wohlgetan, Genevieve. Was auch immer geschieht, ob im Glück oder im Leid, ergibt seinen Sinn."

Zärtlich nahm sie das Gesicht der Maid zwischen ihre Hände und blickte ihr fest in die Augen. "Ich rate Dir, Dein Geschick in des Vaters Hände zu legen und zu vertrauen.“

 

***

Tronador kehrte bald darauf wohlbehalten zurück und bestätigte somit Astrils mahnende Worte. Die Wohnhöhle der Eltern hatte sich mittlerweile geleert, lediglich Astril und Yoras weilten noch bei ihrer  Familie. Überglücklich schloss Genevieve ihren künftigen Gemahl in ihre Arme. Er musste etliche Fragen ihrer Angehörigen über sich ergehen lassen, die er trotz seiner Erschöpfung geduldig beantwortete. Hoch zufrieden ob des Teilsiegs, den Tronador in den Höhlen von Stellamaris errungen hatte, ließ er sich in die Geborgenheit der Gemeinschaft fallen und genoss das Beisammensein mit seiner geliebten Meeresgöttin.

Nicht lang nach der Heimkehr der Junker fanden sich auch Genevieves junge Freundinnen wieder ein. Die Pterigotus hatten sich vorläufig aus dem Yapetus zurückgezogen, vermutlich scheuten sie die geballte Übermacht. Das Meervolk war indessen gewarnt. Sie hatten begriffen, dass ihre einzigen Waffen, über die sie seinerzeit verfügten, Umsicht und Aufmerksamkeit waren.

Die Bürger Avalonias mieden einsame Gebiete und reisten künftig in Begleitung durch die Goldene Stadt, sofern ihnen dies möglich war. Ansonsten sahen sie keine andere Möglichkeit, als ihr Leben wie gewohnt weiter zu führen.

 

***

Am Krönungstag

 

Der Bau der königlichen Säulenhallen war mittlerweile fertig gestellt worden. Somit brach der allseits sehnlich erwartete Zeitpunkt der Vermählung und Amtsernennung von Genevieve und Tronador an. Die Zeremonie sollte von Aquaria vollzogen werden, der ein Ehrengemach in der Residenz errichtet worden war.

In den Gewässern Avalonias griff freudige Erregung um sich. Allerorten schwammen Nymphen beiderlei Geschlechter in festlichen Obergewändern durch die Goldene Stadt. Raffiniert geknüpfte Geschmeide aus Muscheln und Nixenhaar zierten die anmutigen Hälse der Maiden. Die Gewänder der Junker waren mit Schneckengehäusen verbrämt. Das Meervolk hatte augenscheinlich tief in die Trickkiste gegriffen. Selbst der Yapetus schien sich auf das kommende Ordinationsbankett vorbereitet zu haben, denn das Wasser schillerte wie ein Opal. Strahlender Sonnenschein herrschte in den oberen Regionen von Stellamaris und setzte sich bis in die tiefsten Gewässer Avalonias kaum abgeschwächt fort. Der Himmel leuchtete in kräftigstem Blau, das lediglich durch die Farben des Regenbogens unterbrochen wurde. Unglaublich scharf hoben sich die Konturen der Inselkette vom Horizont ab. Der Wasserfall sang im Gleichklang mit Brandung und Wind ein freudiges Terzett.

 Das Meervolk hatte indessen nicht die Muße, das Farbenschauspiel von Mutter Natur zu bewundern. In der Wohnhalle von Genevieve herrschte reger Betrieb, um der Braut und künftigen Königin Avalonias vor ihrem bedeutendsten Ereignis die Aufwartung zu machen. Die engsten Vertrauten und Familienmitglieder ließen es sich nicht nehmen, ihre Gefährtin zum Bankett als Gefolge zu geleiten.

Während Mirja und Tikar bereits in Aufbruchstimmung waren, zögerte Genevieve einstweilen, um ihrer Nervosität Herr zu werden. Ihre drei als Brautgefolge vorgesehenen Freundinnen Marianis, Tamila und Tweja versuchten händeringend, Sirja und Megalis zur Eile zu bewegen, während jene korrigierend an ihrer Aufmachung fingerten.

Das Stimmengewirr der fünf Maiden hallte vibrierend von den Höhlenwänden wider. Genevieves faszinierend fein gezwirltes, perlmuttfarbenes Brautgewand umschmeichelte filigran ihren Oberkörper und ließ ihre Haut wie Mondlicht schimmern. Um ihren Hals trug sie ihre Muschel als Talisman, der sie untrennbar mit der Himmelsmacht verband.

Tamila war über sich hinaus gewachsen und hatte ihr ein Diadem aus dicht geknüpftem Goldhaar gefertigt, in dessen Mitte ein blauer Edelstein ruhte. Es umschloss Genevieves Haupt so perfekt, als wenn es mit ihr verwachsen wäre.

An der Pforte warteten Genevieves Eltern und betrachteten ihre schöne Tochter mit einer Mischung aus Stolz und Wehmut. Zur Feier des Tages fanden sich Leuchtquallen im Domizil der Familie ein und tauchten das Innere in ein geheimnisvolles, festlich blaues Licht.

Vor dem Eingang wartete Tronador ungeduldig darauf, dass seine Braut endlich erschiene. Auch er war festlich gewandet. Der stattliche Junker trug ein Obergewand aus dunkelgrünem Algengarn. Seine breite Brust zeichnete sich deutlich unter dem mit leeren Schneckengehäusen verzierten Stoff ab. Die grauen Tentakel aus dem Erbgut seiner Vorfahren waren von den Maiden auf dem Haupt zusammengelegt und mit Algenbändern umwickelt worden.

Tronador war eine imposante Erscheinung und einer Königin als Gemahl überaus würdig. An seiner Seite – wie auch in seinem Herzen – hatten die beiden Junker Fronkalis und Morius gemeinsam mit einigen weiteren Höhlenbauern ihre Positionen eingenommen. Die Augen der kleinen Gruppe waren unverwandt auf das Portal der Höhle gerichtet, begierig, Genevieves Schönheit zu erblicken. Das aufgeregte Geplapper der Maiden drang bis zu den Junkern heraus.

Tronador konnte es sich nicht verkneifen, schmunzelnd zu bemerken: „Weshalb müssen die Maiden allenthalben etwas zu besprechen haben? Wer kann mir das sagen?“

Gelächter erklang aus den Reihen seiner Mannen. Fronkalis erwiderte: „Wartet ab, bis sie Euch ihr Jawort gegeben hat. Ihr werdet Euch wundern, über welch großen Sprachschatz ein weibliches Wesen verfügt."

Tronador grinste und sprach lapidar: „Ich bin Euch für Eure Warnung zu großem Dank verpflichtet. Muss ich um mein Seelenheil fürchten oder um meinen Gehörsinn?“ Die Junker schüttelten sich vor Lachen. Perlen stiegen um sie herum auf und umrahmten ihre kräftigen Körper. Es blieb ihnen jedoch beinahe im Hals stecken, als Morius in einem Anflug von Leichtsinn bemerkte: „Von dem Augenblick Eurer Amtsannahme an bezweifle ich, dass Ihr viele Gespräche führt. Ihr werdet genügend andere Sorgen mit den Hummern haben. Sie werden nicht fern von uns bleiben.“

Ob das nun wirklich leichtsinnig dahin gesagt war oder Morius‘ Feststellung möglicherweise einer Vorahnung entsprang, kann wohl niemand ermessen. Die gelöste Stimmung der Junker war jedenfalls dahin. Fassungslos starrten ihn die Gefährten an und verstummten.

Tronador wandte sich ruckartig in seine Richtung und funkelte seinen mittlerweile engsten Vertrauten wütend an. Er war bis ins Mark getroffen. „Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um Politik zu führen. Zudem trifft meine künftige Gemahlin die Entscheidungen als auserkorene Königin, merkt Euch das auf alle Zeiten. Eure Bemerkung ist unangebracht!“, rügte er Morius in ungewohnt barschem Tonfall.

„Mit Verlaub, Tronador, aus Euch spricht der Zorn“, wagte Fronkalis einzuwenden und warf Morius einen warnenden Blick zu. „Ihr wisst selbst, dass Eure Einwände niemals in Genevieves Sinne sein würden. Mit Eurer Kraft und Eurem Wissen könntet Ihr uns sehr wohl wertvolle Dienste erweisen. Seid unser König mit Leib und Seele, wir brauchen Euren Mut ebenso wie Eure Weisheit und Scharfsinn.“ Zustimmendes Gemurmel umringte ihn. Tronador rief sich selbst zur Ordnung und richtete beschämt seinen Blick zum abschüssigen, mit Geröll übersäten Meeresgrund. Einige Wimpernschläge lang herrschte bedrücktes Schweigen. Schlussendlich hob er sein geschmücktes Haupt und sah seinen Gefährten voll Stolz, Aufrichtigkeit und Feierlichkeit in die hoffnungsvoll auf ihn gerichteten Augen. „Ich habe Genevieve bereits geschworen, getreu an ihrer Seite zu sein, was immer auch auf uns zukommen mag. Euch gegenüber leiste ich ebenfalls einen Eid.“ Tronador straffte gestärkt seinen Körper und fuhr fort: „So höret, was ich Euch zu sagen habe. Ich werde an Eurer Seite kämpfen, welch grausige Gefahr auch dem Meervolk drohen mag. Ich werde all meine Kraft, Treue und Liebe zu Euch geben, um meiner Gemahlin und Euch ein guter Gefährte zu sein. Falls Ihr das wünscht, werde ich das Haupt Avalonias sein. Ihr seid jedoch das Herz, vergesst das nie. Seelenlos ist selbst das weiseste Haupt ohne Nutz.“

Seine Stimme trug weit, bis hin zu Genevieve, die soeben im Begriff war, an der Spitze einer kleinen Gefolgschaft aus engstem Kreis die Höhle zu verlassen. Tränen der Rührung standen in ihren Augen, während sie lauschte.

Nachdem ihr Geliebter seine Rede beendet hatte, wandte sie sich der kleinen Gruppe zu und sprach voller Liebe und Stolz: „Habt Ihr die Worte Eures künftigen Königs vernommen? Mir ist nicht bang um unsere Zukunft, wenn Tronador an unserer Seite verharrt, er allein kann unserem Volk die Stärke und Kraft geben, die wir benötigen. Ich kann es schwerlich erwarten, seine Gemahlin zu werden.“

Ihre Gefühle spiegelten sich in den Augen der anderen wider, während ihre Eltern und die Gefährtinnen sie umringten und einander bei den Händen fassten. Sie bezogen Genevieve in den Halbkreis mit ein, und Marianis ergriff nach einem Moment ergriffenem Schweigens das Wort: „Ihr werdet ihm eine ebenbürtige Gemahlin sein, gemeinsam seid Ihr Eures Amtes würdig. Er benötigt Euch ebenso wie Ihr ihn, Genevieve. Tronador ist ein Teil von Euch.“

 „Ich danke Euch, meine treueste Freundin, für Eure warmen Worte. Es ist ebenso mein Bestreben, Euch aus vollstem Herzen zu Diensten zu sein, wie es seines ist. Seine Worte sprechen mir aus der Seele“, erwiderte Genevieve in feierlichem Tonfall. „Kommt, begeben wir uns zu ihm, auf dass Avalonias heiß ersehntes Fest beginnen kann.“

 Bewunderndes Raunen erklang aus den Reihen der Mannen, als sie die Schönheit und Grazie ihrer künftigen Königin erblickten. Tronadors Herz schlug ihm bis zum Hals, als er auf die Liebe seines Lebens zukam und stumm ihre Hände zwischen seine nahm. Tränen des Glücks glitzerten in seinen Augen. Die Welt um sich herum vergessend, verharrte das Paar lange Zeit und sah einander voller Liebe an, die Hände ineinander verschränkt.

Fronkalis war es, der Genevieve und Tronador aus ihrer Versunkenheit riss und sie zur Eile gemahnte. Nicht lange danach stieß sich ein kleines Geschwader, aus sieben Junkern und sieben Maiden bestehend, mit kraftvollen Tauchstößen durch die Gewässer. Paarweise, mit dem Regentenpaar an der Spitze, passierten sie die Goldene Stadt und wandten sich gen Stellamaris, in dessen Gemäuern Aquaria und das Volk ihrer harrte.

Tronador beobachtete unverwandt und besorgt Genevieves Miene, die von ihrer Angespanntheit und Nervosität zeugte. Liebevoll drückte er ihre Hand und fragte sie: „Was bedrückt Euch, Genevieve?“ Sie wandte ihm das Gesicht zu und antwortete: „Es ist nichts, Tronador. Möglicherweise ist es nur die Furcht einer Närrin.“

Bedeutungsvoll wandte sie ihren Blick in Richtung Stellamaris, wo die Zeremonien stattfinden sollten. „So dürft Ihr nicht sprechen, Ihr seid alles andere als eine Närrin. Fasst Mut und lächelt mich an, mein Herz leidet, wenn Ihr traurig seid“, tröstete sie Tronador.

In der Tat konnte er Genevieve ein flüchtiges Lächeln entlocken, sie wurde jedoch sogleich wieder ernst. „Uns wurde ein bedeutendes Amt angetragen, und ich fürchte mich davor, dem nicht gewachsen zu sein.“

„Ihr wisst, dass ich Euch niemals verlassen würde. Niemand verlangt von Euch, immer stark zu sein. Auch Schwächen sind ein Zeichen von Stärke, wenn Ihr Euch dazu bekennt und ihnen keinen Raum in Eurer Seele gebt. Ich glaube an Euch, ebenso wie all jene, die Euch lieben.“

Er wollte Genevieve weiteren Zuspruch spenden, als ein Schrei aus den hinteren Reihen das Paar erschrocken auffahren ließ. Sie schnellten in die Richtung, aus der sie ihn vernommen hatten, und versuchten krampfhaft, das Geschehnis zu erkennen.

Geistesgegenwärtig tauchte Tronador nach hinten, wo ihm bereits Fronkalis entgegen kam. Fassungslosigkeit und Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er auf Tronadors Nachfrage antwortete: „Tamila ist von zwei Pterigotus entführt worden. Ich konnte soeben  erkennen, wie sie ihnen zwischen die Fänge geriet.“

„Konntet Ihr sehen, wohin sie mit ihr verschwunden sind? Wir sollten sie suchen“, fragte Tronador, ebenso entsetzt wie Fronkalis und all die Maiden und Junker, die sie voller Furcht und Trauer umringten. Er deutete stumm hinter sich.

Genevieve war mittlerweile bei ihnen angelangt und wollte ebenfalls wissen, was geschehen war. In knappen Worten berichtete ihr Tronador von dem Unglück. Danach beorderte er Morius zu sich und bat ihn, die Maiden nach Stellamaris zu geleiten, um sie in den Säulenhallen in Sicherheit zu bringen. „Wer weiß, wie viele von ihnen hier noch herum lungern, und wir wollen Tamila suchen. Begebt Euch so schnell wie möglich in die Residenz, belasst sie dort und warnt die Anderen von uns. Kehrt danach unverzüglich zu uns zurück und bringt einige kräftige Junker mit. Wir werden ihnen die Maid keinesfalls kampflos überlassen“, schloss er, sich den Nachfolgenden zuwendend, seine Anweisungen ab.

Genevieve vernahm Tronadors Worte. Tränen der Furcht standen in ihren Augen, als sie ihn anflehte: „Lasst mich an Eurer Seite bleiben, ich fürchte um Euer Leben. Ich will mit Euch kämpfen, wie es Not tut und all meine Kraft dafür geben. Ihr wisst, dass ich Euch im Kampf ebenbürtig bin.“

 Über das Antlitz des Junkers glitt ein Lächeln, als er sich die Bedeutung ihrer Worte ins Gedächtnis rief. Er streichelte ihre Wange und sprach in zärtlichem Tonfall: „Ja, ich weiß, dass Ihr eine Kämpferin seid. Ihr habt jedoch bei Eurem Volk zu sein und ihnen Zuspruch zu geben, wenn sie ihn brauchen. Ihr würdet uns nur hinderlich sein. Sorgt Euch nicht um mich, mir wird nichts geschehen. Folgt also den Maiden, kleine Königin.“

„Es sei, wie Ihr es wünscht, Tronador. Ich sehe die Notwendigkeit ein. Seid jedoch gewiss: Wenn Euch etwas geschieht, werde ich ebenfalls nicht mehr sein. Ich werde mich freudig in den Rachen einer dieser garstigen Bestien werfen, nachdem ich deren blutrünstige Gefährten zur Strecke gebracht habe!“, schwor Genevieve einen dunklen Eid mit einer Entschlossenheit, die Tronador frösteln ließ. „Ich sehe, wir verstehen uns!", fuhr er sie an und blickte ihr zornig ins Gesicht. "Wenn die Hummer Euch reden hören, werden sie freiwillig Reißaus nehmen. Mir jedenfalls ist es angst und bange bei Euren Worten, die Euer nicht würdig sind. Ihr habt Eurer Mission zu folgen, die Euch aufgebürdet wurde, selbst wenn ich nicht mehr bin. Euer ist das Leben und des Kampfes. Folgt jedoch nicht den Pfaden des Hasses und der Gewalt, so sehr Euch der Schmerz auch umtreibt." Als sie beschwichtigend ihre Hand auf seinen Arm legte, streifte er diese ab wie eine lästige Faser. "Und nun hinfort, Genevieve, Ihr habt vernommen, was Ihr zu tun habt. Mehr habe ich Euch nicht zu sagen!“

 Konsterniert starrte ihm die Maid in die Augen. Schlussendlich warf sie ihren Körper mit solch Kraft herum, dass Schlamm vom Grund des Meeres aufgewirbelt wurde und sie einhüllte. Genevieve wandte sich wütend an Morius und ihre Gefährtinnen, die warteten, und winkte ihnen gebieterisch und hoheitsvoll zum Aufbruch zu.

 Tronador ließ ihr den Triumph nicht, ihr hinterher zu eilen, um sie zu umschmeicheln. Entschlossen wandte er sich seinen verbliebenen Gefährten zu und forderte mit einer Gelassenheit, die jeden verblüffte, der ihn nicht kannte: „Wir wissen ebenfalls, was zu tun ist. Lasst uns aufbrechen, Gefährten. Wir werden erwartet. Geduld sollte nicht unvergolten bleiben.“

Sechs todesmutige Junker eilten von dannen, in die Richtung der Goldenen Stadt, einem ungewissen Schicksal entgegen. Solch Entschiedenheit und Kampflust stand ihnen in die kantigen Antlitze geschrieben, dass sämtliches Meeresgetier vermied, ihnen in die Quere zu kommen. Sechs Maiden und ein Junker taten es ihnen gleich und stießen sich in entgegengesetzter Richtung mit nahezu wütenden Flossenschlägen pfeilschnell durch den Yapetus.

Genevieve hatte sich an die Spitze der Truppe gesetzt, während Morius die Nachhut bildete, um sie vor Überraschungen zu schützen. Beide ließen den Blick stetig ringsum schweifen, um rechtzeitig einen eventuellen Hinterhalt erkennen zu können. In der Maid gärte der Hass.

Sie nahm Tronador seine harten Worte im Nachhinein nicht mehr übel. Sie war jedoch fest entschlossen, einem Kampf mit den Hummern um nichts in der Welt aus dem Weg zu gehen, nur um ihm zu gehorchen. Sie machte sich zwar nichts vor: Rein körperlich waren weder die Frauen noch die Männer den Pterigotus gewachsen. Die Maid würde es sich selbst hingegen niemals verzeihen können, wenn sie bei ihrem Anblick memmenhaft schreiend flüchten würde.

Auf welche Art und Weise sie sich mit ihnen messen wollte, machte sie sich indes keinerlei Gedanken. „Es würde sich weisen“, dachte sie bei sich, „ob sie nicht überlistet werden könnten. Wir sind zu siebt!"

Finsterste Rachegelüste tobten in ihr und verliehen ihr Mut. "Es müsste möglich sein, ihnen beizukommen, wenn die anderen nicht vor Furcht erstarren. Gegebenenfalls würde ich ihnen höchstselbst den feigen Schädel herunter reißen, um sie zur Bewegung anzutreiben, ich schwöre bei allem, was mir heilig ist. Wir sind nicht schwach, wie er zu denken scheint. Tronador, ist das Deine Weisheit, wie ich dachte? Wie schlecht Du mich kennst!“, schimpfte sie vor sich hin.

„Ist das wahrhaftig Dein Ernst, holdeste Maid?“, vermeinte sie Tronadors Stimme zu hören, während Genevieve mit ihren Gefährten durch das trübe Meer eilte. „In der Tat, mein Gemahl. Mein bitterster Ernst. Denkt Ihr etwa, ich scherze? Immerhin werde ich in Kürze zur Königin gekürt. Soll ich womöglich nur knüpfen und fädeln wie die anderen Maiden?“, sandte sie im Geiste die kriegerische Antwort. Ein erheitertes Lachen klang ihr in den Ohren. „Du nimmst mich nicht ernst“, beschwerte sie sich. „Erscheine ich Dir so schwach?“ Die Maid erhielt keine Antwort mehr. Sie fühlte, wie er ihr zu entgleiten drohte und wusste sogleich: Sie hatten Tamila gefunden.

„Er wird sterben“, flüsterte eine leise Stimme in ihr. „Keiner der Junker wird den Hummern beikommen können. Deine Gefährtin ist längst des Todes, alle Mühen waren vergebens.“

Widersprüchliche Gefühle hatten sich ihrer bemächtigt und stritten untereinander wie zweierlei Stimmen. „Weh mir!“, hallte es in ihrer Seele. „Weh Avalonia, wenn dem so sei. Verflucht sollen diese gefräßigen Bestien sein!"

„Hört auf zu jammern, zieht Eures Weges!", klangen ihr Tronadors harte Worte im Ohr. "Lasst Euch nicht einfallen, mich suchen zu wollen. Wir können vor Ort keine wehleidigen Memmen brauchen.“

So sehr sie Genevieve schmerzten: „Er lebt. Dem Herrn sei es gedankt, er lebt!“, jubelte ihr Herz. „Ich werde tun, was auch immer Ihr von mir verlangen werdet, Geliebter.“

 

***

Unwesentlich später, nach Genevieves telepathischem Disput mit ihrem Bräutigam, rieb sich die Maid verblüfft die Augen und rief nach Morius. Er eilte unverzüglich herbei, um zu sehen, was sie so beunruhigte. Genevieves Mutter und ihre vier Gefährtinnen kamen ebenfalls, nicht weniger überrascht als sie. Das Hindernis, welches ihre Reise kurzfristig unterbrochen hatte, war ein rötlich gefärbter Dunst, der ihnen die Sicht nahm. In dem verseuchten Wasser schwammen säuberlich abgenagte Körperteile, deren Herkunft ihnen schleierhaft war. Es konnten keine Fischskelette sein, denn die Wesen, die an dieser Stelle ihr Leben beendet haben mussten, hatten offenbar Beine gehabt. Außer den Hummern kamen ihnen keine anderen in den Sinn.

Morius und Genevieve lauschten umsichtig auf die Geräusche in der Umgebung, um abzuschätzen, ob der Kampf jener unbekannten Kontrahenten noch tobte. Alles blieb jedoch ruhig. Vorsichtig tasteten sie sich in den Nebel hinein und begutachteten, wie es ihnen möglich war, den Grund des Meeres, um zu orten, welche Wesen an dieser Stelle miteinander gekämpft haben konnten.

Plötzlich stieß Marianis einen spitzen Schrei aus und rief: „Seht, Genevieve, was dort an jenem Felsen liegt. Es scheint das Oberteil eines Hummers zu sein. Dort drüben, habt Ihr die Zähne erblickt? Hier scheinen etliche dieser Biester gestorben zu sein. Es muss ein großer Kampf gewesen sein."

Gemeinsam schwammen sie zu der Stelle, die Marianis ihnen gezeigt hatte. Die drei Verbündeten sahen sich vielsagend an. Fünf leere Panzer der Hummer lagen in unregelmäßigen Abständen auf dem Meeresgrund. Sie waren noch mit dem Blut des Kampfes besudelt. Jene, deren Oberseite nach oben gekehrt war, leuchteten in giftigen Farben durch das trübe Wasser des Ozeans.

Etwas weiter entfernt lagen einige jener Teile, die Marianis als Zähne bezeichnet hatte. Es waren jedoch drei Zangenpaare, die den toten Pterigotus abgerissen worden waren. Morius sah einige Hauer, die von Haien abstammen mussten. Sie lagen zwischen drei Findlingen und wurden leicht von Seegras überwuchert.

Er tauchte zu der Stelle hin, hob sie auf und besah sie sich aus der Nähe. Ihm war anzusehen, dass ihn etwas beschäftigte. Schließlich hatte er einen Entschluss gefasst und rief die Maiden zu sich. „Dieser Fund kann uns allen von Nutzen sein“, sprach er triumphierend. „Wir können die Hummer mit ihren eigenen Waffen schlagen. Seht Euch das alles einmal genauer an und sagt mir, dass ich mich irre.“

„Erklärt uns das näher, Morius“, forderte Tweja ihn neugierig auf. Zweifel und Unverständnis standen ihr ins Antlitz geschrieben. Wozu sollten die Gebeine von gigantischen Urhummern und Haien zunutze sein?

 Morius erklärte es ihnen: „Nun, die Hüllen hier", er zeigte auf einen Panzer, "nehmen wir zu unserem Schutz, wie sie es ebenfalls tun. Mit ihren Zähnen verletzen wir sie, und alles Andere wird sich weisen. Die der Haie können wir in gleichem Maße gebrauchen.“

"Wir sind kein Volk des Kampfes", gab Genevieve zu bedenken. Zweifel waren auch in die Gesichter ihrer Gefährtinnen geschrieben, doch Morius war ihnen um eine Antwort nicht verlegen: "Tronador würde nun sagen, dass alles erlernbar ist. Und darüber stimme ich mit ihm überein. Es ist eine Frage des Überlebens." Schließlich riet er, die Fundstücke nach Stellamaris zu transportieren, zuversichtlich, dass Tronador schon etwas damit anzufangen wisse.

Genevieve beschloss, seinem Rat zu folgen. Schwerbeladen begab sich die kleine Gruppe auf den Weg nach Stellamaris, nicht ahnend, welch Grauen ihrer dort harrte!

 

***

Im Thronsaal

 

Der Fund der Gebeine hatte Genevieves Herz leichter gemacht und ließ sie im Vorfeld der drohenden Kämpfe etwas zuversichtlicher sein. Für sie hatten die Todesartefakte zugleich Schlüsselfunktion, als Beweis, dass die Urhummer doch nicht so unbesiegbar waren wie befürchtet. Es war ihr zwar ein Rätsel, welche Ereignisse sich auf dem vorliegenden Schlachtfeld abgespielt hatten, doch andererseits: Das Ergebnis allein war Genevieve wichtig.

Grüblerisch eilte sie - weiterhin an der Spitze der Truppe - durch die schlierigen Gewässer und versuchte, alle bisherigen Eindrücke zu analysieren. 'Möglicherweise hatten sich mehrere Haie zusammengerottet', sagte sie sich, 'um wenigstens einigen den Garaus zu machen.'

Den langen Hauern zufolge mussten etliche der Fische riesig gewesen sein, denn sie betrugen die Länge einer Elle. An die Tragweite dieser Erkenntnis zu rühren war für die künftige Königin Avalonias ziemlich erschreckend, und Genevieve hoffte bei deren Anblick, dass die Pterigotus die einzigen natürlichen Erzfeinde seien.

In Stellamaris setzte sich das blutige Szenario des vorherig vorgefundenen Schlachtfeldes fort. Als Morius mit Genevieve und ihren Gefährtinnen dort ankam, erwartete sie im neu erbauten Thronsaal gespenstische Stille.

Das Wasser war trüb, und (Morius' Herz setzte fast aus) sie fanden Flossenteile, die eindeutig von ihresgleichen abstammten. Was war hier geschehen? Es war mit den Bürgern von Avalonia verabredet gewesen, sich zur Krönungszeremonie von Genevieve und Tronador hier einzufinden. Ihr stand die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben, und Marianis und Tweja waren im Begriff, in Panik auszubrechen. Orientierungslos irrten sie durch den Thronsaal und schluchzten. Sirja schrie hysterisch auf, als sie von einem blutigen Körperteil gestreift wurde, und klammerte sich schutzsuchend an Megalis. Ihre Beute vom soeben passierten Schlachtfeld hatten sie bis auf Genevieve und Morius fallen gelassen, was den Schreckensanblick noch zusätzlich verstärkte, indem die ergatterten Hummerpanzer, Zangen und Haizähne sich zu den zerfleischten Körpern ihrer Gefährten gesellten und gespenstisch durchs Wasser trieben. Morius fasste sich jedoch schnell und wies alle an, die potentiellen Waffenmaterialien wieder einzusammeln, in Wandnischen zu legen und dort zu befestigen.

Es war keine Zeit zu vertrödeln, das wurde ihm mehr und mehr klar. Schließlich gab er den Maiden den Befehl, sich um ihn zu scharen und bei ihm zu bleiben. Nachdem alle wieder beisammen und ihre Lasten gesichert worden waren, begaben sie sich auf Erkundungstour.

Die Wurzel von Stellamaris war riesig, verzweigt und barg etliche Unterwasserhöhlen, was sich die Höhlenbauer rund um Tronador und Fronkalis beim Ausbau des Palastes zunutze gemacht hatten. Jetzt, nach Fertigstellung des gigantischen Baus, kam erst zutage, welch Möglichkeiten sich boten. Starke Felswände bildeten ein zuverlässiges Fundament, das die Gesteinsmassen der Insel unter und über dem Meeresspiegel - von Wurzel bis Gipfel  - stützte.

Es waren kaum Ausbaumaßnahmen vonnöten gewesen, die Innenräume befanden sich fast noch im Originalzustand. Bis auf die Schaffung von Ein - und Durchgängen durch die vielen Höhlensysteme, die Erarbeitung des Wohnbereichs mit fünf Kammern und Verschönerungsmaßnahmen im Regierungssaal und Aushauen von Schlafnischen hatten sich die Junker auf Mutter Natur als Bauherrin verlassen. Doch dies, was durch ihre eigenen Hände entstanden war, konnte sich sehen lassen, war zweckmäßig und teilweise gar prunkvoll. Ein Schutzbereich für das Volk war weit hinter dem Thronsaal und dem Wohnbereich angelegt worden - und dieser bot den geladenen Gästen nun Obdach.

Morius, Genevieve, Mirja - Genevieves Mutter - und all die anderen Maiden, denen die baldige Königin zugetan war, machten sich mittlerweile auf das Schlimmste gefasst und durchsuchten die weiträumigen Gewölbe, inbrünstig hoffend, das Volk Avalonias lebend zu finden.

Den tödlichen Spuren zufolge, auf die sie während ihrer Erkundungsmission immer wieder stießen, musste hier eine Katastrophe größeren Ausmaßes geschehen sein. Doch je weiter sie in das Innere von Stellamaris stießen, desto größer wurde ihre Hoffnung, doch noch Lebende zu finden.

Von sehr weit weg vernahmen sie die entsetzten Stimmen ihrer Gefährten und hielten unentwegt darauf zu. Schließlich waren sie am Ziel angelangt und querten die sechs Säulen, die den Eingang zum Festungssaal bildeten.

Ein erbarmungswürdiges Bild bot sich ihren Augen, als sie das Innerste der Räumlichkeiten erreichten. Fast ganz Avalonia hielt sich hier, in dem von Tronador angedachten Schutzraum, verborgen. Die Gesamtheit der Masse wirkte verängstigt und mutlos. Kaum jemand sprach, in Angst, dass die Urhummer ansonsten zurück kehren und sie hier vorfinden könnten. Nur hin und wieder war das wispernde Stimmlein eines Nixenkindes zu hören, das Fragen stellte.

Aus den hintersten Reihen löste sich ein Junker und schwamm auf Morius zu. "Was ist geschehen?“, fragte er knapp, als dieser bei ihm angelangt war.

„Wir wurden von acht Hummern heimgesucht. Zehn Maiden und zwei Junker sind ihnen zum Opfer gefallen“, antwortete der Gefragte. Der Schock über das Erlebnis war dem Meerjunker deutlich anzusehen.  "Zwölf Opfer!", rief Morius entsetzt aus. "Tamila wurde ebenfalls von zwei dieser Bestien geholt, wir wissen nicht, was mit ihr geschah, ob sie noch lebt oder ebenfalls zerfleischt worden ist. Deshalb sind wir ohne die anderen Junker hier. Wir waren beauftragt, Hilfe zu holen!"

Genevieve war mittlerweile zu den beiden gestoßen und hatte Wroduns Worte vernommen. Tränen stiegen ihr in die Augen, die sie jedoch tapfer unterdrückte. Mitfühlend legte sie die Hand auf seinen Arm und fragte gefasst: „Wie ich sehe, habt auch Ihr Schrecknisse erlebt. Berichtet uns mehr darüber, wenn es Euch möglich sein sollte. Wo ist dies geschehen, und wo sind die Hummer verblieben?“

All ihre eigenen Sorgen und Ängste hatte die Maid in der hintersten Kammer ihres Herzens verschlossen. Nicht vergessen, doch ruhend, war Tronador, ihre Angst um ihn und seine Gefährten, die sich in Gefahr begeben hatten.

 Wie eine gigantische Woge brach der Kummer aus Wrodun hervor, und er erzählte ihnen die tragische Geschichte: „Ihr solltet mit Eurem Herzenskönig und unser aller Hoffnung zusammen geführt werden, es hätte das größte und schönste Fest für Avalonia werden sollen, oh holdeste Maid, von den Himmlischen Mächten erwählt. Alles strahlte vor Glück: Die Felsen, die Gewässer der Goldenen Stadt, alles Getier, Solveigh tauchte den gesamten Ozean in goldenes Licht. Jubelgesänge hallten durch Avalonia, während wir alle, das ganze Volk, zu jenem heiligen Ort Eurer Vermählung eilten. Die Gräser raunten, welch große Könige in Bälde ein gewaltiges Reich ihr eigen nennen könnten. Die Steine begannen zu glitzern, edelste Polster wurden herbei geschafft.“ So sprach der Junker in seiner Verzweiflung, und mit großen ausführenden Gesten beklagte er Avalonias Tote: „Sehet Euer künftiges Domizil, dessen Schönheit der Euren einen prunkvollen Rahmen verleiht. Der Thron, eine Tafel aus Marmor, verziert mit Muscheln und roten Korallen. Von all unserer Liebe zu Euch und Eurem Gemahl zeugt jener Palast. Doch ach: Weh Avalonia, mit Blut ist er besudelt. Mit Blut und Tränen, von den Bürgern Avalonias vergossen. Aus den Tiefen der Hölle wurden wir heimgesucht; von jenen Monstern, die uns das Glück nicht gönnten. Wie eine gigantische Welle strömten sie in die Heiligen Hallen hinein; mit böse glitzernden Augen, ihre Mäuler aufgerissen, zwischen den Fängen hing Fleisch von unbekannten Opfern. Die harten Körper waren mit Blut und Schlamm bedeckt; sie schienen satt, doch dem war nicht so. Mit unbezwinglicher Gier fielen sie über uns her, aus Liedern und Jubel wurde Wehgeschrei.“

Tränen rannen ihnen über das Antlitz, als sie seine weiteren Worte vernahmen: „ Zehn unserer schönsten Maiden, jung und rein, ohne Arg ihres Herzens, wurden der Hummer bitteres Mahl. Zwei der Junker, stark und stattlich, mit tapfer funkelnden Augen, waren ihr labendes Dessert.“

 Triumphierendes Glitzern trat plötzlich in Wroduns umflorte Augen, und er fuhr fort: „Denkt nicht, dass wir feige Memmen waren. Fünf von ihnen mussten ihr Leben lassen. Vor den Heiligen Hallen könnt Ihr jene Gebeine finden, die Haie waren unsere Verbündeten. Sie übten Rache für blutiges Gemetzel, das auch unter ihnen begann.“

Wie aus einer anderen Welt vernahmen Genevieve und ihre Gefährten die raunenden Stimmen des avalonischen Volkes, weit entfernt, obwohl sie in deren Mitte verweilten. Sie waren wie erstarrt. Weder brachen sie in bittere Tränen aus noch verriet auch nur das kleinste Zittern, was in ihnen vorging. Zu unvorstellbar war das Gehörte, um es als Geschehnis wahrhaben zu können; zu groß war der Schmerz des Alptraums, als dass er sich Bahn brechen konnte.

Doch in Morius arbeitete es. Vor Allem die letzte Bemerkung von Wrodun gab ihm zu denken: Wie wurden die Meeresmonster ohne Waffen besiegt? Schließlich nahm er Wrodun zur Seite und fragte ihn direkt: "Wie groß war der Anteil aus unserem Volk an dem gewesenen Kampf? Hattet Ihr überhaupt eine Möglichkeit zur Gegenwehr?"

Der Angesprochene wirkte verletzt: "Weshalb fragt Ihr? Zweifelt Ihr an meinen Worten?" Sein barscher Tonfall war Morius eine eindeutige Warnung, einfühlsamer zu sein. "Folgt mir, und Ihr werdet meine Frage verstehen", antwortete er behutsam.

Fragend sah Wrodun ihn an, doch in Morius' Augen las er keinerlei Zweifel. Schließlich beschloss er, ihm zu vertrauen und ließ sich führen.

Morius rief Genevieve an seine Seite und bat auch sie, sich ihnen anzuschließen. Gemeinsam begaben sie sich in den Thronsaal, wo die Gebeine des Kampfes von ihnen untergebracht worden waren.

Erst jetzt brach er sein Schweigen. Unterstützt von Genevieve schilderte er Wrodun den Fund der Beute des Schnitters und umriss kurz, was er damit anzufangen gedachte. Er erzählte von der Todesmission seiner Gefährten, die sich gemeinsam mit Tronador auf den Weg gemacht hatten, um Tamila aus den Fängen der Pterigotus zu befreien.

Genevieve schossen die Tränen in die Augen, als Morius erneut Zweifel anbrachte, wie die Urhummer ganz ohne Waffen besiegt werden könnten, um Wrodun den Grund seiner Frage zu nennen. Doch dieser wiegelte ab, im Bestreben, seine beiden Begleiter zu beruhigen: "Ich war selbst in den Fängen einer dieser Bestien, und ich bin entkommen. Wir waren zu fünft, wir nahmen Felsbrocken zuhilfe. Wir haben sie damit erschlagen. Es ist zu hoffen, dass unseren Junkern genausoviel Glück beschieden ist. Und ich denke, dass sie zurück kehren werden. Unser künftiger König ist mutig und stark genug, um ihnen allein beikommen zu können. Fasst neuen Mut und habt Vertrauen."

Genevieve warf ein: "Eure Zuversicht in aller Ehren, aber wir brauchen auf jeden Fall Euren Beistand. Könnt Ihr uns mit ein paar Männern begleiten? Tronador hoffte darauf und schickte uns deshalb voraus." Sie bewunderte die momentane Gefasstheit Wroduns und dachte bei sich, dass etliche tapfere Männer in ihrem Volk vertreten waren. In die Zukunft vorausblickend, plante sie bereits jetzt, sich diesen Umstand eines Tages zunutze zu machen und bereitete so in ihrer Seele den Boden für die Halle der Sieben.

 Morius und Wrodun rekrutierten gemeinsam zwanzig stattliche Junker, um ihrem künftigen König zu Hilfe zu eilen. Genevieve und die Maiden hingegen verblieben auf deren Geheiß mit dem Rest des Volkes in den Säulenhallen von Stellamaris, schwerlich einsehend, weshalb ein Kampf den Junkern überlassen werden sollte. Jede Einzelne von ihnen wäre begierig darauf gewesen, der Schlacht gegen die beiden Entführer Tamilas beizuwohnen und ihr Scherflein dazu beizutragen, den Untieren den Garaus zu machen, indes: Weder Morius noch Wrodun duldeten ihr Ansinnen und taten es nahezu verächtlich als der Maiden um nichts weniger als nicht zumutbar - gar unzutraubar - ab.

Ersterer gemahnte Genevieve, ihrem künftigen Gemahl zu gehorchen, dessen Worte er sehr wohl vernommen hatte. Als Brosamen warf er der Maid lässig – mit der gewissen Überheblichkeit eines Kämpfers, der im Begriff war, in ein Gefecht zu ziehen – ein Argument zu, das die Amtsanwärterin zumindest gelinde tröstete: „Es wäre durchaus möglich, dass unsere Erzfeinde zurück kehren. Wollt Ihr ihnen Euer Volk ohne jegliche Hoffnung in den Rachen werfen? Wenn Ihr nicht bleibt, werden sie wie Narren auseinander stieben und deren leichteste Beute werden. Folgt Eurer Mission, wie Tronador von Euch verlangte, verzeiht meine offenen Worte. Zuviel hängt jedoch davon ab, dass jeder Einzelne von uns seinen Platz kennt, als dass ich sie Euch ersparen könnte. Gehabt Euch wohl, falls wir uns nicht wieder sehen."

 

***

Sooft sich Genevieve letztendlich unwissentlich gegen Tronador aufgelehnt hatte: Schließlich befand sie sich an dem Platz, den er ihr zugestand. Sie blieb bei ihrem Volk, während Junker Wrodun, Morius und ihre Mannen auszogen, um ihren Gefährten zu Hilfe zu eilen. Als die in der Festungshalle zusammengestellte Truppe erneut den Thronsaal querte, bewaffneten sie sich mit einem Teil der Beute, die Morius und Genevieve angebracht hatten.

Vor Allem die Hummerzangen hatten es einigen von ihnen angetan: Rachsüchtige Genugtuung stand in ihren Gesichtern geschrieben, als sie sich vorstellten, wie sie den Meeresräubern ihre eigenen Scheren in die fetten Wänste rammen würden. Jegliche Unbedarftheit, die das Meervolk einstens auszeichnete, war von ihnen gewichen.

Die kleine Truppe eilte geschwind durch Avalonia. Morius hatte sich an die Spitze begeben und wies ihnen den Weg, wohl wissend, an welcher Stelle Tamilas Schicksal zugeschlagen hatte. Die waghalsigen Burschen hatten weder die Muße noch das Bedürfnis, sich untereinander auszutauschen.

Die kantigen Antlitze der jungen Meereskrieger zeugten von Grimm und Tapferkeit, als sie die noch immer blutgetrübten Gewässer Avalonias durchkreuzten. Unwesentlich später passierten sie ohne Zwischenfälle die ersten Wohnhöhlen der Goldenen Stadt.

Morius hatte ihnen die Stelle von Tamilas Entführung, die bereits hinter ihnen lag, gezeigt. Mittlerweile hatten sie ihr weiteres Vorgehen besprochen und waren übereingekommen, auszuschwärmen und ihre verloren gegangenen Gefährten getrennt zu suchen. Die Junker teilten sich in vier Gruppen auf vereinbarten eine abseits gelegene Felsgruppe als Koordinationspunkt.

Es waren Morius und seine fünf Begleiter, die Tronadors Truppe schließlich fanden. In einer Höhle waren diese auf die beiden Hummer gestoßen, mit der noch lebenden Tamila in ihren Fängen. Doch als die Nachhut kam, war bereits alles vorbei. Jene konnten nur noch die toten Körper der Bestien bewundern: Mit Gestein erschlagen die Eine, und die Andre erstickt, indem drei Junker im Kampf - wie Morius den Erzählungen entnahm - deren Kiemen mit Algen verstopfte. Tamila saß zusammen gekauert und mit blutverschmierten Gliedern in einer Nische. Die Rekruten rund um den künftigen König versorgten ihre Wunden mit Verbänden aus Seelilienfasern, die von männlich ungeschickten Händen  auf die Schnelle angefertigt worden waren.

Die Maid schien gerührt und äußerst gefasst. Der erlebte Schrecken stand ihr zwar noch immer ins Gesicht geschrieben, doch ihr Antlitz zierte ein tränenumflortes, zaghaftes Lächeln, als der besorgte Morius zu ihr stieß. Die Wiedersehensfreude war groß, als er schließlich Tronador unversehrt in den Reihen seiner Mannen erblickte. Morius berichtete dem künftigen König des Meervolks von seinem Plan. Genevieves Herzensgemahl bat sich aus, in Ruhe mit ihm darüber zu reden, wenn alles vorbei war. Gemeinsam zogen sie los und begaben sich auf den Rückweg nach Stellamaris.

Nachdem auch Wrodun und seine Mannen am vereinbarten Treffpunkt wieder eingesammelt worden waren, zogen die siegreichen Krieger unter dem erleichterten Jubel des Meervolks in die Residenz ein. Glücklich wurde Tronador von seiner künftigen Gemahlin empfangen. Genevieve und er zogen sich in die Privatgemächer ihres Domizils, dessen Räumlichkeiten sie in Bälde in Besitz nehmen würden, zurück. Voller Trauer ließen sie die Geschehnisse Revue passieren und besprachen ihr weiteres Vorgehen.

Weinend lag Genevieve in seinen Armen und klagte mit bebender Stimme: „Es sollte unser glücklichstes Ereignis werden. Stattdessen müssen wir viele Opfer von uns beweinen. Was soll nun geschehen?“

Der ansonsten so starke und tapfere Junker wurde gleichfalls von seinen Gefühlen übermannt. Gemeinsam beklagten sie ihre Toten. Erst nach geraumer Zeit war Tronador in der Lage, Genevieves Frage zu beantworten: „Wir beratschlagen uns mit Aquaria. Es ist kein Anlass zum Feiern, deshalb soll sowohl unsere Vermählung als auch die Krönung nicht stattfinden. Beklagen wir die Opfer jener unsäglichen Kreaturen, sehen wir dem Tod dreist in sein Antlitz und bieten ihm die Stirn.“

Genevieves Körper wurde wie im Fieber geschüttelt, als sie voller Schmerz aufweinte: „Weh Avalonia. Waren wir nicht die glücklichsten Wesen in allen Gewässern der Welt? Waren wir nicht vom Himmel gesegnet? Wie sollen wir jemals wieder das Licht der Hoffnung erblicken, solange jene Geschöpfe der Dunkelheit die Meere bevölkern. Selbst Solveigh müsste ihr Antlitz verhüllen.“

„Fasst Mut, kleine Königin. Solange die Liebe in uns ruht, ist die Welt noch licht, daran können auch die Hummer nichts ändern. Wenn wir jedoch in Wehmut versinken, in Meeren von Tränen, in Bitterkeit und Rachsucht, erst dann wendet das Glück sein Antlitz von uns ab.“

 Genevieve fasste sich und sah ihm ins Gesicht. Entschlossenheit hatte sich auf ihre Züge gemalt, ihr Körper war trotzig gestrafft. Sie war bereit, sich den Kämpfen des Lebens zu stellen und warf ihrem Bräutigam voller Zorn ihre kämpferischen Worte entgegen: „Fürchtet nicht, dass ich in Wehmut und Tränen versinke. Solange in mir auch nur das kleinste Tröpfchen Blut strömen mag, werde ich selbst ohne Eid die Königin Avalonias sein, und Ihr, Tronador, werdet mein König sein.“

Er zog sie schweigend an sich und suchte, sie zu beruhigen, doch sie sah ihm weiterhin fest in die Augen, während sie fortfuhr: „Ich erwarte von Euch, dass Ihr an meiner Seite seid, beim Kampf gegen die Dunkelheit!" Ihre Worte hörten sich an wie ein heiliger Eid, den sie inbrünstig schwor: „Weder Rachsucht noch Blutgier solle jedoch in Avalonia Raum bekommen, wir wollen weiterhin den himmlischen Segen verdienen. Und sollte sich einer Eurer Junker Bluttaten rühmen, werde ich Euch höchstselbst dafür in die Pflicht nehmen. Nicht Blut und Tränen sollen unsere Gewässer tränken. Nur Perlen des Glücks dürfen unsere Augen weinen, kein Gram solle unsere Antlitze verunstalten.“

Tronador barg ihr Gesicht an seiner Brust und strich ihr unablässig über ihr silbernes Haar. Vor Kummer bebend löste sich Genevieve von ihm und blickte in Richtung der Goldenen Stadt. Mit leidenschaftlicher Stimme fuhr sie voller Ingrimm und Bitterkeit fort: „Wir waren ein Volk von Auserwählten, von Astril und Yoras zur Erde gebracht. Frei von Grausamkeit sollen unsere Herzen sein, selbst im Angesicht des schrecklichsten Todes, der unsere Gewässer heimgesucht hat. Seid indessen eines gewiss: Ich werde meine Gefährten auch nicht den Hummern zum Fraße vorwerfen. Ob Euch dies gefällig ist oder nicht, ob mit oder ohne Euch, Geliebter: Wenn sie denn glauben, weiterhin Tod, Blut und Tränen nach Avalonia bringen zu müssen, werden wir uns wohl zu wehren wissen.“

Sprach’s und sah ihren künftigen Gemahl kampfbereit mit funkelnden Augen an. All ihre Tränen waren versiegt.

 

***

Hinter dem Regenbogen

 

 Lange trauerte Avalonia um ihre zwölf verlorenen Gefährten. Die Vermählung des Brautpaars sowie die  Krönung von Genevieve und Tronador wurden auf Aquarias Geheiß bis auf unbestimmte Zeit verschoben, sehr zum Leidwesen derer. Die Muschelkönigin riet, auf die Zeichen zu achten, um den richtigen Zeitpunkt zu erkennen. Siebenmal zog die junge Welt ihre Runden um Solveigh, die Sonne, die Spenderin von Wärme und LIcht.

Viele Male wurde es Nacht in den Gipfeln von Stellamaris, die Tage voller Regen und Donner. Im siebenten Jahr jedoch waren die Tränen des Meervolks versiegt, und das Lachen von Kindern schallte durch die Gewässer. Voller Sehnsucht nach Licht reiste das gesamte Volk von Avalonia zum Regenbogen, und der Regen ließ nach.

Solveigh schloss ihnen das Himmelstor auf. In den herrlichsten Farben erstrahlte das Firmament, von Nordpol bis Südpol spannte sie ihren heiligen Bogen.

Doch die Wunder nahmen kein Ende: Unter jenem sah das Meervolk an jenem Tage sie tanzen, die zwölf Opfer, die im Kampf gegen die Urhummer ihr Leben ließen. Wie Fischlein sprangen sie durch die Gewässer, schwammen durch den Vorhang des Wasserfalls und wurden danach nie wieder gesehen. Seitdem galt der Regenbogen als das Tor nach Avalonia, dem Paradies des Ewigen Lebens, das Reich der Liebe, der Lichtfarben und der Musik.

Die Herzen des Meervolks waren voller Freude und Hoffnung, vorbei war der Grimm, der Schrecken des Todes. Mit zwei Kronen aus Muscheln wurde das Brautpaar gekrönt.

 

 

Die Halle der Sieben

Edel und tapfer solle Eure Gesinnung sein.

Ziehet denn an Eurer Könige Seite ein.

Ein offenes Ohr solltet Ihr für uns haben,

Eure Weisheit solle unsere Seelen laben.

 

 ***

Ein Volk benötigt einen guten Tribun, um keine Anarchie aufkommen zu lassen. Jener bedarf indessen eines Hofstabs, um seinen Geboten Gehör zu verschaffen. Wer jedoch ein gerechter Herrscher sein will, sollte auf die unverbrüchliche Treue seiner Adjutanten zählen können, wie jene auf die des regierenden Fürsten. Weil es so ist, wie es sein sollte, können nur einige wenige Auserwählte zu seinem Kreise gehören. Dies sind indessen des Königs Getreue, zum Wohle des Volkes bestellt.

Ein gut funktionierender Staat benötigt jedoch auch eine Arbeiterschaft, die dem Regenten untertan ist. Um seine Getreuen von der Masse des Volkes abzuheben, werden Rangordnungen benötigt. Ihnen werden Ämter und Titel verliehen, um die Arbeit seiner Gefolgschaft zu würdigen und ihnen Autorität zu verschaffen. Dies ist der Ursprung des Adels, auch „Adlatus“ genannt.

 

Somit war das glücklichste Ereignis im Yapetus endlich eingetroffen. Das Bankett sollte Avalonia lange in Erinnerung bleiben. In einer feierlichen Zeremonie wurde das Brautpaar von Aquaria, der Urmutter aller Mollusken, vermählt und anschließend zur Regentschaft des Meervolks gekrönt. Bald darauf zog der Alltag in den Säulenhallen von Stellamaris ein. Die Bedrohung durch die Pterigotus schwebte jedoch noch immer wie ein Damoklesschwert über dem Volk und bereitete dem frisch gekürten Königspaar etliche schlaflose Nächte.

Lange Gespräche diesbezüglich waren zwischen Tronador und Genevieve an der Tagesordnung. Schließlich war es der König des Meervolks leid, endlose Debatten über jenes leidige Thema zu führen. Er beschloss, zu handeln und die Bürger Avalonias auf Angriffe vorzubereiten.

Sowohl Genevieve als auch er erkannten die Notwendigkeit eines baldigen Eingreifens, denn es hatten bereits einige wenige der Tiere erneut in den Gewässern des Yapetus Einzug gehalten. Seltsamerweise war dennoch kein Angriff mehr erfolgt. Sie beschränkten sich darauf, in kleineren Schwärmen von Haien zu wildern.

Nichtsdestotrotz wollten Tronador und Genevieve vorbereitet sein, denn sie ahnten, wie schnell sich das Blatt wenden konnte. Des Weiteren wünschte der König kampferprobte Gefährten an seiner Seite zu haben, und was lag da näher, als auf bewährte Verbindungen zurück zu greifen? Die Königin wollte es ihrem Gemahl gleichtun, und so luden beide ihre engsten Vertrauten in die Residenz ein.

Der König griff auf jene zurück, denen er aufgrund enger Bindung am Meisten vertraute. Das war in erster Linie Fronkalis, der Höhlenbauer und Avalonias Handwerksmeister, sowohl Genevieve wie auch Tronador gleichermaßen verbunden. Tikar, Genevieves Vater, wurde eine beratende Mission angetragen.

Junker Morius sollte das Amt der Diplomatie erhalten, um nachbarschaftliche Verbindungen mit anderen Stämmen zu knüpfen und diese zu pflegen. Wrodun sollte Heerführer werden, gemeinsam mit Tronador.

Genevieve entschied sich für Marianis, Tamila und Tweja. Seit Kindertagen waren sie unzertrennllich, und so sollte es bleiben. So zogen in den Säulenhallen von Stellamaris vor den Augen des geladenenen Volkes vier Junker und drei Maiden ein, um ihre Berufung aus dem Munde der beiden Souveräns zu vernehmen.

Das Paar erwartete sie, am Kopf einer schwarzen Obsidiantafel Hof haltend, gewandet in fein geknüpfte Tuniken aus Algengarn, auf den Häuptern zwei Mitras aus Muscheln prangend. Auf Anweisung von Genevieve und Tronador nahmen sie ihre Sitze, aus Gestein und Korallen gefertigt, zu beiden Seiten des Zirkels ein. Mit angemessener Feierlichkeit trug König Tronador den künftigen Vasallen ihre Ämter an. Tränen der Rührung standen in den Augen der sieben Gefährten, als sie seine Worte vernahmen.

In pathetischen Worten schworen sie Avalonia unter Einsatz ihres Lebens ewige Treue und die Opferung all ihrer Kräfte zu. Bis zum bitteren Ende symbolisierten die ersten sieben Getreuen den Kampf gegen das Dunkel, und so entstand  der damalige Name "Die Halle der Sieben".

Alle kamen überein, jeglichen schlechten Einflüssen zu trotzen. Weder Zorn noch Rachsucht sollte in Avalonia Raum bekommen, ganz im Sinne von Genevieve.

Hoch über den Köpfen des Meervolks, auf dem Podest im Festungssaal, berief sie ihre künftige Gefolgschaft herbei und erhob sie in die Dienste des Staates.

Unter dem Jubel der Gäste hielt ein jeder von ihnen feurige Dankesreden, legte Schwüre der Treue ab und kündigte Avalonia seine künftige Route an. Am Ende der glorreichen Festivität trennten sich alle Beteiligten erschöpft, jedoch glücklich und begaben sich in ihre Domizile. Bald darauf drohte neue Gefahr!

Der Alltag des Meervolks war nach der Berufung der sieben Getreuen von fieberhaften Aktivitäten geprägt. An allen Ecken und Enden gab es Handlungsbedarf. Zu Genevieves Leidwesen wollte Tronador reisen, auf der Suche nach neuen Vulkanen. Mit Engelszungen redete sie auf ihn ein, dass er unabkömmlich sei und konnte ihn dahingehend überzeugen, zumindest derzeit in Avalonia zu bleiben. So beschränkte er sich auf die nähere Umgebung und führte bei der Gelegenheit Tikar in seinen künftigen Aufgabenbereich ein. Aufgrund seines etwas gehobeneren Alters hatte jener das Privileg, an Tronadors Seite zu bleiben und ihn bei seinen Forschungen zu unterstützen.

Junker Morius widmete sich indessen seiner bisherigen Arbeit des Werkzeugbaus. Ansonsten reiste er weit, um die Aktivitäten der Pterigotus nicht aus den Augen zu verlieren. Meistens blieb er  lang fern und nutzte die Zeit, um in den Gewässern der Kraken, der Wiege des Königs, freundschaftliche Beziehungen zu hegen. Seine diplomatischen Dienste sollten Avalonia eines Tages - gar nicht so fern - zugute kommen.

Wrodun hatte wie geplant seine Tätigkeit als Heerführer aufgenommen. Die erste Amtshandlung war das Anheuern von starken, tapferen Junkern, um sie auf die Bedrohung der Hummer vorzubereiten und ihnen gemeinsam mit Tronador die Kunst des Überlebens zu lehren. Seine eigene Unerfahrenheit machte er mit Mut und Kraft mehr als wett. Er war neben dem König der wichtigste Part jener sieben Vasallen. Fronkalis hingegen hatte die Aufgabe erhalten, sich um die Herstellung von Waffen zu kümmern. Den Anregungen Morius‘ folgend wurde hierzu alles Mögliche verwendet, was sich zuspitzen und schleifen ließ. Von größeren Muschelschalen bis hin zu ergatterten Gebeinen von größeren Fischen war fortan nichts mehr vor den Junkern sicher. So gesehen kam es ihnen mehr als gelegen, dass die Hummer sich mit den Urahnen unserer heute bekannten Haigattungen anlegten.

Den absoluten Clou vollbrachte der pfiffige Höhlenbauer, als er Roh-Aquamarin zu einer Art Dolch umformte. Das war der Startschuss für alle Junker Avalonias, die noch einigermaßen bei Kräften waren, Fronkalis geeignetes Gestein zu beschaffen. Er nahm sich einige Gehilfen und richtete sich in einer Höhle eine zweite Werkstatt ein. Die ersten Stichwaffen entstanden somit tief drunten im Meer.

Sämtliche Einwohnerschaft der Goldenen Stadt bereitete sich auf einen Angriff der monströsen Urhummer vor. Tamila und Tweja hatten ihren Anteil an den Aktivitäten, indem sie aus Seeweiden und Algengarn Scheiden für die Dolche fertigten. Auch sie nahmen sich Gehilfinnen und verlegten ihre Tätigkeiten in die Halle hinter dem Thronsaal.

Nebenbei unterrichtete Genevieve in der von ihr entwickelten Schrift und brachte ihnen die Lehren von Astril und Yoras bei, die sie selbst durch ihr bisheriges Dasein begleitet hatten. Zudem führte sie gemeinsam mit Marianis Avalonias Chroniken fort. Akribisch gravierten die beiden Maiden die Historie auf die von Fronkalis gelieferten Tafeln und rückten Rune um Rune dem nächsten Schreckenskapitel entgegen.–—

 

***

 

Der Krieg beginnt

 

Das Unheil, welches auf Avalonia mit der Wucht einer Tsunami zukam, ließ den zurück liegenden Angriff der Hummer wie ein kleines Tröpfchen erscheinen. In Genevieve machte sich beizeiten eine ungute Vorahnung breit. In ihrem Herzen nahm sie bereits Abschied.

Einmal noch hatte sie gleichwohl das Bestreben, mit Tronador glücklich sein, bevor Avalonia in Tränen versank. Ihr Herz schien plötzlich so stark von einer eisernen Klammer umschlossen zu sein, dass sie sich des nahenden Todes sicher war. Vorher wollte sie indessen noch ein einziges Mal  das Licht von Solveigh erblicken, den Regenbogen bewundern, das Schäumen der Brandung, das Glitzern des Meeres. Nach Schönheit und Frieden dürstend, nahm Genevieve gemeinsam mit ihrem nichtsahnenden Gemahl die Bilder vom Paradies in sich auf, bevor die Dunkelheit des Todes über Avalonia kam. Wie einstens Astril und Yoras - soeben wiedergeboren - tobte das Paar durch den Ozean.

Schaumkronen umkränzten ihr Haupt, die Sonne labte ihre Seele mit güldenem Schein. Der Regenbogen stand indessen in dunkelstem Rotgold am Himmel, als ob er bereits ihrer harrte. Ein silberner Teppich, mit roten Orchideen bedeckt, legte sich auf die Oberfläche des Meeres. Die Muscheln am Strand begannen zu singen, das Rauschen des Wasserfalles klang plötzlich drohend. Genevieve war, als sänge die Natur dem avalonischen Volk ein Klagelied, und Beklemmung legte sich über ihr Herz.

Alle Farben um sie herum verblassten, bereits von dem düsteren Umhang des Schnitters verhüllt. Legte sich nicht sogar auf Solveighs leuchtendes Antlitz ein Schatten? Die Wolken drohten, durchsichtig zu werden, als fürchteten sie des Todes grausigen Hauch. Selbst der Wind schwieg, als fürchte er sich. Was blieb, war prophezeiende Moll-Elegie!

 

***

 In weiter Ferne, doch unaufhaltsam schob sich unvorstellbares Grauen über den Meeresgrund. Es hielt - im Niemandsland zwischen Avalonia und dem Rheischen Ozean  - direkt auf die Gewässer der Kraken zu, um den Tod in die Wiege des Königs zu bringen. Dort lebte Golmor, Tronadors Vater, ein Nautiloid, gemeinsam mit seinem Stamm.

Kaum, dass Genevieve und Tronador geraume Zeit nach ihrem Aufenthalt am Meeresspiegel in der Halle der Sieben angekommen waren, tauchte ihnen ein kleiner Bursche entgegen. Er wirkte total aufgelöst, und es war ihm anzusehen, dass er dem Königspaar etwas mitzuteilen hatte. Das Paar sah sich einen Augenblick lang fragend an. Ihnen schwante nichts Gutes.

Genevieve nahm sich sogleich des kleinen Burschen an und wollte von ihm wissen, was ihn ängstigte. Der Junge brach in Tränen aus und schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen, doch dann brach es wie ein Schwall aus ihm heraus: „Ich habe sie gesehen. Sie kommen, unendlich viele. Sie halten direkt auf Avalonia zu.“

Tronador überlief ein eiskalter Schauer. Er nahm den Junker am Arm, kaum fähig, seine Angst und Nervosität im Zaum zu halten. „Was kommt auf uns zu?“, fragte er mit gepresster Stimme. „Was hast Du gesehen?“

Genevieve erbleichte. Sie ahnte bereits, welche Antwort aus dem Mund des Burschen kommen würde, verkrampfte ihre Hände um die Muschel an ihrem Hals und sandte einen Hilferuf gen Himmel, dass sie sich täuschte. Unglücklicherweise war der Himmlische Vater in jenem bangen Moment taub oder verhindert. Das wurde ihr schlagartig klar, als sie die gefürchteten Worte des kleinen Wassermannes vernahm: „Die Hummer. Ich habe sie gesehen, als ich mit meinen Gefährten in den Freien Gewässern war. Sie kommen von Eurer Heimat aus auf uns zu, oh verehrtester König. Bald werden sie bei uns angelangt sein."

Die Freien Gewässer lagen zwischen dem Hoheitsgebiet der Goldenen Stadt und den Gewässern der Kraken. Tronador nahm den Kleinen bei der Hand und zog ihn zu sich. „Fürchte Dich nicht, wir werden es nicht zulassen, dass Dir etwas geschieht. Du bist ein tapferer, kleiner Junker. Willst Du mir helfen, das Volk Avalonias zu retten?“

Ängstlich schauten ihn die Augen des Jungen an. Seine schuppenbedeckten Fingerchen krampften sich um die Hand des Königs, seine Stimme klang jedoch gefestigt, als er ihn fragte: „Was soll ich tun? Wie kann ich helfen?“

„Begib Dich so schnell Du kannst in das Domizil Deiner Eltern und bestelle sie zur Residenz. Auf dem Weg berichte allen, denen Du begegnest, was Du gesehen hast und schicke sie ebenfalls hin. Nach Möglichkeit sollen sie sich bewaffnen, mit allem, was sie unterwegs finden!"

Genevieve protestierte: „Ihr könnt den Kleinen nicht in solche Gefahr entsenden. Was geschieht, wenn er den Hummern in die Fänge gerät? Wollt Ihr solch Schuld auf Eure Schultern laden, werter Gemahl?“

Tronador umfasste die Schultern des Kindes und wandte sich mit ihm gemeinsam seiner Gemahlin zu. Die Augen des Junkerleins funkelten mittlerweile mutig und entschlossen, beinahe kampfbereit. Das konnte auch ihr nicht verborgen bleiben. Der König machte sie darauf aufmerksam: „Seht ihn Euch an, Genevieve. Er sieht aus wie ein Kind, in seinem Herzen jedoch schlummert ein Krieger. Er wird seine Mission erfüllen, ohne dass ihm etwas geschieht. Der Segen des Himmels wird auf ihm ruhen, denn er muss dieses Junkerlein über alles lieben.“

„So sei es denn, wie Ihr wünscht, Tronador. Sei jedoch auf der Hut, kleiner Krieger. Eile hinfort, versuch‘ Dich so gut wie möglich verborgen zu halten. Besser noch, mach‘ Dich unsichtbar. Sie mögen alle zur Halle kommen, richte ihnen von Genevieve und Tronador aus, sie sollen sich bewaffnen. Kannst Du Dir das alles behalten?“

„Ich werde jedes einzelne Wort genauso wieder geben, wie Ihr es wünscht",  versprach der kleine Ozeanheld.

„Vergiss jedoch nicht, auch Deine Familie zu warnen, diese in erster Linie. Sie werden sich möglicherweise bereits um Dich sorgen“, ermahnte Genevieve ihn. Schließlich wandte sie sich an ihren Gemahl und fragte ihn: „Wie sieht Euer Plan aus, und wie kann ich dabei behilflich sein?“

Tronador nahm sie zärtlich in den Arm und sprach: „Ihr seid noch immer meine kleine, tapfere Meerjungfrau. Ich kann mich glücklich schätzen, Euch an meiner Seite zu wissen. Ich werde ihn ein Stück seines Weges begleiten, da ich unsere Getreuen aufsuchen will. Solltet Ihr wider Erwarten vor mir jenen begegnen, sagt ihnen das, was Ihr für richtig haltet. Ansonsten wäre meine Bitte an Euch, meiner an der Seite des Volkes zu harren.“

Genevieve klammerte sich an seinen Arm und sprach: „Lasst mich ebenfalls helfen. Es ist nicht meine Art, wie ein verängstigtes Wesen auf das Unheil zu warten. Ich will mich dem Schicksal entgegen werfen und mit ihm ringen."

„Das kann ich nicht zulassen. Ihr solltet in der Halle der Sieben verharren, da sich hier das Volk versammeln soll. Eure Aufgabe ist, zu ihnen zu sprechen, um ihnen Mut zu geben und sie zum Kämpfen aufzufordern. Erwartet sie in der hinteren Halle, dort seid Ihr am Besten geschützt, solange Ihr die Gemeinschaft zusammen halten könnt.“

Die Königin Avalonias warf ihre Arme um den Hals ihres Gemahls. Tränen liefen ihr über die Wangen. Schweren Herzens verabschiedete sie sich: „So gehabt Euch denn wohl, Ihr stolzer Krieger und König meines Herzens. Möge der Segen des Himmels auf Euch ruhen, so dass ich Euch wohl behalten in meine Arme aufnehmen kann. Ich sende all meine Gedanken und Liebe zu Euch, solange Ihr in gefährlichen Gewässern weilt.“

Danach wandte sie sich an den kleinen Junker, umarmte ihn ebenfalls und mahnte: „Es ist nicht Recht, einem kleinen Jungen, wie Du es bist, das Antlitz des Grauens zu zeigen. Ich sehe jedoch, Du bist gewillt, um Dein und Avalonias Überleben zu kämpfen." Mütterlich strich sie dem kleinen Krieger über den Kopf. "Ich werde es Dir nicht verwehren. Doch höre, mein Kleiner, der Du ebenfalls mein Sohn sein könntest, meine Worte. Dies ist kein Spiel, das solltest Du wissen. Was immer Du tust, sollte mit dem wachsamen Auge und dem Herz eines Kriegers geschehen. Und kehre lebend zu uns zurück.“

Timorioth – das war der Name des kleinen Junkers – legte seine Stirn auf die Hände seiner Königin und schwor mit seiner kleinen, glockenhellen Stimme einen rührenden Eid: „Ich gelobe, all meine Kraft zum Wohl Avalonias zu geben, ich bin ein Teil Eures Volkes und liebe Euch, Genevieve.“ Schließlich wurde er von Tronador zur Eile gemahnt. Seite an Seite stießen sich die beiden ungleichen Rekruten durch die Pforte der Halle kraftvoll in eine nicht abzuschätzende Gefahr hinaus. Ihre Flossen sandten der Königin noch einmal einen wedelnden Abschiedsgruß zu.

Genevieve blieb weinend zurück. Die Gewässer in der Regierungshalle glimmerten rötlich, als ob sie bereits mit dem Lebenssaft der Nymphen getränkt worden wären. Lange noch verharrte sie in der Düsternis der Höhle an Ort und Stelle und starrte zu dem runden Portal, als ob die beiden tapferen Krieger noch immer vor ihren Augen weilten.

Schließlich rief sie sich zur Ordnung und wandte sich nach links, um durch die königlichen Privatgemächer hindurch zur Festungshalle zu eilen. Angst um ihre Familie bemächtigte sich ihrer. Vor Allem sorgte sie sich um Astril und Yoras, da jene bereits ein biblisches Alter erreicht hatten und hilflos waren.

Zweifelnd wartete sie zwischen zwei Säulen und kämpfte gegen die wallend aufsteigende Panik an. Bohrende Fragen marterten ihre Seele, hin und her gerissen zwischen der Sorge um ihre Familie und dem Gehorsam ihrem Gemahl gegenüber. „Was soll ich nun anfangen?“, schrie es in ihr. „Ich bin die Königin und sollte zu allen Zeiten an der Seite des Volkes sein. Ich kann nicht hier warten, bis sie zu mir kommen. All die Alten und Kinder, wer soll ihnen helfen? Ich muss handeln, vergebt, Tronador. So schnell wie möglich werde ich zurück zur Festungshalle eilen, um an der Seite des Volkes Eurer zu harren. Astril und Yoras werde ich höchstselbst geleiten, der Herr sei mit uns!“

 

Tronador war in der Zwischenzeit mit Thimorioth unterwegs, um seine Vasallen zusammenzurufen. Wo sie sich befanden, entzog sich seiner Kenntnis, er konnte nur hoffen, dass sie sich in der Nähe befanden. Um Morius sorgte er sich besonders. Dieser hatte schon Ewigkeiten nichts mehr von sich hören lassen. Allmählich wuchs in dem König die Sorge, dass er nicht mehr lebend zurückkehren würde.

Sein Getreuer weilte jedoch fern der Heimat in den Gewässern der Kraken. Im Dienste des Königs hatte er diplomatische Beziehungen gepflegt und Golmor, Tronadors Vater, aufgesucht. Beide waren ohne jeglichen Arg, welch Unheil sich auf die Heimat der Nautiloiden zuwälzte.

Golmor und er führten soeben noch ernsthafte Männergespräche. Die schwarzen Knopfaugen von Golmor funkelten den Junker aufmerksam an und drückten offene Bewunderung für die Fähigkeiten des Meervolks aus. Morius hatte ihm von der Fertigung der Dolche erzählt.

Als sie auf die Rolle seines Sohnes Tronador zu sprechen kamen, schwoll seine glatte, graue Brust voller Stolz an. Seine langen, kräftigen Kopftentakel wedelten aufgeregt, als er selbst einige Anekdoten aus dessen Kindheit zum Besten gab. Golmor wollte bereits von Neuem aus dem Nähkästchen plaudern, als beide plötzlich auf einen unwahrscheinlichen Tumult vor der Höhle aufmerksam wurden. Die beiden unterschiedlichen Wesen sahen sich erstaunt in die Augen.

Nach einem Moment schossen sie gemeinsam zum Ausgang hinaus, um zu erkunden, was draußen vor sich ging. Das Meer war aufgewirbelt und trüb.

Umsichtig stießen sie sich voran und kamen direkt in eine riesige, schwarze Wolke Krakentinte, die ihnen die Sicht nahm. An ihre Ohren drangen Schreie und Kampfgetümmel. Blindlings tasteten sie sich durch den undurch­sichtigen Dunst hindurch, um ihren Gefährten zu Hilfe zu kommen. Golmor und Morius verließen sich auf ihren Gehörsinn und näherten sich dem Spektakel.

Plötzlich wurde Morius am Kopf getroffen. Mit einem Schmerzensschrei griff er sich an die Stirn und fühlte, wie Blut zwischen seinen Fingern hindurch sickerte. „Was war das?“, fragte er Golmor, der sich dicht in der Nähe des Junkers hielt.

Mittlerweile war die Sicht etwas besser geworden. Der Nautiloid hatte den Ausruf des Junkers gehört und war sogleich an dessen Seite geeilt. Er sah ihn an und antwortete ihm: „Ich konnte nichts erkennen. Aber Ihr blutet!“

„Ich weiß. Lasst uns dennoch weiter und Euren Gefährten behilflich sein.“ Streitbar stieß er sich voran, einem unsichtbaren Feind entgegen. Golmor ließ nicht lange auf sich warten und folgte seinem Beispiel. Die beiden Krieger waren im Begriff, aus dem Dunst heraus in klarere Gewässer zu gelangen, als Tronadors Vater zwei gigantische Scheren auf sich zukommen sah. Er rief Morius eine Warnung zu und wich blitzschnell zur Seite. Spätestens in jenem Moment wussten sie, was den Tumult in den Gewässern der Kraken verursacht hatte. Es blieb jedoch keine Zeit, sich Gedanken zu machen oder lang zu lamentieren, handeln war angesagt.

Die beiden Gefährten befanden sich in höchster Gefahr. Der lange, schlanke Körper des Kraken pumpte sich mit aller Kraft aus der Wolke heraus und sah sich kurz darauf einem gelbrot getupften Pterigotus gegenüber. Die Zangen des überlebensgroßen Wesens schnappten gierig in seine Richtung. Sein ohnehin gigantischer Leib war aufgerichtet und ließen den stattlichen Nautiloiden, der immerhin stolze drei Meter maß, wie ein längliches Spielzeug aussehen.

Von seinem monströsen Korpus hingen Leichenteile herab, die er mit einem behäbigen Ruck auf den Grund des Ozeans beförderte, um sich seinem neuen Opfer zu widmen. Weder Golmor noch Junker Morius verspürten indessen das Bedürfnis, als Leibspeise herzuhalten.

Golmor ließ sich nicht lange bitten und schlang seine Tentakel um den harten Panzer des Hummers. Jener quietschte vor Wut und versuchte, seinen Körper in alle Richtungen windend, sich zu befreien.

Morius kam seinem Gefährten zu Hilfe und schwamm vorsichtig an den Pterigotus heran. Golmor hatte ihn fest in seinem Griff, er spürte jedoch allmählich seine Kräfte schwinden.

Sein Retter begab sich an die Rückseite des Tiers, um an dessen Weichteile heran zu kommen. Der Hummer war jedoch gewarnt und peitschte dem Junker seinen langen Giftstachel entgegen.

Morius wich geistesgegenwärtig zur Seite und warf sich erneut mit kräftigen Flossenschlägen auf seinen Gegner. Er untertauchte das Monster, um seinen wild um sich schnappenden Zangen zu entkommen. Das Wasser wurde erneut von Krakentinte verseucht.

Der Urhummer hatte Golmor mit den Scheren zwei Kopftentakel gekappt. Dies war zwar schmerzhaft, ermöglichte jenem jedoch, mit fünf Fangarmen die Fresswerkzeuge des Tiers zu fassen zu bekommen. Golmor rief Morius einige Kampfbefehle zu, um ihn über seine Lage zu informieren und ihn zum Handeln aufzufordern.

Geistesgegenwärtig ergriff der Wassermann die Gelegenheit beim Schopf und nutzte die Sichtverhältnisse aus. Mit seinem Dolch in der Hand tastete er sich an der Unterseite des Hummers entlang, darauf achtend, nicht von den kräftigen Beinen getroffen zu werden. Morius griff in weiches Fleisch und jubelte innerlich. Mit sichtlichem Triumph hieb er seine Stichwaffe in dessen Weichteile hinein.

Golmor tastete mit drei weiteren Tentakeln nach den Kiemen des Hummers und schnürte ihm unerbittlich die Luftzufuhr ab. Er fühlte dessen Körper erschlaffen.

Ihr Kontrahent setzte Morius indessen keine Ernst zu nehmende Gegenwehr entgegen, als er noch einmal seinen Dolch in dessen Bauchfleich bohrte. Viel mehr war gar nicht nötig. Golmor zog seine Fangarme erneut zusammen. Die Bestie stieß ihr letztes klägliches Quietschen aus, und sie war besiegt.

Tronadors Vater ließ den erschlafften Körper des Pterigotus verächtlich auf den Meeresgrund gleiten. Zumindest dieses leblose Objekt hatte seinen Schrecken verloren.

Die beiden Verbündeten sahen sich einige Wimpernschläge lang verschwörerisch an. Der Krake und der Meerjunker nickten einander in gegenseitigem Einvernehmen zu. Mit tödlicher Entschlossenheit stießen sie sich durch Golmors Tintenwolke hindurch, um sich freudig in die Fänge der sehr lebendigen Kumpane des besiegten Pterigotus zu werfen.

 

***

Während die Schlacht zwischen einer entsandten Vorhut von zweitausend Hummern und jenen Bewohnern in den Gewässern der Kraken tobte, folgten Tronador und Timorioth ihrer Mission und eilten durch die Goldene Stadt, die in gewohnter Schönheit durch den samtenen Ozean schimmerte. Nichts deutete darauf hin, dass weit draußen - im Niemandsland - der Knochenmann höchstselbst den Heerführer der Urhummer mimte. Tronador geleitete den kleinen Junker ein Stück seines Weges. Gemeinsam warnten sie die Bewohner Avalonias, durchforsteten akribisch die Domizile des Meervolks und versäumten es nicht einmal, die anderen Lebewesen der Meere zu warnen.

Ihre Worte lösten allerorten Panik aus. Der König und sein kleiner Vasall mussten ihre ganze diplomatische Kunst in die Waagschale werfen, um zu erreichen, dass ihren Anweisungen  Folge geleistet wurde.

Irgendeinmal trennten sich die Wege der beiden Verbündeten. Timorioth erledigte seine Mission bravourös. So legte Tronador das Schicksal Avalonias in seine kleinen Hände und folgte seinen weiteren Aufgaben.

Verzweifelt suchte er Wrodun, der sein Heerführer war, um diesen vor dem Anmarsch der Bestien zu warnen. Als er ihn fand, wies er ihn an, seine Rekruten zur Halle zu entsenden, um dort an Genevieves Seite auf ihren König zu warten.

Schließlich hastete er weiter, um Fronkalis und Tikar zu suchen, die ihm helfen sollten, das Volk zusammen zu rufen. In der Waffenschmiede stieß er auf beide und informierte sie über die Lage.

Er bat sie eindringlich, die verbleibenden Getreuen zur Residenz zu schicken und fragte nach Morius. Avalonias Diplomat war es indessen gewohnt, seine eigenen Kreise zu ziehen, und so wusste keiner Bescheid über seinen Verbleib.

 

Astril und Yoras

 

Hastig stieß sich Genevieve durch den Yapetus. Sie war auf dem Weg zu Astril und Yoras. Um sie herum wimmelte es von Tieren und ihren Artgenossen. Jeder suchte panisch nach einer Fluchtmöglichkeit. Die Königin verschaffte sich bei Begegnungen schreiend Gehör, um ihren Untertanen noch einmal Tronadors Anweisungen ans Herz zu legen. Sie bat, sich derer anzunehmen, die nicht bei Kräften waren, diese zur Festungshalle zu geleiten und auf sie und den König zu warten. Kaum, dass sie ihre letzten Sätze ausgesprochen hatte, stob sie von dannen und legte vertrauensvoll das Schicksal der Verbliebenen in die Hände des Himmels.

Als Genevieve schließlich bei Astril und Yoras angekommen war, stürzte sie laut deren Namen rufend durch die Räume des Domizils. Sie erhielt jedoch keine Antwort. Lediglich das laute Schweigen des Meeres drang an das Gehör der verzweifelten Maid. Voller Sorge schaute sie überall nach, durchkämmte die Kammern und war fast hysterisch vor lauter Angst.

Schließlich folgte sie einem Impuls und begab sich in das abgelegene Schlafgemach von Astril und Yoras. Mit ineinander verschränkten Händen und geschlossenen Augen, die Gesichter zur Höhlendecke gewandt, lagen sie in einer dunklen Nische und schienen zu schlafen. Das alte Paar reagierte nicht mit dem leisesten Zucken auf Genevieves Rufe.

Mit einem entsetzten Aufschrei stürzte sie an das Lager der Beiden und rüttelte sie. „Wacht auf, wacht auf, ich flehe Euch an. Oh gütiger Himmel, helft!“, rief die Meerjungfrau verzweifelt mit angstvoll klopfendem Herzen.

Astril schlug ihre Augen auf und schaute sie verwirrt an. Ihr ansonsten klarer Blick war verschleiert. Mit ungewohnt brüchiger Stimme hauchte sie: „Genevieve ..."

„Astril, weckt Euren Gemahl. Ihr müsst mir zur Residenz folgen, die Urhummer kommen. Es muss eine ungeheure Masse sein, die auf Avalonia zu kommt. In der großen Halle sind wir alle versammelt, um auf Tronador zu warten“, erklärte die Nixe in eindringlichen Worten. „Weckt Yoras, bitte! Ich geleite Euch nach Stellamaris.“

Die Urahnin des Meervolks streckte ihre Hand aus und versuchte, Genevieves tränenüberströmte Wangen zu streicheln. Kraftlos ließ Astril sie sinken und wisperte mit versiegender Stimme: „Wir sind alt, Genevieve. Unsere Zeit ist gekommen, die Kraft versiegt. Wir sehnen uns nur noch nach dem letzten Schlaf."

Avalonias Königin schrie schmerzvoll auf. „So dürft Ihr nicht sprechen. Erhebt Euch von Eurem Lager, ich flehe Euch an.“ Dann rüttelte sie Yoras und redete inständig auf ihn ein. Wie aus einer anderen Welt zurückgekehrt blickte er auf und schalt liebevoll: „Was machst Du für einen Radau, Genevieve? Ist es bei Dir in der Residenz üblich, Schlafende zu wecken? Ich kann mich glücklich schätzen, hier zu sein.“

Genevieve wiederholte ihre Worte, welche Astrils Ohren bereits vernommen hatten. Bedauerlicherweise mit demselben Ergebnis, denn auch Yoras weigerte sich, ihr in die Halle der Sieben zu folgen. Sein Blick war klar und seine Stimme gefestigt, als er zu seinem Nachkömmling sprach: „So höre und lerne, Genevieve. Wir haben bereits das Dunkel erblickt, uns ist nicht bang. Nach schmerzvollem Leid durften Astril und ich in den Schoß des Lebens zurückkehren. Wir haben unendlich glückliche Zeiten im Kreise unserer Lieben verbracht. Für uns ist es jedoch an der Zeit, an den Himmlischen Vater unseren Obolus zu entrichten. Du kannst uns das nicht verwehren. Gehab‘ Dich wohl.“

Astril und Yoras entflohen willentlich dem Schrecken der Meere in jene Welt, aus der es keine Rückkehr mehr gab, nur das Band der Liebe zu Genevieve hielt sie zurück. Unaufhaltsam näherte sich jedoch das Grauen in Form einer Armee der monströsen Hummer, unschätzbar vielen, um sich das zarte Fleisch des avalonischen Volkes zu Gemüte zu führen. Genevieve kämpfte, sie weinte, sie schrie, sie flehte, doch die Augen ihrer Urahnen schlossen sich wieder. Beider Atem ging flach.

In ihrer Not nahm die junge Königin ihre Muschel zur Hand und rief die Himmelsmacht an: „Herr, nehmt sie noch nicht zu Euch, nicht in Augenblicken der höchsten Gefahr. Die Hummer würden sie unweigerlich zerfleischen. Gönnt ihnen einen friedlichen Schlaf, ich flehe Euch an.“

Sie wurde erhört: Die Muschel öffnete sich und tauchte die Höhle in sanftes Licht. Aus ihr erklang seine tröstende Stimme. Diese sprach zu ihr: „Ich werde Astril und Yoras den ihnen gebührenden Todesschlaf gewähren, sei unbesorgt. Nimm Deine Muschel vom Hals und lege sie ihnen so in die Hand, dass beide sie zugleich berühren können.“

Dankbar gehorchte sie, begab sich an die Seite ihrer Urahnen und nahm ihren Talisman vom Hals. Sie öffnete Astrils Hände und legte die Muschel hinein. Danach ergriff sie die schlaffen Finger von Yoras und verschlang sie mit denen von Astril, so dass sie wie in einem gemeinsamen Gebet ineinander verfaltet waren.

Das Wunder geschah: Das Licht aus der Muschel wurde heller und heller, drang durch die geschlossenen Hände des Paares und erhellte alles Dunkel, das um sie war. Zum ersten Mal klang die Stimme des Herrn nicht allein in ihrem Geist, sie sprach offen und für jedermann hörbar. Seine Worte schallten klar durch den Raum, machtvoll und gewaltig, so dass es im gesamten Universum zu hören gewesen sein mochte, als er zu dem Paar sprach: „Erhebet Euch von Eurem Lager, Astril und Yoras. Folgt der Königin Avalonias in ihre Gemächer. Eure Zeit ist noch nicht gekommen, meine tapferen Sternenkinder.“

Astril schlug als erste die Augen auf und wisperte leise: „Wir sind zu schwach, Herr. Holt uns zu Euch.“

„Widersprich mir nicht, Astril. Tu das, was ich Euch gebot. Nimm Deinen Gemahl bei der Hand und begib Dich gemeinsam mit ihm zu Aquaria. Bittet sie um Obdach, und Ihr werdet erlöst. Eilet hinfort.“ Seine Stimme verklang erst lange Zeit später leise widerhallend im All.

Solveighs heiliges, Leben spendendes Licht jedoch blieb. An jenem Tag wurde nicht Nacht. Wie mit zarten Fingern streichelte die Sonne alle verwundeten Wesen Avalonias, legte lindernd ihre wärmenden Strahlen über die frierenden Seelen und führte die Gefallenen durch das Regenbogen-Portal. Tag und Nacht stand das leuchtende Himmelstor offen und empfing huldigend jene, die den Hummern zum Opfer fielen.

Astril und Yoras jedoch taten, wie ihnen geheißen. Die alte Meerjungfrau nahm ihren geliebten Gemahl bei der Hand, und auch er erhob sich von seinem Lager. Einmal noch ließen sie ihre Augen verabschiedend durch die Höhle schweifen, sich in den Armen liegend wie ein junges Paar.

Einmal noch bildeten sie mit Genevieve einen Kreis, so dass sie wie ein Dreigestirn in der Unendlichkeit des Universums funkelten.

Sonach sprach Yoras mit entschlossener Stimme, und voller Ehrfurcht klangen seine Worte an Genevieve: „Lasst uns eilen, Königin Avalonias, auf dass Astril und ich unsere Erfüllung finden. Ihr seid wahrhaftig eine große Kriegerin, der Himmlische Vater traf in Euch die richtige Wahl.“

Aller Augen folgten dem Paar, während sie mit Genevieve zur Halle der Sieben eilten. Voller Ehrfurcht wichen die Tiere zur Seite, als sie wie Nebelschleier durch die Gewässer schwebten. Sie strahlten so hell wie das Licht.

 

***

Nachhall

 

Die Wunder hörten nicht auf. Genevieve geleitete ihre Urahnen in das Ehrengemach von Aquaria. Das Gehäuse der viele Hundertmillionen Jahre alten Mollusca öffnete sich und empfing das Sternenpaar freudig, denn auch sie fühlte ihre Zeit auf Erden ablaufen. Das ansonsten dämmrige Gewässer strahlte plötzlich durch ihren diamantenen Glanz.

Astril und Yoras tauchten Hand in Hand auf Aquaria zu, und die alte Meermaid wandte sich noch einmal zu jener, welche all ihre natürlichen Gaben innehielt und vom Himmel auserwählt wurde, um Avalonia zu führen. „Einstens werden wir uns wieder sehen, Genevieve. Sei nicht allzu traurig, denk an Deine Eltern. Wir haben unsere Mission auf Erden erfüllt und uns Ruhe verdient. Du hast Deine Bestimmung noch vor Dir, erfülle sie  nach bestem Gewissen.“

„An Deiner Seite hast Du einen starken und treuen Gemahl, der Deiner bedarf wie Du seiner und Avalonia Euch beiden. Leb wohl“, fügte Yoras hinzu. Das Sternenpaar schwamm mit ineinander verschränkten Händen in das Gehäuse Aquarias hinein.

So geschah es wie einstens, als sie aus der Unendlichkeit des Alls in die Meerestiefen Avalonias stürzten und dessen Volk aus ihnen erstand. Das Leuchten im Inneren erlosch, und die uralte Muschel schloss ihr Gehäuse für immer.

Lange noch, nachdem sich das Gehäuse Aquarias geschlossen hatte, verharrte Genevieve in Trauer vor deren Schrein. Ihr silbernes Haar leuchtete durch die Gewässer, ihre Augen waren von einem Schleier aus feinsten Perlen umhüllt.

Drei Weggefährten auf ihrer letzten Reise zum Regenbogen hatten indessen einen seltsamen Traum: Aquaria wähnte sich am Strand von Stellamaris, inmitten von Tausenden ihrer Schwestern, die da ruhten in all ihrer Reinheit auf schwarzem Sand. Aus den geöffneten Gehäusen schimmerte silbernes Licht. Auf den lindgrünen Wiesen der Berge funkelten blaue Edelsteine, über denen liebliche Wesen mit hauchdünnen, goldenen Flügeln schwirrten.

Die Welt erstrahlte in herrlichstem Glanz, und vom Himmel regnete es Perlen. Leise und sanft klopften sie auf ihr geschlossenes Dach. Vor dem Hintergrund der Berge zeichnete Solveigh über Aquarias Gehäuse einen schillernden Bogen, der sie lockend zu rufen schien.

Astril und Yoras waren wieder zwei junge Meereswesen, die verliebt und glücklich durch die Bucht von Stellamaris jagten. Im Glanz der Sonne schnellten sie sich aus dem Wasser und flogen auf den Schwingen des Windes durch die Lüfte, dem Regenbogen entgegen. Unter diesem rauschte der Wasserfall und rang wie eh und je mit der Brandung.

Das Paar zog seine Kreise und schwamm durch dessen dichten, gischtenden Vorhang aus flüssigem Silber hindurch. Kaum, dass sie in der dahinter liegenden Höhle angelangt waren, erstrahlte die Kammer im Licht der Sterne.

An der Decke kreisten die neun Planeten um deren Herrin, die Sonne. Sphärengesänge erfüllten das große Gewölbe. Die Wände wichen zurück, und Venus hieß sie in ihrem großen Hofstaat willkommen. Astril und Yoras wandelten sich in ihre ursprüngliche Gestalt und nahmen ihre angestammten Plätze in der Unendlichkeit ein.

Die Legende von Astril und Yoras erzählt bis in die heutigen Tage: Wann immer ihre Töchter und Söhne zum Himmel aufsahen, tanzten drei Sterne einen lieblichen Reigen. Selbst in finsterster Nacht erschien ihnen der Regenbogen und tauchte die Welt in Silber und Gold. Herrliche Klänge, aus tausenderlei Kehlen gesungen, durchschallten das All. Noch heuer, wenn eine reine Seele zum Firmament hinauf schaut, kann sie das Wunder des Universums erblicken und die Lieder der Sterne vernehmen. Sie tanzen und singen, um Pein und  Schmerz verzweifelter Herzen zu lindern.

Die Heimkehr

Vor langer Zeit waren große Dinge geschehen,

die kein menschlich' Auge hatte gesehen.

Eine Insel wurde Stellamaris benannt,

in einer Muschel wurden zwei Sterne gebannt.

 

Die unglücklichen Seelen voller Liebe trunken,

vom Himmel gefallen, bei Avalonia versunken.

Astril und Yoras waren der Liebenden Namen,

aus dem Schoße des Universums sie kamen.

 

Die jungen Herzen, die füreinander geschlagen

in unerfüllter Liebe in jenen frühesten Tagen,

von göttlichen Händen auseinander gerissen,

zum Wohle des Lebens, wie wir heuer wissen.

 

Der Himmlische Vater hatte sein Urteil gesprochen

und jener Tage ihre liebenden Seelen zerbrochen.

Der Sternenkinder Schicksal ließ die Erde erbeben.

Sie suchten den Tod und fanden das Leben.

 

Viele tausend Jahre durften sie auf Erden verweilen

und in ew’ger Liebe vereint die Gezeiten durcheilen.

Astril und Yoras, in ihnen waren alle Gaben vereint,

in jenen Sternen, um die Avalonias Königin weint.

 

Aquaria, oh heil’ge Botin aus einstigen Tagen,

lasst uns unter Eurem Dache die letzte Reise wagen.

In deren Schoße schlafend werdet Ihr uns finden,

um uns in Liebe vereint in sein Reich einzubinden.

 

© Sina Katzlach

Der Vormarsch

Ihr Ritter, sehet dort den Himmel der finsteren Nacht,

wo der Mond über zahllos funkelnde Lämplein wacht.

Das Licht jener Krieger war nicht für ewig verloren,

aus dessen Reinheit wurden drei neue Sterne geboren.

 

***

Tronador tauchte indessen den Hummern entgegen, um das Ausmaß der Bedrohung erkennen zu können. Mit grimmiger Miene stieß er seinen kräftigen Körper durch die Goldene Stadt, gab Anweisungen an einige Flüchtlinge und wandte sich bei den letzten Hallen in Richtung der Freien Gewässer. Dort waren sämtliche Arten von Meeresgetier vertreten, die ihm panisch entgegen kamen – vermutlich, um in Avalonia ihre Rettung vor den sich nähernden Pterigotus zu suchen.

Der König ließ sich diesen Umstand als Warnung gesagt sein und suchte fortan auf seiner Erkundungsreise Deckung in Höhlen. Entschlossen und mutig, ohne jegliches Zögern, tastete er sich auf diese Weise seiner Heimat - dem Reich der Nautiloiden - entgegen. An freiliegenden Orten bewegte er sich in mittlerer Tiefe und nutzte hohes Gefelse für einen besseren Ausblick.

Er hatte sich viel mit den Stärken und Schwächen der plumpen Hummer auseinander gesetzt und verzweifelt erkannt, dass ihnen nur schwer beizukommen sein würde - vor Allem, wenn sie in einer solchen Masse auftreten sollten, wie zu befürchten war. Selbst wenn er sich noch kein Bild machen konnte, vertraute er auf Timorioths Worte.

Gedankenverloren klammerte er sich an den Gipfel eines Unterwassermassivs und schaute in Richtung des Niemandslands, doch das Wasser war zu trüb, um Details zu erkennen. Ein leichtes Zittern erschütterte den Meeresboden, er fühlte es bis in die Spitzen seiner Flossen.

Die Angst machte es ihm fast unmöglich, einen Gedanken zu Ende zu führen. Es machte ihn wütend. Mit einem Fluch wagte er sich aus seiner Deckung hervor und eilte weiter. Bei der nächsten Höhle stieß er sich wieder zu Boden. Als ihn ein Algenstrang streifte, kam ihm eine Idee.

 

***

Die Farben der Angst

 

Während sich in den Gewässern der Kraken ein Großteil des Heers jener grausigen Bestien mit den kläglichen Resten seiner Vorhut vereinte, folgte das Meervolk ihrem Beispiel und suchte Zuflucht in der Halle der Sieben, wie es ihnen geheißen wurde. In dem riesigen Gewölbe hatten sich an die zehntausend Meermaiden und Junker versammelt und harrten der Dinge, die da kommen sollten.

Alle Altersgruppen waren vertreten, von den Kleinsten, die noch in den Armen der Mütter lagen; bis hin zu den Greisen, deren zittrige Stimmen die Gewässer erfüllten.

Die Halle war dunkel. Lediglich der bläuliche Schein von Abermillionen leuchtenden Quallen, die sich ringsum am Gemäuer festgesaugt hatten, schimmerte schwach durch die Finsternis. Das Stimmengewirr des Volkes hallte von den Wänden der Höhle wider und malte ein bizarres Klanggemälde der Furcht und des Schreckens. Ab und an blitzten die Schwimmflossen einiger Avalonier auf, die sich in einem Anflug von Panik aus der zusammen gedrängten Menge lösten, um ihr Heil in der Flucht zu suchen.

Bei so manchem Fluchtversuch schwoll der vielstimmige Lärm bis zur Hysterie an, zumindest solange, bis sich der Flüchtling reumütig erneut in die Reihen des Meervolks einfügte oder mit wehenden Haaren von dannen stob. Jenen Narren sahen Männer und Frauen, die noch vernünftiger waren, kopfschüttelnd nach. Viele von ihnen hatten die Worte der Königin noch in ihrem Ohr: "Bleibt alle zusammen, mein Gemahl trug es mir auf. Habt Vertrauen in ihn und in die himmlische Kraft. Unser König wird es mit dem Willen des Herrn richten." Niemand hatte auf dem Weg in die Festung geahnt, wie schwer Genevieve diese Worte gefallen waren, in Anbetracht der Mission, der sie folgte.

 

***

Tronador kam zügig voran. Mittlerweile hatte er die Hälfte der Strecke zurückgelegt und befand sich in den Freien Gewässern, kurz vor seiner Heimat, wie er an der Beschaffenheit seiner Umgebung erkannte. Der König passierte soeben ein Felsentor, als er die Pterigotus entdeckte. Eilends verbarg er sich in einer Höhle und beobachtete sie.

Ein Bild des Horrors bot sich ihm. Wie ein lebender Teppich in grell giftigen Farben bewegte sich ein gigantisches Heer der Urhummer auf Avalonia zu. Mit ihren behäbigen, massigen Körpern, in quadratischen Formationen geordnet, wälzten sie sich über den Grund des Yapetus. Ihre tödlichen Fresswerkzeuge klappten unaufhörlich auf und zu und schnappten gierig nach allem, was sich in ihre Nähe wagte. Sie machten auch vor unvorsichtigen Haien nicht Halt. So zogen die Schreckgespenster der Meere gen Avalonia. Hinter sich ließen sie eine blutige Schneise der Zerstörung. Bei so manchem klebten noch Blut-Trophäen vom letzten Raubzug in Tronadors Wiege zwischen den Zangen.

An der Spitze des Heeres marschierte gleichwohl ein Wesen, das direkt dem feurigen Herzen der Erde entstiegen zu sein schien. An Größe übertraf es seine Artgenossen um ein Vielfaches, es musste so an die sechs Meter lang gewesen sein. Während die Panzer seiner Schergen gelb-rote Sprenkeln aufwiesen, war jener Hummer pechschwarz, seine Platte war mit ungleichmäßigen Flecken, so glutrot wie das heißeste Feuer sämtlicher Vulkane auf Erden, gemustert. Seine Scheren waren so lang wie der Arm eines Riesen, der Stachel ragte über die Masse seines Körpers hinaus. Augen in der Größe von Knöpfen trugen die Schwärze der Hölle in sich. Sein Name war Forpex.

 Diese unheimliche Kreatur mit den erschreckenden Maßen eines Wals war der Urvater aller einstigen und heurigen Krebs - und Skorpionarten der Welt. Jenerzeit, als Forpex im wahrsten Sinne des Wortes dem Feuer entstieg, denn sein Lebensraum war einst der Vulkan, gab es kein Lebewesen, das ihm die uneingeschränkte Herrschaft über die Meeresräume weltweit streitig machte. Über den Zeitraum mehrerer Hundertmillionen Jahre verbreitete er Angst und Schrecken, bis zu jenem Tage, als aus einer Muschelschale im Yapetus die Ahnen des Meervolks erstanden.

Fortan beobachtete er neidisch das Heranwachsen der seiner Meinung nach lächerlich lieblichen Wesen mit all ihrer Schönheit und all ihren Gaben. Ab und zu führte er sich eines von ihnen zu Gemüte, obwohl sie eher nicht nach seinem bevorzugt deftigen Geschmack waren. Ihr Fleisch war für seine Begriffe viel zu zart, doch sie zu jagen, machte ihm Spaß. So ließ er keine Gelegenheit aus, den Bürgern der Goldenen Stadt habhaft zu werden und sie ins Antlitz des Grauens blicken zu lassen.

Eines Tages kam ihm eine alte, hässliche Maid, einer anderen Tierart entstammend, über den Weg. Gleich bei der ersten Begegnung zeugte er mit ihr zwanzig Bälger, die mit unheimlicher Geschwindigkeit zu jenen grausigen Wesen heran wuchsen und beizeiten seine Macht stützten. Gemeinsam fielen die Bestien ohne Rücksicht auf Verluste über sämtliche weibliche Wesen der Meere her, gleich welcher Gattung sie abstammten. Eine jede der Vergewaltigungen brachte wiederum zehn bis zwanzig Bastarde hervor, und so wuchs die Population der Pterigotus rasend heran.

Entgegen der Gewohnheiten anderer Stämme legten sich die Hummer auf kein Territorium fest. Lediglich Forpex zog es vor, sein Domizil im Yapetus beizubehalten, um weiterhin in der Nähe seiner Lieblingsfeinde zu sein. Der alte Pterigotus war zudem ungemein schlau. Beizeiten erkannte er, welch ungeheure Schätze das Meervolk bot und trachtete fortwährend danach, sie zu besitzen.

Er wurde jedoch bald eines Besseren belehrt, da sie eher im Verborgenen lagen.  Zudem verfügte er nicht über die Gaben, um sie zu nutzen.

Fortan untersagte er seinen Artgenossen, Jagd auf das Meervolk  zu machen und gebot ihnen stattdessen, von ihnen zu lernen. Wiederum stieg die Anzahl der Hummer im Yapetus an. Jene legten das Areal als Lebensraum fest und ließen sich in unmittelbarer Nähe der Avalonier nieder.

Die friedfertigen Ozeanier waren über die Hintergründe des neuerlichen Anstiegs der Population ahnungslos und duldeten sie. Forpex hatte allerdings die Rechnung ohne den Wirt gemacht, und dies kostete ihn beinahe seine Macht. Der Hummer hatte einige Faktoren seines Vorgehens und dessen Folgen schlicht und einfach übersehen. So war es gar Hochverrat aus den eigenen Reihen.

Nicht genug, dass Malinar mit einer Meerjungfrau verbandelt war, ha! Jener sorgte nicht einmal dafür, dass der Stamm der Pterigotus Nachwuchs bekam. Aber nein, er musste mit der Maid auch noch vier reinrassige Nixenbälger zeugen.

Um all der Schmach noch die Krone aufzusetzen, wandte jener sich gegen sein eigenes Volk und machte Jagd auf seine Artgenossen. Mehr als zweihundert Hummer hatte er zu seinen Lebzeiten erlegt. Dieser Umstand schädigte zwar den Fortbestand der Pterigotus nicht wesentlich, dafür waren es zu viele. Forpex machte es jedoch rasend, dass es einer wagte, ihm seine Vorherrschaft streitig zu machen.

So ließ er es sich nicht nehmen, seinem Kontrahenten aufzulauern und ihn mitsamt seiner Meerjungfrau höchstselbst zu zerstückeln.

Somit hatte Malinar, Genevieves Vorfahr aus indirekter Linie, einen nicht unwesentlichen Anteil an den Geschehnissen in Avalonia. Fortan machten die Hummer gezielt Jagd auf die Bewohner der Goldenen Stadt. Die böswillige Schläue von Forpex kam ihnen allen zugute. Er verstand sich darauf, im Verborgenen zu agieren, im Dunkel von Höhlen. Kein einziger jener Fischmenschen hatte ihn jemals zu Gesicht bekommen, erst im Augenblick des grausigen Todes. Als jedoch Forpex die Vorbereitungen des Meervolks erkannte, rief er seine Vasallen aus den Weltozeanen herbei.

 

***

Während Genevieve noch mit ihren scheidenden Urahnen beschäftigt war, hatte sich das Volk in der Festungshalle versammelt, um auf sie zu warten.

Etliche hatten sich aus der Menge gelöst und stoben panisch und orientierungslos durch die Höhle. Die Hysterie nahm gewaltige Formen an.

Die schlierige Dunkelheit, die fast schon in Schwärze überging, ängstigte sie zusehends und trieb den Großteil der Avalonier fast bis an den Rand des Wahnsinns. Nicht einmal das Licht der Quallen kam gegen diese noch nie dagewesene Finsternis an.

Ein unheimliches Summen erfüllte den Raum. Es war das Raunen der Weiden, es schien, als wehe am Grund des Meeres der Wind. "Was wird aus uns?", fragte eine junge Maid ihren Gemahl. Eine ältere Frau neben ihr weinte auf. "Weshalb werden wir so hart bestraft?"

Der gefragte Junker umschloss beide und führte sie durch die Menge in eine geschütztere Nische. Fürsorglich bettete er seine Gemahlin und deren Mutter dort auf Korallen. "Habt Vertrauen", sprach er und versuchte, die eigene Furcht zu verbergen. "Bald wird die Dunkelheit weichen."

 

***

Keiner der Schutzsuchenden in der Halle der Sieben wusste, was anderorten geschah. Alles, was sie hatten, war nur ihre Angst und die Ahnung, vom Schnitter heimgesucht worden zu sein. Niemand von ihnen wusste, welche Form er annehmen würde.

Kein Einziger von diesen vielen Junkern und Maiden hatte Forpex jemals erblickt, höchstens die blutige Spur, die er zog. Die Ungewissheit, was ihnen blühte, nahm regelrecht körperliche Formen an. Ein Dröhnen aus der Ferne drang bis zu ihnen, und es bohrte sich tief in ihre Herzen. Kleinste Lebewesen am Grund der Höhle - in Massen auftretend - ließen den Boden wogen wie Wellen. Wieder und wieder erklangen Schreie, Flüche - und dann war es still.

Millionen von Leuchtquallen lösten sich aus dem Gemäuer und mischten sich unter die Menge. Ihre Körper begannen zu glühen, stärker und stärker. Es war, als kämpften sie gemeinsam gegen die Schwärze an.

Das gesamte Volk spürte, dass etwas Besonderes geschah. Hände fanden einander, und die Meereswesen formierten sich in der Mitte der nunmehr blau leuchtenden Höhle gemeinsam zu einer Spirale.

Energien flossen von Hand zu Hand, von Herz zu Herz, von Junker zu Maid. Die Decke des Gewölbes öffnete sich. Strahlend helles Licht floss in den Raum wie die silberne Gischt des Wasserfalls von Stellamaris.

Durch Avalonia wisperte ganz leiser Gesang, der direkt von den Sternen zu kommen schien. Verzückt und schweigend wandten sich die Gesichter der Kreaturen der geöffneten Decke entgegen. Kein Einziger ließ den Anderen los. Vom Himmel sprach eine Stimme. Das Meervolk vernahm die Worte an Astril und Yoras. Die Angst wich von ihnen.

 

***

Tronador

 

Mit weit aufgerissenen Augen verbarg sich der König in seinem Versteck, nur wenige Flossenschläge von den Pterigotus entfernt. Nie im Leben hätte er sich vorstellen können, dass all die Schrecken, welche jene Todesvasallen bereits verbreitet hatten, noch zu übertreffen waren. Eiskalte Schauer überkamen ihn ob des Anblicks von Forpex, dessen Körper um ein Dreifaches größer und mas­siger als der seiner plumpen Kumpane war.

Tronador vermeinte, das Feuer seiner glühenden Lichter heiß auf seiner Seele zu spüren. Voller Furcht flehte er gen Himmel, er möge erblinden, so dass seine unselig geschändeten Augen jene unvorstellbare Fratze des Todes nicht mehr erblicken müssten.

Der Himmel war taub, und so musste er mit ansehen, wie das Heer der Riesenhummer näher und näher marschierte. Die Gewässer um sie herum färbten sich rot von dem Blut ihrer Opfer, die sie auf ihrem Weg grausamst zermalmten. Fischgebeine und Tentakel, Seesterne und Schneckengehäuse wirbelten durch die Gewässer, als ob soeben ein Tornado durch den Yapetus brauste. Der Meeresgrund bebte, nicht einmal die Strömung hielt ihnen stand.

Der König von Avalonia wagte es nicht, auch nur ein Glied seines kräftigen Körpers zu rühren. Voller Furcht hoffte er, nicht entdeckt zu werden. Er wünschte gar, dass die Urhummer an ihrer Gefräßigkeit zerbersten mochten, da er keine andere Lösung mehr sah.

Bedauerlicherweise versagten die Wesen ihm die kleine Gefälligkeit und näherten sich. Resigniert schloss er mi seinem Leben ab. Sehnlichst wünschte er sich, den Blick abwenden und in Ruhe sterben zu können, bevor die Meute seine Höhle erreichte.

In seinem Herzen spulte er Litaneien von flehenden Appellen an sämtliche ihm zugehörige Wesen ab, erblickte noch einmal das Licht der Welt, reiste zu den Vulkanen und verbrachte die schönsten Momente mit seiner Gemahlin, der er wünschte, ihm folgen zu können, bevor das Grausen Avalonia erreichte. Voller Schuldbewusstsein gedachte er des Volkes, das vertrauensvoll seiner harrte.

Der verzweifelte Junker wähnte sich bereits seiner Gebete nach der letzten Erlösung erhört, als das Wunder geschah. Solveigh verbündete sich mit ihm und wurde zu seiner Kriegerin. Die Sonne sandte ihr strahlendstes Lächeln zur Erde hinab, senkte sich glühend über die Meere und lähmte Glieder und die schwarzen Herzen der Hummer.

Begleitet wurde sie vom Heerführer der Himmlischen Scharen daselbst, dessen donnernde Stimme vom Himmel hallte und jene Wesen aus dem feurigen Herzen der Erde auf der Stelle verharren ließ. Wie im Gebet reckten die Pterigotus ihre Zangen nach oben und vermochten es nicht, auch nur ein borstiges Härchen ihrer langen Giftstachel zu rühren. Somit verschaffte der Himmel dem König wertvolle Zeit, die es zu nutzen galt.

Tronador war ebenfalls wie erstarrt. Indessen gemahnte ihn eine innere Stimme, unhörbar für andere, tief in seiner Seele: „Eile hinfort, Tronador. Es ist keine Zeit zu verlieren, Dein Volk ist in Gefahr. Ich habe getan, was ich für Euch tun konnte. Alles andere liegt nun in Deiner Hand.“

Er nutzte die Gunst der Stunde und eilte davon, zu jenen, die ihn verzweifelt und voller Sehnsucht erwarteten. Er dankte sämtlichen Himmelsmächten aus vollstem Herzen.

 

***

Während die donnernde Stimme des Universums als Echo aushallte, entwand sich Genevieve ihrer Starre und gemahnte sich selbst ihrer Pflicht. Wie aus einem Traum erwachend löste sie sich vom Anblick des nach wie vor leuchtenden Schreins. Aquarias Glanz wurde matt, das große Gehäuse hatte sich für alle Zeiten geschlossen. Um sie herum herrschte unnatürliche Reglosigkeit, alles Leben auf dem Grund des Meeres schien wie betäubt.

Mit einem letzten scheidenden Blick wandte sich Genevieve um und verließ den Thronsaal. Das Wunder des Lichts war ihr nicht entgangen, doch sie entzog sich dessen Magie. Alles, was Raum in ihrem Herzen fand, war tiefe Trauer, aber auch Dankbarkeit, dass ihre Ahnen den drohenden Gefahren entflohen waren.

Hastig durcheilte sie den langen Steinkorridor vom Thronsaal zur Festungshalle, die sich am Ende des Höhlenverbundes befand. Die leblose Ruhe um sie herum machte ihr Angst. Es kam ihr so vor, als wären sämtliche Lebewesen in dem riesigen Meeresgewölbe versteinert.

Sie fühlte sich einsam und kraftlos, doch mit eisernem Willen kämpfte Genevieve gegen die aufkeimende Mutlosigkeit an. Als ihre Urahnen schieden, war sie versucht gewesen, alles um sich herum zu vergessen und ihnen zu folgen, doch plötzlich hatte sie wieder Tronadors Worte im Ohr. Er gemahnte sie, ihm zu gehorchen und an der Seite ihres Volkes zu bleiben. Das riss die Königin Avalonias endgültig aus ihrer Trance.

Erleichtert atmete sie auf, als ihr ein Regenbogenfisch durch die Haare strich. Das Leben hatte den Kampf aufgenommen. Schnell stieß sie sich weiter voran und ließ das Gewesene weit hinter sich.

Bereits, als sie die ersten Stützpfeiler der Festungshalle erreichte, erblickte sie das bläuliche Leuchten im Inneren. Staunend verharrte sie und lauschte nach Stimmen, doch alles war ruhig. Plötzlich fühlte sie sich außerstande, ihr Ziel zu erreichen. Ihr war, als hielte sie etwas fest. Mit beiden Händen griff sie nach ihrer Muschelkette und versuchte, die Lähmung, die sie ergriff, zu verdrängen. Eine Stimme wisperte in ihren Ohren: "Es ist nur deine Angst, Genevieve. Verbanne sie aus deinem Herzen. Eile hurtig voran, zu deinem Volk. Es wartet auf dich."

Die Königin Avalonias warf sich dem Unbekannten entgegen. Mit weit geöffnetem Herzen spürte sie das Wogen der Weiden, die sie in das Innere des Raumes trugen. Purpurfarbene Seelilien klammerten sich an ihr fest und drängten sie immer weiter voran.

Nachdem sie das Portal zur Festungshalle gequert hatte, entfernten sie sich. Ergriffen starrte sie zu der geöffneten Decke hinauf. "Der Wasserfall von Stellamaris", flüsterte sie leise vor sich hin.

"Es ist das Licht deines Herzens", raunte eine Stimme ihr zu. Sie ahnte, es war die Stimme des Herrn, obwohl sie diesmal ganz anders klang. Noch nie hatte er so weich und zärtlich zu ihr gesprochen.

Er spürte ihre Gedanken. "Ich bin die Sonne, das Licht. Ich bin das Leben, der Frieden, die Liebe. Durch mich entstand der Tag, doch auch die Nacht. Was dazwischen liegt, das kommt von den Wesen, die ich erschuf."

"Ihr seid also die schaffende Kraft", fragte sie ihn in ihrem Herzen. "Ich kenne nur unsere Welt, doch Astril und Yoras erzählten mir viel. Sie seien aus Euren Händen gekommen, doch Ihr hättet sie aus ihrer Heimat verbannt."

"Nichts geschieht ohne Sinn, Genevieve. Sie trafen ihre Entscheidungen selbst, als sie beschlossen, dass eine andere Welt ihre neue Heimstatt sein soll. Eines Tages wird es wieder geschehen. Nichts denn der Zeit ist unendlich."

Genevieve sah zu der regungslosen Spirale in der Mitte des Raumes hinüber. "Begib dich zu deinem Volk, Königin von Avalonia", wies die Stimme sie an. "Es ist nicht die Zeit und der Ort für viele Fragen."

"Sie bewegen sich nicht, was ist geschehen?"

"Spürst du es nicht? Sie warten auf dich. Sie beten. Bete mit ihnen, denn dir gelten ihre Gedanken." Die Stimme in ihr wurde leiser und leiser, und die Worte hallten als Echo in ihrer Seele fort.

Mit leisem Flossenschlag überbrückte sie die Distanz. Sacht löste sie die Hände eines Paars voneinander, begab sich in ihre Mitte und schloss den Verbund. Mit niedergeschlagenen Lidern legte sie sich auf den Rücken und ließ ihren Körper erstarren.

Um sich herum spürte sie die Wärme der Ctenophoren, deren Phosphorglühen nach wie vor das Innere der Höhle erfüllte. 'In jedem Wesen ist Licht', stellte Genevieve insgeheim fest. 'Wenn es zutage tritt, bannt es alles Ungute, das im Dunkel Raum finden würde.' Hoffnung erfüllte ihr Herz.

 

***

Erwachen

 

 Die Sonne zog weiter. Ihr Licht, das durch die Deckenluke in der Höhle gefallen war, verblasste. Das Leuchten der Quallen blieb dem Meervolk indessen erhalten. Einer nach dem anderen der vielen Junkern und Maiden erwachte wie aus einem Traum. Energien flossen von Hand zu Hand, von Herz zu Herz. Ausgangspunkt war Genevieve.

Sie spürte ein Kribbeln in ihren Armen, sah, wie die Welt um sie herum zu vibrieren begann. Die Spirale aus Nixenleibern begann sich zu bewegen. Sie wurde größer und größer und formierte sich bis hinter zur Höhlenwand. Erst, als sie anstießen, lösten sich Hände aus dem großen Verbund. Die Leuchtquallen verließen die Mitte des Zirkels und sogen sich wieder an den Gemäuern fest.

Genevieve entfernte sich aus der Menge, durchquerte die Höhle und begab sich auf ein höher gelegenes Podest, das von den Höhlenbauern errichtet worden war. Sowie die Menge der Königin ansichtig wurde, reckten sich ihr Abertausende Hoffnung suchende Gesichter entgegen.

Aufgeregte Stimmen hallten durch das Gewölbe. „Sehet, die Königin!“, „Genevieve ist gekommen“, klangen einzelne Satzfetzen gemischt durch den Raum. „Welche Botschaft mag sie uns bringen?“

„Wo ist Tronador?“, „Habt Ihr den König gesehen?“, „Gibt es noch Hoffnung?“, „Habt Ihr jene donnernde Stimme gehört?“, „Was war das für ein Licht?“, „Nie war Avalonia so hell erleuchtet", „Begrüßen wir unsere Königin!“

Alle sprachen sie wild durcheinander. Eine Welle der Ehrfurcht zog durch den Raum. Die Liebe und Zuneigung, die jene Maiden und Junker für Genevieve hegten, war deutlich zu spüren. Selbst in Augenblicken der Todesangst vermochten sie Freude zu empfinden.

Kraftvolle Tenöre, tiefe Bässe, die gebrechlichen Stimmen der Alten, piepsige Stimmchen von Kindern und die melodischen der Maiden hallten von den Wänden der Höhle wider. In ihnen klang Hoffnung und Jubel, als ob allein die Anwesenheit ihrer Königin das Blatt wenden könne.

Ihr huldigend warfen sich Unmengen Hände in die Höhe. „Heil Euch, Genevieve!“, rief’s. „Seid gegrüßet, oh holdeste Königin“, schmeichelten einige Stimmen der Junker. „Bringt uns Hoffnung, Genevieve“, heischten die Maiden. „Wo ist Euer Gemahl, der König?“, einige fragende Stimmen. „Habt Ihr selbst die Hummer gesehen?“, klang’s ihr entgegen.

Die Festungshalle brodelte voller plötzlicher Euphorie. Schließlich sah sich Genevieve gezwungen, ihnen Einhalt zu gebieten, erhob beide Arme in die Höhe und rief mit weit tragender Stimme: „Seid gegrüßt, Ihr Maiden und Junker von Avalonia. Habt Dank für Euren Gehorsam Eurem König, meinem Gemahl, und mir gegenüber. Die Zeit zum Jubeln ist indessen noch nicht gekommen. Aquaria, Astril und Yoras haben uns verlassen."

Allgemeines Wehklagen hob an und verwehrte Genevieve, ihre Rede weiter zu führen. Wiederum erhob sie gebieterisch ihre Hände und versuchte, sich schreiend Gehör zu verschaffen: „Das ist noch nicht alles, Meervolk. Uns fehlt indessen auch die Muße, zu trauern. Es gilt, sich auf den Angriff der Hummer vorzubereiten, wie Ihr vermutlich wisst.“ Bestrebt, ihre eigene Besorgnis um Tronador zu verbergen, ließ sie ihren Blick unauffällig durch das gigantische Gewölbe streifen. Schließlich erhob sie noch einmal die Stimme und fragte die Menge: „Weilt des Königs Hofstab unter uns? Wenn dem so sei, bitte ich jene herbei.“

Sehr zur Erleichterung von Königin Genevieve lichtete sich die Menge, und sie sah ihren Vater Tikar, Marianis und Tweja an ihre Seite eilen. Rechterhand kamen ihr Tamila und Junker Fronkalis entgegen. „Wie ich sehe, seid Ihr wohlauf. Habt Ihr die Pterigotus gesehen, und wo ist mein Gemahl?“, raunte die Nixe ihnen halblaut entgegen.

„Tronador ist diesen Monstern entgegen gereist, um sie auszukundschaften, Genevieve. Seitdem sind wir ihm nicht mehr begegnet. Sie scheinen bereits vor Avalonia zu sein“, beschied ihr Tikar, der ansonsten an der Seite des Königs war. „Weh mir, wenn ihm etwas geschehen sollte. Was wird aus uns?“, klagte sie leise. Die Königin rief sich zur Ordnung und wandte sich erneut an das Volk. „Wie ich soeben vernommen habe, lauern die Hummer bereits in Avalonias Gewässern. Euer König hat sich ihrer gewidmet!“

Ein ängstlicher Aufschrei aus vielzähligen Kehlen wogte durch die Menge. Zornig rief Genevieve über deren Köpfe hinweg: „Schweigt, Ihr feigen Memmen. So wahr ich Eure Königin bin, dulde ich nicht das kleinste Zaudern aus Euren Reihen. Wir sind das Meervolk, die Auserwählten, uns geziemt es nicht, mutlos zu sein. Solange auch nur das kleinste Tröpfchen Blut in uns fließt, hat sich ein jeder seiner Haut zu wehren, wer es auch sei. Die tödlichste Waffe ist noch immer die Angst."

„Weise gesprochen, holdeste Maid. Ich hätte es nicht besser sagen können“, vernahm sie hinter sich eine Stimme. Erschrocken schnellte Genevieve in deren Richtung und sah sich Tronador gegenüber.

Tränen der Erleichterung stiegen ihr in die Augen. Sie konnte gerade noch an sich halten, um ihm nicht vor der versammelten Menge um den Hals zu fallen und beschränkte sich darauf, zu seufzen: „Dem Himmel sei’s gepriesen, Ihr seid zurück. Ich wagte es nicht, zu hoffen.“ Sie wandte sich erneut an ihren Vater und fragte ihn: „Wo ist meine Mutter? Ich hoffe, sie ist wohlauf!"

„Sei unbesorgt, Genevieve“, antwortete Tikar und wies in eine Richtung. „Ich habe sie nicht mehr aus den Augen gelassen, seit ich erfuhr, welch Grauen auf uns lauert. Mirja ist dort hinten, bei dem kleinen Durchlass in die Nebenhöhlen.“ Genevieve blickte hinab und sah erleichtert das Gesicht ihrer Mutter. Schließlich wappnete sich vor dem, was es in Anbetracht der schlimmsten Gefahr aller Zeiten zu wissen und zu tun galt. Ohne sich ihre Angst anmerken zu lassen, fragte sie Tronador nach der Anzahl der Pterigotus.

Er zögerte keinen Atemzug lang mit seiner Antwort. Mit fester Stimme schleuderte er ihr die grausige Wahrheit entgegen: „Mehr, als unser Heer bewältigen kann, Genevieve!“ Erschrocken sah sie ihn an. Wenn selbst ihr Gemahl den Mut verlor ...

„Weh Avalonia! So ist dies unser sicheres Ende“, klagte die Königin Avalonias leise und legte in einem Moment der Schwäche ihr Haupt Schutz suchend an seine Brust.

Er legte ihr ritterlich den Arm um die Schultern. „Ich will Euch nichts vormachen, wir haben ihnen nicht viel entgegen zu setzen und noch weniger Zeit", sprach er leise zu ihr. "Denkt hingegen an das Volk und an Eure eigenen Worte. Seid so stark wie bisher, lasst uns dennoch nicht die Hoffnung verlieren. Ich habe das Antlitz des Himmels erblickt, der Herr wird es richten. Nur ihm habt Ihr zu verdanken, dass ich bei Euch bin.“ Tronador zwang seine Gemahlin, ihn anzusehen und riet ihr mit eindringlicher Stimme: „Doch mehr dazu später. Ich will Euch nicht weiter die kostbare Zeit stehlen. Sprecht zu Eurem Volk, sie warten darauf. Gebt ihnen all die Liebe zurück, die Ihr von ihnen empfingt. Bringt ihnen Mut und bleibt dennoch bei der Wahrheit, denn auch sie sollten der Gefahr ins Auge sehen. Wenn Ihr erreicht, was ich von Euch fordere, so dass sie kämpfen bis zum bitteren Ende, ist nichts verloren!“

Genevieves Augen schimmerten wie Seen voll ungeweinter Tränen, als sie dankbar den Blick hob und ihrem Herzenskönig in die Augen sah. „Ich danke Dir, Tronador“, sprach sie voll Wärme und wählte unbeabsichtigt die Intimität, die nur für die schönsten Momente ihrer Verbindung galt. „Was wäre ich ohne Dich, ich sagte es oft. Du allein gibst mir die Kraft, Avalonia eine starke und gerechte Königin zu sein.“

Tränen der Rührung stiegen ihm in die Augen. Er schämte sich ihrer nicht im Geringsten. Eine Woge der Zuneigung durchflutete Tronadors Seele, und wiederum vermeinte er, sein Herz bliebe stehen. In jenem Moment hätte er alles gegeben, um sterben zu dürfen: Aus Liebe zu ihr.

Schließlich besann sich Genevieve und bat ihn, ihr seine Maßnahmen zu schildern, die er zum Schutz vor den Urhummern ergriffen hatte. So berichtete er ihr, was bisher geschah: „Wrodun hat sich mit seinem Heer vor der Halle und in den umliegenden Höhlen in Position begeben und wartet auf Weisung. Wo indessen Morius ist, kann ich Dir nicht sagen. Er wurde lang nicht gesehen.“

„Was schätzt Ihr, wie viel Zeit bleibt uns, nach der Sonne gerichtet?“, wollte Genevieve wissen.

„Es lässt sich nicht ausmachen. Auf Solveigh können wir uns nicht verlassen, da sie noch immer scheint, obwohl jüngstens dämmrig war. Es ist jedoch höchste Eile geboten, vertraut mir“, antwortete er. „Ich habe einen Plan. Waltet indessen Eures Amtes und übergebt mir das Wort.“

„So sei es“, antwortete sie knapp und richtete sich an die Menge, welche teils erwartungsvoll, teils ängstlich zu ihr aufblickte und neuer Botschaften harrte. Im Wesentlichen war die Stimmung zwar gedrückt, der Großteil der Masse war jedoch merklich ruhiger geworden.

„Höret, Avalonia!“, rief Genevieve über die Köpfe ihrer Untertanen hinweg. Ihre Stimme klang fest und entschlossen. „Euer König Tronador, mein Gemahl, hat mir neue Kunde gebracht, und ich kann Euch nur sagen, sie ist nicht gut. Die Pterigotus werden in Kürze eintreffen, und es sind mehr, als wir alle glaubten. Ich will Euch nicht die Wahrheit verschweigen, Maiden und Junker. Die, wo da kommen, sind viel mehr, als wir uns vorstellen können. Dennoch fordere ich von Euch allen, von einem jedem, von klein bis groß, von jung bis alt, vollsten Einsatz. Wir werden ihnen das Vergnügen nicht gönnen, uns wimmern zu hören.“

Ein unvorstellbarer Tumult brach los. Es war soeben, als würden sich Genevieves Worte in Rauch auflösen, so wenig Gehör hatten diese gefunden. Das Einzige, was die Menge vernahm, war der Anmarsch des Todes, und nur das zählte. Verzweifelt tastete Genevieve nach der Hand ihres Gemahls. „Was nun?“, wisperte sie mit brechender Stimme. „Sie sind wie verängstigte Fischlein. Sollte es dies gewesen sein? Wenn sie sich aufgeben, ist nicht nur Avalonia verloren, es wird uns indes selbst der Regenbogen verwehrt.“

 Tronador drückte ihre Hand und sprach: „Ich fürchte mich ebenso wie sie. Vermutlich ist auch Dir bang. In mir tobt jedoch auch der Zorn. Ich rate Dir, weck die Wut in Dir, darob der Ungerechtigkeit, die da unser harrt. Sie gibt Dir Kraft, wenn Du es nicht zulässt, dass sie sich gegen Dich wendet. Kämpfe, Genevieve, um Dein Leben, um meines und um das des Volkes.“ Er strich ihr über die Haare und kehrte mit leiser Stimme zur Etikette zurück: „Ich kenne Euren Zorn, Königin von Avalonia. Wiegelt sie auf, rüttelt sie auf. Lasst es um nichts in der Welt zu, dass sie Eure Ehre beschmutzen.“ Der König wurde plötzlich bewusst provokativ: „Ihr wolltet mit mir immer auf einer Ebene sein, nun beweist mir, dass Ihr das könnt. Zeigt mir, dass Eure Worte, die Ihr mir einstens entgegen warft, nicht lediglich das Schnappen eines kleinen Fischleins war. Ansonsten wüsste ich, an welchem Platz ich Euch künftig zu suchen hätte: Beim Knüpfen und Fädeln!“

Hinterlistig beobachtete er ihre Miene, die sich mit jedem Wort von ihm mehr und mehr verfinsterte. Schließlich entriss sie ihm ihre Hand und erwiderte: „Ihr wagt es, meine Worte mit dem Schnappen eines Fischs zu vergleichen? Ihr, mein hochwerter Gemahl? Ihr seid so dreist, mir das Knüpfen und Fädeln anzuraten? Ihr, der Ihr mich kennen solltet? Nun gut, Ihr habt Euch getäuscht.“

Genevieve; die Auserwählte des Himmels, Königin von Avalonia, aus direkter Linie von Astril und Yoras abstammend, die ausgesandt warden, um das Meervolk zu gründen; warf zornig ihre Arme in die Höhe und schrie mit all ihrer Kraft - mehr noch, mit übernatürlicher Kraft - in die Menge hinab: „Schweigt sogleich, Ihr Volk der Schönen Künste. Wollt Ihr Euch womöglich selbst in die Fänge der Pterigotus werfen? Wollt Ihr Euch ohne Kampf gegen die Ungeheuer aufgeben? Ist es dies, was Euch Tronador lehrte? Wer sein Leben aufgibt, verliert das Anrecht auf Frieden und auf die Schönheit des Lichts."

Etwas ruhiger geworden griff Genevieve nach Tronadors Hand und fuhr mahnend fort: „Vor unserer Halle verweilen Wroduns Truppen, es sind nicht genug. Wenn alle jedoch kämpfen, bis auf Alte und Kinder, die wir in die Sicherheit von Stellamaris bringen, können wir die Hummer besiegen. Im Siebengewölbe findet Ihr Schutz. Lasst es nicht zu, dass sie über uns lachen, über die verängstigten Memmen des Meervolks. Sie haben lang genug Angst und Schrecken in Avalonia verbreitet!“ Noch einmal riss sie ihre Arme nach oben. Ihr Gesicht leuchtete, sie war so schön; so unglaublich schön. Ihre Stimme klang wie eine Sturmglocke, Triumph und Jubel schwang in ihr mit, als Genevieve rief: „Drum höret meine Worte, Ihr Maiden und Junker. Wir sind die Auserwählten, das Volk, aus Astril und Yoras begründet. Unsere Heimat war einst das Universum, und wenn es denn so sein soll, werden wir dorthin zurückkehren müssen. Bevor dies jedoch geschieht, werden wir den Hummern lehren, dass wir keine wehrlosen und ängstlichen Wesen sind.“

Die Festungshalle schien strahlend zu leuchten, als sie all ihren Mut und ihren Zorn in die Welt hinaus schrie: „Ich, Genevieve, so wahr ich durch Euch zur Königin von Avalonia auserkoren ward, rufe Euch allen, Meervolk  aus vollstem Herzen und voller Glauben an unsere Stärke zu: Kämpft für Eure Reinheit, für Astril und Yoras, zieht in die Schlacht für das Himmelslicht und bietet dem Dunkel die Stirn. Wir beweisen ihnen, weshalb wir auserwählt wurden, um die göttlichen Gaben in uns zu tragen. Seid tapfer und stark.“ Ihre Stimme wollte sich überschlagen, als Genevieve mit silberheller Stimme ihr Volk zum Kampf aufforderte: „So rufe ich Euch aus vollster Brust zu: Für Avalonia, für unser Volk, für Astril und Yoras, für unsere Kaiserin Aquaria!“

Tronador sah seine Gemahlin voller Liebe und Stolz an. Inbrünstig dankte er dem Schicksal dafür, das es ihm ermöglicht hatte, die richtigen Worte zu finden. Er kannte Genevieve viel zu gut und wusste genau, wie er die in ihrem Innersten ruhenden Schätze zum Vorschein brachte.

Der König zweifelte keinen Atemzug lang daran, dass sie erreicht hatte, was sie für unmöglich hielt und wurde sogleich bestätigt: Tosender Jubel erscholl aus den Reihen des Volkes, es gab vermutlich keinen Einzigen unter den Avaloniern, die sich nicht von einer Woge der Begeisterung tragen ließen. Die Appelle der Königin fielen auf fruchtbaren Boden und versäumten es nicht, kostbarste Blüten wiederkehrenden Mutes zu treiben. „Hoch lebe Genevieve, unsere Königin!“, rief’s. „Heil Euch, Ihr seid gesegnet!“, jubelten kraftvoll die Junker. „Lasset uns kämpfen, sollen sie kommen“, „Unser ist der Sieg, danket dem Herrn und Genevieve“, hofften die Maiden. „Auch wir wollen kämpfen!“, riefen kriegerisch die Alten. „Wir werden uns nicht verbergen.“

Die anwesenden Vasallen des Königspaars lagen sich weinend in den Armen, voller Erleichterung, dass die Hoffnung nach Avalonia zurückgekehrt war. Genevieve und Tronador hielten einander an den Händen und schauten stolz und voller Liebe auf die jubelnden Massen herab.

Die Zeit blieb indessen nicht stehen. Nun galt es für das Königspaar, ihres Amtes zu walten und all diese Lebewesen, die auf sie hofften, in den Kampf auf Leben und Tod zu führen. Die Schlacht in den Gewässern der Kraken begann, als Genevieve und Tronador noch glücklich ihre Kreise unter dem Regenbogen von Stellamaris zogen. Sie tobte noch immer zu jenem unsäglichen Zeitpunkt, als Timorioth - jener kleine, tapfere Junker - die Halle der Sieben erreichte, um dem Königspaar die Botschaft des Grauens zu überbringen.

Bevor jedoch Solveigh die Gewässer gleißend erhellte und die Stimme des Universums donnernd zu Astril und Yoras sprach, war der Kampf zwischen dem Volk der Nautiloiden und der grausigen Vorhut in der Wiege des Königs von Avalonia vorbei. Im Umkreis von einhundert Seemeilen hatten Forpex‘ Vasallen ihre Spuren hinterlassen. Die Gewässer waren von Krakentinte sowie von Blut und Leichenteilen beider Kontrahenten verseucht. Kleinere und größere Fische sämtlicher Gattungen, Oktopusse und sonstiges Meeresgetier, welches sich der Schlacht nicht entziehen konnte und zwischen die Fronten geraten war, huschten verstört und orientierungslos durch das Areal des Todes. Gebeine und geschuppte Hautfetzen derselben schwebten wie mahnendes Gefähne durch die Tiefen des urzeitlichen Ozeans. Gespenstische Stille lag über der Welt, die innerhalb weniger Augenblicke bereits in jüngsten Tagen nicht mehr so war, wie sie ursprünglich sein sollte.

An einer Stelle indessen, auf dem Meeresgrund, gebettet auf ein weiches Kissen aus Korallen, lag der leblose Körper eines jungen, goldgelockten Meerjunkers. Die Augen in seinem blutleeren Antlitz waren geschlossen, die Lippen bleich. Über seine nackte Brust sickerte eine Bahn halb geronnenen Blutes. Wie im Gebet hielt er die Hände gefaltet. Neben ihm kauerte schwebend ein langes, graues Wesen mit einem konisch geformten Körper und vielzähligen, langen Tentakeln regungslos auf der Stelle.

Junker Morius hatte in der Schlacht sein Leben verloren. Golmor, der Vater von Tronador, betrauerte den tapferen Junker, welcher mit ihm gemeinsam etliche dieser Blutschergen besiegte. Er hatte dafür teuer bezahlt!

Wo jedoch Schatten ist, gibt es auch Licht, und sei es lediglich der sprichwörtliche Silberstreif am Horizont. Die Kraken hatten sich wacker geschlagen. Von zweitausend Hummern konnten sich nur noch zweihundert, von jenen etliche lädiert, ihrem Haupttrupp auf dem Vormarsch nach Avalonia anschließen.

Der Großteil der Nautiloiden aus Tronadors Heimat konnte sich retten. Sie hatten sich jedoch in Höhlen verzogen, um ihre Wunden zu lecken. Lediglich Golmor war geblieben, um Totenwache bei seinem Gefährten zu halten. Ihm allein war es auch zu verdanken, dass Morius nicht grausam zerstückelt worden war. Zwar kam für ihn jede Hilfe zu spät, als er in einem Moment der Unachtsamkeit in die Fänge zweier Pterigotus geraten war. Der Vater Tronadors hatte sich dennoch todesmutig dazwischen geworfen, um ihm den letzten Freundschaftsdienst zu erweisen.

Mit übernatürlichen Kräften hatte er ihnen, gemeinsam mit drei Gefährten aus seinem Volk, den Leichnam des Junkers entrissen, ihn liebevoll auf Korallen gebettet und sich auf jene unsäglichen Kreaturen gestürzt, um den Tod seines Freundes zu rächen. In Golmor reifte indessen ein Plan!

 

***

In Avalonia - in der Festungshalle - waren mittlerweile die strategischen Vorbereitungen für den Kampf gegen die Urhummer in vollem Gang. Während seiner Erkundungstour hatte Tronador eine Entdeckung gemacht, die ihm eine gravierende Schwäche der Pterigotus aufzeigte, aufgrund derer er eine Eingebung hatte. Doch erst galt es, all jene in Sicherheit zu verbringen, die nicht mitkämpfen konnten. Dazu gehörten in erster Linie Mütter, Greise und Kinder. Gemeinsam mit Wrodun erwählte er aus der Menge zwanzig Junker als deren Begleiter und entsandte all diese zum Meeresspiegel, in das Siebengewölbe hinter dem Wasserfall von Stellamaris.

Nachdem sich einer nach dem Anderen durch Geheimgänge aus der Höhle entfernte, bestimmte er weitere fünfzig Bürger dazu, Waffenmaterialien zu beschaffen und in die Festungshalle zu bringen. Sein Plan war, das gesamte Volk zu rekrutieren und zu bewaffnen. Angedacht hatte er hierfür Muschelschalen und spitzes Gestein für Dolche, aber auch Felsbrocken als Wurfgeschosse.

 Anschließend besprach er sich mit Wrodun über die Beschaffenheit seines Heers, das im Lauf der Zeit rekrutiert und ausgebildet worden war. Tronador sah sich hinsichtlich dessen Auskünfte beruhigt und zufrieden. Die fünftausend Rekruten befanden sich im näheren Umfeld der Residenz voll bewaffnet zwischen Gestein und in Höhlen verborgen.

Schließlich bat er Fronkalis, gemeinsam mit dreißig weiteren Junkern den gesamten bereits gefertigten Waffenbestand in dessen Werkstatt beizubringen und diesen unter dem verbliebenen Volk zu verteilen.

Danach spielte er seinen Trumpf aus. Er rief seine Gemahlin und ihre vier Gefährtinnen Tamila, Megalis, Sirja und Tweja herbei. Mit deren Hilfe erhielten sämtliche Maiden, die noch verblieben waren die Aufgabe, starke und lange Algenstränge zu suchen und diese an Ort und Stelle zu bringen. Plötzlich war die Halle schlagartig leer!

Wispernd war Tronadors Vorhaben durch Avalonias Tiefen gegeistert, nachdem die Maiden verschwunden waren. Viertausend Meerjungfrauen drängelten sich nach deren Rückkehr um ihren König, um ihm das Gewünschte zu bringen. Er entsandte sie neu, bis er das Gefühl hatte, genügend Algenmaterial zusammen zu haben. Die Maiden wurden zudem von den verbliebenen Junkern begleitet, um mehr Zeit zu gewinnen. So war jeder beschäftigt.

Mit Hilfe von Tamilas Fertigkeiten gedachte Tronador, riesige Netze aus Algengarn knüpfen zu lassen, um beim Aufeinandertreffen der beiden Völker den Feind damit zu behindern. Die Idee des Königs stieß auf Begeisterung und ließ die Hoffnung auf einen Sieg um ein Vielfaches steigen.

Zum momentanen Zeitpunkt setzte er auf die Behäbigkeit der Kontrahenten, die dem Volk Avalonias genügend Spielraum einräumen würde, um sich zu rüsten. Doch er machte sich nichts vor: Ohne ein Quäntchen Glück war nichts zu machen.

Voraussetzung für das Gelingen seines strategischen Plans war die ausnahmslose Bewaffnung seines Volkes, die rechtzeitige Vollendung der Netze durch die Maiden sowie derer genügend, um so viele Hummer wie möglich dauerhaft mit den Netzen zu fangen. Der König gedachte, den Ausfall bei Rückkehr des letzten Trupps zu vollführen. Er sah die einzige Chance in einem Sturmangriff auf die Pterigotus von oben. Würde sich das Meervolk hingegen in die Defensive drängen lassen, dann wäre Avalonia verloren.

 

***

Ohne Tronadors Wissen herrschten in den Gewässern der Kraken ebenfalls fiebrige Aktivitäten. Jene wurden von Golmor ins Leben gerufen, um seinem Sohn zu Hilfe zu eilen. Er wusste sehr wohl von der Feindschaft der Hummer zum Meervolk, unter welcher letztendlich auch sein Volk zu leiden hatte.  Es war nicht das erste Mal, dass die Nautiloiden zwischen die Fronten geraten waren und sich ein Angriff der Pterigotus über deren Häupter ergoss. Tronadors Vater schwor sich jedoch, dass der zurück liegende Anschlag auf seine Artgenossen der letzte war.

Golmor war soeben im Begriff gewesen, in die Goldene Stadt zu reisen, um seinem Sohn die traurige Todesbotschaft ob seines Königsgetreuen Morius zu überbringen, als er das Ausmaß der Bedrohung von Avalonia erkannte. Er konnte gerade noch verhindern, entdeckt zu werden und kehrte unverzüglich in die Gewässer der Kraken zurück, um die Überlebenden seines Stamms zu mehreren Hilfstrupps zu koordinieren. Auf Umwegen sandte er zehn Kuriere zur Halle der Sieben, um einerseits Morius‘ Tod zu melden sowie andererseits die Ankunft der Nautiloiden anzukündigen. Er verließ sich darauf, dass seine Boten sich zu verteidigen wüssten und traf alle weiteren Vorbereitungen für den großen Kampf.

Währenddessen war der lebende Teppich der Monsterhummer vorläufig zum Stillstand gekommen. Nach wie vor brannte die Sonne hoch oben am Himmel, es war so heiß, dass auf den Kontinenten des Silurs Felsgestein zu Schmelzen begann. Selbst die Meere schienen zu brodeln.

Wie betäubt lagen die riesigen Tiere am Meeresgrund, die grellen Farben auf ihren Panzern hatten etliches an Schrecken verloren. Sie wirkten nur noch lächerlich, ihre plumpen Körper, die inmitten von Geröll und Seegras selbst wie totes Gefelse wirkten. Mitsamt Stacheln und Zangen hatten sie alle Glieder von sich gestreckt, die vollgefressenen Wänste waren knapp vor dem Bersten.

Sie hatten es übertrieben! Lediglich Forpex hatte seine eigene Gier gezähmt. Ohne seine tumben Gefährten würde er jedoch hilflos sein. Ihm war klar geworden, dass seine bevorzugten Opfer längst nicht mehr so wehrlos waren wie von ihm vermutet. Mit dem Einzug des Krakensohns hatte sich etliches in Avalonia verändert, und dies war selbst dem Urvater des Grauens nicht verborgen geblieben.

Forpex gab alles, um seine Rekruten in Bewegung zu setzen. Ein schrilles Gekreische erfüllte das Meer. Tobend bäumte er seinen riesigen, schwarzen Leib auf, seine langen Zangen wühlten in exzessiver Raserei den Meeresgrund auf. Seine acht ineinander aufgegliederten, dunkelroten Beine wedelten hektisch durch das Wasser, Fühler und Giftstachel zuckten wie Peitschen. Es nutzte ihn nicht das Geringste. Seine Appelle stießen auf Taubheit. Seine Todesarmee bevorzugte zu ruhen - und so gewann Avalonia wertvolle Zeit!

 

***

Die Schlacht

 

Bisher funktionierte in der Halle der Sieben alles reibungslos. Ein jeder der Verbliebenen, und dies waren mehr als genug, zog mit den anderen mit. Es gab nur wenige, die verzagen wollten.

Nach gründlicher Ermutigung wurden sie zu den jeweiligen Gruppen entlassen, um sich wieder ihren Missionen zu widmen. Auch die Bewaffnung des Volkes verlief zu Tronadors Zufriedenheit. Von seinen Vasallen wurden die Maiden und die wenigen Junker, welche mit leeren Händen aus den Asservatenkammern zurückgekehrt waren, mit Dolchen aus Muschelsplittern versorgt. Selbst die größte Herausforderung, die Herstellung der Netze, war beendet.

Die Maiden hatten hundertzwanzig derselben gefertigt. Sie waren groß genug, dass je vierzig der tollkühnsten Burschen sich ihrer annehmen konnten.

Somit wurde ein Großteil von Wroduns Heer mit den grobmaschigen, riesigen Gebilden aus Algengarn versorgt. Begleitet wurden die Hummerfänger von den tapfersten und erfahrensten Rekruten. Sobald sich das Flechtwerk von oben herab auf die Panzer der Pterigotus sänke, würde es ihre Aufgabe sein, sich auf diese zu stürzen und ihnen mit ihren Dolchen und Wurfgeschossen den Garaus zu machen.

Tronador war durchaus klar, dass es ein Himmelfahrtskommando war und jedem Einzelnen alles an Wagemut und Tapferkeit abverlangen würde. Gemeinsam mit Wroduns Truppen sollten an die fünfzehntausend Rekruten in die Schlacht gegen die Urhummer ziehen. Seine Hoffnung lag auf der Wirksamkeit der Dolche, dem Todesmut aller und seiner eigenen Kaltblütigkeit.

Genevieve würde ihr Übriges dazu tun, um alle anzuspornen. Deshalb beschloss er, selbst die Spitze des Bataillons zu bilden, wie es sich eines Heerführers geziemte. Seine Gemahlin sollte die Nachhut darstellen. Ihre Aufgabe würde es sein, Abtrünnige aufzufangen, falls es jener Maßnahme bedurfte.

Die Koordination seiner Armee schloss Tronador mit einer Versammlung in der Halle ab, wo die einzelnen Stoßtrupps eingeteilt wurden. Diejenigen welchen ohne militärischer Ausbildung, darunter auch die Maiden, legte er vorsorglich als Reserve fest, die bei Bedarf nachrücken würde.

 

***

Somit waren also alle Vorbereitungen abgeschlossen, sowohl in der Halle der Sieben als auch in den Gewässern der Kraken. Obwohl bisher alles gut verlaufen war, sollte der Schlag nicht ausbleiben. Noch bevor Tronador sein illustres Völkchen aus der Halle führen konnte, trafen Golmors Kuriere ein und überbrachten dem Königspaar die Kunde von Morius‘ Tod.

Die Hiobsbotschaft war auch dem Volk nicht verborgen geblieben. Der Großteil der Maiden und Junker wollte erneut verzagen, und selbst dem Königspaar wurde der Schneid abgekauft. Jegliche Ausbildung von Wroduns Haupttruppen schien vergeblich gewesen zu sein, da auch die ausgebildeten Rekruten voller Trauer waren. Wieder verließ alle der Mut. Diese Rückschläge bedeuteten einen immensen Zeitverlust, der den Riesenhummern ermöglichte, neue Kräfte zu schöpfen und ihren Vormarsch auf Avalonia umso grimmiger fortzusetzen.

Forpex hatte dafür gesorgt, dass seine Schergen aus ihren Fehlern lernten und untersagte ihnen jegliches sinnlose Metzeln, um zu verhindern, dass sie übersättigt und geschwächt darnieder lagen. Von der Gefahr in ihrem Rücken ahnten sie ebenso wenig wie von den Truppen, die ihnen entgegen zogen. Sonach rückte das riesige Heer der Pterigotus unter der Führung von Forpex weiterhin vor.

Das Meervolk erfuhr durch Golmors Kuriere von der Hilfestellung der Nautiloiden und ließ sich nicht mehr beirren. Zwischen den Gewässern der Kraken und Avalonia trafen sie auf ihren Feind. Tronadors Plan ging nur teilweise auf, denn er hatte die scharfen Zangen der Pterigotus außer Acht gelassen. Ein Großteil der Bestien konnte sich aus den Netzen befreien.

Die Kraken kamen wie von Golmor geplant Tronadors Truppen zu Hilfe, viele kamen ums Leben. Fürchterliches Wehgeschrei hallte durch den Yapetus, sowohl vonseiten des Meervolks und den Nautiloiden als auch von den Pterigotus. Es wurde selbst von jenen welchen vernommen, die hinter dem Wasserfall von Stellamaris in Sicherheit waren. Weinend und hilflos mussten all die Kinder, Greisen und Mütter mit anhören, wie ihre Gefährten mehr als tausend Meter unter ihnen ihr Leben ließen.

Ein weiterer glücklicher Zufall verhinderte, dass zwei Völker bis auf den letzten Junker, bis auf die letzte Maid ausgelöscht wurden. Als unerwarteter Stoßtrupp kamen den Kraken und Tronadors Truppen tausend Haie zu Hilfe, einer größer als der andere. Die Hummer mussten teuer für all die Schandtaten bezahlen, für all die Furcht, die sie jemals über alle Weltmeere verbreitet hatten.

Dies war zugleich der Beginn einer Freundschaft zwischen drei Völkern, die ewiglich dauern sollte, bis zum Tode füreinander einstehend, seien es Haie, das Meervolk oder die Kraken. Dennoch blieb eine traurige Bilanz: Von insgesamt sechzehntausend Nachfahren von Astril und Yoras ließen sechstausend ihr Leben. Ungefähr tausend der Überlebenden harrten ohne jegliche Hoffnung, auch nur einen ihrer Gefährten lebend wieder zu sehen, im Siebengewölbe von Stellamaris auf das Ende der Schlacht.

Genevieve hatte in dem blutigen Kampf ihre Eltern verloren. Sie und Tronador überlebten das Massaker. Megalis und Sirja, zwei ihrer Freundinnen, kamen ums Leben.

Von fünftausend Kraken bezahlten zweitausend teuer, von jenen ganz zu schweigen, welche die Opfer der Vorhut jener grausigen Monster wurden.

Golmor überlebte, mit ihm zwei seiner Söhne, Darko und Merjath. Die Haie kamen noch am Besten davon, von ihnen kamen lediglich hundert ums Leben. Forpex‘ schwarzes Herz hörte mit Schlagen auf, ebenso wie das von neuntausend weiteren Pterigotus.

Kein Leben lässt sich indessen gegen ein anderes aufwiegen, nicht so, wie es in Kriegen den Anschein hat. Ein jedes Wesen ist kostbar, möglicherweise sogar jene Bestien, die sich ohne jegliche Barmherzigkeit durch die Meere meuchelten. Waren nicht auch sie Geschöpfe des Universums? Zeigte nicht die Geschichte von Malinar, der ebenfalls dem Geschlecht der Monsterhummer entstammte, dass vermeintlich schwärzesten Seelen noch eine Umkehr zum Licht  möglich ist? Er liebte Tiankia, die Großmutter von Genevieve und wandte sich für sie von seinem Volk ab.

Er rief den Hass von Forpex hervor. Hass ist der Kreislauf des Todes. Tod ist die Dunkelheit, die Finsternis das Ende des Ewigen Lichts. Das Verlöschen des Lichts ist die Vernichtung der Liebe. Ohne Liebe stirbt indessen das Leben ...

 

 

Zwischenbilanz

Der Kampf gegen die Pterigotus bedeutete zugleich einen Schnitt in der Historie Avalonias und läutete eine neue Ära ein. Nach der Schlacht scharte Tronador die Überlebenden inklusive derer, die in Stellamaris verblieben waren, um sich. Gemeinsam mit dem Volk seines Vaters und den überraschenden Gehilfen, den Haien, zogen die Truppen in angemessener Feierlichkeit, mit dem Königspaar an der Spitze, in die Halle der Sieben ein. Unter Androhung von Strafe untersagte Tronador seinen Untertanen, sich mit Trophäen der gefallenen Hummer zu bereichern.

Die Erzfeinde der Nymphen waren letztendlich erfolgreich zurück geschlagen worden. Solange Avalonia bestand, wurde kein Pterigotus mehr im Yapetus gesichtet. Im Anbetracht der Opfer aus den eigenen Reihen waren Freude und Jubel über den Sieg jedoch eher verhalten. Dennoch hielten Genevieve und Tronador anrührende Dankesreden, sowohl an ihr Volk als auch an die Gehilfen, ohne die jene Schlacht niemals zu gewinnen gewesen wäre. Die Toten, welcher Art sie auch waren, wurden angemessen betrauert und auf dem Schlachtfeld unter Geröll und Findlingen bestattet.

Unwesentlich später wurde eine weitere, familiäre Trauerfeier in Gedenken an die dahin geschiedenen Angehörigen Genevieves und für Morius anberaumt. Nur schwer konnten sich das Königspaar und ihre Gefolgschaft über ihren Verlust hinweg trösten.

Leid schweißt jedoch zusammen, und so hatte Avalonia bald darauf ein neues Liebespaar: Marianis und Fronkalis, die beiden engsten Vertrauten von Genevieve und Tronador. Somit wurde das Band der Freundschaft zwischen den Verbündeten noch stärker.

In Gedenken an Aquaria, die Urmutter aller Mollusken, wurde die Goldene Stadt nach ihr benannt. In der Folgezeit stieg die Geburtenrate in Avalonia drastisch an, selbst kinderlose Paare schlossen sich dem Boom an.

Es schien, als würden die Nixen ihre Verluste bei der Schlacht so schnell wie möglich aufholen und sogar noch übertreffen zu wollen. Nach mehreren Jahren hatte Avalonia achttausend neue Einwohner mehr. Das Königspaar selbst wartete jedoch noch etwas länger auf Nachwuchs!

Drittes Buch

 

 

Du bist das Licht meines Lebens

 Avalonia;  Du Insel wildester Träume

auf der die Liebe ihre Herberge hat,

oh bring mir jenen wieder zurück,

der Deinem Zauber entfloh

 

Heile unsere gebrochenen Herzen

lass Sehnsüchte in ihm wachsen

sende ihm Liebesgrüße zu

so dass er nicht mehr entrinnt.

 

Über uns ein schillernder Regenbogen, das Tor Avalonias

Wattebäusche am Himmel segeln über das Meer

Goldüberglühte Gipfel, üppig grüne Täler und Wiesen

Silberne Wasservorhänge fallen rauschend über Gestein

 

Ein weißer Sandstrand, mit reinweißen Muscheln bedeckt

schimmernde Perlen lugen aus ihrer Seele hervor

Farne ranken sich am Saume der Berge entlang

Die Urkraft der Brandung dringt an unser Gehör

 

Wir, die wir Hand in Hand am Strand entlang laufen

lachend wie Kinder, glücklich, beieinander zu sein

leuchtende Augen, Dein Blick sucht mich zärtlich

Die Sonne zaubert Gold in unsere Gesichter

 

Lässt das Glück offenbar für die Himmelsmacht werden

dessen Auge wohlwollend auf uns Liebenden ruht

vergessen ist all die Pein, der Trennungsschmerz

in liebendem Einklang vereint schlagen unsere Herzen

 

Unsere Augen treffen sich leuchtend wieder und wieder

Begehren flammt schüchtern in Deinem Blicke auf

zärtlich streicht meine Hand durch Dein Haar

flüsternd raunt der Wind durch das Paradies

 

Sendet unsere Liebesbotschaft über die Welt

lässt alle irdenen Paare lauschend innehalten

um der Liebe ihr Recht angedeihen zu lassen

wundervolle, mysteriöse Himmelsmacht, Du!

 

Barfuß im Sand, von kristallenem Wasser umspült

Lachend weichen wir vor den kleinen Wellen zurück

lassen uns in den gemeinsamen Traum hinein fallen

der die Welt ringsum versinken lässt; die Sinne verwirrt

 

Deine Augen geschlossen, das Antlitz entspannt

ein sanftes Lächeln liegt entrückt auf Deinen Lippen

Ein verträumter Schleier verhüllt meinen Blick

der so zärtlich wie Engelshand auf Dir ruht

 

Leise raunst Du mir zu: Je t'aime, mon amour!

Perlen des Glücks rinnen über mein Antlitz

benetzen Deine Wangen, die Lider, die Stirn

Deine starken Arme fangen mich endlich auf

 

Du bist das Licht meines Lebens!

Adravanta

Volk Avalonias, lauschet all‘ glücklicher Kunde,

die sie allerorts raunen, von Mund zu Munde.

Dem Königspaar ward ein Maidlein geboren

und  zu unserer Thronfolgerin auserkoren.

 

 ***

Die schrecklichen Ereignisse in Avalonia hinterließen lange tiefe Spuren in den Herzen des Meervolks. Ungerührt ob ihrer Seelenqualen zog Hjordis - die Mutter Erde - viele Runden um  Solveigh, die Sonne. Der Kreislauf des Lebens stand selbst im Angesicht der Trauer nicht still.

Die Zeit der Tränen wollte über Jahre nicht enden. Eines Tages jedoch beschlossen die betroffenen Völker, in ihr altes Leben zurück zu kehren und die Schatten des Todes von sich zu weisen.

Wiederum erfüllte Kindergelächter die Goldene Stadt und läutete eine neue Ära der Freude ein. Noch einmal blickten die Maiden und Junker von Avalonia wehmütig zu ihren verlorenen Gefährten zurück, winkten ihnen verabschiedend zu und hießen die Neuankömmlinge herzlich willkommen.

Fortan verlor die Angst ihre Macht, und das Licht der Hoffnung kehrte zurück. Dankbar sprangen glückliche Eltern in der Bucht von Stellamaris huldigend der Sonne entgegen. Die Schlacht gegen die Urhummer wurde indessen zu einer Legende und symbolisierte den immerwährenden Kampf des Guten gegen das Grauen. Schließlich bekam auch der Tod einen Namen: Exaltor - der Fürst der Ewigen Nacht.

Tronadors einstige Kampfgefährten - die Nautiloiden - eiferten dem Meervolk nach und ernannten seinen Vater Golmor zu ihrem Tribun. Unter seiner Führung beseitigten sie die äußeren Spuren der Schlacht und gedachten abschließend der Toten. Auch die dezimierte Population der Urzeitkraken erholte sich schnell, und sie pflegten weiterhin Freundschaft zu den Bürgern der Goldenden Stadt.

 

***

Wiederaufbau

 

Die Schlacht in den Freien Gewässern hinterließ Schneisen der Zerstörung im Yapetus. Unter Tronadors Führung machten sich die Völker an den Wiederaufbau. Unermüdlich bot er sich an, um in all den Jahren der Not mit seinem Fürspruch an der Seite seiner Vasallen zu sein.

Schreckensbilder von blutigem Geröll und zerstörten Gewölben suchten ihn in seinen Träumen heim, doch geflissentlich überhörte der König die Schreie seiner eigenen Seele. Nach außen hin gab er sich stark, ohne auch nur ein Wort der Verzweiflung über seine Lippen kommen zu lassen.

 Oftmals kehrte jedoch selbst er, der tapfere  König, resigniert in die weichen Arme seiner Gemahlin zurück, um Trost und neue Kraft bei ihr zu finden. Genevieve war für ihn ein ewiglich sprudelnder Quell voller Liebe und Stärke, niemals zuvor hatte er ihrer in so starkem Maße bedurft.

Die Königin von Avalonia war hingegen entkräftet, ohne dass Tronador dies bemerkte. Mit flammenden Reden hatte sie jenerzeit das Volk zum Kampf an seiner Seite aufgerufen, war selbst mit in die Schlacht gezogen und hatte ebenso wie seine Rekruten gegen die Übermacht des Feindes gekämpft. All diejenigen, für die Genevieve ihr Leben gegeben hätte, hatten sich der Macht von Forpex entzogen und weilten nicht mehr in den Reihen des avalonischen Volks. Ihre Lieben hatten das Regenbogen-Portal von Stellamaris durchquert, Genevieve blieb derweil trauernd zurück.

Trotz aller Qualen und Trauer kannte die Königin ihren Platz an der Seite des Volkes sehr wohl. Die Schatten der Vergangenheit lasteten schwer auf ihrer Seele, und dennoch: Ohne ein Wort der Klage unterstützte sie ihren Gemahl in all seinen Taten, die zum Wohle Avalonias geschahen. Gemeinsam setzten sie Zeichen der Hoffnung und beriefen im Laufe der Zeit weitere Getreue an ihre Seite.

So wurden zumindest die sichtbaren Lücken in den Reihen des Hofstaats geschlossen und weitere Sitze an der Regierungstafel errichtet. Die einstigen Plätze von Morius und Tikar - Genevieves Vater - blieben dennoch bis in alle Zeit leer, um den beiden Verblichenen die Treue zu halten. An Stelle von Morius wurde Timorioth,  ein einstiger kleiner Krieger zum Manne gereift, als Kurier und Kundschafter an die Seite des Königs berufen. Während einer feierlichen Andacht wurden Fronkalis und Marianis vermählt.

Zu jenem Zeitpunkt erstrahlte die Goldene Stadt wieder in ihrem früheren Glanz. Die beschädigten Eingangssäulen der Wohnhöhlen wurden erneuert. Wo einstens blutgetränkte Girlanden aus Nixenhaar wie Kriegsbanner durch den Ozean wehten, wimmelte es von neuem Leben.

All jene Wesen, die ehedem zwischen die Fronten gerieten, kehrten in ihre Heimat zurück und bevölkerten Avalonia an der Seite des Meervolks. Farbenfroher denn je leuchtete der Urozean und ließ keinen Raum für böse Dämonen.

 

***

Unerfüllte Wünsche

 

Genevieve und Tronador entrichteten für deren Entweichen indessen teuren Tribut. Während in vielen Gewölben das Lachen kleiner Bürgerlein Einzug hielt, blieb die Halle der Sieben verwaist. Wie ein Geist schwebte Avalonias Königin durch ihr Domizil, verweilte vor dem Schrein ihrer Vorfahren und flehte um ihren Beistand.

Tief in sich verborgen spürte Tronador, wie seine Gemahlin ihm mehr und mehr entglitt. Verzweifelt versuchte er, sie zu verstehen und sie zu trösten, was ihm nicht gelang. Oftmals trog sie ihn, verschwieg ihm ihren Kummer und suchte einsamen Trost in der Geborgenheit ihrer Zuflucht.

Dort, am Vulkan, ließ sie ihren Tränen freien Lauf und ließ die Jahre, in denen Avalonia wieder zu Kräften kam, an sich vorüber ziehen. Die Bestimmung hatte die Liebe zu ihrem Gemahl nicht belohnt, so sehr sie beide es sich auch wünschten. In unbeobachteten Momenten ergriff sie oftmals die Wut, wenn sie durch Avalonia reiste und mit ansehen musste, wie Mütter mit glücklich strahlendem Antlitz ihren Nachwuchs in bunt schillernden, transparenten Blubberlaichblasen durch den Ozean stießen. Allein in ihren Gemächern strich sie sich nach solchen vorangegangenen Begegnungen über ihren Leib und suchte nach Leben darin, doch die Liebesmomente mit ihrem Gemahl blieben ohne Erfolg.

Das Meervolk bangte mit ihren beiden Regenten. Insbesondere Marianis führte lange Gespräche mit ihrer Freundin, versuchte, diese zu trösten und dem Königspaar beizustehen. Schließlich gaben Genevieve und Tronador offiziell ihren Kinderwunsch auf. Gemeinsam beschlossen sie, dem Schicksal freien Lauf zu lassen. Der König frönte seinen Forschungen und reiste weit durch die Meere. Wenn seine Gemahlin Muße hatte, begleitete sie ihn, doch insgeheim litt sie weiterhin für sich allein.

Im siebten Jahr nach der Schlacht erflehte Genevieve den himmlischen Segen. Kurz zuvor hatte sie Marianis besucht, die ihr geraten hatte, die Fruchtbarkeit von Stellamaris zu nutzen. "Beide seid Ihr edlen Geblüts", hatte ihre engste Vertraute, die selbst schwanger war, zu ihr gesagt. "Möglicherweise muss es bei Euch etwas Besonderes sein. Nutzt Solveighs Magie, wer weiß schon, welche Aufgaben das Universum Euch und Eurem Gemahl noch zugedacht hat?"

"Was genau ratet Ihr mir, Marianis? Ihr wisst, dass bisher alles vergeblich war, und es mangelte uns nicht an Gelegenheit. Nie gab die Bestimmung ein Zeichen des guten Willens oder gar der Bereitschaft." Bitter verzog Genevieve ihr Gesicht und musterte verstohlen deren geschwollenen Leib. "Wie ... fühlt es sich an?", fügte sie stockend hinzu.

"Als hätte ich zuviel gegessen", lachte Marianis auf. "Allmählich befürchte ich, dass ich mich verwandle." Sie wurde ernst. "Nun wieder zu Euch, Genevieve. Reist mit Eurem Gemahl nach Stellamaris, empfehle ich Euch. Badet dort unter Solveighs Obhut im Wasserfall. Im Siebengewölbe seid Ihr unter Euch, und es ist ein heiliger Ort."

Genevieve schwieg lange. Nachdenklich starrte sie vor sich hin, Angst in ihrem Herzen. Sie fürchtete sich davor, erneut zu hoffen. Stünde sie nicht wieder mit leeren Händen vor Tronador und ihrem Volk, wenn sie sich irrte?

 Ihre Vertraute erriet ihre Gedanken. "Was habt Ihr zu verlieren?", fragte sie. "Es ist nicht Eure Art, zu verzagen. Genießt die Liebesmomente mit Eurem Gemahl ohne Furcht."

"Vielleicht habt Ihr recht", hatte Genevieve leicht errötend geantwortet, Tronadors Bildnis ganz klar vor Augen. Fragen, die sie ihrer Freundin auf gar keinen Fall unterbreiten konnte, tobten in ihr, verbunden mit seltsam sinnlichen Assoziationen, die ihr unrealistisch erschienen.

Unwillkürlich griffen ihre Hände haltsuchend nach  der Muschel  an ihrem Hals, so als ob sie von ihr erhoffe, ihren Gemahl sofort an ihre Seite zu bringen. Tronador war hingegen in den Gewässern der Kraken und nicht so bald zu erwarten. Schnell hatte sie sich verabschiedet, mit Sehnsucht im Herzen. Ihn herbeizuzaubern, würde ihr nicht gelingen, sagte sie sich, während sie zur Halle der Sieben eilte, um sich mit Marianis' Vorschlägen auseinanderzusetzen. Gegen ihren Willen wurde ihr leicht ums Herz. Auf einmal erschien ihr der Ozean strahlend und hell.

Mit einem warmen Gefühl der Rührung betrachtete sie die illustre Gesellschaft junger Mütter, die sich in einem Höhlenportal versammelt hatte, um gemeinsam mit ihren Kindern zu spielen. Die Kleinsten waren noch in große Blasen gebettet, die schillerten wie der Regenbogen über den Gipfeln von Stellamaris.

Durch die dünne Außenmembran hörte sie das Jauchzen der Nixlein, wenn die Mutter das runde Gebilde wie einen Ball durch die Gewässer warf. Die Kleinen kugelten über den Boden, ringelten sich im Inneren um die eigene Achse und hatten definitiv Spaß, wie Genevieve an deren lachenden Gesichtern bemerkte.

Nickend grüßte sie die Frauen und verweilte für einen Moment, um zu genießen. Ein kleiner Junge kam auf sie zu, mit seiner Mutter im Schlepptau. Offenbar war das ein wilder Bursche, denn an seinem Oberkörper befand sich ein Halfter aus Algengarn. Er zerrte und zog an seinem Geschirr, dass die Frau hinter ihm kaum noch mitkam. Knapp vor ihr bremste er ab und stupste ihr mit dem Kopf in den Bauch. „Bist du die Königin?“, fragte er.

Sie fing ihn auf. „Nicht so schnell, Wildfang.“ Seine Mutter folgte ihm mit rotem Gesicht und verbeugte sich leicht. „Verzeiht, Gebenedeite. Er ist kaum zu bändigen.“

Der Kleine schnellte zur Seite und fing ein Seepferd. Stolz zeigte er es den beiden Frauen. „Wenn es größer wäre, könnte ich darauf sitzen.“

Genevieve lachte herzlich. „Euer Junkerlein ist wohlgeraten. Macht Euch keine Gedanken“, antwortete sie der peinlich Berührten. Diese zog an dem Seil des Geschirrs. Als sie ihn neben sich hatte, umarmte sie ihn. "Er ist der Jüngere von zweien. Meine Tochter steht kurz vor der Vermählung."

„Samira ist Eure Tochter? Hübsch ist sie, ganz die Mutter.“ Wieder stand ein besonderes Ereignis bevor. Vermählungen in der Goldenen Stadt waren selten und wurden in der Residenz durchgeführt. Die beiden Souveräne besetzten auch dieses Amt. Deshalb war Genevieve sofort im Bilde. Samira war rotlockig mit Pausbäckchen, fast noch ein Kind, jedoch eine propere Maid. Der Bräutigam hingegen war ungefähr in Tronadors Alter.

Ihre Gesprächspartnerin errötete wieder und verneigte sich mit über der Brust verkreuzten Händen. „Gebenedeite Königin Avalonias, Ihr schmeichelt mir, dass mir das Herz überläuft. Ich danke Euch. Die Trauung – werdet Ihr sie durchführen oder Euer Gemahl?“

„Ganz nach Eurem Gutdünken, werteste Freundin. Es soll Euer Fest sein. Tronador ist noch auf Reisen, ist jedoch rechtzeitig zurück.“ Wehmütig dachte Genevieve an ihre eigene Feier zurück, bei der sie zu Avalonias Regentin gekürt worden war. Soviel war seitdem geschehen ...

Der kleine Junker kam wieder auf die Königin zu. „Ihr sollt das machen. Ihr redet so schön.“ Er schlang Genevieve beide Arme um ihren Hals und sah sie an. Sie lächelte zärtlich. „Unser König hält indessen auch schöne Reden“, antwortete sie dem Nix und stupste ihn auf die Nase.

Mittlerweile wurden die anderen Mütter auf das Gespräch aufmerksam und kamen hinzu. Plötzlich war Genevieve umringt von lauter Blubberlaichblasen, die lustig durch den Ozean schwebten. Im Inneren wogte noch das lebensspendende Nass.

Einer der transparenten Bälle sank auf den Boden und blieb dort liegen. Eine kleine Meermaid klopfte und stemmte sich mit beiden Händen von innen gegen die Wand, begann zu trommeln und stieß mit ihrem Köpflein dagegen. Neugierig sah die Königin zu, wie die Membran zerriss und die Kleine nach draußen kam. Sie schwamm sofort zu ihrer Mutter und klammerte sich an ihr fest.

Die Meerjungfrau klemmte sich das Kind unter den Arm und eilte mit ihr davon. Die zusammengefallene Blubberlaichblase lag verschrumpelt und von Fischen umringt zwischen Seegras und Geröll und wurde grau. Binnen Kurzem war sie verschwunden, von einem Schwarm Zyklopias - einäugigen Fischen, die Aasfresser waren - verschlungen. Einige Spätzünder balgten sich noch um den leeren Platz.

 

***

Als Genevieve wieder in der Halle der Sieben ankam, fühlte sie sich erschöpft. Es waren Momente voller aufregender Eindrücke gewesen, die sie gern mit Tronador geteilt hätte. Wieder einmal fühlte sie sich geliebt, aufgenommen mit weit geöffneten Armen. Die Begegnung mit den Müttern und Ammen der jungen Wesen, die Avalonias Zukunft sein sollten, war erfrischend gewesen, und sie hatte sehr viel gelernt. Dennoch hatte sie auch Marianis’ Worte im Ohr: „Ihr seid edlen Geblüts. Vielleicht soll es bei Euch etwas Besonderes sein.“

So lange die schlimme Vergangenheit der Goldenen Stadt hinter ihnen allen lag: Genevieve wollte und konnte die ihr gestellte Lebensaufgabe noch immer nicht begreifen. Was war an ihr anders, und was an Tronador? Weshalb konnten sie nicht einfach dazu gehören, ohne Wenn und Aber, ohne auf Etiketten achten zu müssen, ohne sich bei jeder Bewegung fragen zu müssen, was sich gehörte?

‚Das Universum hat es so gewollt’, gab sie sich selbst die Antwort. Alles war so gekommen, wie ihr einst vom Himmlischen Vater prophezeit worden war. Doch war es nicht einfach nur ihre innere Stimme gewesen, die ihr diktierte? Konnte ein irdisches Wesen die Zukunft erfühlen?

Genevieve wusste es nicht und schalt sich selbst, dass sie es wagte, zu zweifeln. Dennoch kam sie nicht dagegen an. Sie fühlte sich wie ein Spielball des Schicksals, zumal sie sich den Anforderungen ihres Amtes nicht mehr gewachsen sah. Alles, was sie sich wünschte, war eine Familie, mit der sie glücklich sein durfte, ohne einer Gottesmission, von der das Wohl und Wehe ihres Volks abhängig war. Weshalb gehörte ein Kind nicht einfach dazu? War das von der Natur letztendlich nicht so gewollt?

Warm fühlte sie die Muschel auf ihrer Haut, während sie den Thronsaal durchquerte. Nachdenklich verharrte sie vor Aquarias Schrein. Bei Astril und Yoras war es so einfach gewesen, wennauch bestimmt nicht weniger schmerzlich. Sie hatten einander geliebt, und unzählig viele Nachkommen stammten von ihnen ab. Sollte Genevieve diejenige sein, durch die jene lange Kette von Abkömmlingen gar enden sollte? Das wäre, als würde der einzige Quell, der überlebensnotwendige Liebe spendet, für immer versiegen.

Abrupt wandte sie sich ab und begab sich in ihre Gemächer. Während sie die nachtschwarzen Gewölbe durchquerte, schalt sie sich selbst, dass sie nun einmal die Königin von Avalonia sei. ‚Finde dich damit ab’, mahnte sie ihre bohrende Stimme des Herzens.

Schließlich kuschelte sie sich in ihrer Schlafnische traurig in ein üppig verzweigtes Korallenbett. In rührender Hilflosigkeit rollte Genevieve ihren Körper in sich zusammen und starrte in eine imaginäre Ferne, in Gedanken an ihren Gemahl. Ihr sehnsüchtiger Ruf nahm Konturen an und wurde stärker. Das Wasser um sie herum begann sich zu ringeln, vibrierte und trug ihn hinfort. Unruhig huschten Laternenfische um sie herum und beleuchteten ihren Schlafplatz mit goldenem Licht. Ein Wispern erfüllte den Raum.

Lange lauschte sie, seltsam wirre Bilder zogen an ihr vorbei. Ihr war, als befände sie sich auf Stellamaris in einer der sieben Höhlen hinter dem Wasserfall. Eine weiße Muschel, so groß wie das gesamte Gewölbe, tat sich vor ihr auf und enthüllte eine bildschöne Frau. Als sich diese aus Aquarias Gehäuse erhob, ragte sie bis zum Firmament. Die Göttin war nackt und trug die Erdkugel in ihrer Hand.

Neben ihr erschienen Astril und Yoras in güldenem Lichtgewand. Sie schwebten an Genevieves Seite, nahmen sie in ihre Mitte und führten sie vor ihre Herrin. Venus sprach: „Königin Avalonias, die Ihr seid, sollt etwas über die Zukunft der Erde erfahren. Diese liegt in sehr weiter Ferne. Ob sich die Prophezeiung erfüllt, habt Ihr in der Hand.“

Die Höhlengewässer wichen vor der Göttin zurück. Ehrfürchtig warf sich Genevieve vor ihr zu Boden, das Antlitz verbergend. Venus bückte sich zu ihr herab und nahm sie bei der Hand. „Hebt Euren Blick, Genevieve. Ich bin nicht mehr, als Ihr selbst es seid. Meines ist nur ein anderes Reich, das Euch eines Tages in selber Weise gehört.“ Süßer Gesang begleitete ihre Worte, während weich schimmernder Sternenglanz das Gewölbe erfüllte.

Die Nixe gehorchte und sah die Erdkugel vor sich. Auf ihr wimmelte es von fremdem Leben, wie sie es noch nie sah. Ihr Verstand erriet die Bedeutung: Ein reich gedeckter Tisch der Mutter Natur zeigte ihr, wie es sein sollte nach dem Willen des Universums. Es war eine Welt voller herrlicher Farben, voll üppigem Grün und bunten Blumen. Stellamaris war nur ein Teil davon, und die Herrlichkeit der Insel zeigte sich allüberall.

Fragend sah die Königin ihre Urahnen an. „Was ist meine Mission?“ Sie wagte es nicht, die gehauchten Worte direkt an die Göttin zu richten. Sie erschien ihr so gewaltig und wunderschön, dass es ihr nahezu die Sprache verschlug.

 

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„Nichts leichter als das: Gebäre deinem König ein Kind.“ Das Echo hallte in Genevieves Ohren, als sie erwachte. „Gebäre deinem König ein Kind …“ schallte es laut. „Gebäre deinem König ein Kind …“, leiser und leiser. „Gebäre deinem König ein Kind …“, bis es verstummte.

Verwirrt öffnete sie ihre Augen und sah sich um. Sie befand sich nicht mehr in der Halle der Sieben. Unter ihr murmelte Wasser, und sie lag in zwei Metern Höhe auf einem Felspodest. Genevieve blickte hinab und sah ein Bildnis im Spiegel des mäandernden Stroms, der ihr zu Füßen lag. Ihr silbernes Haar floss herab und berührte die Oberfläche des Wassers. Staunenden Blickes betrachtete sie die Frau unter sich. Türkisfarbene Augen blickten zu ihr zurück. Das Antlitz, das sie sah, war sehr schön und ähnelte der Göttin Venus aus ihrem Erlebnis, während sie schlief.

‚War es ein Traum?’, fragte sie sich. ‚Was ist das für ein Ort?’ Genevieve wandte den Kopf nach links und erblickte den silbern glitzernden Gischtvorhang des Wasserfalls. ‚Das Siebengewölbe …’

Ihre Erinnerung kehrte allmählich zurück, und sie war sich sicher: Ihr letzter Verbleib war in der Halle der Sieben gewesen. Wie kam sie hierher?

Ohne zu wissen, weshalb sie es tat, ertastete sie ihre silbrige Mähne und wrang sie aus. Perlen fielen aus ihren Haaren und plätscherten hinab in den Fluss. Die zarten Geräusche klangen wie eine fremde Musik. Fasziniert lauschte sie ins Innere der Höhle hinein und sah erneut in den Spiegel, der horizontal unter ihr lag. „Die Göttin“, wisperte sie.

„Alle Frauen sind Götter“, erwiderte ihr eine Stimme. Sie klang wie die Tronadors, doch konnte es sein? Er weilte in den Gewässern der Kraken …

Das Rauschen des Falls wurde lauter. Genevieve spähte hinüber und hielt den Atem an, als der Vorhang sich teilte. Starr wie eine Statue verharrte er zwischen den Kaskaden der fallenden Wässer. Sein Blick ruhte voller Leidenschaft auf ihrer Gestalt.

„Du bist wunderschön“, raunte er. „Sieh hin, was geschieht.“ Mit einem Dreizack deutete er auf ihre Flossen. Genevieve folgte seiner weisenden Geste und sah hinab auf ihren Unterleib.

Ihre Augen weiteten sich voller Erstaunen: Die zweigeteilten Flossen schimmerten in der Höhlendämmerung und changierten zu einem Weiß, das war wie das Licht. Zugleich schien es, als käme Solveigh zu ihnen herein: Das Gewölbe erstrahlte in güldenem Schein.

Die Gewässer des Stroms schwanden durch das Portal des Falls von Stellamaris. Durch die letzten Wogen schritt ihr Gemahl auf sie zu, und sie beobachtete, wie seine Flossen verschwanden.

Als er das Podest, auf dem sie seiner harrte, schließlich erklomm, waren an deren Stelle zwei muskulöse Beine getreten. Ihr gefiel, was sie sah.

Hoch ragte er vor ihr auf, und das Wasser tropfte an seinem nackten Körper herab. Seine Tentakel ringelten sich wie Schlangen um sein Haupt und umschmeichelten es wie eine Krone. Tronador lehnte seinen Dreizack gegen die Höhlenwand und ging vor ihr auf die Knie. „Königin meines Herzens, Ihr habt mich gerufen.  Nun bin ich hier, wie Ihr seht.“ Seine Worte klangen feierlich, als bäte er als Vasall um Audienz.

Stumm sah sie ihn an. Ihre Augen glänzten wie Edelsteine, als sie sich aufrichtete und sein Antlitz mit beiden Händen umschlang. „Ihr … wirkt so fremd, mein Gemahl“, flüsterte sie. „Erhebt Euch, ich will Euch betrachten.“

Er war ihr zu Willen und genoss ihren fast ehrfürchtigen Blick. Zaghaft erhob sie ihre Finger und tastete sich an seinen Schenkeln entlang. „Ist es ein Traum?“, flüsterte sie. „Etwas ist mit uns geschehen, das uns zu anderen Wesen macht. Sind wir zu Göttern geworden?“ Ihre Hand wurde keck und glitt zu seinem Geschlecht. „Alles ist anders an Euch.“ Die intime Anrede wollte ihr nicht über die Lippen, zu übermächtig erschien ihr das Fremde in ihm.

Sanft hielt er sie von weiteren Forschungen ab. „Du erblickst mich nur in einem anderen Licht. Ich hatte einen Traum, während ich schlief. Du warst bei mir, und doch warst du fern. Du ragtest hoch vor mir auf, so dass ich schrumpfte. Gegen deine Größe wurde ich so klein wie ein Fisch. Es schien, als trügest du das Firmament. Doch plötzlich sah ich die Wahrheit: Ich sah die Herrin des Universums. Sie schlummert in dir.“

Er kniete sich vor sie hin und berührte leicht ihren Leib. „Mein Traum verriet mir so vieles.“ Seine Hand glitt zu ihren Flossen. Sobald Tronador diese berührte, wurden sie transparent und offenbarten Genevieve, dass mit ihr dasselbe geschah.

„Ihr seid … vollkommen“, flüsterte Tronador, nachdem die Verwandlung vollzogen war. Nackt lag sie vor ihm. Ihre Haut schimmerte wie mit feinstem Sternenstaub überzogen. „Was ist mit uns nur geschehen?“ Er legte sich neben sie und berührte zart ihre Scham. Ihm schien es, als würden fremde Mächte ihn steuern.

„Was Ihr gesehen habt in Eurem Traum, mein Herzensgemahl“, hörte er Genevieve flüstern, „war nicht ich. Ihr saht die Göttin. Ich weiß viel über sie, Astril und Yoras hatten mir in meiner Kindheit alles erzählt.“ Sie legte sich zurück und bot sich ihm dar.

Staunend bewunderte er die rosige Orchidee, die vor seinen Augen erblühte. Ein süßer Duft ging von ihr aus. Tronador vergrub sein Gesicht im Schoß des Lebens, wie es sich ihm offenbarte. In seinen Lenden toste das Blut wie kochende Lava. „Treibt deine Göttin mit uns ein grausames Spiel oder sind wir noch immer träumend?“, seufzte er dumpf und sog ihren Geschmack in sich auf. „Mir ist’s, als wären wir in einer anderen Welt.“

Genevieve spürte seinen heißen Atem auf ihrer empfindsamen Haut und bäumte sich auf. Es war alles so neu, dass sie erschrak. Haltsuchend krallte sie sich an seinem Kopf fest und spürte etwas Weiches, Fülliges in ihrer Hand. Überrascht richtete sie sich halb auf und starrte auf die schwarze Haarpracht, die sein Haupt plötzlich schmückte. War das wirklich noch der König des Meervolks, der ihres Herzens? Wurde ihr gar vom Universum ein Geist an ihre Seite gesandt, um sie zu prüfen?

Willenlos ließ sie sich fallen und griff mit beiden Händen nach ihrer Muschel. Wie gern würde sie die neue Erfahrung genießen, doch sie konnte es nicht. Ihr Herz war voller Fragen und Zweifel.

Tronador spürte, wie sie erstarrte. Irritiert sah er auf. Seine Gemahlin lag bleich und mit geschlossenen Augen vor ihm. Ihre silbernen Strähnen fächerten sich vor seinem Blick auf und füllten die obere Hälfte der Felsnische aus. Entsetzt legte er seine Lippen auf ihren Mund und suchte nach ihrem Atem. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn und tropften auf ihre Wangen.

Genevieve schlug die Augen auf. „Ihr weint?“, fragte sie ihn. Ihre Stimme klang so kindlich und rein, dass es ihn rührte. Sein Blick verschleierte sich voller Zärtlichkeit. „Nein, mein Lieb, mir war nur heiß“, raunte er und schmiegte sich an ihr Gesicht. Er hauchte kleine Küsse auf ihre Lider, dann stand er auf und streckte ihr seine Hand entgegen. „Erhebe dich, Genevieve, ich will dir ein Wunderland zeigen.“ Unsicher sah sie ihn an. „Ich … kann nicht“, flüsterte sie und musterte verstohlen seine Leibesmitte. So offen hatte sie ihn noch niemals gesehen.

Sie fragte sich, wie es bei den Anderen war: Sie kannte nur das nüchterne Laichen von Fischen.

Unbewusst räkelte sie sich, als wolle sie ihn herausfordern. Ihre Wimpern zeichneten zarte Schatten auf ihrem Antlitz. Ihre Hand streckte sich ihm entgegen und berührte sein Bein. Ganz langsam fuhr sie die winzigen Furchen seiner Kniescheibe nach.

„Ich möchte dieses Wunder erforschen, das mit uns geschah“, wisperte sie so leise, dass er sie kaum verstand. Ihre Finger glitten über seine Waden und spielten mit seinen Zehen. Fasziniert beobachtete Genevieve, wie sich die feinen Härchen an seinen Beinen leicht krümmten.

Tronador versuchte, sich gegen ihren Zauber zu wehren und die Kontrolle zurückzuerlangen. Auch für ihn war alles fremd, und er traute seinem eigenen Körper nicht. Als er jedoch in das verklärte Antlitz seiner Gemahlin sah, wischte er sein Zaudern hinfort.

Genevieve kniete sich vor ihn hin und lehnte ihren Kopf an seine Schenkel. Ihr Atem war wie ein versengender Hauch in der Kühle der Höhle. Seine Erregung nahm überhand, und seine Beine sackten leicht in sich zusammen. „Genevieve …“, stöhnte er und griff in ihre Haare, in der Hoffnung, Halt darin zu finden.

Sie krallte ihre beiden Hände in seinen festen Po und drängte ihren Gemahl gegen die Nischenwand, um ihn vor einem Sturz zu bewahren. Als er sicher stand, umfasste sie sein Geschlecht wie einen kostbaren Kelch. Andächtig verharrte sie, ihren fragenden Blick zu Tronadors Antlitz erhoben wie im Gebet. Selbstvergessen wühlte er in ihren Haaren und lehnte den Kopf gegen die Wand. Sein nachtschwarzes Haar ringelte sich auf seinen Schultern.

Er schloss die Augen und lauschte verwundert in sich hinein. „Erinnert Ihr Euch, Königin Avalonias …“, begann er. Seine Stimme verlor sich hallend im Siebengewölbe. „Erinnert Ihr Euch an den Vormarsch der Pterigotus? Wir waren so nah am Tod, unser Volk war am Verzagen. Ihr brachtet allen die Hoffnung zurück.“ Er unterdrückte sein Verlangen nach mehr und umschloss ihre beiden Hände, die begannen, ihn zu erforschen. „Eure Worte sind tief in meine Seele gebannt. Meine Liebe zu Euch ist so groß, dass ich einst dachte, ich würde gern für Euch sterben. Stattdessen brachtet Ihr mir ein neues Leben – vom ersten Mal an, als ich Euch sah.“

 

***

Genevieve genoss die Wärme seiner Hände auf ihren, doch sie spürte auch seine Gegenwehr. Sein Luststab pulsierte zwischen ihren streichelnden Fingern wie ein pochendes Herz. Tronadors Körper schien ihr bereit, die neue Erfahrung mit ihr zu teilen – seine Seele hingegen war es noch nicht. Ein leiser Schmerz umkrallte ihr Innerstes und säte Angst. „Lasst los, mein Gemahl“, raunte sie, drückte seine Hände beiseite und bedachte seinen Unterleib mit sanften Küssen. Als sein Geschlecht immer mehr anschwoll, schloss sie die Augen und genoss ihre Macht. Sie hörte ihn stöhnen: „Du bringst mich um.“

Leise lachte sie auf, die Lippen fest auf seine Lenden gepresst. Tronador spürte, wie etwas in ihm zu vibrieren begann. Als sie ihren Mund über ihn stülpte, wurde das Vibrieren zu einem Zucken, das seinen ganzen Körper ergriff. Unkontrolliert tasteten seine Hände über die Felswand, doch fanden sie dort keinen Halt. Schwer legten sie sich stattdessen auf Genevieves Schultern.

Während er seinen Samen in ihre Mundhöhle ergoss, starrte er mit zurückgeworfenem Kopf gegen die Decke des großen Gewölbes. Beschwörungen an sämtliche Himmelsmächte huschten wispernd durch seinen Geist.

Tronador riss seinen Herzarm nach oben und wies damit in eine imaginäre Ferne. Ein lauter Schrei – und plötzlich ein tosendes Rauschen. Die Wässer des Meeres kehrten zurück, füllten den Raum und rissen das Paar mit sich hinfort. Genevieve ließ ihn los und kehrte zurück in ihr Nixendasein. Als er neben ihr war, sah sie, dass auch bei ihm die Rückverwandlung vollzogen war. Fragend sah sie ihn an.

Er lächelte triumphierend. „Warte ab, Königin. Ich habe gelernt, dem Meer zu befehlen. Es kam auf mein Verlangen.“ Tronador wandte sich um, holte seinen Dreizack und folgte ihr. Dann nahm  er sie bei der Hand und querte mit ihr den Wasserfall. „Du hast Macht über mich." Mit sanfter Gewalt zerrte er sie durch die Brandung zwischen den Klippen und wies zum Strand. "Ich freue mich auf eine Revanche."

 

***

Hoch schlugen die Wogen über ihren Köpfen zusammen und drückten sie weit hinab in die Tiefe. Mit weit aufgerissenen Augen sog Genevieve ihre alte Welt in sich auf und entfloh ihrem Gemahl. Lachend duckte sie sich zwischen zwei Felsen und sandte einen Lockruf in seine Richtung. Es war der schönste Moment ihres Lebens.

Als sie sah, wie er sich suchend im Kreis drehte, presste sie beide Hände auf ihren Mund und unterdrückte ein Kichern. Genevieve wich noch ein bisschen weiter hinein in ihre Nische und wartete mit klopfendem Herzen auf ihn. Ihre Augen glitzerten vergnügt durch das türkisfarbene Meer. Die Königin Avalonias fühlte sich in ihre Kindheit versetzt.

Den Atem anhaltend trieb sie das Spiel auf die Spitze. Sie fing einen kleinen Oktopus, der sich in ihre Nähe gewagt hatte, setzte ihn an ihre Lippen und flüsterte ihm etwas zu. Dann ließ sie ihn los und wies ihm die Richtung. Er pumpte sich auf Tronador zu und klammerte sich an dessen Brust. Kleine schwarze Augen blickten den Meerjunker an.

Tronador durchschaute das Spiel. Er nahm das Tentakeltierchen aus seiner Verwandtschaft von seiner Brust und setzte es auf seine Hand. „Hat sie dich geschickt?“, fragte er, ohne dass er jedoch Antwort erhielt. „Sag mir, wo ist sie? Zeig mir den Weg.“

Er ließ den Tintenfisch los und wedelte ihm hinterher. Fast träumerisch langsam ließ er sich vom Wogen der Seeweiden tragen und genoss deren Kitzeln an seinen Flossen, wohlwissend, dass er sie bald wieder verlor. Dennoch wäre er auch weiterhin ein Wesen des Wassers, bis zum letzten Atemzug, den er irgendeinst tat. Ein Schwarm Regenbogenfische geleitete ihn zu dem steinernen Gemach der Natur, in dem Genevieve seiner harrte. Er wusste ganz genau, wo er sie fände, indes tat er so, als müsse er suchen. Alles, was er wollte und tat: Diese kostbaren Augenblicke – da sie waren so selten – mit seiner Gemahlin genießen. Ganz kurz wunderte er sich über die Trauer in seinem Herzen. Ihm war, als hätte ihn der Hauch des Todes gestreift.

Mit sorgenumwölkter Stirn tauchte er auf und sah sich um, doch es war alles wie sonst. Gegenüber von Stellamaris paffte Yamdar friedlich vor sich hin und stieß weiße Dampfwölkchen aus seinem Krater, der Himmel war strahlendblau. Es bestand keine Gefahr. Unwillig wischte er seinen Gemütszustand von seiner Seele und führte seine spielerische Suche nach Genevieve fort. Den Tintenfisch hatte er kurzfristig aus den Augen verloren, dieser kehrte jedoch zu ihm zurück und wickelte sich um seinen Dreizack.

Mit einem erfreuten Grinsen folgte Tronador erneut seiner Bahn. 'Dem Kleinen macht das Spielchen offenbar Spaß', stellte der König voller Begeisterung fest. Der Oktopus führte ihn zu ihrem Versteck. Mit minimalen Flossenschlägen pirschte der Junker voran und schlich sich von der Seite an seine Gemahlin an. Dann packte er sie von hinten.

Erschrocken kreischte sie auf und versetzte ihm einen Puff. „Wüstling!“, schimpfte sie, zappelte in seinen Fängen und versuchte, sich zu befreien. In einem spielerischen Ringkampf sank das Paar auf den Meeresgrund, und es war wie jenerzeit in ihrer Jugend. „Ihr habt nichts von Eurer Kraft und Eurem Feuer verloren, Fürstin der Goldenen Stadt und der meines Herzens“, stellte er zufrieden fest. Er ließ sie los und blickte sie liebevoll an. „Du hast mir gefehlt.“

Genevieve schlang beide Arme um seinen Nacken und sah ihm tief in die Augen. Diese glänzten wie Eis. Glücklich ließ sie sich treiben, im Vertrauen, dass er sie hielt. „Auch mir ist im Traum die Göttin erschienen“, berichtete sie. „Sie hat mir einen Blick in die Zukunft gewährt.“

Tronador hielt die Luft an. Neugierig sah er ihr ins Gesicht. „War es die unsre, und war es schlimm?“

„Es war ein Wunder, das sie mir zeigte. Wesen, die aussahen wie wir, als wir da waren im Siebengewölbe. Sie tummelten sich an jedem Ort, in einem Paradies, das überall war. Es waren unzählig viele. Sie hatten sich in Welten versammelt, die um ein Vielfaches größer waren als Stellamaris.“ Genevieve gestikulierte aufgeregt und erzählte ihm von Bergen und Tälern, von Blumen und Bäumen, von allerlei Lebensarten, die künftig die Erde würden bevölkern.

Gedankenverloren setzte er sich auf einen Stein und zog sie zu sich. Innig umschlungen hielten sie einander fest. „Ich habe Euch von meinem Traum schon erzählt. Darüber habe ich nachgedacht. Ihr sagtet, es sei eine Göttin. Doch lehrtet Ihr mich nicht einstens vom Wunder des Herrn? Des Himmlischen Vaters, der die Erde erschuf?“ Er griff nach der Muschelkette an ihrem Hals. „Jene Kraft, die zu Euch sprach und unserer Liebe den Segen gab?“

Genevieves Blick verschleierte sich. Sie fand keine Antwort. Plötzlich war ihr, als wiche der Stein um sie herum, und sie sähe ein anderes Land. Eins ohne Wasser, karg und ohne Schmuck. Erneut begegnete sie diesen zweibeinigen Kreaturen, doch diesmal krümmten sich ihre Körper in Schmerzen.

Voller Schrecken erbebte sie. Sie wünschte, Astril und Yoras stünden ihr bei, es schien Genevieve, als hinge von deren Weisheit ihr Leben ab.

Tronador spürte ihr Zittern. „Was ist dir, mein Lieb?“ Er drehte ihr Antlitz zu sich und umschlang es mit beiden Händen. „Hat dich meine Frage verletzt?“ Seine Stimme klang äußerst besorgt.

Die Königin senkte den Blick. „Nein, es ist nichts“, antwortete sie. Konnte sie es ihm sagen? Die schönen Momente, die sie bisher geteilt hatten, zerstören? Wieder in Schmerz und Kummer versinken?

Dann jedoch beschloss sie, offen zu sein. „Bisher dachte ich, nur im Schlaf könne man träumen. Offenbar habe ich mich getäuscht. Soeben hatte ich eine Vision.“ Sanft umfasste er ihre Hände. „Oft sind es Visionen, die uns die Antworten des Lebens geben. Doch manchmal sind es auch Trugbilder, die einen narren. Erzähl’ mir davon!“

„Diese zweibeinigen Wesen …“ Wieder verlor sich ihr Blick in der Ferne. Ihre Stimme klang plötzlich hohl. „Sie werden sich dieselben Fragen stellen wie wir. Die Götter werden sich streiten, und es wird keinen Frieden mehr geben. Diese Kreaturen werden nicht nur die Erde vernichten. Sie tilgen das Universum bis zum letzten Staubkorn.“

Ihre Augenpartie war plötzlich von feinsten Perlen benetzt. Genevieve weinte. Venus hatte von ihr verlangt, ein Kind zu gebären. Sie ahnte schon jetzt: Es gab keine Götter, nur eine diktatorische Kraft. Astril und Yoras waren die Urahnen ihres Volkes gewesen. Sie trug ein bitteres Erbe in sich. Welches Vermächtnis barg indessen ihr eigener Schoß?

 

***

Voller Kummer spürte Tronador die Wandelung seiner Gemahlin. Verzweiflung ergriff ihn. Stumm hielt er sie in seinen Armen und wiegte sie wie ein Kind. „Du kannst es nicht wissen“, sagte er irgendwann sanft. „Selbst wenn du es wüsstest, wäre es Schicksal.“

„Verstehst du denn nicht?“ Sie riss sich los. „Alles, was wir erlebten, war wie ein Weg. Alles, gar alles führte dich und mich zusammen, und das war Bestimmung. Wir haben eine Mission. Wir allein haben es in der Hand, dass geschieht, was geschieht.“

„Was willst du mir damit sagen?“ Er zog sie wieder an sich und sah sie eindringlich an. „Versperrst du dich deinem eigenen Glück? Die Zukunft hast du nicht in der Hand.“

„Wenn mein Schoß eine dieser … Kreaturen gebiert, wie mein Traum es mir prophezeite, dann ist es meine Verantwortung.“ Erregt funkelte sie ihren Gemahl an. „Doch dann weiß ich es auch zu verhindern.“

„Jedes Wesen trägt dieses Erbe in sich, Genevieve. Wenn du dich dem Leben verweigerst, sucht es sich einen anderen Weg.“ Er nahm ihren Arm und tastete betont langsam ihre Handfläche ab. Ein Prickeln ergriff ihren Körper. „Kommt mit mir, Königin Avalonias. Wenn Ihr denkt, dass die Fragen aller Zeiten die gleichen sein werden, müssen wir selbst die Antworten finden. Der Stillstand des Lebens ist nur der Tod."

 

***

Wandernde Seelen

 

Tronadors Worte verfolgten Genevieve mit jedem Flossenschlag, den sie tat. Wie das Rauschen des Wasserfalls von Stellamaris tosten sie durch ihren Geist. Sie war ihm entflohen.

Ohne zu wissen, wohin sie sich wenden sollte, stieß sie sich durch die Gewässer, und obwohl sie wusste, dass es vor der Wahrheit kein Entkommen gab, konnte sie nichts dagegen tun. Ihr Fluchtimpuls war momentan stärker.

Die Königin wusste, die Worte ihres Gemahls waren nicht einfach nur so dahingesagt. Sie hatte es selbst erlebt, als der Schnitter gekommen war und alles dahin gerafft hatte, was ihm in die Quere kam. Unzählig vielen aus ihrem Volk hatte er den Lebensfaden gekappt. Blut und Schreie hatte er hinterlassen.

Ihre Vision hatte ihr gezeigt, dass es wieder geschähe, doch sie war fest davon überzeugt, es verhindern zu können. Sie würde sich Tronador und dem Willen des Universums verweigern, und nichts hielte sie davon ab. Wenn sie es in der Hand hatte – Genevieve ahnte, dass es so war – bliebe alles so wie bisher, und die Entwicklung bliebe dann stehen. Es würde keine zweibeinigen Mutationen geben, und ihr Volk würde existieren bis in die Ewigkeit.

Dann jedoch überkamen sie Zweifel. Kein Wesen war letztendlich unsterblich. War es nicht nur eine romantische Vorstellung, es gäbe hinter dem Regenbogen ein neues Leben? Wenn es so war, dann hatte Tronador im letzten Punkt recht: Der Stillstand des Lebens ist nur der Tod.

Sie wandte sich in Richtung der Freien Gewässer, um Zeit zu gewinnen. Der König hatte sie ziehen lassen, doch sie wusste, er ließe sie nicht aus den Augen. Weit hinter sich spürte sie die Vibrationen, die seine Bewegungen verursachten, indes blieb er fern. Stattdessen suchte er mit ihr Gedankenkontakt.

Niemand ahnte, wie sehr sie ihn liebte, wie sehr es sie schmerzte, sich ihm zu verweigern. Sie hatte in der Höhle gespürt, wie es hätte sein können, wäre sie dem Willen der Göttin gefolgt. Nur einen kleinen Moment hatte sie mit ihm gemeinsam einen Blick in die Zukunft getan, wie es war, in einer Linie mit den Göttern zu sein. Es war erhebend.

Sorgenvoll sog sie ihre Welt in sich auf. Die Vielfalt der Farben, die verschiedensten Lichter des Meeres, so viele Stämme, die sich mit ihr den Lebensraum teilten, sie hatten alles. Diese Schönheit ginge dem Meervolk verloren, würde es so kommen, wie es ihr prophezeit worden war.

‚Was jedoch’, dachte sie, ‚wenn ein anderer Schoß diese Kreaturen gebiert? Was, wenn Tronador auch darin recht haben sollte?’ Zart streichelte sie über die Blätter einer Seelilie auf ihrem Weg. Die Pflanze schmiegte sich vertrauensvoll an ihr Handgelenk. Gerührt lächelte sie. „Mir wird eine Lösung einfallen“, versprach sie, verharrte einen Moment und genoss das traute Beieinandersein mit der Natur. Ein Regenbogenfisch stupste sie an, und ihr war, als wolle sein Blick ihr etwas sagen.

Genevieve verabschiedete sich von den beiden Wesen und eilte weiter. In ihrem Innersten fühlte sie, wie der Geliebte ihre Gedanken erforschte, wie er in sie eindrang, Besitz von ihr ergriff. Seine Seele streichelte jede einzelne ihrer Lebensfasern, lockte und rief sie, zeigte ihr seine Besorgnis. Auf ihre wütenden Fragen gab er ihr weise Antworten, wie es immer schon war. Es gab keine Entfernung, die ihn von ihr trennte – sie waren eins.

Leicht wandte sie ihren Kopf und warf einen heimlichen Blick hinter sich. Er war ungefähr zehn Körperlängen hinter ihr, und plötzlich fühlte sie sich gekränkt. Weshalb versuchte er nicht, sich ihr zu nähern? Sie hörte ein liebevoll spöttisches Lachen in ihrem Geist und errötete leicht. Wieder einmal hatte er sie durchschaut.

Ohne dass sie es wollte, sah sie ihn wieder in seinem anderen Körper vor sich und spürte seinen Geschmack auf ihrer Zunge. Jeder einzelne Nerv in ihr vibrierte danach, bei ihm zu sein, um dieses Wunderland der Liebe erneut mit ihm zu bereisen. Sie hatte gespürt, dass er ihr etwas zeigen hatte wollen, doch sie wusste nicht, was.

Entschlossen mahnte sich Genevieve zu Selbstdisziplin. Es gab Wichtigeres als etwas, das nur Illusion und Hirngespinst war, zumal soviel davon abhing. Um sich Tronador ganz zu entziehen, nahm sie die nächste Gelegenheit wahr und entwischte ihm durch einen größeren Höhlengang. Sie brauchte Zeit für sich selbst, um Entscheidungen für ihr Volk zu beschließen. Nahezu bedauernd stellte sie fest, dass sein Geist sich zurückzog. Die Flucht war ihr geglückt!

 

***

Tronador hoffte, dass es kein Fehler gewesen war, seine Gemahlin sich selbst zu überlassen. Der König des Meervolks folgte ihr in einigem Abstand. Er hatte beobachtet, wie sie Zwiesprache hielt, spürte die Fragen in ihr, doch auch ihre Wünsche. Behutsam zeigte er ihr an, dass er für sie da war. Zu seiner Erleichterung ertastete er als Antwort Genevieves Wut. Alles war ihm lieber, als dass sie wieder in Trauer versank.

Mit ihrer unfreiwilligen Begierde hingegen war er überfordert. Ohne dass er es wollte, teilte er diese mit ihr, und erneut spürte er, wie sein Blut zu brodeln begann. Diesmal hatte er keine Gelegenheit, sie zu umwerben, zumal es auch für ihn etwas gab, das ihm wichtiger schien. Dennoch gelang es ihm nicht, ihr Bild aus seiner Phantasie zu verbannen. Ob sie wusste, wie schön sie war?

Als er es nicht mehr ertrug, zog er sich aus ihr zurück. Ganz kurz spürte er noch ihre Sehnsucht, dann wandte er sich von ihr ab und eilte in der ihr entgegengesetzten Richtung davon.

Währenddessen querte Genevieve eine unterirdische Höhle, von der sie wusste, dass sie durch mehrere Eingänge erreichbar war. Es war die Stätte der Toten.

Hier ruhten Freund und Feind eng beieinander, die letzten Relikte der Schlacht. Kegelförmige Steinbauten verbargen die geschändeten Leiber, die mittlerweile eins waren mit Grund und Boden des Yapetus. Eine jede der  Ruhestätten  war mit Inschriften in Genevieves Runensprache versehen, liebevoll angebracht von ihren Getreuen.

Vor dem Grabmal ihrer Eltern verweilte sie lange. In schmerzvoller Andacht ließ sie die Ereignisse, die sie bis dato begleitet hatten, Revue passieren. Ihre Hand ruhte auf ihrer Brust und suchte Halt bei der Reliquie, die sie an einer Kette aus Nixenhaar trug. Die Muschel schien zu vibrieren und wurde warm.

Genevieve verspürte das Bedürfnis nach Antwort und Trost. Welcher Ort wäre hierfür besser geeignet? Sie wollte nicht die Zweiflerin sein, das Erbe ihrer Urahnen verloren geben, in Bitterkeit und Trauer ihr Dasein fristen, sich dem Leben verweigern. Beinahe wäre sie soweit gewesen, ihren Artgenossen zu verbieten, einander zu lieben, im festen Glauben, das Unglück, das sich ihr in der zweiten Vision offenbart hatte, dadurch zu verhindern. Sie als Regentin Avalonias hätte die Macht, was jedoch wäre die Konsequenz? Genevieve ahnte: Es wäre der falsche Weg.

„Du bist nicht allein in deinem Kummer.“ Es war die Stimme von Astril. „Stell deine Fragen, doch ruhen manche Antworten nur in dir selbst."

Angestrengt starrte Genevieve durch die Dunkelheit. Sie vermeinte, das Glimmern der Sterne am Deckengewölbe zu sehen. Ihre Seele strebte hinauf, um sich mit ihr zu vereinen. Einen kleinen Moment spürte sie die Umarmung des Universums und ließ sich fallen. „Sagt mir, Astril“, fragte sie, „was trägt der Himmlische Vater für einen Namen?“

Plötzlich erschien es ihr wichtig, ihn benennen zu können, Tronadors Worte in Bezug der himmlischen Lehren im Ohr. Die Antwort auf ihre Frage sollte sie jedoch nicht mehr erhalten, zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt und nicht an diesem Ort. Die Höhle war von gleißender Helle erfüllt, Boden und Wände begannen, donnernd zu beben. Grabmale stürzten ein und verteilten große Felsbrocken in ihrem Umfeld. Verblichene Gerippe kamen zum Vorschein. Hektisch suchten Fische in Schwärmen die Flucht.

Es wurde dunkel, und es schien, als brauste ein Sturm. Genevieve spürte einen immensen Sog an ihrem Körper, fühlte, wie es sie aus dem Inneren der Höhle zog. Sie konnte rein gar nichts dagegen tun.

Die Königin schrie. Verzweifelt versuchte sie, sich zwischen zwei Säulen zu klemmen, die Kraft der Natur war hingegen stärker. In rasender Geschwindigkeit spie der Eingang der Grabhöhle die Meerjungfrau aus.

Als sie ins Freie schoss, blendete sie fast weißes Licht. Genevieve war es, als würden die Gewässer vor ihr zurück weichen, und dennoch war sie fest daran gebunden. Seeweiden duckten sich ängstlich zu Boden, während sie über diese hinweg trieb.

Die Königin Avalonias fürchtete, dem Tod nahe zu sein. Fast war sie versucht, sich über die mangelnden Schmerzen zu wundern, doch ihre Sorge galt ihrem Gemahl. Gedanken rasten in zehnfacher Geschwindigkeit durch ihr Gehirn, zu greifen waren sie kaum.

In panischer Angst rief sie seinen Namen, doch die Urgewalten rissen ihn von ihren Lippen. Ihr Körper wurde nach links gezogen. Mit nach vorn gerichteten Haaren sah sie aus wie ein silberner Pfeil, der von einer gigantischen Armbrust abgeschossen worden war.

Dann sah sie ihn. Tronador schien in einem Strudel gefangen zu sein. Seine Hände streckten sich ihr flehend entgegen. Trotz der großen Geschwindigkeit, die sie vorantrieb, versuchte sie, diese zu greifen. Es erschien ihr wie ein Wunder, dass es ihr gelang. Weinend klammerte sie sich an Tronador fest. Sprechen erschien ihr unmöglich, das Meer toste nur so um seine Opfer herum.

Plötzlich verstummte das Brausen. Mit klopfendem Herzen verfolgte sie, wie der Ozean  vor ihren Augen verschwand. Der Wasserstrudel hingegen blieb und schmiegte sich wie ein Schutz an ihre Körper. Er wuchs in die Höhe und nahm die beiden zu einer wundersamen Reise mit sich.

 

 ***

Der Ritt auf einem Tornado

 

Eine gigantische Windhose raste über die urzeitliche Welt. In den Trichter an deren Spitze war das Kőnigspaar von Avalonia wie in ein Kissen gebettet, umspielt von den aufgesogenen Wassermassen des Yapetus. Begleitet wurden sie von allerlei Kleingetier. Es wirbelte tosend in einem bunten Kreisel um sie herum. Der Tornado wuchs hinauf in den Himmel, über den Regenbogen hinaus, der in blassen Farben hinter dunklen Wolken verschwand. In überdimensionaler Geschwindigkeit sausten die entfesselten Kräfte der Sonne entgegen. 

Das Schicksal hielt indessen auch weiterhin seine schützenden Hände über Tronador und Genevieve. Späterhin, als sie in den Bergen von Stellamaris erwachten, wussten sie nicht: War es nur Traum oder hatten sie das alles wirklich erlebt?

Die Bilder aus ihrem Abenteuer behielten sie jedoch bis in alle Tage in ihrem Gedächtnis. Es war gewesen, als hätten sie einen Blick ins Universum getan, die Kraft der Sonne auf ihren in Ehrfurcht erstarrten Leibern gefühlt, die Sterne des Himmels ertastet, von denen sie überzeugt waren, dass von dorten alles Leben entsprang. Voller Freude und ohne Angst hatte Genevieve ihre Ahnen begrüßt und wäre am Liebsten geblieben.

Von ihrem himmelshohen Aussichtsturm aus sahen sie noch so vieles mehr: Meere aus Eis, Welten aus glühendem Stein und bewegliche Wässer, die sich über die Kontinente wälzten. Während sie reisten, taten sich vor ihren Augen gigantische Pforten zwischen gebirgigen Landmassen auf: Travolos, der Wanderer - die Kraft des Tornados oder aber der Wind - hatte den Schlüssel dazu.

Die Schönheit, wie sie sich in Genevieves erster Vision offenbart hatte, zeigte sich ihnen hingegen nicht. Es war eher wie in der zweiten Vision: Alles war karg, und es fehlte Leben. Nur hin und wieder stießen sie an den Ufern der fließenden Wässer auf zartes Grün, das der Königin wie ein Hoffnungsschimmer erschien. Wo war die verheißungsvolle Fruchtbarkeit von Stellamaris?

Die Reise ging mit tosendem Brausen zu Ende. Travolos spuckte seine Last dort wieder aus, wo er sie entnahm. Als Genevieve und Tronador an der Quelle des Wasserfalls auf der Insel erwachten, lagen sie erschöpft an den Ufern des Stroms. Avalonia erstrahlte vor ihren Augen wie frisch geputzt.

Haltsuchend tastete die Kőnigin nach der Hand ihres Gemahls und setzte sich auf. In schillernden Farben brach sich das Licht der Sonne durch den silbernen Nebel, der die Berge verhüllte. Das Regenbogenportal erschien Genevieve so nah wie niemals zuvor. Auf ihrer nackten Haut fühlte sie das Kitzeln zartester Gräser, und ihr wurde eine erneute Verwandlung bewusst. Tronador erhob sich und reichte ihr galant seinen Arm. Schweigend standen sie da und bestaunten die Welt um sich herum.

Innig schmiegte sich die Maid an seinen Leib. "Offenbar musste es so sein, um dich wieder an meine Seite zu bringen", sinnierte er gedankenverloren. 

 "Ich hatte dich nicht verlassen", widersprach Genevieve. Sie wandte sich ihm zu und nahm sein Antlitz zwischen ihre Hände. Ernst sah sie ihn an. "Ich war gleichwohl überfordert und brauchte Zeit für mich selbst."

"Bei mir war es nicht anders", gestand Tronador. "Dennoch haben wir noch eine Chance, diese Art von Vereinigung zu erleben. Mőglicherweise ist es die Letzte." Er verstummte, drehte sie um und zog sie eng an seinen Kőrper. An ihrem Rücken spürte sie seine Wärme und seine Erregung. Sie konnte sich dem nicht entziehen und rieb sich lasziv an ihm, bis er erbebte. "Hör auf, mit mir zu spielen", stöhnte er. "Diesmal entkommst du mir nicht." Besitzergreifend legte er eine Hand auf ihre Brust, ohne Genevieve indes zu bedrängen. Stumm starrten sie hinab in die Tiefe. Unter ihnen rauschte der Fluss.

Schließlich entließ Tronador sie aus seiner Umarmung. "Genau hier wollte ich mit dir immer sein. Hier auf der heiligen Insel, doch sind wir zum Leben im Wasser bestimmt. Offenbar meint es das Schicksal mit uns besonders gut, dass wir es dennoch erleben."

Er führte sie an einen Abgrund und breitete die Arme weit aus, die Unendlichkeit des Meeres nachahmend. Ruhig lag es vor ihren Augen. Nichts deutete auf das Geschehene hin, außer dass sie sich in den Bergen von Stellamaris befanden - als zwei Wesen, die nicht ans Wasser gebunden. "Hier oben ist jeder ein König", flüsterte er voller Ehrfurcht. Als die Sonne allmählich im Yapetus versank, begann der Regenbogen golden zu schimmern. Eine diffuse Dämmerung senkte sich über die Welt.

Das letzte Licht nutzen wollend, ergriff Genevieve die Hand ihres Gemahls. "Ich möchte noch so vieles sehen." Sie deutete hinunter zum Strand. "Komm, lass uns fliegen."

 

***

Auf den Schwingen der Freiheit

 

Hand in Hand traten sie einen Schritt weiter vor und wandten einander die Gesichter zu. Tief blickten sie sich in die Augen. "Bist du dir sicher?", fragte der  König seine Gemahlin. Genevieve nickte. "Immer mit dir", wisperte sie.

Einmal noch wandten sie Solveigh den Rücken zu und warfen einen verabschiedenden Blick auf die Berge von Stellamaris. Genevieves langen Haare flatterten wie ein silberner Schleier im Wind.

Tronadors hochgewachsener Kőrper war der eines Kriegers. Schwarze Locken fielen ihm über die Schultern, goldene Reflexe spiegelten sich auf seiner Haut. Die Muskeln seiner starken Arme und seines Brustkorbs zuckten erregt. Vorfreude flackerte in seinen Augen.

Unweit von ihnen spritzte die Gischt des Wasserfalles hoch hinauf in den Himmel. Einmal noch sogen sie den Anblick in sich auf und wandten sich simultan um. Langsam ließen sie einander los und reckten ihre Körper der rotgolden funkelnden Sonne entgegen.

Gleichzeitig stießen sie sich ab und flogen hinaus in die Freiheit. Es war ihnen, als vernähmen sie süßeste Klänge aus einem unbekannten Musikinstrument. Mit weit geöffneten Armen segelten sie über das schimmernde Abendmeer und genossen Travolos' Lied.

Lachend tauchten sie ein und fassten einander erneut bei den Händen. Voller Freude spürte Genevieve das warme Wasser auf ihrer Haut. In spielerischer Hatz schwammen sie zusammen zur Bucht.

Wenig später standen sie gemeinsam am Strand. Tronador hatte sich vorgenommen, seiner Gemahlin dabei zu helfen, sich selbst zu entdecken. Er hatte ihre neuerliche Scheu längstens bemerkt und hoffte, ihr genügend Zeit lassen zu kőnnen, um sie zu verlieren.

Der Strand war über und über mit kleinen Muscheln bedeckt. Wehmütig dachte Genevieve an Aquaria und ihre Ahnen. Wie sehr wünschte sie sich, sie hätten die Weiterentwicklung von Stellamaris mit ihr gemeinsam erlebt.

Wohlig grub sie ihre Zehen in den warmen Sand. Plőtzlich spürte sie den Atem ihres Gemahls in ihrem Nacken. Ihr Herz begann, freudig zu rasen. Sie war bereit, sich in Wahrheit mit ihm zu vermählen.

Die Sonne war untergegangen. Ein silberner Vollmond und Myriaden von Sternen spiegelten sich in dem samtblauen Meer. Undeutlich sah Genevieve sich selbst, wie sie jetzt war. Mit federleichten Berührungen spielte Tronador mit ihrem Haar und fuhr mit dem Zeigefinger über ihr Rückgrat. Er ragte um Hauptesbreite über ihr auf.

Befriedigt schmunzelnd bemerkte er, wie ein Schauer ihre Haut überlief. Von hinten küsste er Genevieve auf den Hals, drängte sich an ihren  Po und legte beide Hände auf ihre Scham, als wolle er sie beschützen. "Ich wünsche mir eine Tochter, die so schön ist wie du", raunte er ihr ins Ohr.

Genevieve lächelte verträumt vor sich hin. Vom Grund des flachen Meeresbeckens, vor dem sie standen, funkelten blau fluoriszierende Quallen und vermählten sich mit den Lichtern der Nacht zu einem unwirklichen Szenario.

Gedankenverloren betrachtete sie ihr gemeinsames Spiegelbild. Ihr war, als stünde die Zeit bis in alle Ewigkeit still. Sie wünschte sich, es möge so sein.

'Ein kleines Maidlein, doch wie wird sie sein?', grübelte sie in sich hinein. 'Ein Wesen des Meeres wie ihre Eltern oder eine Landkreatur? Oder doch lieber ein Junker, stark wie der Vater, tapfer und schön? Wie auch immer es sei ...'

Genevieve hatte sich entschlossen, mutig zu sein und warf den Schrecken ihrer Visionen weit von sich weg. Tronador hatte recht: Dem Leben durfte sich niemand verwehren!

 

***

Die Botschaft der Göttin      

 

Die Nacht schritt voran, und der Mond ging auf Reisen. Kurz bevor er hinter den Bergen verschwand, kehrte Venus in Menschengestalt auf die Erde zurück. Nachdenklich setzte sie sich auf einen Fels und wachte über das schlummernde Paar. Genevieve und Tronador lagen eng aneinander geschmiegt zwischen Farnen verborgen in einer Kuhle. Ein glückliches Lächeln lag auf beider Gesicht.

Die Göttin zog die Beine an ihren Leib, verschränkte die Arme um ihre Knie und schmuggelte sich in ihre Träume. Die Königin war die erste, die sie bemerkte. Verwirrt schlug die Meermaid die Augen auf und sah, wie Venus’ Rücken mit dem Stein des Gebirges verschmolz. „Du bist wieder da?“, fragte sie leise und setzte sich auf, in fast derselben Gestik wie jene, die ihr so ähnlich war. Venus erhob sich, trat über sie und hielt ihre Herzhand über Genevieves Leib. „Du hast empfangen“, seufzte sie zufrieden. „Nun erst kennst du das Geheimnis deiner Brüder und Schwestern und bist ihnen doch um so vieles voraus.“ Ein leises Säuseln begleitete ihre Worte, und die Sterne am Himmel schienen zu tanzen. Der Mond lugte zwischen zwei Bergspitzen hervor, als ob er sehen wolle, was es da so Besonderes gab.

„Ich habe mich schon gefragt, Herrin, weshalb ich nicht empfing. Ist es der Ort?“ Sie rückte etwas von Tronador ab, um ihn nicht zu wecken.

Leise lachte die Göttin auf. „Hast du niemals bemerkt, welch reges Leben in den oberen Gefilden von Stellamaris stattfand? Wann immer ein Paar sich fand, trafen sich die Liebenden im Siebengewölbe, oft waren es viele. Doch tröste dich: Bei dir und deinem Gemahl ist einiges anders.“

„Was, Herrin, sagt mir, unterscheidet uns von unserem Volk? Es ist nichts, was mir gefällt.“ Genevieve betrachtete den Körper der Göttin und verglich sie insgeheim mit sich selbst. Würde sie nun auf ewig so bleiben?

Venus erriet ihre Gedanken. „Fürchte nichts, du bist nur etwas mehr ans Universum gebunden, bedingt durch deine Herkunft. Erinnere dich: Astril und Yoras trugen das Erbe der Sterne in sich. Bei Sonnenaufgang wirst du wieder diejenige sein, die du am Besten kennst.“

„Sagt mir, wenn ich mich irre: Unser Kind wird ein Landwesen sein, weil ich es auf der Insel empfing.“ Genevieve errötete leicht in Erinnerung an den Moment, als es geschah. Die Göttin ließ sich neben ihr nieder und betrachtete ernst ihr Gegenüber. „Du bist sehr schön“, sagte sie. „Deine Tochter wäre dir ähnlich, wenn …“ Venus verstummte abrupt.

Die Königin zuckte erschrocken zusammen. „Wenn?“ Flehend sah sie die Göttliche an. „Was seht Ihr, wird ein Unglück geschehen?“

Venus’ Blick glitt in die Ferne. „Nichts dergleichen. Die Zeit ist noch nicht reif für ein Leben an Land. Deshalb wird erst die fünfte Generation ihre Bestimmung erfüllen.“

„Ihr denkt also, es wird eine Tochter?“, fragte Genevieve und sah zu Tronador, der sich unruhig bewegte. Seine Augenlider flatterten, und seine Hand tastete neben sich auf der Suche nach ihr.

Die Göttin legte eine Hand über seine Augen und murmelte beschwichtigende Worte. Der König sank etwas weiter hinab in sein Farnbett, wurde ruhiger und drehte sich auf die andere Seite. Venus erschrak, als ihr Blick auf sein Schulterblatt fiel.

Genevieve hatte bemerkt, wie sie zusammengezuckt war. Besorgnis malte sich auf ihr schmales Antlitz. „Was verschweigt Ihr mir?“, fragte sie.

„Es ist … nichts.“ Die Göttliche hatte Exaltors Signatur auf Tronadors Schulter gesehen, doch behielt sie dies lieber für sich. Sie wollte nicht diejenige sein, die das neue Glück des Paars durch ihre Besorgnis zerstört, doch wusste sie, was es bedeutet, vom Fürsten der Ewigen Nacht gebrandmarkt worden zu sein. Es war ein Zeichen für „Tod durch Gewalt und Intrigen.“

Um sicher zu gehen, warf sie einen zweiten Blick auf den schlafenden Junker, doch das Mal war verschwunden. Sie war beruhigt und konzentrierte sich gänzlich auf Genevieve. „Ihr seid meine Schwester im Geist“, hub sie an und flüchtete sich in ihrer Verwirrung in die Etikette. Venus erhob sich und warf einen besorgten Blick zum Firmament. Die Nacht würde bald enden, und es gäbe noch so viel zu sagen. Mit einem Wink bat sie die Königin, ihr zu folgen. Gemeinsam wanderten sie durch die Dunkelheit. Der Strand war ihr Ziel. Unterwegs beantwortete sie Genevieves dringlichste Fragen. Sie würde eine Tochter gebären, prophezeite sie ihr. Hätte sie gar schon einen Namen?

Die Königin schritt mit nachdenklichem Blick neben ihr. ‚Tronadors Wunsch erfüllt sich also’, dachte sie. Keinen Wimpernschlag lang zweifelte sie, dass die Göttin sich irrte. Sie sah Venus an. „Was schlagt Ihr vor?“, fragte sie leise.

„Sucht einen Namen aus, der zu ihr passt.“ Die Göttin setzte sich am Strand auf den Boden und bat Genevieve, ihrem Beispiel zu folgen. „Ich habe Euch noch ein paar Dinge zu sagen.“

Sie malte einen Kreis in den dunklen Sand und brachte ihn mit einer beschwörenden Geste zum Leuchten. „Die Sonne“, erklärte sie, als sie den verwunderten Blick der Meerjungfrau sah.

Genevieve setzte sich neben sie und wartete stumm darauf, dass Venus fortfuhr. Die Göttin fügte Planeten, Mond und Sterne hinzu und setzte den Zirkel mit einem weisenden Fingerzeig in Bewegung. Die Welt um die beiden Frauen herum begann, im Schnelltakt zu flackern.

Venus nahm etwas Sand in die Hand, streute ihn über die Sonne und hielt das virtuelle Sonnensystem an. „Wir brauchen etwas mehr Zeit“, erklärte sie. Plötzlich war alles reg- und geräuschlos: Die Brandung des Meeres erlosch, der Wasserfall war nunmehr stumm, kein Raunen des Windes, kein Rascheln im Farn. Genevieve warf einen Blick zu den Klippen: Selbst die Wellen waren in ihrer letzten Bewegung erstarrt und verharrten wie Schaumskulpturen auf Stein.

Die Göttin nahm Genevieves Hand, bat sie, sich zu erheben und führte sie in Richtung Meer. Der Mond schien direkt auf ihre sich im Wasser spiegelnden Körper. Fragend sah die Königin sie an. „Was wollt Ihr mir zeigen?“

„Wie ich bereits sagte, sind wir Schwestern im Geist.“ Venus legte beide Hände auf Genevieves Busen. „Du wirst dein Kind wie eine deines Volkes gebären. In sich trägt es den Keim der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Du musst sie säugen.“

Die Angesprochene musterte die Göttin erstaunt. „Was hat das zu bedeuten?“

„Das Meervolk ist eine besondere Gattung. In fernen Tagen wird man euch magische Kräfte nachsagen, man wird euch hassen und lieben. In dir und deiner Nachkommenschaft sind alle universellen Gaben vereint. Das unterscheidet dich von deinen Brüdern und Schwestern. Deine Aufgabe wird sein, eine Brücke zwischen den Zeiten zu bauen.“

„Sagt, Herrin, was ist die Zeit? Wann fängt sie an, wo hört sie auf? Sind wir Gefangene in einem Käfig, oder gibt es auch die Freiheit,für uns selbst zu entscheiden, was aus unsereins wird?“

„Die unendliche Zeit richtet sich nach dem Universum, und nichts kann sie ändern. Doch wird es auch etwas geben, das endlich ist. Das sind die Kreaturen, die an Körperlichkeit gebunden sind. Sie formen das Leben, und dennoch unterliegen sie dem Kreislauf der Endlichkeit.“

Venus nahm ihre Hände von Genevieves Brust und führte sie zurück zu dem gezeichneten Sonnensystem. „Sieh hier“, sie deutete auf den Sandhaufen, der die Sonne bedeckte. „Solveigh ist das Zentrum von allem. Die Planeten wandern um sie herum. Das ist die Himmelszeit der Unendlichkeit.“

„Das Ende der Endlichkeit, ist das der Tod? Warum das Leben, wenn es vergeht?“ Genevieve lächelte bitter. „Warum unterscheiden sich die Wesen des Himmels - Götter, nehme ich an - von Hjordis’ Töchtern und Söhnen? Herrin, verzeiht, doch gerecht ist das nicht.“

„Die Wesen des Himmels – wie du sie nennst – verfügen über keine Körperlichkeit. Deshalb sind wir unendlich, solange wir dürfen. Wenn uns niemand mehr fühlt, sind auch wir dazu verdammt, endlich zu sein.“

„Ihr sagt, es mangele Euch an einem lebendigen Leib. Weshalb jedoch kann ich Euch sehen?“ Genevieve streckte die Hand nach Venus aus und versuchte, sie zu berühren. Sie wich zurück.

„Du siehst das Bild, das du sehen willst“, erwiderte sie. „Möglicherweise siehst du nur eine Vision, doch für mich ist diese Erkenntnis gefährlich. Wenn die Illusion schwindet und du wirst dir dessen bewusst, droht mir Lebensgefahr!“

„Habt Dank für Euer Vertrauen und Euer Geständnis, womit auch immer ich es mir verdient haben soll.“ Die Königin verlor allmählich die Geduld, und nur der Anstand hielt sie davon ab, Wut zuzulassen. Weshalb solle sie eine Tochter gebären, wenn es für sie keine Zukunft gab?

Zärtlich lächelte Venus sie an. Sie erriet ihre Gedanken. „Du musst nicht den Himmlischen Mächten eine Tochter gebären, sondern dir selbst. Deine Tochter erhält dir dein Leben. Mit dir fängt es an, in ihr lebst du weiter und weiter. Mit dir dein Gemahl, da Ihr gemeinsam ihr etwas vererbt: Eure Gaben, die Liebe der Eltern – und die Unendlichkeit.“

 

***

*****

Gezeiten-Magie

 

Vor Ende der Nacht stand Genevieve allein am Strand und klammerte sich krampfhaft an den schwindenden Schatten der Göttin fest. Viele Fragen hatte sie ihr beantwortet, noch mehr Fragen taten sich auf. An ihr sei es, hatte Venus gesagt, ihre Tochter zu formen und sie als Thronfolgerin Avalonias gedeihen zu lassen. Noch immer fragte sie sich, was in ihrem Schoß heranwachsen würde, ob sie ebenso würde wie Mutter und Vater, ob sie geeignet wäre, das Erbe der Sterne zu halten und zu verwalten.

Verloren wirkend starrte sie hinaus auf das Meer, das vom Mond in eine silberne Fläche verwandelt wurde. Die Wellen wogten vor und zurück – auch das sei die Zeit, hatte ihr die Göttin gesagt.

Mit zarten Bewegungen strichen ihre Finger über den formschönen Körper, von dem sie sich bald würde trennen müssen. Noch einmal hatte sie die mahnenden Worte der Göttin im Ohr, sich von Stellamaris zu lösen und vor Sonnenaufgang im Wasser zu sein. Würden sie und ihr Gemahl ihren Rat nicht befolgen, drohte ihnen womöglich der Tod. „Es gibt keine Rückkehr“, hatte sie ihr prophezeit.

Genevieve legte beide Hände auf ihre vollen Brüste und suchte die Hitze, die sie empfunden hatte, als es die Göttin tat. Die Berührung hatte ihre sämtlichen Sinne erschüttert, hatte ihre Lenden zum Beben gebracht und weckte ihre neuerliche Sehnsucht nach Tronador.

Sie wusste, er war nur ein paar Schritte von ihr entfernt, doch der Zwiespalt in ihr war zu groß, um zurück zu ihrem gemeinsamen Schlafplatz zu gehen. Sie musste erst Antworten finden, bevor sie ihrem Bedürfnis nachgeben konnte.

„Und wieder Zweifel“, wisperten die Geister um sie herum. „Dabei eilt die Zeit.“

Genevieve warf einen Blick auf den Vollmond, der nach wie vor über ihr schien. Die Göttin hatte ihr kostbare Momente geschenkt, doch würden diese nicht ewig sein. „Auch ich habe keine Allmacht, also nutze die Gunst der Stunden, die dir noch bleiben. Die Gezeiten des Meeres verraten dir vieles, wenn du ihre Sprache verstehst.“

Mit diesen Worten hatte sie sich verabschiedet und verschwand so unverhofft, wie sie gekommen war. Die Königin war hingegen geblieben, verharrte und blickte über die Unendlichkeit des Yapetus im Versuch, die Zeit in den Wellen zu lesen.

Tronador trat hinter sie und legte seine Hände auf ihre. „Da bist du! Was tust du?“ Träge streichelte er ihre über der Brust verschränkten Arme.

„Die Göttin war da“, antwortete sie, ohne sich umzudrehen. Sie sagte ihm nicht, dass es an ihr sei, ihn auf die Rückkehr in die Goldene Stadt vorzubereiten. Was würde sie dort erwarten, dachte sie plötzlich. Hatte Travolos – Venus hatte ihr den Namen des Windgotts verraten – das Meervolk vernichtet, als er sie und ihren Gemahl auf seine Reise mitnahm? In ihrer Seele tat sich allmählich eine Erkenntnis auf: Götter sind nur so stark wie deren Legende – und jeder Name repräsentiert die Kraft des Universums. Wer hingegen schuf jene Namen?

Die Königin sah zum Himmel auf, und plötzlich ergriff sie Vertrauen: Sie würde es spüren, wenn dem Volk Avalonias etwas geschehen sei. Möglicherweise war alles Traum …

Tronador umrundete sie und blickte ihr ins Gesicht. „Etwas bedrückt Euch, werte Gemahlin. Ich lese es in Euren Zügen.“ Er ließ sich in den Sand fallen, zog sie herab auf seinen Schoß und begann, sie tröstend zu wiegen. „Erzählt mir davon.“

Genevieve lehnte den Kopf an seine Stirn und blickte ihm tief in die Augen. „Lass uns hier bleiben, wo das Meer die Ewigkeit küsst.“ Sie drückte ihn zu Boden und sank wie in einem inbrünstigen Gebet auf seinen Körper. Ihre silbernen Haare ergossen sich über seine Brust und fächerten sich hinter seinem Haupt auf. Heimlich blickte sie zwischen den Strähnen hindurch zum Horizont und sah, wie der Mond sich hinter Yamdars Krater verbarg. Bald würde es hell.

Sie würde es darauf ankommen lassen, beschloss sie grimmig und begann, ihn zu küssen, als wäre es das letzte Mal. Überrascht stöhnte er auf, als Genevieves Zunge wie ein gieriger Räuber in seine Mundhöhle drang.

Überlaut dröhnte der Fall von Stellamaris in seinen Ohren, oder war es sein kochendes Blut? Er wusste es nicht, und als seine Gemahlin über ihn kam, versickerten seine Gedanken im Sand. Unverwandt sah er sie an, ertastete zärtlich ihr schönes Gesicht und spürte Tränen.

Stumm setzte sie sich auf seine Lenden und nahm ihn in sich auf. Ihr Blick war in die Ferne gerichtet, als hielte sie Zwiesprache mit einer verborgenen Kraft. Ihre Hände ruhten auf seiner Brust und streichelten selbstvergessen jede einzelne Pore, jedes einzelne Haar. Genevieve ließ sich Zeit, verharrte regungslos und fühlte seine pochende Männlichkeit. Jeder einzelne Muskel von ihr schien ihr gespannt.

Tronador überließ ihr die Führung. Fast scheu streichelte er ihre Brust und ihren Rücken, fuhr ihr über den Po und genoss ihr leichtes Erschauern. Langsam begann sie sich zu bewegen. Es waren ihre Momente, die keiner Worte bedurften. In seinem Rücken fühlte er das zarte Reiben von Sand, spürte, wie das Wasser des Meeres seine Füße benetzte. Von fern erklang ein mystisches Lied. Travolos spielte die Flöte des göttlichen Pan und umschmeichelte mit seinem Atem das liebende Paar.

Genevieve summte leise vor sich hin, während ihre Hüften zu tanzen schienen. Sie hob den Kopf in die Höhe, lehnte sich etwas nach hinten und erhöhte kreisend das Tempo. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Antlitz leuchtete im letzten Mondlicht. Solle sie sterben, sie war bereit.

Der König wusste nicht, was in ihr vorging, wohl aber erahnte er die Magie, von der seine Gemahlin ergriffen war. Er wagte kaum, sie zu stören und bot ihr seinen Körper wie ein Opfer dar. Dankbar nahm sie es an.

Das erste Blitzen der Sonne erstrahlte am Horizont, während der Vollmond im Meer versank. Genevieve warf sich auf Tronadors Brust, umklammerte seine Beine und zog ihn auf sich. In ihr erwachte eine immense Energie, die auch ihn mitriss. Mit einem Aufschrei voller Exstase stieß er wieder und wieder in sie.

Plötzlich erstarrte er. Noch im Liebesakt miteinander vereint, trat die Verwandlung bei ihm und seiner Gemahlin ein. Er wollte sich von ihr lösen, doch sie ließ ihn nicht los. Der Wind begann mahnend zu brausen, während Genevieve Arme und Beine um seine Schultern schlang. Laut schrie sie ihre Lust in den Himmel und rotierte wild unter ihm.

Tronador fühlte, wie sich seine Beine zu schuppen begannen. „Genevieve …“, stammelte er und versuchte, sich aus ihren Armen zu lösen, während ihm der Atem zu stocken schien. Sie erstickte seinen Protest mit einem innigen Kuss, setzte sich auf und wechselte mit beinahe furienhafter Kraft die Position. „Vielleicht werden wir sterben …“, flüsterte sie. „Die Göttin hat es gesagt.“

Aus der Ferne hörte er das tosende Brausen des Meeres und rief es in Gedanken herbei. Er wusste nicht, ob es ihm gelänge, doch instinktiv fühlte er, dass er es brauchte. „Was hast du … mir verschwiegen?“, fragte er stockend.

Genevieve schmiegte sich an seinen Körper und umschlang seine Beine mit ihren, ohne ihn aus ihrer feuchten Liebesklammer zu lassen. „Wenn wir uns verwandeln, während wir noch auf Stellamaris sind, gibt es für uns keine Rettung mehr.“ Ihr Blick funkelte fast triumphierend. „Für immer wären wir eins …“

„Du bist verrückt“, keuchte er. Angst spiegelte sich in seinen Augen. „Wenn es so ist, wie du sagst, sind wir des Todes.“ Beruhigend koste sie sein Gesicht. „Vertrau mir, wir werden nicht sterben. Das Meer wird uns retten.“

Auch ihre Beine wurden allmählich wieder zu Flossen, doch noch hatte sie Spiel – und Zeit, der Gefahr zu entfliehen. Sie blickte aufs Meer und sah es kommen. Langsam bewegte sie sich auf Tronadors Lenden. Sie wollte bei ihm sein, wenn es geschah. Er in ihr, sie mit ihm vereint, Körper an Körper, Herz an Herz. Ein exzessives Zucken ergriff ihren Leib und erstreckte sich auch auf ihn, den sie liebte.

Tronador stöhnte. „Ich habe es immer gewusst: Du bist ein gefährlicher Geist.“ Mit einem Lächeln entschärfte er seine Worte, dann erbebte auch er.

Zugleich kam die Flut. Erst, als das Meer sie ergriff, löste Genevieve ihre Umarmung, fasste ihren Gemahl bei der Hand und zog ihn mit sich hinab in die Tiefe. Das Wasser überspülte ihre Spuren im Sand, überrollte das Festland und erfüllte das Siebengewölbe wieder mit seiner Macht.

 

***

Lange danach ...

 

In einer einzigen Nacht hatte sich alles verändert. Genevieve trug das lang ersehnte junge Leben in ihrem Leib, Tronador wurde Vater. Die Königin Avalonias hatte zudem die Zeit kennengelernt, die allerdings in der Goldenen Stadt kaum eine Rolle zu spielen schien. Am Meeresgrund zählten weder der irdische Tag noch die Nacht, wichtig war nur das Überleben.

Dennoch profitierte auch das avalonische Volk von den Lehren der Göttin, und bald fand ihre Legende den Weg in die Annalen der Tafeln. Gleichwohl blickte Genevieve nie mehr zurück - eingedenk der schmerzlichen Worte, dass es keine Rückkehr mehr gab. Sie würde lernen müssen, damit zu leben, so schwer es ihr fiel. Tronador half ihr dabei, wenngleich er nicht verstand, was mit ihnen geschehen war. Selbst lange danach empfand er die Erinnerung wie einen gemeinsamen Traum.

Schnell verbreitete sich die Botschaft der zu erwartenden Elternschaft des Königspaars. Die Freude in Avalonia war riesengroß. Sämtliche Bürger der Goldenen Stadt hatten all die Jahre für das Paar gehofft und konnten sich der allgemeinen Euphorie nicht entziehen. Oft verweilten Tamila, Marianis und Tweja bei der Königin, um plaudernd an ihrem Glück teilhaben zu dürfen.

Durch die gemeinsame Zeit der Schwangerschaft wurden Genevieve und Marianis unzertrennlich. Auch die werdenden Väter, Fronkalis und Tronador, verbrachten noch mehr Zeit miteinander. Endlich zog das Glück im Königshaus ein.

Marianis war die Erste, die zwei kleine Junker und ein Maidlein gebar. Sie wurde in Gedenken an die in der Schlacht gefallenen Freundin  Megalis genannt, die beiden Burschen hießen Donavis und Mortem.

Die verbleibende Zeit ihrer eigenen Schwangerschaft verbrachte die Königin von Avalonia viel in der Wohnhöhle der kleinen Familie. Sie konnte sich nicht satt sehen an den winzigen Meereswesen in ihren schillernden Blasen, von denen sich Donavis und Mortem eine teilten. Es faszinierte sie, das Zwillingspärchen zu beobachten, das ganz offensichtlich voller Zuneigung zueinander war. Beide sahen sich ähnlich mit ihren dunklen Schöpfen, während Megalis' Haar rötlich war. In ihr wuchs die Hoffnung, dass die Göttin sich irrte. Ein Pärchen, ja, auch das hätte Platz in ihrem Herzen.

 

***

Es kam jedoch anders, ihr Wunsch nach einer Mehrlingsgeburt erfüllte sich nicht. Tronador war auf Reisen, als Genevieve eine kleine Prinzessin gebar. Die Befürchtung der Königin kurz vor der Zeugung, dass ihre Tochter ein Mischwesen sei, traf nicht ein, und somit ging dieser Kelch an der glücklichen Mutter vorbei. Die Maid war eine würdige Neubürgerin in der Goldenen Stadt.

Genevieve schickte Thimorioth als Kurier in die Gewässer der Kraken, um den König zu holen. Bald war die kleine Familie wieder in der Halle der Sieben vereint. Glücklich suchten sie gemeinsam nach einem Namen und einigten sich auf Adravanta.

Vonseiten des Volkes wurde die Ankunft der kleinen Meerjungfrau jubelnd begrüßt. Nachdem Genevieve wieder etwas bei Kräften war, machte Avalonias Mütterschaft ihre Aufwartung in der Residenz, im Bestreben, die Kleine im Schoß der Gemeinschaft aufzunehmen und die Mutter zu ihren regelmäßigen Zusammenkünften zu laden.

Die Halle der Sieben wurde zu einem Ort voller Euphorie und Magie. Binnen Kurzem wurde ein rituelles Fest anberaumt, um die Geburt der kleinen Nixe zu feiern. In Windeseile verrann nunmehr die folgende Zeit, und die Prinzessin eilte mit geschwinden Flossenschlägen durch ihre Kindheit.

 

***

Ein kleiner Wildfang

 

Vielerlei Kinderstimmen lärmten vergnügt durch die türkis schillernde Unterwasserwelt der Residenz. Genevieve und Marianis saßen gemeinsam in einer Nische der königlichen Privatgemächer und sahen einander schmunzelnd und vielsagend an. Die etwas ältere Maid schüttelte gespielt fassungslos ihr Haupt und wandte sich lachend erneut ihrer Arbeit zu. „Eure Kleine hat bereits die besten Voraussetzungen, um Euch und Eurem Gemahl nachzueifern, Genevieve. Sie scheint die perfekte Anführerin zu sein. Meine drei Rangen folgen ihr nur allzu gern.“ 

„Ich wünschte, sie wäre etwas weniger wild. Adravanta hat eher die Qualitäten einer Rebellin als die einer Anführerin“, seufzte jene zur Antwort.

„Von wem sie das wohl hat?“, murmelte Marianis halblaut vor sich hin und sah ihre Königin schelmisch schmunzelnd an.

Genevieve parierte schlagfertig: „Ihr kennt mich zu gut. Somit sollte ich mir eine neue Beraterin suchen, die mich nicht bis auf den Grund meiner Seele durchschaut.“ 

Marianis zog es vor, auf jene scherzhafte Kampfansage zu schweigen und lächelte still in sich hinein. Sie genoss es sichtlich, mit ihrer Gefährtin aus Kindertagen beieinander zu sein und mit ihr wie einst lachen zu können.

Wehmütig erinnerte sie sich an die Zeit, als sie alle miteinander mit Megalis und Sirja eine eingeschworene Gemeinschaft gebildet hatten. Möglicherweise war es Genevieve nicht bewusst, dass ihre Tochter Adravanta lediglich über dasselbe Charisma verfügte wie ihre Mutter.

„Woran denkt Ihr, Marianis? Ihr wirkt etwas abwesend“, wurde sie prompt neugierig gefragt. Die Nixe sah von den Steintafeln auf und legte den Diamantsplitter beiseite. Offen lächelte sie Genevieve an: „An unsere eigene Jugend, Gebenedeite. Sirja und Megalis vermisse ich sehr.“

Ein Schatten zog über das Antlitz der Königin. „Es ist schmerzhaft, sie nicht mehr bei uns zu haben. Diese unglückselige Schlacht hat uns viel gekostet, auch das Leben meiner Eltern. Weiterhin frage ich mich oft, ob Astril und Yoras noch unter uns weilten, wenn die Pterigotus seinerzeit nicht gekommen wären.“

„Verzeiht, Genevieve. Ich wollte Euch nicht trübe stimmen. Es wäre sehr wünschenswert, wenn jener unsägliche Todesschatten bis in alle Ewigkeit von Avalonia weichen wollte. Er verdunkelt noch immer unsere Gemüter und beraubt uns des Lachens“, erwiderte Marianis bedrückt. Die unbeschwerte Heiterkeit war von den Maiden gewichen. 

Das Gelächter der Nixenkinder, die durch die Festungshalle tobten, näherte sich und riss die beiden Mütter aus ihrem Gespräch. Ehe sie es sich versahen, begann das Wasser zu rauschen und zu strudeln. Kichernd und schnatternd zog auch schon die wilde Hatz von zehn kleinen Maiden und Junkern an ihnen vorbei. Biegsam wogten die Halbwesen durch die Meerestiefen. Allen voran drehte sich ein forscher Wildfang mit goldenen, krausen Haaren, lockte ihre Gefährten mit gutturalen Lauten und stob von dannen, sobald sie sich näherten. Mit ihren kleinen, silbern geschuppten Flossen schnellte sie sich in sämtliche Richtungen, stieß sich pfeilschnell durch das Wasser und verstand sich darauf, ihre Häscher zu narren.

Die beiden Mütter sahen der kleinen Horde hinterher und lachten amüsiert über Adravantas Kapriolen. Marianis nutzte die günstige Gelegenheit und wechselte das vorherige Thema: „Gehorcht Euch die Kleine, wenn Ihr sie gemahnt, umsichtiger zu sein?“ 

Genevieve antwortete: „Wenn dem nur so wäre. Adravanta liebt es, uns alle zu täuschen. Lassen Tronador oder ich sie nur kurz aus den Augen, ist sie verschwunden. Am liebsten weilt sie in den Höhlen beim Vulkan.“ 

„Somit hat sie eine weitere Gemeinsamkeit mit ihren Eltern“, lachte Marianis. „Wer weiß, ob Adravanta nicht später ebenso wie ihr Vater Vulkane erkunden will.“ 

„Dies könnte durchaus geschehen“, erwiderte die Königin. „Tronador nimmt sie fast überall mit auf seine Reisen, um ihr seine Forschungsobjekte zu zeigen.“

Die beiden Meerjungfrauen plauderten weiterhin über alles Mögliche, während sie mit dem Gravieren von Steintafeln beschäftigt waren. Mit einem halben Ohr horchten sie auf das Gelächter der kleinen, tobenden Nymphen. Schließlich seufzte Genevieve auf und legte ihre Arbeitsmaterialien beiseite.

Als Marianis sie fragend ansah, erklärte sie: „Es ist verdächtig still geworden. Vermutlich hat Adravanta ihr Heil in der Flucht gesucht und ihre Gäste desselben angestiftet. Wo sie wohl abgeblieben sind?“

Die beiden Mütter kamen überein, sie zu suchen, verließen die Höhle, durchquerten das große Gewölbe und entschwanden in die Richtung, in der sie die Kinderschar vermuteten. Sie mussten sich nicht allzu lange gedulden: Einige Tauchstöße weiter sahen sie auch schon das Ende der kleinen Truppe verabschiedend von dannen wedeln. 

Marianis und Genevieve wechselten verständnisinnige Blicke, beschleunigten ihr Tempo und folgten den ungehorsamen Kindern, ohne auch nur ein Wort zu wechseln.

 

***

In den untersten Regionen des Yapetus schimmerte das Wasser in den Tönen eines Aquamarins. Regenbogenfarbene Fische hetzten zickzackförmig durch Felsportale und Seelilien, die gierig ihre tentakelförmigen Blütenblätter öffneten und nach ihnen schnappten. Wenn denn eines der kleinen Schuppentierchen etwas zu waghalsig war, konnte es durchaus geschehen, dass es im Schlund dieser fleischfressenden Pflanzen landete und in atemberaubender Geschwindigkeit von deren ätzenden Säften zersetzt wurde. Die Rächer der Fischlein folgten in Form einer kleinen Horde Nixenkinder, die kichernd durch die von mannshohen Seeweiden bewachsenen Gewässer wogten und etlichen Seelilien den Garaus machten. Die Flossenrangen mit den niedlichen Babygesichtern knickten sie unbekümmert ab und schlangen sich die biegsamen Stängel um ihre Taille. 

Adravanta und ihre Gefolgschaft, die ihr in punkto Ungestüm ebenbürtig war, interessierte es herzlich wenig, dass die Blütenköpfe noch in einem letzten, verzweifelten Rettungsversuch nach ihren kleinen, schuppenbedeckten Fingerchen schnappten. Gnadenlos rissen sie die Kelche der Pflanzen auseinander und ließen sie achtlos zum Meeresgrund schweben. Triumphierend feixten sie einander an, wenn die eine oder andere Seelilie ihre soeben ergatterte Beute unversehens ihren Fängen entlassen musste und sich um ihr köstliches Mahl gebracht sah. 

Übermütig tobte Adravanta mit ihrer illustren Gästeschar durch die Goldene Stadt. Sie umringten die Eingangssäulen der Wohnhöhlen und zerrten unbedacht an deren mühsam angebrachten Verzierungen aus Nixenhaar und sonstigem Schnickschnack. Schnatternd stoben sie von dannen, wenn einer der Höhlenbewohner lauthals scheltend aus seinem Domizil geschnellt kam. Sie entfernten sich immer weiter und strebten auf die Freien Gewässer zu, ohne zu ahnen, dass ihnen beide Mütter dichtauf folgten. 

Die Königin stieß einen verärgerten Seufzer aus, als sie sah, wie lieblos ihre Tochter die Früchte des Ozeans behandelte. Mit gefurchter Stirn sah sie ihre Gefährtin Marianis an und zischte wütend: „Oft scheint mir alles, was ich Adravanta beigebracht habe, vergeblich zu sein. Sie stiftet ihre Begleiter zu allem möglichem Unfug an und zerstört mutwillig alles, worauf wir einstens stolz waren. Ich wünschte, sie wäre etwas weniger wild." 

„Seid Ihr nicht etwas zu streng mit Euch selbst und Eurer Tochter? Wir waren ebenfalls Kinder und wuchsen nur unwesentlich gehorsamer auf“, wagte Genevieves Freundin einzuwenden. „Adravantas Temperament zeugt von einer unbeschwerten Kindheit voller Liebe und Fürsorge.“ 

„Dennoch. Weshalb kann Adravanta nicht etwas achtsamer mit Pflanzen umgehen, die uns letztendlich am Leben erhalten? Wie oft habe ich ihr gepredigt, dass alles Lebende heilig ist und dementsprechend behandelt werden will. Die wilde Range lacht mich nur aus.“

Neugierig, wohin Adravanta ihre Gäste wohl führen möge, hielt sich die Königin weiterhin im Hintergrund. Die beiden Meerjungfrauen folgten der wilden Horde, um heimlich ein wachsames Auge auf sie zu haben.

Insgeheim genossen Genevieve und Marianis den ihnen unverhofft bescherten Wandelgang durch Avalonia, der sie aus der Tristesse ihres Alltags riss. Hin und wieder kreuzten Junker und Maiden des Meervolks ihre Pfade, huldigten den beiden Gefährtinnen in gebührendem Maße und zogen nach einigen belanglosen Worten ihrer Wege. 

Vor den Blicken ihrer nichtsahnenden Schützlinge zwischen wogendem Seegras verborgen, glitten die beiden Verbündeten lautlos durch das leuchtende Meer. Verblüfft beobachtete Genevieve, wie die kleine Gruppe eine Schleife machte und umkehren zu wollen schien. Die Königin gab ihrer Freundin Handzeichen, um sie zu warnen. Die Mütter verbargen sich in einer Höhle und erwarteten die weiteren Geschehnisse.

Bald darauf rauschten die Kleinen an ihnen vorbei. Genevieve und Marianis ließen ihnen einen gewissen Vorsprung, bevor sie ihre Deckung aufgaben und ihnen folgten.

Adravanta führte ihre Gefährten zurück zur Halle der Sieben. Aufgeregt plaudernd begaben sich die Kinder zu einer geräumigen Stelle mit möglichst wenigen Hindernissen und bereiteten unter hunderterlei neugierigen Blicken eines Schwarms breiter, flacher Flundern ihren allerersten Aufstieg vor. Mit großspurigem Gehabe gab die kleine Maid Anweisungen an ihre Gefährten, verspottete diejenigen, die sich als Moralapostel aufspielen wollten und verbarg durch übertriebenen Mut ihre eigene Scheu vor den in Bälde zu erwartenden Abenteuern.

Schließlich hatte Adravanta erreicht, dass sich nicht einer ihrer Dominanz entziehen konnte und sich alle instinktiv in einer ringförmigen Formation um die kleine Meerjungfrau gruppierten. Dies war der Moment, in der Genevieve und Marianis besorgt zum Vorschein kamen und zu den wagemutigen Ausreißern stießen.

Die Königin konnte sich nicht enthalten, ihrer Tochter wegen ihrer Unvernunft Vorwürfe zu machen. Wie nicht anders erwartet, nützte es wenig. Adravanta ließ sich nicht davon abbringen, zum Meeresspiegel aufsteigen zu wollen. Gekonnt setzte sie ihrer Mutter gegenüber die Waffen eines Kleinkindes ein, um ihrem Willen Genüge zu tun. Sie lieferte einen Schauspielakt ab, der ihr Publikum in seinen Bann ziehen musste. Genevieve vermochte es nicht, sich Adravantas inniglich flehendem Blick zu entziehen. 

Von der zur Schau gestellten Rebellion der Prinzessin, mit der sie vor allem die kleinen Junker beeindruckt hatte, war nichts mehr zu spüren. Mit Schmollmund sah Adravanta ihre Mutter aus meergrünen Kulleraugen an, stemmte sich auf ihre Brust und drängte sie, ihr den Regenbogen zu zeigen. Alle Widerworte waren vergeblich: Genevieve versuchte, Adravanta auf einen späteren Zeitpunkt zu vertrösten, führte ihr mangelnde Zeit vor Augen und wand sich wie ein Aal, um dem Begehren ihres Sprösslings zu entkommen. So gern, wie sie den Wunsch ihrer Tochter erfüllen würde, sie konnte sich nicht dazu überwinden. Zu schmerzhaft erschien ihr das Verlorene, das verbotene Reich. Hatte nicht die Göttin gesagt, dass es keine Rückkehr mehr gab?

Zum Kummer ihres Gemahls hatte die Königin seit Adravantas Empfängnis Stellamaris gemieden. Am Liebsten hätte sie die schmerzlich schönen Momente komplett aus ihrem Gedächtnis getilgt, wusste sie doch, dass sie sich nicht wiederholten. Sie hatte das Reich des Himmlischen Vaters entdeckt – und nun war ihr der Zugang verwehrt, zumindest empfand sie es so. Es machte sie bitter, die Metamorphose zur Göttlichkeit laut der Prophezeiung von Venus nicht noch einmal erleben zu dürfen. Aus diesem Grund erwog sie nie wieder, sich in der Bucht von Stellamaris zu tummeln und die einfachen Freuden des Meervolks mit ihnen zu teilen. Sie hatte ganz andere Dimensionen erreicht.

‚Alles oder nichts’, dachte sie und blickte ins Gesicht ihrer Tochter. Sie war glücklich, ihr Aufwachsen erleben zu dürfen, hatte sie gesäugt, wie es die Göttin verlangte und hatte trotzdem nicht verstanden, weshalb. Es kam ihr vor wie eine Strafe für eine Untat, die sie nicht begangen hatte, die letzten Attribute des Göttlichen noch an ihrem Körper zu tragen. Oft genug gemahnte sie sich selbst in solchen dunklen Momenten der Frevelei und der Blasphemie, nichtsdestotrotz fühlte sie sich zerrissen – und manchmal verzweifelt.

 

***

Marianis war wegen Genevieves Weigerung, die unteren Regionen des Yapetus zu verlassen, dementsprechend befremdet. Noch immer sprangen heftige Worte zwischen der Prinzessin und ihrer Mutter wie Bälle umher. Mittlerweile schossen die Augen der Kleinen zornige Pfeile in Genevieves Antlitz. Vor Wut zitterte sie am ganzen Körper. 

Es war ihr anzusehen, dass Adravanta kurz davor war, in Tränen auszubrechen. Nur die Anwesenheit ihrer Spielgefährten, die neugierig das Schauspiel beobachteten, hinderte sie noch daran.

Marianis blieb hilflos inmitten der kleinen Horde im Hintergrund. Neben ihr hatten sich ihre drei eigenen Kinder eingefunden. Ihre kleinen Gesichter wirkten etwas verunsichert, und die Hand ihres Sohnes Donavis stahl sich zwischen ihre Finger. „Helft Adravanta, Mutter“, flüsterte er Marianis flehentlich zu. „Wir wollen alle zum Regenbogen.“ 

Schließlich konnte es die königliche Beraterin nicht mehr ertragen. Sie verstand nicht, weshalb Genevieve sich dermaßen vehement dagegen wehrte, mit den Kindern nach oben zu steigen und ihnen das Paradies des Meervolks zu zeigen. Marianis beschloss, einzugreifen und jene hier und sogleich an den Ort ihrer Jugendtage zu entführen, an dem sie sich den Himmlischen Mächten so nahe fühlten.

Unter anderen Umständen würde sie sich niemals ungefragt in die Angelegenheiten ihrer Königin einmischen, geschweige denn in Adravantas Erziehung. Ihr wollte es jedoch nicht einleuchten, weshalb Genevieve ihrer Tochter kostbare Kindheitsträume verbot.

Die engste Vertraute der Königin sah die erwartungsvoll auf sie gerichteten Augen der um sie gescharten Kinder, gab sich einen Ruck und schwamm zu dem ungleichen Paar hinüber. Begütigend legte sie die Hand auf Genevieves Schulter und sprach: „Vergebt, Gebenedeite, wenn ich es wage, Euch anzusprechen. Seht die Blicke, die erwartungsvoll auf Euch gerichtet sind. Sie sehnen sich nach heiteren Spielen. Gewährt Eurer Tochter ihren sehnlichsten Wunsch und lasst sie uns begleiten. Wir sind lange nicht mehr oben gewesen.“ 

Genevieve sah, wie Adravantas Augen hoffnungsvoll aufleuchteten. Mit umwölkter Stirn sah sie ihre Beraterin an und erwiderte heftig: „Was erdreistet Ihr Euch, den Kindern unnütze Hoffnungen zu machen? Ich werde sie nicht unnötigen Gefahren aussetzen. Es hat sich einiges auf der Insel verändert, und wir wissen nicht, was uns am Meeresspiegel erwartet.“ 

„Habt Ihr jegliches Vertrauen verloren? Wovor fürchtet Ihr Euch? Weshalb sollten wir in Gefahr schweben, wenn wir uns zu jenem Ort, an dem wir bisher unseren Frieden fanden, begeben? Allmählich wird mir einiges klar. Eure Weigerung entspringt lediglich Eurem eigenen Schmerz, verzeiht meine harten Worte. Wie lange wollt Ihr Euch noch dem Licht der Sonne entziehen?“ Unbedacht redete sie auf die Königin ein. Siedend heiß wurde es Marianis bewusst, dass sie es an gebührendem Respekt mangeln ließ und erwartete bereits den flammenden Zorn der Königin.

Genevieve erbleichte, und Adravantas Blicke huschten verständnislos zwischen den zwei Freundinnen umher. Allmählich erkannte selbst die kleine Prinzessin, dass ihr Wunsch nach dem Land ihrer Träume ihre Mutter verletzte. Wenn sie auch nicht wusste, weshalb dies so war: Sie machte einen Rückzieher. Keinesfalls wollte sie ihrer Mutter Schmerzen zufügen. Die kleine Maid stieß sich ab, schnellte in die Höhe und warf Genevieve die Arme um den Hals. Innig schmiegte sie sich an ihre Wange und bat flehentlich: „Vergebt, Mutter. Ich werde mich fügen und mit Euch in unser Domizil zurückkehren. Ihr habt mir so viel von jenen Wundern erzählt, dass ich sie selbst erblicken wollte." 

In der Tat drang Adravanta zu der Königin durch. Die Zärtlichkeit ihrer Tochter rührte an Genevieves Herz. Sie machte sich bittere Vorwürfe ob ihrer eigenen Arroganz. Plötzlich fragte sie sich, wo ihr Glauben an die universellen Wunder geblieben war. Hatte sie all die kostbaren Momente, in denen sie im Schoß des Himmlichen Vaters geborgen gewesen war, womöglich vergessen? Möglicherweise hatte sie den Halt des Schicksals nicht mehr gebraucht, war das der Grund?

„Nein“, sprach ihre innere Stimme, während ihre Gedanken blitzschnell die Windungen ihres Gehirns durcheilten. „Ich liebe Euch, Herr. Vergebt, wenn ich Euch aus meinem Leben ausgeschlossen habe, weil Ihr Euch nicht zeigtet. Meine Tochter soll Eure Wunder erblicken. Gebt, dass sie nicht verloschen sind. Lasst nicht Unschuld für die Schuld einer Einzelnen büßen.“

„Sie erlöschen erst, wenn Dein Herz nicht mehr sieht, Genevieve. Dein Glauben, Deine Liebe und Deine Träume lassen  Dich die göttlichen Wunder erkennen. Ich bin immer da, auch wenn es Dir anders erscheinen mag“, wisperte es leise in ihrem Herzen.

In dem Moment fühlte sich die Königin Avalonias wie eine Blinde, der soeben das Licht des Himmels erschien. In überschwänglichem Glück umschloss sie einen Moment ihre Muschelkette, um kurz darauf Adravantas Liebesbeweis zu erwidern. Bedächtig zog sie ihre Tochter an ihre Brust und bot ihr das erste Mal seit längerer Zeit jenes Opfer der Liebe an, das für eine Mutter kein schmerzlicher Verlust war. Ehrfürchtig und stumm beobachteten zehn Augenpaare, wie Genevieve die Prinzessin zu säugen begann.

Liebevoll strahlend sahen Mutter und Tochter einander in die Augen und schwiegen. Im Hintergrund schimmerte ein Felsportal wie Elfenbein und umrahmte das Paar. Ihre Konturen verwischten und wurden von einer goldenen Aura umhüllt. Das Band der Liebe wurde für jedermann sichtbar und wand sich silbern um die schwebenden Körper von Mutter und Tochter.

Marianis wähnte sich träumend. Der Mütterschaft Avalonias war diese Gunst des Himmels versagt, was ihr zeigte, dass Genevieve auserwählt war.

Demut ergriff sie. Halt suchend scharte sie ihre eigenen Kinder um sich und schlang ihre Arme um sie. Adravantas Gefährten nahmen einander bei den Händen und wagten es nicht, Mutter und Tochter zu stören. Die Kleine hatte beide Hände auf Genevieves schimmernden Busen gelegt und sog voller Inbrunst daran. Ihre Augen verschleierten sich, und ihr Gesicht war voller Frieden.

Zärtlich streichelte Genevieve ihr rosiges Antlitz. Ihr silbernes Haar verhüllte Adravanta wie ein kostbarer Mantel. Als die Königin ihre Tochter wieder aus ihren Armen entließ, schmiegte diese ihr Puttengesichtchen gegen die Wange der Mutter und flüsterte piepsig: „Ich liebe Euch, Mutter. Könnt Ihr mir meinen Ungehorsam jemals verzeihen?“

„Ich habe Dir nichts zu verzeihen. Ich war Dir nie gram, auch ich liebe Dich. Wir wollen euch Kinder nur vor Schaden bewahren, dies ist der Eltern heilige Pflicht“, antwortete Genevieve weich. „Du musst Deinem Wunsch nicht entsagen. Wir werden Dich und Deine Gefährten zum Regenbogen begleiten. Versprich mir jedoch, Dich niemals ohne uns dorthin zu begeben, Adravanta. Zumindest solange, bis Du einen Teil Deiner Kindheit hinter Dir gelassen hast.“

 Vielstimmiger Jubel aus zehn kleinen Kehlen riss die Königin aus ihrer Versunkenheit im Zwiegespräch mit der wilden Prinzessin. Marianis lachte befreit auf, als Adravanta mit drollig ratloser Miene Genevieve fragte: „Wann wird das sein, Mutter, sagt an? Wie lange noch bin ich zu jung?

Schließlich wurde Adravantas Begehren unter dem Jubel der Prinzessin sehr zu Marianis‘ Erleichterung entsprochen. Schweren Herzens übergab die Range ihre gewohnte Führungsrolle an Genevieve und leistete widerstrebend ihren Anweisungen Folge.

Wiederum versammelten sich die Kleinen, umringten Genevieve und Marianis und warteten euphorisch auf den Beginn ihrer Reise. Die Aufregung ließ Adravantas meergrünen Kulleraugen noch größer erscheinen, sie glänzten wie im Fieber. Zu ihrer Linken hatte sich Junker Donavis, Marianis‘ Sohn, eingefunden und umklammerte in freudiger Erregung das kleine Händchen seiner Gefährtin. Voller Stolz ruhten die Augen der beiden Mütter auf dem niedlichen Paar.

 

***

Die Natur hatte in Stellamaris deutliche Fortschritte gemacht. Die Hänge leuchteten in zartestem Grün und waren von flamingofarbenen Orchideen bedeckt. Am Strand hatten sich verschiedene Muschelarten im Sand vergraben und leisteten allerlei Kleingetier zwischen Farnen und Felsgeröll illustre Gesellschaft.

Adravanta ließ sich lachend von den Schwingen des Windes tragen, betrachtete die völlig neue Umgebung und befand, dass die Erzählungen ihrer Mutter deren Schönheit bei Weitem nicht gerecht werden konnten.

Mit einer übermütigen Drehung ließ sie sich fallen und winkte vom Wasser aus ihren Spielgefährten zu. Jene plantschten mit staunenden, weit aufgerissenen Augen in der Bucht jener majestätischen Insel, deren großflächige Wurzel am Meeresgrund die Halle der Sieben beherbergte. Die kleine Prinzessin hielt mit kräftigen Stößen auf die Gruppe zu und gesellte sich zu ihnen. Instinktiv suchte sie die Nähe zu den Kindern von Marianis, mit denen sie eine besonders innige Freundschaft verband.

Megalis nahm sie denn auch sogleich in die Pflicht und bat sie jubelnd, mit ihnen die neuen Gewässer zu erkunden. Laut schallte das freudige Lachen der kleinen Flossenrangen durch die urtümliche Stille. Lediglich das kraftvolle Rauschen des Flusses hoch über ihren Köpfen begleitete die glockenhellen Stimmen jener mystischen Meereswesen der irdischen Urzeit. Von den Bergen herab stürzten die Fluten in das Becken der Bucht, in welcher die Brandung mit Brachialgewalt tobte. Abermilliarden kleinste Wasserperlen lösten sich aus dem silbernen Vorhang und verteilten sich gischtend bis hinauf in den Himmel. Über dem Fall prangte prachtvoll schillernd das Tor in eine andere Welt.

Die Schmach der Rache

Die Prinzessin scharte ihr Gefolge schon in den ersten Jahren der Kindheit um sich und genoss deren uneingeschränkte Verehrung. Weder Maid noch Junker konnten sich ihrem Charisma entziehen. Es schien undenkbar, ihr einen Wunsch abschlagen zu können. Auch die Liebe der Eltern war ihr gewiss, gepaart mit milder Strenge vonseiten der Mutter und Duldsamkeit durch Tronador.

Aus Ungestüm wurde allmählich Mut, aus Unbedachtsamkeit und kindlicher Neugier formte sich ein Lernwille, der dem Forscherdrang des Vaters in nichts nachstand. Für Adravanta war es selbstverständlich, die Fähigkeiten der Mutter zu beherrschen; und infolgedessen kannte sie auch die avalonische Schrift.

Etliche der Abenteuer, die sie mit ihren Schergen erlebte, wurden ebenso auf Steintafeln gebannt, um sie der Nachwelt zur Verfügung zu stellen. Vor neugierigen Blicken in einer Grotte hinter der Festungshalle verborgen, beinhalteten die in kindlicher Runenform verfassten Dokumente etliche Geheimnisse, die sie mit niemand anderem teilen wollte. Späterhin sollten Adravantas Aufzeichnungen zu einem fehlenden Schlüssel in der Historie Avalonias werden, der abscheulichste Schmach aus den Reihen ihrer engsten Vertrauten hinter zerstörtem Gefelse auf ewig verschloss.

 

***

Marianis und Fronkalis ließen es ihren drei Sprösslingen ebenso wenig an elterlicher Zuneigung wie an milder Strenge fehlen. Die engsten Verbündeten der Königsfamilie lehrten sie Achtung und Respekt voreinander, bevorzugten keines der Kinder und ließen sie eine unbeschwerte Jugend ohne allzu viel fesselnde Zwänge und Schelte durchleben. Unnachgiebigkeit wandten sie an, wenn sie es für angebracht hielten und vermittelten ihnen, ihre Gaben zu nutzen und Reinheit in ihren Herzen zu wahren.

Dennoch blieb es nicht aus, dass Donavis und Mortem zu zwei munteren Burschen wurden und eine gesunde Rivalität zueinander entwickelten. Mit dem Fortschreiten ihres Wachstums begann ein Kräftemessen zwischen ihnen, vorläufig um die Gunst von Megalis, der Schwester. Unablässig suchte sich ein jeder der Beiden vor ihr zu beweisen, sie maßen sich in sportlichen Wettkämpfen  und stritten sich spielerisch. Die harmlosen Kinderspiele endeten jedoch niemals in Tätlichkeiten untereinander, Gewalt war ihnen fremd und zudem verpönt. Die beiden Brüder liebten einander ebenso wie Megalis, ihre besonnene Schwester.

Die drei Geschwister genossen die Gunst von Prinzessin Adravanta und waren ebenso eng mit ihr verbunden wie ihre Eltern mit Genevieve und Tronador. Die vier Gefährten bildeten eine verschworene Gemeinschaft, wobei Adravanta stets die führende Rolle innehielt. Nie war auch nur eins der drei Geschwister von einem Erlebnis ausgeschlossen.

Lediglich die Maid mit dem kupferglänzenden Vlies, Megalis, war ab und an die Stimme, die zu mehr Bedacht gemahnte, wenn ihr die Abenteuer gar zu waghalsig wurden. Umso mehr besaß sie Adravantas Wohlwollen, die ihre Freundin insgeheim ob ihrer wohltuend gemäßigten Art über alle Maßen bewunderte.

So war es in der Folge nicht weiter verwunderlich, dass die beiden Maiden im Wandel der Zeit zu Gefährtinnen wurden, die sich etliche Heimlichkeiten miteinander teilten. Liebevoll nahm Adravanta ihre Freundin „Koralle“, wie sie diese spitzbübisch nannte, bei der Hand und streifte allein mit ihr durch die Gewässer. Gemeinsam erkundeten sie verschwiegene Höhlen am Meeresgrund und verbrachten andachtsvolle Momente.

Oft verweilten sie auch am Vulkan, wo schon Genevieve Geborgenheit fand. So hallten die ersten Heimlichkeiten der Freundinnen leise raunend durch feurig durchglühte Gewölbe, so alt wie die Erde, und wurden vertrauensvoll in Hjordis’ Hände gelegt. Nicht selten vernahmen die dicken Felswände schüchterne Geständnisse jung aufknospender Leidenschaft für den einen oder anderen stattlichen Junker, die sich die Maiden verschämt kichernd in Nischen geborgen zureichten. Bald wurde diesen stummen Zeugen der Ewigkeit die Liebe der Prinzessin zu Donavis offenbar und verschlossen Adravantas süßes Geheimnis hinter dickem Gestein.

 

***

Ränke des Schicksals

 

Adravantas heimliche Liebe zu dem Junker blieb weder unbemerkt noch unerwidert, und somit nahm das Schicksal unaufhaltsam seinen unseligen Lauf. Je offensichtlicher ihre gegenseitige Zuneigung wurde, desto gespaltener wurde das Verhältnis zwischen Donavis und Mortem. Unmerklich für Andere vollzog sich in Letzterem ein Wandel, der nichts Gutes hervor bringen konnte.

Während sich die zwei Brüder äußerlich wie Zwillinge ähnelten, kristallisierten die unterschiedlichen Charaktere sich mehr und mehr heraus. Donavis wuchs zu einem tapferen, ehrenhaften Junker heran und schlich sich heimlich, still und leise in die Herzen des Königspaars. Genevieve und Tronador beobachteten wohlwollend die wachsende Freundschaft zu Adravanta, zumal der Sohn von ihren hoch geschätzten Vasallen offensichtlich guten Einfluss auf die zuweilen ungebärdige Prinzessin zu nehmen schien.

Ansehnlich war er allemal, mit jugendlich kräftigem Oberkörper; nachtschwarze Locken umkränzten sein edel geschnittenes Antlitz. Donavis‘ muskulöse Schwanzflossen, die seinen Unterkörper bildeten, waren von wilden Wettkämpfen mit seinem Bruder gestählt und schimmerten wie von Grünspan überzogenes Messing.

Mortem bot ihm jedoch ohne Weiteres die Stirn, zumindest in Sachen Attraktivität und Kraft. Was die Schönheit des Herzens anbetrifft, nun: Es schlummerten Eigenarten in ihm, die alles andere als redlich waren. Sie befanden sich zwar noch tief auf dem Grund seiner Seele, verborgen vor allzu neugierigen Blicken, doch drängten sie mit Macht an die Oberfläche seines Wesens empor. Brodelnd gärte in ihm Missgunst auf seinen Bruder Donavis, der regelmäßig in der Halle der Sieben gastierte, als ob die Residenz sein Elternhaus sei. Mortem war indessen schlau genug, sich nicht zu offenbaren und täuschte weiterhin Bruderliebe und Solidarität gegenüber dem Königshaus vor.

Waren die beiden Burschen jedoch allein, entbrannten verbitterte Kämpfe, die zunehmend ausarteten. Unglücklicherweise war Donavis ihm gegenüber dennoch über alle Maßen loyal, so dass jegliche Zwischenfälle unentdeckt blieben.

Hinterlistig begann Mortem, sich zwischen seinen Bruder und die Prinzessin zu drängen; seine wahren Absichten unter dem Deckmantel der Freundschaft versteckt. Er hofierte Adravanta mit Geschenken und Komplimenten, entzog sie immer öfter der Gesellschaft seiner beiden Geschwister und buhlte mit allen Mitteln um ihre alleinige Gunst.

Die arglose Maid ließ sich seine Aufmerksamkeiten nur allzu gern gefallen, zumal sich weder Donavis noch sie zueinander bekannt hatten. Das Pflänzchen der Liebe knospte unter härtestem Grund und versuchte mit aller Kraft, durch das Gefelse noch unentdeckter Gefühle zu stoßen. Mortem suchte, dies mit Macht zu verhindern.

Sein Begehr und sein eigener vermeintlicher Anspruch auf die Prinzessin entsprangen hingegen weitaus weniger romantischen Gefühlen. Während Donavis die holde Maid aus reinstem Herzen verehrte; noch nicht einmal von Liebe zu sprechen wagte, hegte Mortem eine weitaus weniger edle Gesinnung. Wenn auch seine Augen die Schönheit Adravantas durchaus zu würdigen wussten, so deutete doch einiges auf das wahre Bestreben des Junkers. Ihn gelüstete es nicht nach ihrer Bewunderung und Zuneigung, oh nein! Er war fern jener Sehnsucht nach Zärtlichkeiten; wünschte nicht, ihr Antlitz selbst im Schlafe nicht missen zu müssen, dem Himmel sei es geklagt!

Junker Mortem war so vermessen, nach Höherem zu streben. Er lechzte mit Inbrunst nach Macht und Herrlichkeit. Adravanta sollte sein willfähriges Werkzeug sein.

 

***

Zähneknirschend verfolgte er die wachsende Liebe seines Bruders zu der Prinzessin und sah seine ehrgeizigen Pläne gefährdet. Mortem war rasend vor Zorn und Hass auf Donavis; doch gab er den Kampf um Adravanta längst nicht auf. Seine Übergriffe häuften sich mehr und mehr; von Bruderliebe konnte keinerlei Rede mehr sein. Selbst Marianis und Fronkalis blieb das gespannte Verhältnis zwischen den beiden Junkern nicht verborgen.

Auch wenn die Maid noch nicht erkannt hatte, weshalb Hader und Zorn sich in ihre Reihen eingeschlichen hatte: Den Urheber dessen hatte die Prinzessin entgegen seiner Vermutung längstens entdeckt.

Als denn auch ihr Mortems Attacken auf den Geliebten offenbar wurden, war für Adravanta das Maß voll. Besorgt erkannte sie, dass Donavis in Lebensgefahr schwebte, wenn er mit ihr gemeinsam die Gewässer durchstreifte. Wie ein Schatten folgte Mortem ihren Pfaden, offensichtlich bestrebt, nicht entdeckt zu werden. Heimtückisch suchte er, seinen Bruder mit Gestein zu erschlagen, das wie aus heiterem Himmel von unsichtbaren Händen geworfen zu Boden sank. Er baute tödlich anmutende Fallen in Grotten, von denen er wusste, dass sie von dem jungen Paar auf der Suche nach Zweisamkeit aufgesucht wurden.

Donavis selbst übte sich jedoch noch immer in Loyalität ihm gegenüber und schwieg, obwohl er das Trachten des eigenen Bruders nach seinem Leben längst erkannt haben musste. Somit entzog sich Mortem dank der Hilfe seines Opfers einer möglichen Strafe  in Form der Gerichtsbarkeit des königlichen Tribunals.

Erbittert bemerkte Adravanta, dass dem missgünstigen Junker nicht beizukommen war, solange Donavis ihn deckte. Mit Engelszungen redete sie auf den Gefährten ein, sein Schweigen zu brechen und den Mordbuben seiner gerechten Strafe entgegen zu führen. Ihre eindringlichen Reden fanden ebensowenig Gehör wie flehentliches Bitten aus Angst um sein Leben. Deshalb nahm sie die Angelegenheit selbst in die Hand und lud Mortem nach Rücksprache mit Genevieve und Tronador in die Halle der Sieben.

Hurtig durcheilte der Ränkeschmied die Goldene Stadt, in der irrigen Annahme des Erfolgs seines Werbens. Sein Ziel vor Augen, stieß Mortem sich kraftvoll und pfeilschnell durch Grotten hindurch, in denen seine eigenen Fallen auf Opfer lauerten. Der Junker kam zügig voran.

Mit einem triumphierenden Lächeln auf den Lippen durchquerte Mortem das Eingangsportal zum Regierungssaal. In festlichem Gewand sah die Königsfamilie dem Ankömmling entgegen, dem in seinem Übereifer die Ernsthaftigkeit ihrer Mienen völlig entging. Siegesgewiss kam er auf sie zu und verneigte sich. Voller Elan wandte er sich an Adravanta und schmeichelte: „Ihr ließet mich rufen; und ich eilte, um Euch zu Gefallen zu sein, holde Maid. Wie sehr wünschte ich, von Eurer Grazie sprechen zu dürfen, ohne dass es Euch ungebührlich erscheint.“

Adravanta ließ sich in keinster Weise verwirren und kam unversehens auf ihr Anliegen zu sprechen. Mit zorniger Miene fuhr sie den Junker heftig an: „Spart Euch die heuchlerischen Komplimente, Mortem. Ihr tätet gut daran, bescheidener zu sein und zu gestehen, weshalb Ihr Donavis nach seinem Leben trachtet. Ich werde Eure Taten nicht länger dulden.“

Überrascht von der jähen Attacke zuckte der Angesprochene unmerklich zusammen. Seine Gesichtszüge entgleisten für einen kurzen Moment, und er erbleichte.

Zornbebend erkannte Mortem den wahren Grund seiner Ladung. Jedoch fasste er sich sogleich und erwiderte mit ungerührter Miene: „Ihr habt einen seltsamen Brauch, Eure Gäste willkommen zu heißen. Wenn Ihr dies weiterhin so zu halten pflegt, wird kein Einziger mehr das Bedürfnis verspüren, in Eure Nähe zu kommen.“

„Schweigt, wenn Ihr mir ansonsten nichts zu sagen habt. Glaubtet Ihr wirklich, Euer schändliches Tun Eurem Bruder gegenüber bliebe vor meinen Augen verborgen? Ich kann Euch mit Gewissheit sagen, dass Ihr Euch täuscht!“, entgegnete Adravanta äußerst temperamentvoll.

Begütigend legte Genevieve ihre Hand auf den Arm ihrer Tochter. Das Königspaar hatte anfänglich beschlossen, aus Rücksichtnahme auf die Freundschaft zwischen den Familien zu schweigen und lediglich als Zeugen zu fungieren.

Indessen sah Tronador sich gezwungen, einzugreifen und fragte den Delinquenten in ruhigem Ton: „Ihr hört die Anklage meiner Tochter. Was habt Ihr zu Eurer Verteidigung vorzubringen?“ 

Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, starrte Mortem dem König dreist in dessen gütiges Antlitz. Er hob gleichgültig die Schultern und sprach: „Ich habe Euch nichts zu sagen, Gebenedeiter. Was immer Eure Tochter mir vorwerfen mag, entspringt den Phantasien einer unreifen Maid und den schandhaften Lügen des eigenen Bruders.“ 

Adravanta hielt es ob seiner Unverfrorenheit nicht mehr auf ihrem Platz. Sie entriss sich dem Griff ihrer Mutter und schnellte hinab in die Tiefe, dem Junker entgegen.

„Stetig scharwenzelt Ihr um mich herum, überbringt mir Geschenke und scheut keine Mühen, um meiner habhaft zu werden. Was auch immer Ihr jedoch von mir begehrt, ich liebe Donavis und dulde es nicht, dass Ihr unser Glück voller Neid zerstört!“, zischte sie hasserfüllt. „Deshalb rate ich Euch, lasst ab von Eurem Tun, denn wenn Eurem Bruder auch nur das Geringste geschehen sollte, töte ich Euch. Das schwöre ich, vor dem Gehör meiner Eltern, bei allem, was mir heilig ist und bei meinem Leben, wenn Ihr so wollt. Ich werde nicht rasten und ruhen, um Euch der gerechten Strafe entgegen zu führen.“

Genevieve erbleichte, als sie die erbitterten Worte ihrer Tochter vernahm. Mit zitternder Hand griff sie an ihren Hals und warf ihr bebend mahnende Worte entgegen. „Versündige Dich nicht, Adravanta. Es ist eine Sache, jemanden bestrafen zu wollen. Du bist erregt, und ich verstehe Deinen Zorn. Dennoch wähle Deine Worte, die ich schwerlich ernst nehmen kann, mit Bedacht, ich bitte Dich.“ 

Adravanta warf sich blitzschnell herum und schleuderte zornige Blicke in das Antlitz der Mutter. Ihre Flossen zuckten erregt und wühlten Schlick vom Meeresgrund auf; als sie ihr heftig entgegnete: „Ihr irrt, Mutter, jenes Versprechen ist mein bitterster Ernst. Soll ich ruhig zusehen, wie jener Unselige nach dem Leben des eigenen Bruders trachtet, welche Beweggründe er auch  dafür haben mag?“ 

Wiederum wandte sie sich Mortem zu und sah ihm fest in sein Antlitz. Er schien nicht sonderlich beeindruckt von ihrem Gebaren zu sein und erwiderte ungerührt ihren Blick, als sie das Wort erneut an ihn richtete: „Ihr habt alles verspielt, was Ihr hattet. All die Freundschaft, die uns verband, war sie Euch so wenig wert, dass Ihr sie leichtfertig Eurer Begierde opfertet?“

Adravantas Appell an die Ehrhaftigkeit des Junkers drang indessen zwar an sein Gehör, doch nicht in sein mittlerweile verbittertes Herz.  „Seid Ihr nicht etwas zu sehr von Euch selbst eingenommen, dass Ihr vermeint, ein jeder müsste Begehren nach Eurer Schönheit verspüren?“ Mortem gestattete sich ein leicht spöttisches Lächeln, das seinen inneren Aufruhr verbarg. „Ich für mein Teil kann Euch sehr wohl entsagen!“ 

„Was auch immer Ihr sagt, ich glaube Euch nicht. Zuviel Schuld lastet bereits auf Euren Schultern. Ihr schrecktet nicht, uns allerorten aufzulauern und tödliche Fallen zu bauen. Es ist ein Wunder, dass wir durch Eure Hand nicht zu Schaden kamen; doch ist dies gewiss nicht Euer Verdienst. Seid Ihr noch immer so selbstgefällig, wenn ich Euch beschuldige, ein übler Mordbube zu sein?“, blieb ihm Adravanta eine bittere Antwort nicht schuldig. Geflissentlich übersah sie die mahnenden Blicke der Eltern und ließ sich in keinster Weise beirren. „Begebt Euch von dannen und erspart uns Euren weiteren Anblick; Ihr widert mich an. Vergesst jedoch nicht dies, was ich Euch schwor.“ 

„Es sind schwere Anschuldigungen, die Euch belasten, Junker Mortem“, richtete nun auch der König das Wort an ihn. „Ich habe keinerlei Grund, an den Worten meiner Tochter zu zweifeln, deshalb gebe auch ich Euch eine Warnung mit auf den Weg. Unterlasst weitere Attacken auf Euren Bruder und haltet Euch künftig von meiner Familie fern. Schmach und Schande brachtet Ihr der Eurigen, die von Eurer Tücke keinerlei Kenntnis hat. Donavis war Euch gegenüber unverdientermaßen achtbar, so dass wir Euch nichts nachweisen können. Seid gewiss, dass wir Eure Schandtaten nicht länger dulden werden.“

Mortem erkannte, dass all sein Streben vergeblich und er fortan ein Geächteter war. Er versuchte, zu retten, was bereits als verloren galt und erwiderte: „Nichts von den Anschuldigungen ist wahr; Tronador, König von Avalonia. Soll ich für die Unachtsamkeit meines Bruders Rechenschaft vor Euch ablegen? Achte er der Gefahren, die auf seinen Wegen lauern, wird ihm gewiss nichts geschehen.“ 

Adravanta rang sichtlich empört ob soviel Dreistigkeit mit ihrer Fassung. Tronador ließ sich indessen nicht beeindrucken und sprach: „Ihr hört meine Worte, nun begebt Euch hinfort. Euer Anblick ist in der Tat nur schwerlich für uns zu ertragen. Ihr seid tückisch und hinterlistig, Eure Worte sind der blanke Hohn. Wes Geistes Kind Ihr auch seid, so kann ich kaum glauben, dass Euch tatsächlich der Schoß einer ehrbaren Nixe gebar.“

Mit hasserfülltem Blick starrte Mortem dem König sprachlos entgegen. Schlussendlich warf er sich mit hastigen Flossenschlägen herum und wandte sich ab.

Der Junker durchquerte das große Gewölbe und war bereits im Begriff, das Eingangsportal zu passieren, da kündete er der Königsfamilie von einer erbitterten Fehde. Den Kopf nach hinten gewandt, rief er ihnen aus sicherer Entfernung entgegen: „Ich lasse nicht zu, dass Ihr mich verachtet und mich eines Verbrechens bezichtigt. Einem jeden von Euch wird die Erkenntnis zuteil, was es heißt, mich zum Feind zu haben. So achtet fortan auch Ihr Eurer Wege.“ 

Sprach’s, schnellte herum und stob feigherzig von dannen. In seinem Schatten hinterließ er drei Augenpaare, die ihm mit betroffenen Blicken folgten. Die Mienen von wildem Zorn gezeichnet, wandten sich die verbliebenen Insassen der Residenz einander zu.

Nach kurzem Blick auf das empörte Antlitz ihres Gemahls erkannte Genevieve die Absichten dessen. Sie wusste, dass Tronador nicht zögern würde, den Delinquenten an Ort und Stelle zur Rechenschaft zu ziehen. So streckte sie beide Hände nach ihm aus, als er Mortem nacheilen wollte; und suchte mit eisernem Griff, den aufgebrachten Junker von etwas abzuhalten, das ihn bis an das Ende seiner Tage sicherlich reuen und zudem sowohl seine als auch Avalonias Ehre beschmutzen würde. „Es spräche nicht von königlicher Würde, wenn Ihr Eurem Verlangen nachgeben wolltet, Tronador. Lasst ihn seiner Wege ziehen und bleibt an meiner Seite. Bedenkt den Status, den Marianis und Fronkalis, seine Eltern, innehalten“, ermahnte sie ihn. 

„Sollte ich Eurer Meinung nach seine Dreistigkeit dulden? Lasst mich ziehen, und ich werde ihm Mores lehren. Jenes Schandmaul soll lernen, dass Anarchie in Avalonia nichts zu suchen hat“, widersprach er ihr heftig. 

„Ihr solltet nicht von aufkommender Anarchie sprechen, wenn Ihr selbst Euch als Raufbold betätigen wollt, geliebter Gemahl. Wir sind nicht im Krieg, und ich dulde nicht, dass Ihr Hand an einen aus unserem Volk anlegt. Es ist nicht unsere alleinige Sache, über den Junker zu richten, das wisst Ihr sehr wohl!“, bot Genevieve dem blaublütigen Heißsporn insistierend die Stirn.

 Wogen der Liebe und Bewunderung umspülten lindernd Tronadors erregte Seele, als er reumütig ihre Worte vernahm. In all den Jahren ihrer Gemeinsamkeit hatte Genevieve nichts von ihrem Zauber verloren. Ihr Mut war ungebrochen, ihre Weisheit schien nie versiegen zu wollen.

Er achtete nicht auf die Umgebung, in der sie sich befanden und vergaß, dass Adravanta zugegen sein musste. Leidenschaftlich umarmte Tronador seine Gemahlin und barg ihr Haupt an seiner Schulter. „Wie sehr ich Dich liebe, meine Göttin“, raunte er ihr zärtlich entgegen. „Deine lindernde Hand lässt mich alle Schmerzen vergessen, solange Du bei mir bist. Es wäre mein Verderben, wenn ich Dich verlöre.“ 

Tränen der Rührung und des Glücks schossen Genevieve in die Augen, als sie sein Liebesgeständnis vernahm. Sie vermeinte, ihr eigener Herzschlag müsste in all den Gewölben der Stadt zu hören sein, als sie sich vom Zauber der Liebe einfangen ließ und sich inbrünstig an seinen kräftigen Körper schmiegte.

Selbstvergessen suchten beiderlei Lippen einander und fanden sich in leidenschaftlichem Kuss. Seufzer des Glücks hallten durch das Gewölbe der Residenz und klopften leise wie feinste Perlen gegen das steinalte Innengemäuer der Halle der Sieben. Die Zeit schien stehen zu bleiben, vergessen war für das Paar Hader und Zorn gegen einen, der unwissentlich auszog, um Avalonia ins Verderben zu führen.

 

***

Bedauerlicherweise war Mortem noch nicht zur Besinnung gekommen und steigerte sich in seinem Unbedacht in etwas hinein, das ihm selbst nichts als Unheil bescheren konnte. Der erste Vorbote dessen folgte ihm bereits in seinem Schatten und trachtete, ihn zu bestrafen. 

Während er in seinem Ingrimm versunken den Yapetus durcheilte, um in das elterliche Domizil zu gelangen, hatte Adravanta die Gunst der Stunde genutzt und sich der Obhut ihrer Eltern entzogen. Bewaffnet mit einem aus härtestem Diamant geschliffenen Dolch im Halfter huschte die Maid ihm hinterher, ohne zu verhehlen, welche Absichten sie erbittert verfolgte. Sie war umsichtig genug, um ihm nicht unverhofft in die Fänge zu geraten, doch sah sie keinerlei Grund, sich vor seinen Blicken verbergen zu wollen.

Ahnungslos ob der Gefahr, in der sich Mortem befand, durchquerte er die kaum frequentierten Gewässer der Goldenen Stadt. Zwei schwarze Knopfaugen, deren stolzer Besitzer einer seltenen Krakenart angehörte, verfolgten die Kontrahenten aus sicherem Versteck. Der Großteil des Meervolks ruhte bereits unbescholten und nicht ahnend, welch Drama sich unweit der säulengestützten Pforten ihrer Wohnhöhlen abspielte.

Die Prinzessin holte zügig auf, da sich Mortem in keinster Weise veranlasst sah, einer Gefahr zu entfliehen. Er hatte sein anfangs hurtiges Tempo verringert und dümpelte gedankenverloren vor sich hin. Soeben ließ er ein Felsportal hinter sich, als Adravanta ihn aus dem Schatten heraus höhnend anrief: „Ist dies Eure Art, Euch Feinde zu schaffen, um ihnen schlotternd vor Angst zu entfliehen? So beweist mir, dass Ihr auch in fairem Kampf mutig seid. Eure Worte, die Ihr in der Residenz so tapfer in das Antlitz des Königs warft, ist nichts als das Schnappen einer Flunder, die verborgen im Schlamm auf Beute lauert.“ 

Der Junker erkannte die Stimme der Prinzessin sofort. Er wandte sich um und starrte angestrengt in die Richtung, in der er Adravanta vermutete. Ein schwaches Schimmern verriet ihm undeutlich ihren Aufenthaltsort; indessen sah er sich nicht in Gefahr. Vom an Wahnsinn grenzenden Hass voran getrieben bewegte sich Mortem auf sie zu, nicht ohne ihr ungalante Worte entgegen zu schleudern. „Misst Ihr meine Gesellschaft so sehr, dass Ihr mir heimlich durch die abgelegensten Gewässer folgt, Prinzessin?“ Mit verzerrter Miene lachte er hämisch auf und ließ weiteren Spott folgen. „Wenn dem so sei, erklärt mir baldigst den Sinn Eurer ach so verletzenden Worte.“ 

Aus dem Dunkel heraus stieß ein riesiger Schwarm Ctenophoren und tauchte die Düsternis in bläuliches Glimmerlicht. Adravanta schwamm dem Junker entgegen, die Klinge ihres bereits gezogenen Dolches gleißte durch das feuchte Dickicht der Nacht. Mortem stockte verunsichert und fragte: „Was haltet Ihr in Eurer Hand, holde Prinzessin? Wolltet Ihr mich mit Eurem unbedeutenden Halm gar streicheln? Eure Tücke ist offensichtlich um einiges größer, als Ihr sie mir vorwerft.“

„Ihr täuscht Euch, Junker Mortem. Entgegen Euren Gepflogenheiten suche ich den offenen Kampf. Nehmt meine Herausforderung an und messt Euch mit mir“, antwortete sie ihm gelassen. Plötzlich stieß Adravanta ihren Körper nach vorn, die Spitze des Dolches auf ihn gerichtet.

Ihre Attacke kam für ihn nicht unerwartet. Er zögerte keinen Wimpernschlag lang und warf sich geistes­gegenwärtig mit kräftigen Flossenschlägen zur Seite. Schlick stieg wie Nebel vom Meeresgrund auf.

Die angriffslustige Prinzessin überschüttete ihn aufgrund seines Ausweichmanövers mit Spott. „Ist dies all Eure Kampfeskunst, die Ihr beherrscht? Weshalb zieht Ihr nicht Eure Waffe und haltet meinem Angriff entgegen?“ 

Kaum, dass sie ihre Worte ausgesprochen hatte, sah sie sich von Mortem umklammert und versuchte verzweifelt, sich seinem eisenharten Griff zu entwinden. „Glaubt Ihr wirklich, dass ich einen Dolch benötige, um eine zarte Maid wie Euch zu besiegen?“, zischte er ihr wütend entgegen. „Was glaubt Ihr, wer Ihr seid? Überlasst mir die Waffe und ringt mit mir, wenn Ihr denkt, mir überlegen zu sein.“ 

Ungestüm schlug die Nixe mit ihren Flossen um sich und traf ihn schmerzhaft an seiner nackten Brust. Ihre Hand umklammerte noch immer die scharf geschliffene Klinge. Mortem ließ ihr jedoch keine Gelegenheit, sie zu benutzen. Als er sah, wie ihr Arm sich erhob, um ihm von oben herab einen Streich zu versetzen, ließ er sie los und hielt die Waffenhand fest. Erbarmungslos nutzte er ihre eigene Kraft und bog ihren Arm nach innen, so dass ein Schmerzensschrei ihren Lippen entwich.

Zitternd zeigte die Spitze des Dolches auf ihr eigenes Antlitz und zielte bedrohlich nahe auf ihre Augen. Keuchend vor Anstrengung, der Gefahr zu entrinnen, stieß Adravanta hervor: „Ihr beweist mir nichts als Eure Hinterlist, mit der Ihr Eure Schlachten bestreitet.“ Kraftvoll versuchte sie, ihm den Arm mit einem Ruck zu entreißen, erreichte jedoch nur, dass der Dolch auf ihr Herz zielte. 

Mortem griff nach und schrie sie an: „Seid Ihr des Wahnsinns? Wollt Ihr durch eigene Hand sterben? Wenn Euch Euer Leben lieb ist, lasst Eure Waffe fallen. Ihr habt mir die Fehde angesagt, also erwartet keine Gnade von mir.“

Als Antwort schlugen ihm erneut Adravantas Schwanzflossen entgegen. Von dem unerwarteten Manöver kurzzeitig abgelenkt, lockerte er seinen Griff.

Adravanta nutzte seine Überraschung, befreite sich mit aller Kraft und stieß ihm den Dolch in die Schulter. Mortem schrie auf und wandte sich ab. Sein Blut durchtränkte die Gewässer und hüllte die  Kontrahenten ein.

Die Prinzessin ließ sich jedoch nicht in ihrem Vorhaben beirren und wagte einen neuerlichen Angriff. Noch einmal schnellte sie ihren Körper in die Richtung, in der sie ihren Gegner vermutete.

Lautlos und wendig bewegte sie sich voran und hielt ihre Stichwaffe bereit, um dem Abtrünnigen seinen ihrer Meinung nach wohl verdienten Todesstoß zu versetzen. Plötzlich fühlte sie zwei Arme, die sich um ihre Taille schlangen und vernahm die donnernde Stimme ihres Vaters: „Du musst irrsinnig sein. Willst Du zur Mörderin werden?“

Wütend versuchte Adravanta, sich Tronador zu entwinden. Unflätiges, was an niemandes Gehör dringen sollte, entfloh ihrem bitter verzogenen Mund. „Wollt Ihr diesen Frevler ungestraft davon kommen lassen? Er trachtet selbst Euch nach dem Leben, Vater. Also lasst mich zu Ende bringen, was ich zu tun gedachte. Jener hat sein Leben in jenem Moment verwirkt, als er Euch die Fehde ansagte.“

Mortem hatte mittlerweile sein Heil in der Flucht gesucht. Der König sah, dass die Gefahr, in die sich seine Tochter so leichtfertig begeben hatte, gebannt war und entließ sie aus seinen Armen. Sogleich ließ Adravanta ihre Blicke umher schweifen und wollte dem Junker folgen, als sie erkannte, dass er nicht mehr da war.

Unverzüglich schoss Tronadors starke Hand, vom Kampf und seinem Handwerk gestählt, nach vorn und umklammerte unerbittlich ihren Arm.

„Ich wollte Dir nicht geraten haben, Deinen Plan weiter zu führen, Tochter. Deine Mutter kommt um vor Sorge um Dich, während Du blindlings Deinen niederen Instinkten folgst. Das sind nicht die Lehren, welche Du aus dem Mund Deiner Mutter vernahmst“, rügte er sie.

Genevieve hatte es indessen nicht mehr in der Halle der Sieben gehalten. Sie machte sich selbst und Tronador bittere Vorwürfe, dass beide nicht achtsamer gewesen waren und nichts Besseres zu tun gehabt hatten, als wie zwei Jungverliebte zu turteln.

Nachdem sie voneinander abgelassen hatten, mussten sie zu beiderlei Schrecken feststellen, dass Adravanta ihre Unaufmerksamkeit zu nutzen gewusst hatte und im Begriff war, sich ins Unglück zu stürzen. Genevieve kannte ihre Tochter gut genug, um ihre Absicht zu erraten. Ihr Gemahl hatte nicht gezögert, die unbedachte Maid zu verfolgen. Er war jedoch unerbittlich geblieben, als die Königin ihn anflehte, sie mitzunehmen.

Um nichts in der Welt wollte er dulden, dass auch sie sich in die Gefahr begab, einem unberechenbaren Junker in die Hände zu fallen, und teilte ihr dies in unmissverständlichen Worten mit. So ließ sie Tronador schweren Herzens ziehen und verblieb in der Halle der Sieben.

Als ihr die Zeit jedoch gar zu lang wurde, zögerte Genevieve nicht, sich ebenfalls in die Düsternis hinaus zu begeben, um die Beiden zu suchen. Glücklicherweise verfügte sie über Mut und einen untrüglichen Orientierungssinn.

Getrieben von der Intuition einer Mutter, die ihr eigen Fleisch und Blut in Gefahr sah, folgte sie Tronador und war bald darauf am Schauplatz des Dramas angelangt. Beinahe ohnmächtig vor Angst begab sie sich an die Seite ihres Gemahls, der soeben noch den Arm ihrer gemeinsamen Tochter umklammert hielt. Nach seiner knappen Schilderung, was er an Ort und Stelle vorgefunden hatte, richtete sie sich ernst an ihre Tochter, die mittlerweile einsichtig genug war, um zu gehorchen.

„Dein unbesonnenes Handeln war ungebührlich für eine aus unseren Reihen. Umso mehr jedoch erbittert mich Dein Gebaren, da auf uns das Augenmerk Avalonias ruht. Dein Vater und ich haben alles gegeben, um die Bewohner der Goldenen Stadt vor Unbill zu beschützen“, sprach Avalonias Königin in ruhigem Ton. Liebevoll nahm sie die Hände der Maid zwischen ihre und sah ihr fest in die Augen. „Ich verstehe Deinen Zorn auf Mortem sehr wohl. Du liebst Donavis und sorgst Dich um ihn. Wenn jedoch selbst das Königshaus meuchelnd durch Gegend zieht, ist die Anarchie in den Reihen des Volkes nicht fern. Besinne Dich auf das, was wir Dich lehrten und versündige Dich nicht für einen, der kaum eines Blickes würdig ist. Mortem wird seine gerechte Strafe erhalten, sei dessen gewiss. Doch liegt diese ganz gewiss nicht in Deiner Hand.“

 Adravanta erwiderte den Blick ihrer Mutter, ohne mit der Wimper zu zucken. Behutsam entzog sie ihr die Hände und erwiderte bitter: „Wollt Ihr seelenruhig zusehen, wie gerade jener Unselige die Anarchie nach Avalonia bringt? Ich habe ihm in die Augen geblickt, und mich fröstelte ob der Botschaft, die ich in ihnen las. Welch düsteres Bestreben er auch immer hegt, entzieht sich meiner Kenntnis. Sein Blick war jedoch voller Hass und Entschlossenheit, dem eingeschlagenen Weg zu folgen. Denkt an meine Warnung, falls Ihr vorhabt, sein Ansinnen nicht zu vergelten. Er wird den Tod bringen, in unser Haus, ja  gar in das seiner Eltern.“

„Dennoch, Adravanta, werden nicht wir diejenigen sein, die Hand an ihn anlegen. Wir sind Angehörige und das Haupt jenes Volkes, das durch Astril und Yoras aus den Weiten des Universums auf die Erde gelangte. Wir haben eine Mission zu erfüllen, vom Himmlischen Vater wurde diese einst auf unsere Schultern gelegt. Also erwarte ich von Dir, dass Du Dich angesichts dessen fügst und nichts unternimmst, das unsere Ehre beschmutzt!“, forderte Genevieve von ihr. Streng sah sie Adravanta an und zog ihre letzte Waffe. „Ansonsten sähe ich mich gezwungen, zu vergessen, dass ich eine Tochter habe. Wenn wir Dir zu unbedeutend sind, soll es wohl so sein, dass Du die falschen Entscheidungen triffst“, sprach sie in endgültigem Tonfall und wandte sich von ihr ab. Genevieve sah den strafenden Blick ihres Gemahls, der ihr eiskalte Schauer über die Haut jagte. Dennoch reuten sie ihre harten Worte keinen Wimpernschlag lang. Es war dies nicht die erste Schlacht, die Mutter und Tochter gegeneinander bestritten. Sie vermeinte, ihr Fleisch und Blut wie die eigene Seele zu kennen und zu wissen, wie die ungebärdige Maid zu lehren sei.

Insgeheim jedoch verstand sie Adravantas grimmiges Handeln sehr wohl, wie sie sich eingestand. Es galt, dies zu schützen, was sie liebte. Sie hätte es nicht anders getan!

 

***

Während Adravanta sich dem Gebot der Ehrhaftigkeit eines königlichen Geschlechts unterwarf und  zähneknirschend dem Willen der Eltern Genüge tat, war Mortem im Begriff, Avalonia zu verlassen. Er war nicht allzu schwer verwundet, nur getroffen genug, um die Heimatgewässer zu meiden. Zu sehr war in ihm die Furcht verwurzelt, seine eigene Hinterlist würde sich offenbaren.

Obwohl der Junker nicht ein Fünkchen Ehre in sich trug, war es ihm ein Arges, dass sein Ansehen beschmutzt werden könnte. Indessen reifte in ihm ein grausamer Plan, und sein Herz schrie lauter als jemals zuvor nach tödlicher Rache. Sein unseliger Wunsch, den Thron zu erobern, trieb ihn so sehr um, dass er bereit war, dafür Leben zu opfern.

Allzu gern hätte er auch Adravanta getötet, er nahm sich jedoch vor, ihr ein anderes Schicksal angedeihen zu lassen. Sie käme nicht umhin, seine Gemahlin zu werden, was auch immer es koste, denn allein ihr und dem Angetrauten gebührte die Thronfolge. Es war festgeschriebenes Gebot, von dem alle Bewohner der Goldenen Stadt Kenntnis hatten und somit unumgänglich. Setzte er sich darüber hinweg, wüsste er genau, dass er ein ganzes Volk gegen sich und sein Leben verwirkt haben könnte, selbst wenn strafende Gewalttaten verpönt waren. Er ahnte, dass Avalonia sich durchaus zu wehren wüsste, wenn es denn hieße, sich einer selbst ernannten Diktatur zu unterwerfen. Folglich bliebe ihm nichts, als die Etikette zu wahren und zumindest vorzugeben, die Gesetze einzuhalten.

Wie er indessen der äußerst wehrhaften Prinzessin habhaft werden wollte, um ihr seinen Willen aufzwingen zu können, entzog sich vorläufig noch seiner Kenntnis.

 

***

Es fiel Adravanta dementsprechend schwer, ihren Eltern zu folgen, denn am liebsten wäre sie sogleich zu Donavis geeilt, um sich zu vergewissern, dass ihm nichts geschehen war. Späterhin, so kamen Genevieve und Tronador mit ihr überein, wollten sie das Domizil von Mortems Familie aufsuchen, um sie über den Fauxpas des Abtrünnigen zu informieren. Wenn das Glück ihnen hold sein würde, konnten sie seiner habhaft werden.

Bestenfalls würde ein Tribunal einberufen, um über eine mögliche Strafe zu parlamentieren, jedoch war sich das Königspaar darüber im Klaren, welche Brisanz die Situation bot. Es galt, absolutes Feingefühl walten zu lassen, um Marianis und Fronkalis nicht bloßzustellen.

Es war abzusehen, wie sich falsches Handeln auf das Ansehen zweier Getreuer und somit auf das gesamte Tribunal auswirken konnte. Dennoch waren weder Genevieve noch Tronador bereit, Mortem sein Gebaren zu verzeihen und ihn ungestraft davon kommen zu lassen. Zuviel war geschehen!

Nach einer gewissen Besinnungszeit machte sich die Königsfamilie gemeinsam auf den Weg zu der Familie des Delinquenten. Freudig wurden sie von Mortems ahnungslosen Eltern begrüßt. Adravanta und Donavis zogen sich notwendigerweise in eine etwas intimere Atmosphäre zurück, da die Prinzessin ihn unter vier Augen über das Geschehene informieren wollte.

Hand in Hand und mit freudestrahlenden Gesichtern querten sie zwei Grotten, um sich in einer mit Korallen ausgestatteten Nische niederzulassen. Lange schwiegen sie und sahen sich liebevoll an, bis Adravanta den Blick niederschlug und zögernd fragte: „Wisst Ihr bereits von den Geschehnissen in der Halle der Sieben?“

Donavis griff ihr unter das Kinn und zwang sie mit leichtem Druck, ihn anzusehen. Fest sah er ihr in die Augen, als er mit einer Gegenfrage antwortete: „Weshalb wendet Ihr den Blick von mir ab, Adravanta? Was ist so Schlimmes geschehen, dass Ihr dem meinen ausweichen müsst? Dies ist eine Art, die ich so nicht von Euch kenne!“ Bangen Herzens erwartete Donavis ihre Antwort. Er vermeinte bereits, sie zu kennen, da ihm die Abwesenheit des Bruders zu denken gab. Ihm war Mortems Werben um Adravanta nicht verborgen geblieben, und bisher hatte sie dem Jugendfreund, mit dem sie mittlerweile eine scheue Liebe verband, diesbezüglich auch nichts verschwiegen. So befürchtete Donavis, dass er erfolgreich gewesen sei und Adravanta ihm dies nun mitteilen wollte.

Das Blut rauschte laut in seinen Ohren, und er konnte ein leichtes Zittern der Hände kaum vor der heimlich geliebten Prinzessin verbergen. Schuldbewusst warf er sich selbst Zögerlichkeit vor, die ihn nun möglicherweise seine große Liebe kosten würde. All das Gewesene, Mortems Trachten nach seinem Leben, hatte er weit von sich geschoben, da er nicht wahrhaben wollte, dass der eigene Bruder ihm Böses wollte. Er betrachtete die Vorfälle, denen er sich ausgesetzt sah, als unglückselige Fügungen des Schicksals.

Auch die bitteren Worte und Vorwürfe, die Adravanta erhob, hatte Donavis sogleich aus seinem Gedächtnis gestrichen. Deshalb war er äußerst überrascht, nachdem die Maid ihm alles berichtet hatte. Auch ihre eigene Rolle in dem Drama unterschlug sie ihm nicht und kam nicht umhin, sich einige Rügen anhören zu müssen.

„Sollte ich womöglich blinden Auges und tauben Ohres werden, um zu übersehen, wie Mortem versucht, sich zwischen uns zu drängen? Hat nicht er selbst unseren Kreis, den wir seit frühesten Zeiten bildeten, durchbrochen, indem er Euch nach dem Leben trachtet? Wann wollt Ihr mir und Euch endlich eingestehen, dass Ihr Euch täuschtet, als Ihr ihm all Eure brüderliche Loyalität schenktet, die er verächtlich von sich wies?“, verteidigte sich Adravanta erbittert, als sie seine Vorwürfe ob des Anschlages auf Mortem vernahm. „Brecht baldmöglichst Euer Schweigen, zumal ein Tribunal anberaumt wird. Ihr wisst selbst, dass die Strafe ohnehin nicht sehr hart ausfallen wird. Wenn mein Wille geschähe, wäre sie wesentlich unbarmherziger als die, welche ihm von Seiten des Gremiums ausgesprochen würde. Also macht Euch nicht allzu viele Sorgen, dass ihn mehr als eine Lehrstunde erwartet. Ich kann Euer Zaudern beileibe nicht verstehen, Donavis!“ 

Herausfordernd sah sie ihn an. Mit keinem einzigen Lidzucken wich sie ihm aus oder errötete, wie es sich für eine junge Maid geziemte, die Aug‘ in Aug‘ mit einem jungen, tollkühnen Burschen saß. Diesmal war er es, der den Blick senkte, um die Schamesröte vor ihr zu verbergen. 'Wie konnte es soweit kommen, dass der eigene Bruder meinen Tod verursachen will? Ist dies wegen ihr, meiner Liebe, von der sie nichts weiß, weil ich sie ihr bisher verschwieg?', fragte er sich insgeheim.

Seine Worte jedoch, die Donavis zu Adravanta sprach, hatten einen anderen Laut: „Verlangt nicht von mir, dass ich mein Fleisch und Bein der Schmach preisgeben werde. Redet auf mich ein, soviel Ihr wollt, Adravanta! Ich werde nicht Mortems Kläger sein, selbst wenn Eure Anschuldigungen der Wahrheit entsprächen. Künftig werde ich mich gezwungen sehen, mehr acht zu geben, doch ist dies eine Sache zwischen Mortem und mir! Dringt nicht weiter in mich!“ 

 „Ihr müsst selbst verantworten, wenn Mortems Ansinnen irgendeinmal erfolgreich ist. Wenn Ihr durch seine Hand aus dem Leben scheidet, kann es Euch nicht mehr reuen, dass Ihr ihn durch Euer Schweigen einer Strafe entzogt, die ohnehin seinen Untaten niemals gerecht werden könnte“, erwiderte die Prinzessin resignierend. „Glaubt jedoch nicht, dass er umhin kommt, vor dem Tribunal zu erscheinen. Weder Ihr noch meine Eltern schenktet mir Glauben. Während Ihr jedoch noch immer an meinen Worten zu zweifeln scheint, wurde ihnen Mortems schändliche Gesinnung jüngstens offenbar. Sollen wir womöglich gar dulden, dass er dem König drohte?“

Die Verzweiflung angesichts der Ausweglosigkeit der Situation stand beiden in das Antlitz geschrieben. Donavis litt, da er fürchtete, Adravanta zu verlieren, noch bevor er versucht hatte, sie zu gewinnen. Er vertraute ihr durchaus, doch konnte er ihr das niemals eingestehen. Die Vorwürfe, die er ihr machte, entsprangen der Angst um ihr Leben, denn mittlerweile hatte er erkannt, dass sie nicht zögern würde, gegen seinen Bruder wie ein Krieger zu kämpfen. Könnte eine zierliche Maid wie sie Mortems Kraft, die er zur Genüge kannte, die Stirn bieten?

Auch Adravanta litt um denjenigen, der ihr seit frühester Kindheit vertraut wie ein Bruder war, dem sie jedoch nichts weniger als Geschwisterliebe entgegen brachte. War jener so blind, dass er nicht sah, wie die Maid, die er ebenfalls liebte, ihr Leben für ihre Liebe einsetzte? Wie lange wollten sie noch ihre Gefühle voreinander verbergen und weiterhin wie Geschwister durch die Gewässer ziehen, obwohl bereits das gesamte Augenmerk des Meervolks auf ihnen ruhte?

 

***

Während abseits der Zusammenkunft ihrer Familien das Ringen zweier unglücklicher Seelen gegen die Flut ihrer Gefühle stattfand, besprachen sich Genevieve und Tronador im Hauptgewölbe  mit ihren Verbündeten. Mortem war, wie bereits von ihnen vermutet, nicht zugegen, da er es bevorzugt hatte, Avalonia zu verlassen.

Nach vorsichtigem Herantasten von Seiten Genevieves und Tronadors an das äußerst heikle Problem wagten sie es schließlich, seinen Eltern von seiner Drohung gegen das Königshaus zu erzählen. Die Rolle Adravantas in dem Drama ließen sie außer Acht, um ihre Tochter nicht dem Hass und dem Zorn der Familie auszusetzen. 

Fronkalis hörte sich die Schilderung von Tronador an, der sich mit ruhigen und sachlichen Worten der Aufgabe angenommen hatte. Erregt durchmaß er die kleine Höhlenkammer mit heftigen Flossenschlägen, wandte sich ein um das andere Mal um und sah dem König prüfend in sein bekümmertes Antlitz, bis dieser schließlich verstummte und die Reaktion der Familie abwartete.

„Was gedenkt Ihr, zu unternehmen, hochwertester Fürst? Sollte es das gewesen sein, all die Abenteuer, die wir gemeinsam bestritten, unsere Verbundenheit zu Euch, müssen wir diese nun der Gesinnung eines undankbaren Sohnes opfern? Was ist geschehen, dass jener Euch die Fehde ansagte?“, fragte Fronkalis, mühsam um Fassung ringend. „Wie können wir als die Eltern eines Schandbuben Euch ohne Schamesröte unter die Augen kommen?“ 

Marianis hatte sich bleich und entkräftet in einer Nische niedergelassen und verfolgte stumm das Geschehen. Eine Hand lag zitternd auf ihrer Brust, sie war offensichtlich sprachlos ob der Ungeheuerlichkeit jener Eröffnung, die all ihre Bemühungen, all ihre Liebe, die sie ihren Kindern geschenkt hatte, nutzlos erscheinen ließ.

Genevieve enthielt sich der Aufgabe ihres Gemahls und wartete ab. Ihr silbernes Vlies glitzerte durch die leicht eingetrübten Gewässer, die durch eine weit unter ihnen befindlichen Magmaschicht von glutrotem Schimmer durchleuchtet wurden. Der Blick der Königin war unverwandt auf ihre treueste Gefährtin gerichtet.

Schauder überliefen ihren Körper, als sie sich ausmalte, wie es um die Seele einer Mutter bestellt sein musste, die erfuhr, dass ihr eigen Fleisch und Bein niederträchtig nach dem Leben eines oder mehrerer Gefährten aus dem eigenen Stamm trachtete.

Schließlich begab sie sich entschlossen an Marianis‘ Seite, um ihr Trost zu spenden. Schweren Herzens sah sie ihr tränenumflortes Antlitz und legte ihre Hand vorsichtig auf ihre zitternden Finger. Liebevoll sah sie ihre Freundin an und schwieg. Wie in jüngsten Tagen verband sie die Liebe, welche der engsten Verbündeten entgegen gebracht wird; jener, mit der die geheimsten Gedanken geteilt wurden; derselben, mit der jeglichen Abenteuern zu siegreichem Glanz verholfen wurden.

Nach einer Weile spürte Genevieve, wie die Erregung in Marianis abflaute und sah, wie Entschlossenheit sich in ihrer Miene abzeichnete. Behutsam entzog die bekümmerte Mutter ihrer Freundin die Hand und entledigte sich damit ihrer Tränen, die wie ein Schleier ihre Augen umkränzten. Fest erwiderte Marianis Genevieves Blick und sprach: „Ich danke Euch, werteste Freundin, dass Ihr ohne Zögern an meine Seite kamt. Es wäre mir arg, wenn diese unsägliche Kreatur, die mein eigener Schoß gebar, einen Schatten auf den Bund zweier Gefährtinnen, die seit Kindertagen alles miteinander teilten, werfen könnte. Vergebt ihm in meinem Namen, denn ich als seine Mutter kann es nicht!“

Die Königin legte den Arm auf die Schulter der Freundin und sprach: „Ihr sagtet einst jene Worte zu mir, die ich nun an Euch zurück geben werde. Seid nicht zu streng mit Euch selbst und Eurer Brut. Gerade als Mutter müsst Ihr ihm verzeihen können, wenn Ihr nicht wollt, dass Bitternis Eure Seele verzehrt. Niemand kann in das Herz Eures Sohnes schauen und erkennen, welch düsteren Pfaden er folgt. Ein Begehren, das uns allen verborgen blieb, treibt ihn um und lässt ihn Untaten vollbringen. Ihr habt Euch nichts vorzuwerfen, Ihr habt Euren Kindern all die Liebe gegeben, derer sie bedurften. Ihr habt sie alles gelehrt, was Ihr konntet, und sie zu starken Geschöpfen gemacht. Euch insbesondere trifft keine Schuld. Vergebt ihm - und vergebt auch Euch!“

Die Tragweite des gesamten Geschehens um Mortem herum war Marianis, Fronkalis und Megalis bisher erspart geblieben, denn bis auf Donavis ahnten sie nicht, was der Ursprung des Zerwürfnisses war. Genevieve und Tronador schwiegen diesbezüglich, da sie es nicht über ihr Herz brachten, den unglücklichen Eltern den Gnadenstoß zu geben, indem sie ihnen von Mortems Anschlägen auf ihren anderen Sohn berichteten.

So wand sich Tronador wie ein Aal, als Fronkalis noch einmal nach Antworten verlangte. Es fiel diesem schwer, zu glauben, dass zwischen dem Königshaus und Mortem nichts Anderes vorgefallen war als die Abweisung einer Maid, wie das Königspaar vorgab.

Megalis jedoch ahnte, dass die Wahrheit wesentlich schlimmer war, da sie sowohl ihre Freundin Adravanta als auch Mortem zu kennen glaubte. Ihr waren zudem die Blessuren von Donavis nicht verborgen geblieben, zumal sie offensichtlich genug für jedermann waren. Jede Nachfrage von ihr war jedoch in schönster Regelmäßigkeit ausweichend von ihm abgeschmettert worden, indem er vorgab, das Opfer eines Unfalls geworden zu sein.

Als allerdings ihr Bruder Mortem immer öfter mit ähnlichen Verletzungen im elterlichen Domizil erschien, war sie längst nicht mehr geneigt, ihm zu glauben. Megalis wusste sehr wohl, dass ihre beiden Brüder sich mit Vorliebe in Wettkämpfen maßen, woher stammten gleichwohl ihre häufig bedrohlichen Wunden? 

Die Maid zögerte nicht, sich auf die Suche nach der Wahrheit zu machen, und sie vermeinte, zu wissen, wo sie zu finden sei! Ergo folgte sie nur unwesentlich später, nachdem Adravanta und Donavis die Zweisamkeit suchten, ihrem Bruder und leistete ihnen Gesellschaft. Sie spürte die Spannung, die sich zwischen Adravanta und Donavis aufgrund ihres Disputs aufgebaut hatte. Bedrückt saßen sie in zweierlei Nischen und grübelten stumm vor sich hin.

Megalis war noch allzu gut in Erinnerung, wie oft die Prinzessin mit leuchtendem Antlitz von Donavis geschwärmt hatte, während sie durch Avalonia streiften. Bisher hatte sie ihr Schweigen gewahrt und sich all jenen angeschlossen, die ihre Liebe zueinander erahnten und dennoch nicht davon sprachen.

Als die Meerjungfrau jedoch erkannte, dass ihre Gefährtin kurz davor war, mit Donavis zu brechen, entschloss sie sich, dem vorzubeugen und als Liebesgöttin zu fungieren. „Habt Ihr einander nichts mehr zu sagen, dass Ihr stumm in Eurer Nische verharrt? Was ist geschehen, dass es Euch die Sprache verschlug?“, fragte Megalis ihre Gefährtin und wandte sich sogleich an Donavis. „Und Du, werter Bruder? Ist dies Deine Freundschaft zu einer, die wie eine Schwester für Dich war, dass Du sie missachtest, als wenn Du sie nicht wie ein Auge das andere erkennst? Oder hütet Ihr gar ein solch schrecklich Geheimnis, dass andere Ohren es nicht vernehmen sollen? Ich spüre wohl, dass Ihr etwas verschweigt!“ 

Adravanta warf einen Blick zu Donavis. Es war ihr deutlich anzusehen, dass sie geneigt war, Megalis die Wahrheit zu beichten. Sie ahnte jedoch, wie der heimlich Geliebte darauf reagieren würde und verzichtete darauf.

Somit blieben alle Untaten Mortems weiterhin im Dunkeln, bewacht von vier Beteiligten, die davon wussten und nicht davon sprachen. Die Prinzessin nahm sich jedoch vor, angesichts des geplanten Tribunals von den Mordgelüsten des Missetäters seinem Bruder gegenüber zu sprechen. Wenn dies der endgültige Bruch mit dem Jugendfreund wäre: Nun gut, so sollte es wohl sein!

Adravanta nahm ohnehin nicht an, dass ihr Donavis irgendeinmal seine Liebe gestand. Von ihren Lippen würde nicht der leiseste Hauch kommen, der ihm verraten konnte, wie sehr sie sich nach ihm verzehrte. Solle jener weiterhin seine Augen verschließen. Adravanta spürte, dass nichts mehr so war, wie es sein sollte. Doch ihr Herz weinte!

 

***

Donavis war zu keiner Zeit so fern von ihr gewesen wie an jenem Ort, an dem sie Seite an Seite saßen und schwiegen. Wie sehr wünschte sich die Prinzessin ihre Kindheit zurück, um ihn unbedarft lieben zu dürfen. Wie aus einem Traum erwacht sah sie auf, um Megalis zu antworten: „Wir haben Euch nichts verschwiegen. Was geschehen ist, dürftet Ihr bereits von meinen Eltern erfahren haben. Donavis wollte meinen Worten keinen Glauben schenken, ich hoffe jedoch, dass wenigstens Ihr mir vertraut!“

Megalis sah aus den Augenwinkeln, wie ihr Bruder dankbar in Adravantas Richtung spähte. Mehr und mehr beschlich sie das ungute Gefühl; dass etliches, wobei ihr anderer Bruder eine schwerwiegendere Rolle gespielt hatte, im Argen lag. Sie entschied sich, die Ahnungslose zu mimen, um den beiden Verschwörern ihre Version der Wahrheit zu entlocken. Erneut wandte sie sich ihrer Gefährtin zu und fragte: „Was gab es denn zu berichten, was so ungeheuerlich ist, dass mein Bruder Euch nicht glaubte? Ich war nicht anwesend, als Eure Eltern bei den Unseren vorsprachen! So sprecht zumindest Ihr, Adravanta! Vertraut Euch mir an!"

Sie war nicht allzu überrascht darüber, dass Donavis einer möglichen Antwort ihrer Freundin vorgriff und sprach: „Megalis, sorge Dich nicht allzu sehr! Mortem war gegenüber dem König respektlos und hatte unbedacht einen Ausspruch gewagt, der ihn mittlerweile sicherlich reut. Adravanta und er sind deshalb zerstritten, das musste ihn sehr getroffen haben!“

 Die Maid schenkte ihrem Bruder keinerlei Glauben, doch ließ sie sich nichts anmerken. Megalis bat Adravanta, sich zu ihren Eltern zu gesellen, um mit Donavis allein zu sprechen. Es schnitt ihr ins Herz, als sie die Qualen im Antlitz der Freundin erblickte. Es wurde Zeit, dass sie ihrem Bruder die Blindheit nahm.

Erleichtert sah sie Adravanta hinterher, als jene ohne Widerworte ihrer Bitte gehorchte und das Gewölbe verließ. Als sie sicher sein konnte, dass kein Wort, welches sie mit ihrem Bruder zu wechseln gedachte, an fremdes Gehör drang, wandte sie sich ihm zu. „Was ist mit Dir geschehen, Donavis? Wo ist Deine Unbeschwertheit, mit der Du und Adravanta durch die Gewässer streiftet, geblieben? Wir alle lieben sie, ich weiß, dass auch Du sie liebst! Ich erahne, dass Deine Gefühle für sie wesentlich tiefer als unsere sind! Was quält und entzweit euch?“ 

Mit gequälter Miene sah er seiner Schwester in ihr Antlitz und sprach: „Es ist nicht allzu viel, was uns entzweit, nur der Neid unseres Bruders. Adravanta verlangt von mir, dass ich aufhöre, ihn zu lieben, und ebendies kann ich nicht. Was immer er auch tut, ich werde ihm alles verzeihen." 

Megalis sah Donavis liebevoll an. Leise fragte sie ihn: „Was ist zwischen Mortem und Dir vorgefallen? Es muss sehr schwerwiegend sein, dass er in Missgunst verfällt.“ 

 „Setz‘ Dich zu mir, Megalis! Ich brauche Deine Nähe, so dass es sich leichter reden lässt“, forderte der Junker seine Schwester auf. Sie erfüllte ihm seinen Wunsch und schmiegte sich an ihn. 'Um wieviel lieber hätte ich Adravanta bei mir, dass ihr Haupt an meiner Schulter ruht ...', dachte Donavis flüchtig.

Lange saßen Megalis und er beieinander, bis sie ihm wie in Gedanken zuflüsterte: „Weißt Du, dass Adravanta Dich liebt? Nicht wie ein Bruder, so wie Du bisher vermutetest. Mortem ahnte es, deshalb der Neid und der Zorn auf Dich. Er fühlt sich verraten.“ 

Der Junker horchte auf. Es hatte für ihn keinerlei Anzeichen gegeben, dass Adravanta ihn ebenso lieben könnte wie er sie. Einmal mehr machte Donavis sich Vorwürfe, dass er nicht um sie geworben und seinem Bruder den Vorrang gelassen hatte, obwohl dies gewisslich nicht in seiner Absicht gelegen war.

Allezeit war er für die Maid ein Freund gewesen, so wie sie für ihn. Er hatte sich kein einziges Mal darüber Gedanken gemacht, auf was Mortem im Grunde genommen neidisch war. Auf die Freundschaft mit ihr? Die hatte jener in selbem Maße, bis er begann, den eigenen Bruder und Adravanta mit all seinem Zorn, dessen er fähig war, zu verfolgen.

Donavis hatte ihre Vehemenz, mit der sie gegen Mortem gekämpft hatte, für Integrität oder Gerechtigkeitssinn gehalten. Doch wäre er niemals auf den Gedanken gekommen, dass ihr Bestreben ein gänzlich anderes war und ihm selbst galt. Geschweige denn wusste er, dass sie ihm in der Residenz verächtlich und voller Hass die Wahrheit in sein Antlitz geschleudert hatte, nichts weniger als dass sie Donavis liebte und Mortem töten wolle, wenn ihm etwas geschähe!

 

***

Mittlerweile war Adravanta zu der Familienzusammenkunft der beiden Parteien gestoßen. Prüfend sah sie ihre Eltern im Versuch, die Entwicklung der Dinge zu ermitteln, an und enthielt sich einstweilen, um ihnen nicht vorzugreifen. Ihre Mutter warf ihr einen nicht minder misstrauischen Blick zu und beorderte sie in die Abgelegenheit einer Nische, um sie ohne Umschweife zu fragen: „Wieviel von dem Disput hast du Donavis erzählt?“

„Es gibt nichts, das ich ihm verschwiegen habe. Zudem habe ich ihn über den Kampf gegen Mortem in Kenntnis gesetzt!“, legte die Maid gegenüber Genevieve Rechenschaft ab. Traurigen Blickes lehnte sie den Kopf an die Schulter ihrer Mutter und sprach: „Es ist alles vorbei! Das so wertvolle Band zwischen zwei Gefährten, die in innigster Kameradschaft vielen Pfaden gemeinsam folgten, ist zerrissen. Weshalb? Möge Donavis sein Schweigen brechen und seinem Bruder alles vergelten, wie er es verdiente, so könnte ich dies verstehen. Er wird jedoch keine Anklage gegen Mortem erheben und ist zudem voller Bitterkeit mir gegenüber, weil ich es wagte, ihm die Augen zu öffnen. Er hat mir nicht einmal geglaubt.“ 

 „Ich frage Dich, Adravanta, was geschähe, wenn Dein Vater oder ich Schuld auf unser Haupt laden würden? Hörtest Du auf, uns zu lieben, weil wir zu Frevlern geworden sind? Warst Du nicht auch mit Mortem durch ähnliche Bande verbunden, nicht so stark wie jene, die Deine Seele mit Donavis verketten, doch vorhanden? Spürst Du nicht, dass Du demjenigen, den Du doch vorgibst zu lieben, im gleichen Maße einen Dolch in sein Herz rammst, wie Du es seinem Bruder angedeihen lassen wolltest?“ Voller Liebe sah Genevieve ihre Tochter an. Sie hatte beide Hände an Adravantas tränenumflorten Wangen gelegt, während sie ihr Trost zu spenden suchte, indem sie ihr ein Gleichnis vor Augen rief. Ihre Seele war von Wehmut ummantelt. Die Königin erinnerte sich, als die Maid noch durch die Gewässer tollte, voller Abenteuerdrang und Unbeschwertheit, lachend mit ihren Gefährten, die ihre Tollkühnheit liebten.

Ihr Trost fiel auf fruchtbaren Boden. Adravanta hatte keine Antwort darauf, doch in ihr begann die Erkenntnis zu wachsen, dass sie sich mehr in den heimlich Geliebten einfühlen müsse, um ihn nicht zu verlieren.

Genevieve wartete darauf, dass ihre Tochter ein Zeichen des Zugeständnisses gäbe, doch es kam nicht. Dennoch war sie im Bilde. Die Gesichtszüge der Prinzessin waren milder geworden, und ihre Augen hatten einen hoffnungsvollen Glanz angenommen. Schmunzelnd nahm sie Adravanta am Arm und zog sie zurück zu den Andern.

Später stießen auch Megalis und Donavis wieder hinzu. Er war noch immer der Meinung, dass Adravanta zuviel von ihm forderte, wenn sie als Tribut für ihre Liebe von ihm verlangte, seinen Bruder zu opfern. Es hielt ihn jedoch nichts mehr, um zu ihr zu kommen, um heimlich schmachtend in ihrer Nähe zu sein. Mit einem zart triumphierenden Lächeln auf ihren vollen, blutroten Lippen hatte sich Megalis an seine Flossenenden gehängt.

Kaum, dass Donavis in der Wohnhöhle erschien, leuchtete Adravantas Antlitz voller Freude auf, als wenn sie nicht eben erst noch mit ihm in Zwiespalt gesessen hätte. Donavis sah die Prinzessin ebenfalls mit den Augen des Liebenden und nicht derselben eines Gefährten, so dass sein Herz freudig zu pochen begann, als für ihn durch ihr Lächeln inmitten düstrer Gewässer die Sonne aufging.

 In einem ruhigen Moment kamen die beiden Parteien überein, die Ehre der Verbündeten nicht gleichermaßen zu beschmutzen wie Mortem. Bald darauf wurde die Familienkonferenz mit dem Übereinkommen, ein Tribunal des Hofstabs anzuberaumen, beendet. Zumindest in der Hinsicht waren sich alle einig, dass eine vehemende Morddrohung gegen das Königshaus einer Kriegserklärung gleichkam und geahndet werden müsse.

Marianis, Megalis und Fronkalis hatten noch immer keinerlei Ahnung, welche Schrecknisse sich wirklich zugetragen hatten, denn Donavis schwieg weiterhin; sowohl seinem Bruder als auch der Eltern zuliebe. Somit hatte jener unsägliche Junker, der nach dem Leben des eigenen Bruders trachtete, dieser blutige Schandfleck auf den Steintafeln Avalonias, vier unfreiwillige Verbündete, von denen zwei davon schwiegen, um zu verhindern, dass drei Herzen zerbrachen. Zumindest eine der Vier ahnte dunkel, dass es sie irgendeinmal reuen würde, die Wahrheit nicht ans Licht gebracht zu haben. Dennoch schwieg Adravanta, um ihr liebstes Gut für sich zu gewinnen.

Es glückte ihr, wie hoch war jedoch der Preis für eine äußerst kurze Zeit voller Glück, in denen das Paar in der Goldenen Stadt euphorisch als Brautpaar gehandelt wurde? Die Sonne schien über den Gipfeln von Stellamaris, doch mehr noch leuchtete sie in zweier Herzen. An beiden Orten war Solveigh vorausblickend dazu verdammt, unterzugehen, das Antlitz von Schwefel verhüllt. ... Weh Avalonia!

Das Tribunal

Junker Mortem streifte ohne Plan und Ziel durchs Niemandsland, weit von der Heimat entfernt. Noch immer war sein Herz voller Groll und Missgunst, unzufrieden darüber, keine Lösung zu finden außer jener, den Tod über das Haus seiner Eltern und in die Halle der Sieben zu bringen.

Mittlerweile hatten ihn kleinliche Skrupel befallen, absurderweise jedoch keine Reue. Die Zweifel entsprangen einem äußerst niedrigen Instinkt: Jenem der Furcht. So sehr er sich selbst schalt und anspornte, es ließ sich nicht ändern; ihm war bang vor Adravanta.

Mortem wusste sehr wohl, dass er ihr rein physisch weit überlegen war, seine Kraft war dieselbe wie die seines Bruders. Doch ihn ängstigte ihr Mut und die Unerbittlichkeit, die er seit ewiger Zeit kannte.

Einstens waren sie einander so nah wie Geschwister gewesen, doch trauerte er nicht um diese Verbindung. Zu sehr strebte er, eine Größe zu erreichen, die Mortem selbst auf dem höchsten Gipfel der Erde niemals erreichen würde. Dies ahnte er jedoch nicht. Er glaubte irrigerweise, bereits groß und mächtig zu sein mit Hilfe eines erhobenen Sitzes, in Stein gehauen und mit Muscheln verziert, der seiner Meinung nach seiner harrte.

In seinen verworrenen Träumen sah er sich bereits dort oben, thronend über dem Volk, das ihm demütig huldigen sollte. Mortem hatte keinerlei moralische Bedenken, in das Domizil seiner Eltern zurück zu kehren und ihnen in die Augen sehen zu müssen, wie es sich eines ehrbaren Junkers geziemte. Er befand sich jedoch noch immer im Zwiespalt, was er zu unternehmen gedachte, um sein Ziel zu erreichen. Hirngespinste huschten wie Traumbilder durch die Windungen seines kleingeistigen Gehirns, das durchaus zu Großem wie das aller lebenden Wesen fähig sein könnte, wenn er denn wollte.

In ihm reiften jedoch ungute Pläne! Noch hatten sie keinerlei Konturen, waren verschwommen wie die Schatten der Nacht und ersetzten einander, kaum dass ein Gedanke Form annehmen konnte. Zudem war Mortem äußerst erschöpft und von mangelndem Schlaf gepeinigt.

Er befand sich in den unwegsamen Gewässern des Rheischen Ozeans, der ihm gänzlich unbekannt war. Hunger zerrte an seinen Eingeweiden, und es war düster, obwohl er hoch über seinem Haupt schwach das Licht der Sonne erblickte, die heiß auf sein Haupt brannte.

In der Ferne ertönte ein dumpfes Grummeln, das ihn ängstigte. Zudem war das Wasser von gelblichen Schlieren durchzogen, wie er sie noch niemals in seinem noch so jungen Leben gesehen hatte. Das etwas jüngere Meeresbecken grenzte an den Yapetus und war ohne Vegetation, gar ohne jegliches Meeresgetier. Schroffe Felsen ragten hoch vor ihm auf, und unter ihm gähnten tiefe Abgründe; am Fuße von schwarzem Geröll, Glut und Asche bedeckt. Das Wasser war unerträglich heiß und zähflüssig, so dass es Mortem seine Kiemen verstopfte.

Er hatte längst die Orientierung verloren. Ohnehin war er so sehr in seinen Wahn verfallen, dass er sich selbst schwor, erst nach Avalonia zurück zu kehren, um seine vermeintlichen Widersacher zu vernichten und der Prinzessin habhaft zu werden. Bang war ihm nicht, was ihn in der Heimat erwarten könne. Er fürchtete jedoch die Prinzessin sehr wohl, denn ihr oblag eine Stärke, die ihm unheimlich war. In gleichem Maße, wie er sie bewundert hatte, einstens, als sie noch unbedarfte Kinder gewesen waren, hasste er sie nun dafür, sich neben ihr klein fühlen zu müssen.

Aus demselben Grund wünschte sich Mortem sehnlichst, Größe und Macht zu erreichen und wählte dafür den Weg des vermeintlich geringsten Widerstands. Dass dieser mitunter zum Horrortrip wird, ahnte der Meidling allerdings nicht!

 

***

Avalonia, ungefähr zur gleichen Zeit

 

Lange hatte man in der Heimat zugewartet, die Eltern bange ob seiner Abwesenheit; das Königspaar nahezu erleichtert, dass er sich in Luft aufgelöst zu haben schien, die Prinzessin zwiegespalten zwischen dem Bedürfnis nach heimtückischer Rache und der Ahnung, dass es nichts Gutes bedeuten konnte, ihn nicht in Avalonia zu wissen. Als einem Jeden die Zeit jedoch gar zu lang wurde, drängte Adravanta darauf, etwas zu unternehmen. Gegenüber ihren Eltern wies sie hinterlistig darauf hin, dass es schwerlich zu verantworten sei, ihn nicht zumindest zu suchen, denn immerhin könnte ihm ja etwas geschehen sein.

Vorher jedoch, so argumentierte sie, solle gefälligst das geplante Tribunal anberaumt werden, um in seiner Abwesenheit mit allen Mitgliedern des Hofstabs, inklusive der Eltern, eine Strafe auszuhandeln.

„Vater, all Eure Einwände sind gut und schön“, warf sie dem König entgegen. „Es ist nicht recht, jemanden zu verurteilen, der sich nicht wehren kann. Ich setzte mich immer für Schwächere ein, die Häme und Spott ausgesetzt waren, das wisst gerade Ihr besser als ein jeder andere. Ist nicht jene unleidige Geschichte aufgrund dieser Tatsache in dem Maße gewachsen?“

„Du kannst Donavis nicht mit jemand Schwachem vergleichen, Adravanta! Er ist ebenso stark wie sein Bruder, liebst Du ihn nicht eben aus diesem Grund?“, hielt ihr die Königin entgegen, als die Familie an der Regierungstafel ihre taktischen Gespräche führte.

„Auch in dieser Hinsicht gebe ich Euch Recht, Mutter! Ich sah mich jedoch gezwungen, zu handeln, als Mortem Eure Ehre beschmutzte. Donavis würde niemals etwas gegen ein Mitglied seiner Sippe unternehmen, ebenso wenig wie ich. Die Familie ist ein heiliger Ort, dies waren Eure eigenen Lehren, die ich bereits als Kind aus Eurem Munde vernahm. Mortem selbst hat ihn verunreinigt, indem er bei seinem eigenen Bruder Hand anlegte!“

„Wir alle sind jedoch übereingekommen, das Schlimmste der Familie zuliebe zu verschweigen. Du selbst hast darauf verzichtet, es unter Anklage zu bringen, um Donavis nicht zu verlieren. Nur deshalb hast Du ihn gewinnen können, willst Du das liebste Stück Deines Herzens der Rachsucht opfern, Tochter?“, fragte Tronador eindringlich.

Wie auch seine Gemahlin war er der Meinung, dass der Gerechtigkeit nur Genüge getan werden konnte, wenn der Delinquent die Möglichkeit bekam, für sich zu sprechen. Die Gemüter hatten sich längst wieder beruhigt, so dass Mortems unsägliche Drohung etliches an Bedeutung verloren hatte. Sowohl Genevieve als auch er sahen sie mittlerweile als unbedachten Ausspruch an, der einem erhitzten Gemüt entfleucht war. Lediglich Adravanta schätzte den Junker um ein Vielfaches bedrohlicher ein. Um so unruhiger wurde sie mit jedem Wimpernschlag, in dem er sich der Obhut des Volkes entzog. 'Denn schließlich ...', so malte sich die besorgte Maid insgeheim aus: 'wer weiß schon, was ein krankhafter Geist ausbrüten kann? Womöglich ist er im Begriff, ein Heer von Bestien; von denen ich ahne, dass sie irgendwo in fremden Gewässern hausen, auf uns zu hetzen.'

Geistesabwesend merkte sie auf, als ihr Vater sie ansprach. Es dauerte etwas, bis er zu ihr vordrang. Dann jedoch wehrte sie sich vehement gegen seine Anschuldigung: „Es ist nicht meine Absicht, mein Schweigen zu brechen, so sehr es mir widerstrebt. Ahndet jedoch zumindest seine Drohung, die er gegen Euch aussprach. Bedenkt, Vater; was geschähe, wenn dies auf welchen Wegen auch immer an das Gehör des Volkes dränge. Das Königshaus verlöre sein Gesicht, das Ihr gewiss wahren wolltet!“

„Das ist das Mindeste, was wir tun können, Adravanta! Hinsichtlich dessen sind wir mit Dir einer Meinung. Doch sehen wir nicht die Dringlichkeit, mit der Du uns drängst, eine Frist festzusetzen. Dies könnte durchaus warten, bis er wieder in Avalonia weilt. Irgendeinmal wird er zurückkehren müssen“, warf Genevieve ein.

Es gälte, Kräfte zu mobilisieren, um Mortem zu suchen, wenn sie sich dem Willen ihrer Tochter unterwerfen würden. Dies ließe sich jedoch nicht ohne Aufsehen erreichen, und ebendies wollten sie ursprünglich vermeiden.

Würde Donavis sein eigenes Schweigen brechen und Mortems Anschläge selbst zur Sprache bringen, so würden sie nicht rasten und ruhen, bis sie den Schandbuben gefunden hätten. Da jener es jedoch noch immer bevorzugte, die Ehre seiner Familie zu wahren, waren ihnen die Hände gebunden.

 

***

 Wesentlich später kam die Königsfamilie überein, eine Versammlung des Hofstabs auf den nächstmöglichen Zeitpunkt anzuberaumen. Somit hatte Adravanta ein Teilziel erreicht. In Absprache mit Marianis und Fronkalis, die als Fürsprecher des Delinquenten fungieren sollten, beschlossen sie, mit sämtlichen Getreuen des Königshauses das weitere Verfahren des Strafprozesses zu besprechen.

Ein jeder sah zwischenzeitlich die Notwendigkeit ein, nicht länger zu warten, da die Brisanz der Situation es allen gebot. Die Sorge von Mortems Eltern war groß, dass ihm etwas geschehen sein könnte. Ihnen war klar, dass eine Suche nach ihm in die Wege geleitet würde, sobald das Tribunal ein Urteil spräche. Darauf setzten sie alle Hoffnungen, um des verlorenen Sohnes habhaft zu werden. Die eigene Suche war erfolglos geblieben, und Tronador war nicht bereit gewesen, ein Gefolge zur Verfügung zu stellen.

Thimorioth oblag als königlicher Kurier die Aufgabe, alle Getreuen zusammen zu rufen, denen an der Regierungstafel ein Sitz gebührte. So waren denn nun, als er diese Mission erfolgreich zu Ende geführt hatte, alle Maiden und Junker, die Rang und Namen hatten, nach langer Zeit wieder in der Residenz beisammen. Die Freude war einesteils groß, dem Alltag ihrer vielfältigen Aufgaben entfliehen zu können und mit ihren Verbündeten vereint zu sein.

Andererseits war die Stimmung gedrückt ob der Aussicht, ausgerechnet dem Sohn zweier Vasallen des Königspaars den Prozess machen zu müssen. Es waren sich jedoch alle einig, dass nichts von dem, was besprochen werden sollte, an das Gehör des Volkes dringen und der Gefährten Lippen versiegelt sein sollten. Zuviel stand für sie auf dem Spiel.

Das Königspaar hatte an der Kopfseite der Tafel seinen Platz eingenommen. Wie bei jedem Gremium trugen sie edle Krönungsgewänder. Ihre Häupter waren mit zwei prächtigen Muschelkronen geschmückt.

Linkerhand des Königs befand sich Donavis, während rechterhand Genevieve und Adravanta saßen. Die lange Tafel war bis an das Ende mit den restlichen Delegierten des Gremiums besetzt.

Drei Sitze blieben hingegen leer. Es waren die einstigen Plätze von Morius, er fiel in den Gewässern der Kraken in der Schlacht gegen die Pterigotus.

Des Weiteren weilte auch das Andenken von Tikar, dem Vater von Genevieve, und von Megalis, der Namenspatin von Marianis' Tochter, unter ihnen. Auch sie brachten das blutige Endopfer im Kampf um die Goldene Stadt.

Feierlich waren sie alle gewandet, die Maiden in kunstvoll gewebten Obergewändern aus Seelilienstängeln, die Junker mit enganliegenden Miedern aus dunklem Algengarn. An Adravantas zartem Körper schmiegte sich eine Tunika aus goldenem Nixenhaar. Funkelnden Auges ruhten Donavis' Blicke auf ihr, voll Liebe und Stolz. 

Die linke Reihe der Tafel nahmen die Krieger Avalonias ein, und rechts saßen die Maiden. Timorioth war der Jüngste von ihnen. Er wurde berufen dank seines Einsatzes als halbwüchsiger Bursche während jener unsäglichen Schlacht. Auch Wrodun, der Heerführer, durfte nicht fehlen.

Nach langer Zeit saß auch Tweja wieder mit an der Tafel, die nach der Schlacht gegen die Pterigotus erkrankte. Doch heuer fand sie die Kraft, sich wieder zu ihren Gefährtinnen zu gesellen. Tamila knüpfte die Brautgewänder von Genevieve und Tronador und der Königin Geschmeide - so zart wie Sternenstaub. Ihre Hände schufen die so wichtigen Netze aus Algengarn, mit deren Hilfe die Urhummer besiegt werden konnten.

Die Eltern des Delinquenten: Marianis verhärmt, Fronkalis erstarrt in seinem Kummer. Megalis, die Schwester, die Blicke bang ob des Urteils über den Bruder. Aquaria, Astril und Yoras waren zugegen, der Geist der Verblichenen schwebte im Raum.

Es lag ein Hauch von Trauer über der Gesellschaft in der Halle der Sieben. Aquarias Schrein war geöffnet. Im festlichen Schimmer der Leuchtquallen wurde der Urmutter aller Mollusken gedacht.

Die Gewässer der Residenz waren so hell erleuchtet, als ob selbst Solveigh unter ihnen gastierte. Regenbogenfische wirbelten um die Delegierten herum, und allüberall vernahm man das raunende Wogen der Weiden. 

Niemand der Verbündeten ahnte, was auf sie zukam, und dennoch zogen sich ihre Herzen zusammen, voll unguter Ahnung, dass sie einander das letzte Mal sahen. Schließlich erinnerte sich Tronador seiner Pflicht und eröffnete das Konsilium, um Mortem seiner Strafe entgegenzuführen.

 

***

Die letzte Rede

 

 „Lang ist es her, hochgeschätzte Delegierte des Volkes, dass die Gefolgschaft in unseren Gemächern beisammen war. Vieles hat sich verändert, seit wir alle gemeinsam die Schlacht gegen die Pterigotus bestritten. Grausam wurden unsere Reihen auseinander gerissen. Es musste ein Großteil unserer Kriegerschaft sein Leben lassen, und das Wehklagen dreier Stämme erfüllte die Freien Gewässer bis in das Land meines Vaters. Wir jedoch, das Volk Avalonias, sind die Auserwählten des Universums. Unsere Aufgabe ist es, die Schöpfung der Himmlischen Mächte lebendig zu halten. Wir kämpften gegen die Schatten, die jene unseligen Geschöpfe in unseren Gewölben hinterließen.

Blut überschwemmte den Yapetus, doch unsere Liebe und Treue half uns, mit unseren Tränen die verseuchten Gewässer zu klären. Lange mussten wir darben, hausten in zerstörten Gewölben, die nicht mehr als dunkelste Abgründe waren. Das Volk jedoch, dank Eurer Hilfe, Ihr tapferen Krieger, kehrte aus der Dunkelheit der Furcht und des Grauens zum Licht der Hoffnung und der Liebe zurück.“ Tronador warf einen Blick zu Fronkalis und fuhr unter dem verhaltenen Beifall der Anwesenden in direkter Anrede fort: „Einstens batet Ihr mich, Euer König und das Haupt von Avalonia zu sein.  Erst war ich bang, mir ist’s, als wäre ich noch immer der junge Bursche von einst.“ Er wandte sich an Genevieve: „Meiner Gemahlin, der weit mehr Ehre gebührt als mir, schwor ich meine Treue und Beistand auf ewig.“ An die Runde gerichtet: „Ich hoffe, dass ich Euch allen ein ebenso treuer Gefährte war. Somit übergebe ich an die Königin Avalonias das Wort!“

Huldigend neigte Genevieve ihrem Gemahl das silbern umflorte Haupt entgegen. Liebevoll sah sie ihn an, in ihren Augen schimmerten Tränen. Tronador nahm ihre Finger zwischen seine beiden kräftigen Hände und führte sie an sein Herz. Halblaut raunte er ihr zu: „Die Halle der Sieben ist ein prunkvolles Domizil. Das Schönste jedoch, was Ihr mir schenken konntet, ist Eure Seele, von der ich hoffe, dass ich bis an das Ende aller Zeit darin gastieren darf. Mein Wunsch ist bescheiden, denn so wahr ich Euer Gemahl und der König von Avalonia bin, so ist mein Herz dasselbe für Euch und noch mehr, denn Ihr seid kein Gast, Ihr habt es besetzt und durch Eure Liebe mit Licht durchflutet.“ 

Avalonias Königin unterdrückte ein Schluchzen. Sie wusste nicht, wie ihr war, denn seine Worte erfüllten sie nicht mit Freude. Ihr klangen sie allzu sehr nach Abschied nehmen, wie all das, was ihre Ohren bisher vernahmen.

Wie ein Stein lag ihr das Herz in der Brust, wenn sie auch den Grund dafür nicht kannte. Doch wäre sie nicht Genevieve, nicht die Königin Avalonias und nicht die Nachfahrin von Astril und Yoras, wenn sie auch nur einen Wimpernschlag lang Schwäche zeigen würde. Also entzog sie ihm sanft ihre Hand, nickte ihrem Gemahl noch einmal knapp zu und besann sich ihrer Aufgabe, nachdem ihr Tronador der Etikette halber noch einmal gut vernehmbar das Wort erteilte: „Königin meines Herzens, waltet Eures Amtes!“ 

 Genevieve ergriff das Wort: „Ich danke Euch, mein Gemahl! Wie Ihr bereits sagtet, wurdet Ihr von den Vasallen unseres Volkes erwählt. Jenerzeit, als ursprünglich unser schönstes Ereignis, die Vermählung, stattfinden sollte, hörte ich das Gespräch, welches Ihr mit Euren Gefährten führtet. Ich vernahm Euren Schwur, den Ihr feierlich an Junker Morius und Junker Fronkalis leistetet. Ihr schwort Treue, den Einsatz all Eurer Kraft und den Willen, das Haupt des Volkes zu sein. Wir - das Meervolk - sind Avalonias Seele, so waren Eure Worte. Ein Haupt ohne Seele sei nutzlos. Wie recht Ihr doch hattet!"

Bitter senkte sie ihren Blick, fasste sich jedoch sogleich und legte all ihre Autorität in ihre Stimme. "Eben darum haben wir uns zu einem feierlichen Bankett versammelt, doch der Anlass ist traurig.“ Sie stockte und blickte - sich absichernd - zu Adravanta, bevor sie mit rauer Stimme fortfuhr: „Wir haben eine Seele aus unseren Reihen verloren. Euch wurde bereits Kunde gegeben, dass es sich zudem um einen Junker handelt, der Familienbanden aus unserer Gefolgschaft entstammt. Bisher war er sehr eng mit dem Königshaus verbunden, ebenso eng wie seine Eltern." Beschwörend hob sie ihre Hände: "Ich bitte Euch, dies bei all den Verhandlungen, die in Kürze an unserer Tafel beginnen, niemals aus den Augen zu verlieren! Ich erwarte von einem jeden von Euch, wie Ihr da sitzt, nach Gerechtigkeit zu streben, ohne die Ehre der Betroffenen zu beschmutzen. Es gilt, nicht nur das Gesicht des Königshauses zu wahren, sondern auch das der Familie.“

Genevieve entfernte sich von ihrem Sitz und gesellte sich zu ihrem Gemahl. Mit der Hand auf seine Schulter gelegt legte sie die Regeln des Prozesses fest: „Es werden keine Gewalttaten als Strafe verhängt, so wie es schon immer in Avalonia war. Alles, was wir besprechen, wird abgestimmt, wie es in unserem Hause Sitte ist. Ein jeder hat sich einzubringen, keiner darf sich seiner Stimme enthalten!"

Sie deutete auf Fronkalis und Marianis: "Die Eltern des Delinquenten haben als Fürsprecher zu agieren, da sie am Engsten mit ihm verbunden sind. Ein jeder, der ansonsten für Junker Mortem sprechen will, solle dies tun. Die Klage wurde Euch bereits kundgetan, er sprach eine Morddrohung gegen das Königshaus aus. Ungeachtet seiner Abstammung werden wir kein solches Verhalten dulden, auch in den Reihen des Volkes nicht. Allein deswegen sind wir alle beisammen, um Anarchie gar nicht erst aufkommen zu lassen!" Abschließend mahnte sie alle Anwesenden: "Es versteht sich von selbst, dass ein Richtspruch nicht an das Gehör des Volkes kommt. Hochgeschätztes Tribunal, waltet Eures Amtes!“ Die Verhandlung war somit eröffnet. Lange saßen sie beisammen, die Gemüter waren reichlich erhitzt. Dispute zwischen den Beteiligten ließen die Stimmen von den Wänden widerhallen. Wrodun, der Heerführer, warf ein, dass es nicht gerecht sei, über Junker Mortem Recht zu sprechen, da jener nicht anwesend war.

Tamila und Donavis begehrten, auf ein Urteil zu verzichten, da die Eltern Mitglieder des Hofstabs seien. Thimorioth schlug vor, den Delinquenten zu suchen und noch einmal zu einer Anhörung zusammen zu kommen. Der König selbst hätte bevorzugt, auf die Klage verzichten zu müssen, doch konnte er dies schwerlich eingestehen. 

Fronkalis und Marianis saßen zwischen den Fronten, um sie herum wogten teils lautstark die Stimmen. Mitleidige Blicke streiften sie häufig, doch kein einziger war abfällig oder gar hasserfüllt.

Genevieve scheute sich nicht, die Hand ihrer Gefährtin zu halten, die ganze Zeit, während um sie herum der Diskurs tobte. Sie brach die Etikette, indem sie sich als Königin von ihrem Platz entfernte, um Marianis zur Seite zu eilen, als sie in Tränen ausbrach.

Fronkalis‘ Blicke irrten unglücklich umher, seine Augen flehten um Hilfe. 'Wer spendet mir Trost?', schienen sie zu fragen. 'Bin ich nicht ebenso verzweifelt wie meine geliebte Gemahlin?'

Adravanta litt, sie sah all diese Schmerzen, die ihr Begehren nach Gerechtigkeit verursachten. Donavis war hasserfüllt auf seinen Bruder, da er die schlimmeren Schrecknisse, die noch im Dunkel lauerten, kannte. Mehr noch: Er begriff und erkannte! Donavis eilte seinem Vater zur Seite und spendete ihm Trost, so wie es im Bereich seines Möglichen war. Selbst Tronador schenkte Fronkalis Loyalität, und auch dieser begriff. Hatte er sich doch gefürchtet, dem Königspaar noch einmal in die Augen schauen zu müssen, da einer seiner beiden Söhne ein Frevler war.

Das Tribunal wollte ewig scheinend zu keiner Einigung kommen. Schließlich ergriff Marianis das Wort, um ein Urteil zu sprechen ob des Vergehens gegen das Königshaus. Sie als Mutter erhob ihre Stimme, um zu verhindern, dass die Gemeinschaft wegen einem zerbrach, einst aus ihrem Schoß geboren und zum Frevler geworden. Die tapfere Meermaid sprach laut, so dass alle es hörten: „Lange sind wir hier schon beisammen und bisher zu keiner Einigung gekommen. Ich sehe, ein jeder von Euch, geschätzte Gefährten, hat das Bestreben, Mortem zu schonen. Ich fürchte, Ihr habt die Brisanz der Situation nicht erkannt. Eine Drohung gegen das Königshaus kommt einer Kriegserklärung gleich, ist Euch das nicht bewusst?“

Um Rückhalt heischend, sah sie zum König und fuhr fort: „Wenn dies nun an das Gehör anderer dränge, würde sein Beispiel Schule machen, und das ist gewiss nicht Euer Bestreben. Vergesst, dass er der Sohn zweier Getreuen ist!“, forderte sie resolut und schwächte ab: „Er bleibt unser Sohn, auch als Verurteilter. Ein Urteil muss jedoch sein! Genevieve und Tronador sind über alles erhaben, an ihren Worten hat niemand zu zweifeln. Sie müssen Euch als Zeugnis genügen, und da ihr kein angemessenes Urteil findet, werde ich selbst über Mortem Recht sprechen.“ Gemurmel setzte im Raum ein, doch Marianis blieb fest. „Hört meinen Vorschlag, den ich Euch mache, und stimmt darüber ab. Er ist meiner Meinung nach nicht allzu hart, doch er liegt im Bereich des Möglichen. Ich als Mutter verurteile ihn dazu, sich aus den Reihen des Meervolks zu entfernen. Fortan soll er ein Geächteter sein, der keinerlei Recht mehr hat, sich in Avalonia aufzuhalten. Er solle sich in die Fremde begeben, wo er ohnehin zu sein scheint! Das Urteil soll ihm von einem aus dem Hofstab übermittelt werden, der nicht zu unserer Familie gehört!“

Fronkalis’ Antlitz war vom Schmerz verzerrt bei der Gewissheit, seinen Sohn, den er trotz allem liebte, nie wieder zu sehen. Strafend suchte sein Blick den der Gemahlin, doch er schwieg zu diesem Urteil.

Betroffen stöhnten einige Stimmen auf. Ein jeder wusste, was Verbannung und Ächtung zu bedeuten hatte: Es kam einem Todesurteil gleich. Ohne Schutz der Gemeinschaft Avalonias war ein Jeder verloren. 

„Ihr behauptet, das Urteil sei nicht allzu hart, liebste Gefährtin“, suchte Genevieve zu vermitteln. „Denkt an die Worte, die ich Euch sagte, als Ihr von jenen Eures Sohnes Kunde erhieltet. Ihr wisst selbst, was dieser Richtspruch für Mortem bedeutet. Vergebt ihm!“

Marianis war jedoch trotz eigenem Kummer unversöhnbar. "Gebenedeite, ich danke Euch für Eure Freundlichkeit. Ich weiß, was ich sprach! Auch Eure Worte sind mir noch in den Ohren, ich werde sie niemals vergessen. Ich sagte zudem, dass Mortem auch als Verurteilter unser Sohn bleiben wird. Dies muss sowohl Euch als auch ihm als Vergebung genügen. Doch werde ich niemals zulassen, dass er unser Bündnis zerstört."

Tronador saß neben seiner Gemahlin und erkannte die Unerbittlichkeit, mit der die eigene Mutter des Delinquenten danach strebte, wieder Recht und Ordnung im Königshaus herzustellen. Er konnte nicht anders und bewunderte sie über alle Maßen. Zart legte er die Hand auf den Arm von Genevieve und beruhigte sie, indem er sprach: „Lasst uns das Urteil zur Abstimmung freigeben, und es wird sich weisen, was geschieht.“

Genevieve wandte ihm ihr Antlitz zu. Wieder leuchteten ihre Augen voll Zärtlichkeit auf, von einem Schleier der Trauer verhängt. Ihr Herz pochte bei jedem Wort, das er an sie richtete. Wie sehr wünschte sie sich, mit ihren Lieben gemeinsam zu fliehen, vor einer Gefahr, die sie tief in sich drin spürte und die sie nicht kannte.

Voller Inbrunst sandte sie ihre Gedanken in jenes Gewölbe am Vulkan, das dem Paare so oft schon Zuflucht bot. Ihre Schwäche jedoch blieb ihnen allen, wie sie da saßen, verborgen, denn niemand kannte die Mission der Königin so sehr wie sie selbst. Sie wusste, was sie dem Volk schuldig war, und so stimmte sie ihrem Gemahl, dem König Avalonias, zu: „Es sei, wie Ihr es wünscht! Teilt es den Getreuen mit und führt die Abstimmung durch. Ich sehe den Anspruch dessen sehr wohl!“ 

Und so geschah es. Tronador eröffnete die Abstimmung mit mahnenden Worten, die seinen Getreuen nahe legten, all ihre Weisheit und ihren Gerechtigkeitssinn mit abstimmen zu lassen. Dispute hatten in der Halle der Sieben keinerlei Raum.

Nach längerem Ringen mit sich selbst waren sich Fronkalis als Vater und Marianis einig, und beide stimmten dafür. Thimorioth, Adravanta und Donavis gaben dem Urteil ihre Stimme. Tamila, Tweja und Wrodun waren dagegen, ebenso Megalis, die Schwester. Sie befanden die Strafe als zu hart. Genevieve bot Kontra, Tronador war dafür. Somit wurde eine Mehrheit von sechs zu fünf Stimmen erreicht, und das Urteil wurde zur Vollstreckung verhängt.

Bald darauf erreichte Marianis ihr Ziel, und die Fahndung nach Mortem begann, um ihm das Urteil zu übermitteln. Wiederum wurde das Volk außen vor gelassen, auf die Rekrutierung des Heers von Wrodun wurde verzichtet, um so wenig wie möglich Aufsehen zu erregen. Die Junker aus den Reihen des Hofstabs versammelten sich um den König, der sich erbot, den kleinen Suchtrupp selbst zu leiten. Fronkalis und Donavis nahmen ebenfalls teil, so dass fünf tapfere Burschen sich aufmachten, um nach einer verlorenen Seele Ausschau zu halten. In der Halle der Sieben war der vereinbarte Treffpunkt.

Genevieve und Adravanta verabschie­deten mit Wehmut ihre beiden Herzenskönige, die sie vermutlich längere Zeit nicht mehr zu sehen bekämen. So trübe wie ihr Gemüt waren die Gewässer des Yapetus, doch dies schreckte die fünf Junker auf den Pfaden der Redlichkeit in keinster Weise.

 

Es waren die frühesten Morgenstunden, eine Zeit, zu der Solveigh noch auf der anderen Seite der Erde verweilte. Tronador hatte gedrängt, beizeiten aufzubrechen, um so wenig wie möglich der Gefahr ausgesetzt zu sein, von einem zufällig umherstreifenden Bürger der Goldenen Stadt entdeckt zu werden. So wollten sie lästige Fragen nach dem Grund des gemeinsamen Reisens verhindern.

Niemand von ihnen wusste indessen, wohin sie das Schicksal führen sollte, an welchen Orten sie jene verlorene Seele finden konnten, die fern der Heimat Bluttaten plante.

Des Königs letzte Reise

Der König hatte sich an die Spitze der kleinen Truppe gesetzt und seinen Rang als Anführer angenommen. Gemeinsam querten sie den Yapetus.

In den Domizilen der Goldenen Stadt war es noch ruhig, als Avalonias Krieger die Heimatgewässer verließen. Schweigsam und mit grimmigen Mienen bewegten sie sich voran, streng bemüht, leise zu sein. In jedem von ihnen brodelte der Zorn auf  Junker Mortem.

Sie kamen zügig voran. Bald befanden sie sich in der Nähe der Wiege des Königs. Tronador schlug vor, den Gewässern der Kraken einen Besuch abzustatten, um seinen Vater Golmor um Geleit zu bitten.

Seiner Bitte wurde entsprochen, doch plötzlich war alles anders: Je näher sie ihrem Ziel kommen mussten, umso beschwerlicher wurde die Reise. Kleine, gelbliche Flocken schwebten wie leichte Federn umher, legten sich auf ihre Kiemen und erschwerten ihnen das Atmen. Giftig grüne Schlieren versperrten ihnen die Sicht.

Riesige Fischschwärme kamen ihnen mit hektischen Bewegungen entgegen, orientierungslos taumelten diese in die entgegengesetzte Richtung, auf Avalonia zu. Kleinere Oktopusse und weiteres Meeresgetier folgten ihrem Beispiel. Der Grund war von leeren Schneckengehäusen bedeckt, die einstens herrlichen Farben verblichen, ihre Bewohner indessen unbekannterweise verzogen.

Schließlich stieß Thimorioth mit schwerer Zunge hervor: „Was in Himmels Namen ist hier geschehen, Tronador?“ Der König hatte einen vagen Verdacht, den er jedoch vorläufig verschwieg. Er wollte seine Gefährten nicht unnötig ängstigen, jedoch hatte er längst einen Plan gefasst. Alles deutete für ihn auf einen drohenden Vulkanausbruch hin. Er sah die Bedrohung jedoch nicht in Avalonia selbst, da er dort regelmäßig nach dem Rechten sah.

Nach weiteren Überlegungen beantwortete er Thimorioths Frage: „Ich kann Euch diese Frage nicht mit Gewissheit beantworten, also schweige ich. Allerdings sehe ich mich gezwungen, allein weiter zu reisen, da ich die Ursache herausfinden will. Folgt mir noch bis in meine Heimat, um dort zu rasten und nach dem Rechten zu sehen. Ich werde Euch jedoch nicht mehr begleiten." 

Wrodun wagte es, die Frage zu stellen, die ihm brennend auf dem Herzen lag: „Könnt Ihr mir sagen, wohin Ihr Euch wenden werdet? Ich lasse Euch ungern allein ziehen, lasst wenigstens mich Euch begleiten. Wenn Ihr einen Ausbruch vermutet, wie es den Anschein hat, ist nicht auch unser Volk in Gefahr?“

„Yamdar ist vorläufig sicher. Erst jüngstens habe ich ihn aufgesucht, also muss die Ursache woanders liegen. Ich vermeinte, alle Erdkamine in unseren heimatlichen Gewässern zu kennen, doch allmählich bin ich mir dessen nicht mehr so sicher. Mortem muss warten, diese weit größere Gefahr hat absoluten Vorrang.“

  „Gut, erteilt uns Eure Anweisungen, Tronador!“, sprach Fronkalis. „Wir werden alles tun, um ihnen Folge zu leisten!“

 

***

Somit sandte der König seine Getreuen in Richtung seiner eigenen Heimat, mit klaren Geboten, was ihre dortige Mission sein würde. Danach sollten sie auf schnellstem Wege nach Avalonia zurück, um seiner Gemahlin seinen Verbleib kundzutun und ihr nahezulegen, die Stadt nicht zu verlassen. Angemeldete Zweifel von Seiten seiner Junker zerstreute er mit dem Argument, dass die Tiere ebenfalls in Richtung Avalonia zögen und deren Instinkt getrost vertraut werden könne.

Kurz vor der Wiege des Königs verabschiedete er sich von seinen treu dienenden Vasallen und entließ sie in ihre Mission. Tronador machte einen Schlenker und folgte der Richtung, in der er die Gefahr vermutete. Sein fast untrüglicher Instinkt wies ihm den Weg.

Keiner der Junker ahnte, dass sie ihren König und Gefährten niemals wieder sehen sollten. Das Schicksal begann, Ränke zu schmieden, als Mortem in der Halle der Sieben seine Drohung gegen das Königshaus aussprach. Und während das Urteil gegen den Delinquenten fiel, sprach es seinen unsäglichen Richtspruch gegen Avalonias Geschöpfe aus.

 

***

Abschied von Stellamaris

 

Mittlerweile war die Goldene Stadt zu blühendem Leben erwacht. Nichts deutete darauf hin, dass irgendwo in der Ferne Gefahr drohen würde. Das Aufkommen der Fauna des Meeres war lediglich stärker und hektischer als sonst, was niemandem auffiel. Die Tiere, die Zuflucht in Avalonia suchten, wurden jedoch ruhiger, sobald sie es erreichten, nur ein winziges Zittern des Meeresbodens wies darauf hin, dass Tronador irrte.

Genevieve war gemeinsam mit Adravanta in der Halle der Sieben verblieben. Die Gewölbe des Palasts waren seinerzeit in bereits vorhandenen Grotten erbaut worden und befanden sich im Umfeld der Wurzel von Stellamaris, in etwas größerer Entfernung zu Yamdar, dem der Insel gegenüberliegenden Vulkan.

Auch dort war indes alles ruhig. Die Königin des Meervolks verfügte gleichwohl über  einen ähnlichen Instinkt wie ihr Gemahl, da sie ihn lange Zeit auf seinen Forschungsreisen begleitet hatte. In ihr schlummerte eine undefinierbare Furcht, doch war deren Zentrum Tronador selbst. In ihrem Herzen war es so finster wie niemals zuvor. Wie sehr sehnte sie sich danach, geborgen in seinen Armen zu sein. 

Adravanta versuchte, sie zu beruhigen und wies auf die Erfahrung des Königs und auf die Begleitung seiner Getreuen hin, als sie die Unruhe ihrer Mutter spürte. Der Prinzessin war gleichfalls beklommen zumute. Sie fürchtete sich jedoch eher vor dem Moment, in dem Donavis unweigerlich seinem Bruder Mortem in dessen verschlagenes Antlitz blicken müsste.

Späterhin gesellten sich Marianis und Tweja zu ihnen. Den beiden Nixen blieb nicht verborgen, was Genevieve umtrieb. Um sie zu von ihren Sorgen abzulenken, schlug Marianis vor, gemeinsam die Bucht von Stellamaris aufzusuchen und sich zu zerstreuen. Zögerlich stimmten Genevieve und Adravanta zu, in der Hoffnung, unter dem Regenbogen Ruhe und Frieden zu finden.

Geschlossen stiegen sie auf und trieben gemächlich nach oben. Alle freuten sich darauf, ihrem Paradies einen Besuch abzustatten und Solveigh ihre Gunst zu erbringen.

Bald jedoch empfanden sie nur noch Entsetzen. Je mehr sie sich dem Meeresspiegel näherten, desto trüber wurde die Sicht. Auf ihrer Haut hatten sich gelbliche Pünktchen gebildet. Als Genevieve diese bemerkte, wies sie ihre Begleiterinnen darauf hin und gemahnte zur Vorsicht. Entgegen dem Impuls aller, zurückzukehren, bestand sie jedoch auf den Aufstieg. „Ich sah all die Zeit, seit unserem Tribunal, Unheil auf unser Volk zukommen. Ich wusste nicht, welch unbestimmte Furcht in mir schlummerte und dachte, es wäre Angst um meinen Gemahl. Je näher wir jedoch kommen, umso stärker wird mein Gefühl, dass die Gefahr von gänzlich anderer Seite droht. Doch pflegte ich nie, vor Widersachern, welcher Art sie auch seien, zu flüchten und werde es auch diesmal nicht tun!“, sprach sie entschlossen. „Ich werde jedoch nicht von Euch verlangen, mich zu begleiten. Wer umkehren will, weil Ihr Euch fürchtet, solle dies tun“, schlug sie den  Gefährtinnen vor.

Niemand wollte indessen umkehren. „Wo Ihr seid, werden auch wir sein!“, sprach Marianis. „Selbst wenn Euer Ziel das Ende der Welt sein sollte, begleiten wir Euch.“

Während sie sich der Bucht näherten, wurden die gelben Flocken mehr und mehr und waren bald so dicht, dass sie fast nichts mehr sahen. Auch das Atmen fiel ihnen schwer. Es erschien ihnen wie eine kleine Ewigkeit, ans Ziel zugelangen. Das erste Mal in ihrem Leben war ihnen bang, das Regenbogenportal zu erblicken.

Die Königin Avalonias tauchte vorsichtig auf und starrte entsetzt auf das Bild, welches sich ihren ungläubig aufgerissenen Augen bot. Unweit von ihr sahen drei Augenpaare nicht minder entgeistert gen Himmel. Solveighs Antlitz war von schwarzen Wolken verhangen. Diese waren von rötlich-gelben Schlieren durchzogen. Die Farben des Lichts waren verblichen, das Regenbogenportal in das Reich des Dunkels verbannt. Weit entfernt vernahmen sie Donnergrollen.

Trauernd wandte Genevieve ihr Antlitz ab. Tränen liefen den Gefährtinnen über die Wangen, als sie noch einmal verabschiedend zum Himmel sahen. Das Bild des einstens prächtig schillernden Bogens vom einen zum anderen Ende der Welt brannte sich tief in ihr Herz. Geschlossen und stumm kehrten sie in die Geborgenheit ihrer Heimat auf dem Grund des Meeres zurück. Dort trennten sich ihre Wege!

 

***

Entgegen aller Vernunft konnte sich Genevieve dem immer stärker werdenden Lockruf ihres Refugiums am Vulkan nicht entziehen. Ohne ein Wort zu ihrer Tochter begab sie sich in die Privatgemächer, um ihren zweitgrößten Schatz mit sich zu nehmen.

Mit einigen ungravierten Steintafeln und ihrem Diamantsplitter beladen machte sie sich auf, um in dem Gewölbe, in dem sie einstens den Mann kennengelernt hatte, der ihr ganzes Glück werden sollte, mit Selbigem in Liebe verbunden zu sein. Voller Trauer mied sie die Gesellschaft ihrer Gefährten, die ihre Pfade querten. Huldvoll nickte sie ihnen entgegen und zog ihres Weges, ohne ein Wort zu ihnen zu sprechen. Zu schwer war ihr das Herz, zu übervoll der Gefühle, als dass sie eines davon hätte über ihre Lippen kommen lassen.

So zog Genevieve ihrem noch ungewissen Schicksal entgegen. Als sie an ihrem Zufluchtsort angekommen war, lag das Gewölbe ebenso großartig und schön wie immer vor ihr. Von der kuppelförmigen Decke schimmerten ihrem Blick leuchtende Kristalle entgegen. Die Wände waren durchglüht von der Nähe zu Yamdar. Wohltuende Stille empfing die Königin der Goldenen Stadt. Geborgenheit suchend rollte sie sich in einer Nische zusammen und träumte sich in Tronadors Arme. Verzweifelt und sehnsüchtig schweifte ihr Geist in die Ferne, in ihren Händen hielt sie die Tafeln. Noch einmal ließ sie Revue passieren, als er sich in der Residenz von ihr und Adravanta verabschiedet hatte. Vor ihrem inneren Auge blitzte schemenhaft auf, wie Tronador mit seinen Junkern einer Begegnung mit der Vorsehung entgegen zog.

 

***

Eine tödliche Falle

 

Mortem hatte nach längerem Irren durch fremde Gewässer den Yapetus fast wieder erreicht und sich aus seiner kleinen Hölle befreit. Bedauerlicherweise hatte sie ihn nicht geläutert, eher das Gegenteil war der Fall. In seinem kranken Geist hatten perfide Pläne Form angenommen, die ihm rieten, dass es an der Zeit war, nach Avalonia zurückzukehren. Zudem drängte es ihn, der Furcht zu entfliehen, die der ungastliche Ort in ihm ausgelöst hatte.

Lange musste er irren, ohne Nahrung und knapp dem Tode entronnen, bis er freundlichere Areale erreichte und ihn der Fürst der Ewigen Nacht aus seinen Klauen, doch nicht aus seinem Blickfeld entließ. Er musste ein Günstling des Schicksals sein, denn das hinter sich gelassene Gebiet voller glühender Abgründe, in dem kaum Leben sein Territorium festigen konnte, wurde regelmäßig von vulkanischen Aktivitäten beherrscht. Es war Teil eines Feuergürtels, der an den Yapetus angrenzte und darüber hinaus.

Der Rheische Ozean war noch nicht allzu lange in vorliegender Form entstanden und noch immer ein Kapitel der Schöpfungsgeschichte im Sinne des Werdens. Womöglich würde auch aus diesem Gebiet, so unwahrscheinlich es schien, ein ähnliches Paradies wie die Inselgruppe im Yapetus entstehen. Doch die Schicksalsglocke läutete seinerzeit in jenem brodelnden Inferno leise und mahnend das Ende einer Ära und den Beginn einer neuen Epoche der Erde ein.

 

***

König Tronador hatte das Bedürfnis, dem Geheimnis der beobachteten Phänomene auf die Spur zu kommen, weiter nach Süden gebracht. Er hatte die Gewässer der Kraken längst hinter sich gelassen und befand sich in einer trostlosen Umgebung.

Trotz seiner Erfahrung war er von einer unbestimmten Furcht befallen, die er einer beunruhigenden Beobachtung zu verdanken hatte. Die Gewässer der Kraken waren wesentlich klarer und ruhiger gewesen als das unbekannte Gebiet, in dem er sich jetzt befand.

Je weiter er sich von der Heimat seines Vaters entfernte, umso mehr verstärkte sich die bereits in der Nähe der Goldenen Stadt festgestellte Verseuchung. Zudem war ihm aufgefallen, dass der steinige Meeresboden kaum spürbar Wellen warf. Er folgte ihnen in entgegengesetzter Richtung, um heraus zu finden, wo sie begannen. Sie führten ihn in ein kaum begrüntes ozeanisches Areal. Wieder kamen ihm Unmassen von Meerestieren in großer Unruhe entgegen und wandten sich in die Richtung, aus der er kam. Einige Fischschwärme hatten sich mittlerweile deutlich gelichtet, und die Lücken wurden durch totes Gewebe ersetzt.

Er fühlte sich alt und verbraucht, hungrig und müde. Ein Instinkt riet ihm, auf der Stelle umzukehren und die Heimat wieder aufzusuchen. Ihn hatte jedoch ein Fieber befallen, das ihn trotz seiner Erschöpfung vorantrieb. Sein Unterbewusstsein nahm vage war, wie seine Umgebung immer unbelebter wurde, je weiter er sich nach Südost bewegte. Dort vermutete er einen ihm noch unbekannten Vulkan.

Längst hatte er schon kein Zeitgefühl mehr, als es geschah. Tronador war gerade in die Betrachtung eines größeren Auswurfs vertieft, als er das untrügliche Gefühl hatte, in Gesellschaft zu sein. Die Gefahr witternd verbarg er sich zwischen zwei Felsen.

Vorsichtig spähte er um die Ecke und war äußerst überrascht über dies, was er erblickte. Gemächlich dümpelte ein Bursche, der so abgezehrt war, dass Tronador ein schmerzliches Ziehen in seiner Herzgegend verspürte, vor sich hin und passierte des Königs Versteck. Als er näher kam, erkannte er ihn: Es war der Delinquent Mortem, wegen dem er ursprünglich auszog, um ihm den beschlossenen Richtspruch zu überbringen.

Zu seiner eigenen Sicherheit zog Tronador seinen Dolch aus dem Halfter und kam aus seinem provisorischen Refugium hervor. Der Junker war ihm bereits einige Körperlängen voraus und hatte ihn noch nicht entdeckt. Offenbar war er auf dem Weg in die Goldene Stadt.

Tronador wagte sich vollends zwischen den Felsen hervor und rief ihn an: „Was habt Ihr hier zu suchen, Junker Mortem? Eure Eltern sorgten sich sehr um Euch! Wo habt Ihr Euch aufgehalten?“

Der Angesprochene drehte sich erschrocken um und erblickte einen seiner vermeintlich ärgsten Widersacher. In den Windungen seines Gehirns arbeitete es fieberhaft, er witterte sogleich eine günstige Gelegenheit. Verschlagen ließ er sich jedoch nicht das Geringste anmerken und gab sich betont freundlich. Der Junker zauberte ein erfreutes Lächeln auf sein verhärmtes Antlitz und sprach: „Welch Überraschung an diesem einsamen Ort. Weshalb jedoch, sagt an, hochwerter König, empfangt Ihr mich mit einem Dolch? Ich bin Euch nicht feindlich gesinnt und somit kein Fährnis für Euch. Legt ihn beiseite.“ 

„Es ist noch nicht allzu lang her, da erschien mir dies anders“, erwiderte der König und erwies ihm den Gefallen vorläufig nicht. „Wenn Ihr nichts zu verbergen habt, habt Ihr von meiner Seite aus nichts zu befürchten."

„Ich sehe, Ihr misstraut mir zutiefst! Die missliche Sache in Eurer Residenz; oh Tronador, Avalonias tapferer König, sie reut mich sehr und schmerzt in meinem Herzen. Bedenkt jedoch, dass Eure Tochter mich als Schandbuben schimpfte“, lamentierte Mortem mit gespielter Zerknirschung.

Tronador rang mit sich selbst, ob er das jämmerliche Geschöpf als vollwertigen Gegner oder aber als bemitleidenswert einschätzen sollte. Vorsichtig und noch immer mit einem Rest Misstrauen näherte er sich Mortem an und steckte den Dolch weg. Der Nix verbarg ein triumphierendes Grinsen, als er sich kurz vor dem Ziel seiner Träume sah. Er ahnte jedoch, dass er kein leichtes Spiel haben würde. Hinterlistig tarnte Mortem sich in der Folgezeit als reuigen Sünder und erschlich sich niederträchtig das Vertrauen des Königs.

 

***

Genevieve sandte ihre Sehnsucht weit hinaus in die Ferne und suchte nach ihrem Gemahl. Bekümmert hielt sie ihre Gedanken auf ihren Steintafeln fest. Tronador spürte ihr Sehnen und sandte ihr das Seine zurück. ‚Sorge Dich nicht, geliebte Gemahlin. Ich kehre in Bälde schon in Deine Arme zurück!’, rief er ihr in Gedanken zu. Während Mortem sich zu ihm gesellte, besann er sich seiner Mission. Dem König des Meervolks war es arg, dem Sohn seiner Verbündeten dessen Richtspruch mitteilen zu müssen. Er war dies jedoch seinem Volk schuldig, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun.

Als der Delinquent es vernahm, gab er sich äußerst zerknirscht. Er schwor heiligste Eide, dass er geläutert sei. „Sollte ich niemals mehr das Antlitz meiner geliebten Mutter erblicken, nicht das meines unbescholtenen Vaters, dem ich Kummer und Sorgen bescherte?“, sprach Mortem mit Tränen in den Augen, doch in seinem Inneren gärte der Hass. Tronador ließ sich täuschen, vertraute ihm und gestattete Mortem, ihn zu begleiten.

Seine Arbeit hatte ihn bald wieder in Anspruch genommen, und so verlor er ihm gegenüber an Achtsamkeit. Mortem tingelte harmlos plaudernd neben dem König einher, nichts deutete auf seine wahre Gesinnung hin. Aus der Ferne erklang ein immer lauter werdendes Grummeln. Tronador vernahm es und runzelte besorgt die Stirn. Zerstreut beantwortete er die Fragen seines Begleiters nach diesem und jenem, da er jedoch zu abgelenkt war, bemerkte er nicht, dass Mortem ihn auszuhorchen versuchte.

 Tronadors Blick waren gen Boden gerichtet, die Erschütterungen des Meeresgrunds hatten sich deutlich verstärkt. Sie änderten besorgniserregend schnell ihre Richtung, und die Bodenwellen liefen direkt auf Avalonia zu.  Der Ozean, in dem sie sich befanden, beherbergte nur noch die Todesschatten ehemaligen Lebens. Glühende Lava brodelte in tiefen Spalten am Meeresgrund, begleitet von Rauch.

Mortem nutzte die Geistesabwesenheit seines Begleiters, um alles zu ermitteln, was sein kranker Geist für die Ausführung seines Plans brauchte. Er spürte eine vage Gefahr, doch schob er sie in seinem Wahn weit von sich. Selbst als er neuerliches Beben verspürte, stärker als jemals zuvor, rückte er nicht von seinem Vorhaben ab. Skelettierte Gebeine streiften ihn an der Wange – es störte ihn nicht.

Tronador hingegen erkannte die Zeichen und erahnte, was weit draußen geschah. Noch war es Zeit! „Kommt!“, forderte er Morius auf. „Wir müssen sofort nach Avalonia zurück.“ Als sich jedoch hinter seinem Rücken drohend ein tiefschwarzes Schemen erhob, weiteten sich seine Augen in einer Erkenntnis, die ihm unermessliches Grauen bescherte!

Das Ende Avalonias

Genevieve hielt ihre Steintafeln fest auf ihrem Schoß, ihr Diamantensplitter ruhte in ihrer Hand. In der Seele der Königin brodelte unvergleichliche Angst. Vor ihrem inneren Auge hatte sie noch immer das Bildnis des Regenbogenportals, das für immer verschlossen war, wie sie vermeinte.

Hadernd mit dem Schicksal griff sie nach ihrer Kette und sprach ein zorniges Gebet. Entsetzt spürte sie die Kälte der hässlichen Auster. Auch in ihr war also die Sonne erloschen. „Warum?“, schluchzte sie verzweifelt auf. „War ich Euch nicht stets treue Dienerin?“

Sie zuckte zusammen, als die Höhle, in der sie sich befand, zu pulsieren begann. Eine grausige Vorahnung machte sich in ihr breit. Tränen liefen ihr über die Wangen, voller Furcht um ihren Gemahl. Die Gefahr, in der sie selbst sich befand, nahm sie nicht wahr! 

In ihrem Kummer begann sie wieder zu schreiben. Wie von selbst glitt ihr Gravurstift über die Tafeln, zog Rune um Rune, vom Salz ihrer Tränen bedeckt und doch klarer als jemals zuvor. „Wo bist Du? Oh mein Gemahl, bitte kehre zurück! Sagtest Du nicht, Du wolltest bis an das Ende aller Zeiten in meinem Herzen gastieren?“, schrie es in ihr. Genevieves Seele krampfte sich schmerzhaft zusammen. Sie glaubte, Gewissheit zu haben, ihn – für den sie ihr Leben hingäbe - niemals wieder zu sehen.

Plötzlich blitzte in ihr etwas auf, und ihr Geist schweifte hinfort. „Sorge Dich nicht, geliebte Gemahlin!“ vernahm sie wie ein Echo, das in der Ewigkeit verhallt, Tronadors Stimme. „Ich kehre in Bälde schon in Deine Arme zurück.“

Einen Wimpernschlag lang erschien ihr der geliebte Junker inmitten eines Infernos, das ihn umtobte. In aller Klarheit stand sein Bild vor ihrem inneren Auge.

Ihr Blick weitete sich entsetzt. Der König ihres Herzens wurde von einem dunklen Schatten verdeckt, der so niederträchtig und missgünstig war, dass sie ihm zurief: „Sieh‘ Dich vor, Du bist in Gefahr! Etwas ist in Deiner Nähe, dass Dir Böses antun will!“

„Ich muss zu ihm“, sagte sie sich. „Es ist nicht jenes Gewässer, in dem er sich aufzuhalten scheint, von dem aus ihm Fährnis droht. Es ist ein Wesen, das ich erblickte, so schrecklich gemein und lüstern danach, ihn zu töten. Was für ein Dämon mag das gewesen sein? Schwarz war seine Seele, ich spürt’s tief in mir!“ Feinste Blutströpfchen fielen auf Genevieves Tafeln.

So endete die Historie des Meervolks mit ihrem Blut. Dessen Ursprung blieb der Nachwelt gleichwohl bis in alle Ewigkeiten versagt. Möge die Vorsehung barmherzig sein!

 

***

Voller Gram und Entsetzen wandten die Himmlischen Mächte ihren Blick von den ungeheuerlichen Geschehnissen auf Erden ab. Feuer und Rauch schlug ihnen entgegen, tödlich giftige Aschewolken verbreiteten sich düster über die Kontinente der Urzeit.

Die Sterne wandeten sich in ihre Trauergewänder und verschleierten ihr Antlitz für lange Zeit. Finsternis und Kälte kam über die Welt, so dass viele Landmassen der Erde in Eis erstarrten.

Venus und ihre Gefährten verharrten in Gedenken auf der Stelle und neigten huldigend ihr Haupt, als die Wesen des Yapetus das Regenbogenportal querten und sich zu ihren Ahnen gesellten. Yamdar grollte und spie Flammen weit hinauf in den Himmel. Von seinen Flanken floss glutrote Lava in das brodelnde Meer.

Die Inselwelt Avalonias zerbarst in tausend Scherben, benachbarte Kontinente versanken in Fluten. Zwischen den Polen war das Firmament von Schwefelwolken bedeckt, die Erde bebte. Himmelshohe Wogen peitschten Solveighs verschleiertes Antlitz und legten feinsten Perlenstaub auf ihre glühende Haut.

Am Horizont flammte der Himmel indessen so rot wie ein Ort der Verdammnis, gegen den das Inferno von Avalonia ein Elysium war. Orkus, ein übermächtiger Vulkan in fremden Gewässern, feuerte Yamdar freudig an, der sich von ihm hatte anstiften lassen. Die Erde barst mit unermesslichem Krachen, übertönt von dem Wehklagen aller Kreaturen, die im Yapetus ihr Leben ließen.

Als alles vorbei war, kam ein lautes Schweigen über die Welt. Wie durch ein Wunder war die Wiege des Königs verschont geblieben, Golmor und sein Volk hatten es überlebt. Ein Regenbogen spannte sich über die irdischen Trümmer, so prunkvoll schillernd wie niemals zuvor. Kein Auge sollte jemals wieder solch herrliche Farben erblicken. Als das letzte Wesen Avalonias starb, schloss sich das Regenportal für die Ewigkeit, und die Erdgöttin Hjordis erstarrte in Trauer.

Epilog

 

 

 Genevieve, gebenedeite Königin von Avalonia,

aus direkter Linie von Astril und Yoras abstammend,

dem Sternenpaar, von Adonai ausgesandt und erwählt,

um irdische Stämme zu Seinen Händen zu gründen.

 

Beklagt sei jene, von himmlischen Gaben gesegnet,

durch Seine Weisheit an die Seite des Volkes gesandt,

gekrönt durch den Fürspruch Seiner Botin Aquaria
bejubelt und beweint von uns Getreuen.

 

Durch Adonais Gunst zur Chronistin bestimmt
vorbildlich liebende Mutter und tapfere Heerführerin
Gemahlin von Tronador, dem König des Meervolks
für den sie voll Liebe waltete und ihr Leben gab.

 

Avalonias Königin Genevieve, gehuldigt vom Volk,

von den Händen des Schöpfers geformt und gesandt,
verschollen in den Gewässern der Goldenen Stadt,
durch den Regenbogen zu ihren Ahnen gestoßen.
Sie wurde in Adonais Reich mit ihren Lieben vereint.

 

***

Tronador, gebenedeiter König von Avalonia,
aus indirekter Linie von Astril und Yoras abstammend,
dem Sternenpaar, von Adonai ausgesandt und erwählt,
um irdische Stämme zu Seinen Händen zu gründen.

 

Beklagt sei jener, von himmlischen Gaben gesegnet,
durch Seine Gnaden an die Seite des Volkes gesandt,
gekrönt durch den Fürspruch von seiner Gattin,

bejubelt und beweint von uns Getreuen.

 

Durch Adonais Gunst zu großer Weisheit bestimmt,
vorbildlich liebender Vater und tapferer Heerführer,
Gemahl von Genevieve, der Königin Avalonias,
für die er voll Liebe waltete und sein Leben gab.

 

Avalonias König Tronador, gehuldigt vom Volk,
von den Händen des Schöpfers geformt und gesandt,
in höchster Not gemeuchelt in fremden Gewässern,
durch den Regenbogen zu seinen Ahnen gestoßen.
Er wurde in Adonais Reich mit seinen Lieben vereint.

 

***

Adravanta, gebenedeite Thronfolgerin Avalonias,
aus direkter Linie von Astril und Yoras abstammend,
dem Sternenpaar, von Adonai ausgesandt und erwählt,
um irdische Stämme zu Seinen Händen zu gründen.

 

Beklagt sei jene, von himmlischen Gaben gesegnet,
durch Seine Güte an die Seite ihrer Eltern gesandt,
durch Ihn mit ihrem Geliebten zusammengeführt,
beweint von Donavis und uns Getreuen.

 

Durch Adonais Gunst zu großem Mut bestimmt,
vorbildlich liebende Tochter und tapfere Kriegerin,
Abkömmling der Könige Tronador und Genevieve,
die für sie voll Liebe walteten und ihr Leben gaben.

 

Prinzessin Adravanta, gehuldigt von Avalonias Volk,
von den Händen des Schöpfers geformt und gesandt,
gemeinsam mit all ihren Gefährten, dem Meervolk,

durch den Regenbogen zu ihren Ahnen gestoßen.
Sie wurde in Adonais Reich mit ihren Lieben vereint.

Nachhall

 

Vor vielen Hundertmillionen Jahren lebte in den Gewässern der Meere ein Volk, das vom Himmlischen Vater auserwählt wurde, um als Wiege der Menschheit zu dienen. Aus einer Muschelschale war das Meervolk in zwei erloschenen Sternen erstanden, die reich mit himmlischen Gaben gesegnet waren, um sie an ihre Nachfahren weiter zu reichen.

 

In der Reinheit des Lichts ihrer Seelen verbrachte das Volk Avalonias unter dem wohlwollenden Blick des Schöpfers sein Dasein auf Erden. Ohne Arg ihrer Herzen lebten sie im Sinne des Herrn.

Einer der Junker wandte jedoch sein Antlitz ab und folgte finsteren Pfaden. Sein Herz war voller Habgier und Neid. Somit wurde der Ränkeschmied zu einem Vasall des Fürsten der Ewigen Nacht, und die Wiege der Menschheit war leer.

Die Autorin

Independent-Autorin seit 2009, hat sich Sina Katzlach den "schwierigen" Literatur-Themen verschrieben. Ihr Steckenpferd ist der Weitblick hinaus in die Welt, in die Seele der Menschen, den Finger auf die Wunde zu legen. Persönliche Träume geben ihr nichts, ihr Traum ist, eine kraftvolle Stimme zu haben, die gehört wird bis ans Ende der Welt.

Geboren wurde Sina Katzlach unter dem Realnamen Daniela Achilles 1961 in Lindau, wuchs auf in Oberschwaben und lebt jetzt in Bayern. Ihre Einstellung, Schwächere schützen zu müssen, wird sich wohl niemals ändern, egal, wie schmerzhaft das auch manchmal endet.  

"Worte sind empfindliche Waffen: Richtig angewandt können sie viel erreichen. Oft jedoch sind sie tödlich."       

 

Anhang: Wie alles begann

Ein Zitat: „Der Schwarze Mann floh durch die Wüste, und der Revolvermann folgte ihm.“ So oder so ähnlich lautete der Satz, welcher mich dazu veranlasste, diesen Roman zu verfassen. Entstanden ist das Zitat 1974, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, von Stephen King für die siebenteilige Saga "Der dunkle Turm" verfasst.

Ich las den ersten Teil davon vor zwei Jahren, und mein erster Eindruck war: "Hoppla, Big Stephie, Du hast es aber auch schon besser gekonnt."

Doch dann las ich weiter, und hoffentlich bekomme ich keine Klage an den Hals. Doch andererseits: Wer in der Öffentlichkeit steht und sich seinen Fanclub warmhalten will, muss damit rechnen, dass man über ihn redet. Soviel also zu dem Thema, Mr. King, falls Ihr das lest. Bin nichts weiter als ein treuer Fan.

Jedenfalls war das Buch äußerst fesselnd. Innerhalb kürzester Zeit hatte ich bis Band sechs alle Teile verschlungen, kein Wunder ist meine Taille nicht mehr das, was sie einst war. So ganz nebenbei schrieb ich noch an meinem Gedichtband "Das Karussell des Lebens", fing einen weiteren an und ärgerte mich maßlos darüber, dass ich mich auf Gedichte beschränkte.

"Bah, ich hasse Gedichte und Poeme", dachte ich mir. "Menschenskind, ich will Bücher schreiben, doch wie mache ich das bloß?" Die Vergangenheit sowie Stimmen von Fachkräften - sprich Lehrer - zeigten mir auf, dass ich dazu durchaus in der Lage sein könnte, doch bitte schön wie? Das konnte mir hingegen niemand sagen. Zwei Bücher begonnen, beide versemmelt, eines davon hieß "Stadt der Krähen", versemmelt, weil ich den Bezug und das Interesse daran verlor. Vielleicht auch, weil ich mich mit meiner eigenen Unzulänglichkeit auseinander setzen müsste, um weiter zu kommen. Je nun, was solls!

Um das andere Werk, welches ich verbockt habe, tut es mir am meisten leid, denn im Gegensatz zu "Stadt der Krähen" existiert es nicht mehr. Es hätte ein Krimi werden sollen, nach den damaligen Normen der Verlage mit an die zwei - bis dreihundert Taschenbuchseiten. "Tödliches Doppelleben" wäre der Titel gewesen.

Das Buch hatte wunderbar angefangen, es waren lebendige Charaktere, weil sie erstens plastisch vor meinem inneren Auge standen und zweitens alles für mich aufarbeiteten, was mein Unterbewusstsein an sich beschäftigte und zudem meine Träume in sich vereinten. Auf diese Art und Weise schusterte ich mir damals eine attraktive Frau zusammen, die frappierende Ähnlichkeit mit der jungen Rita Hayworth hatte. Ich bezweifle, dass Ihr die alle noch kennt. Da bin ich im Vorteil, weil ich alte Filme, am Besten so kitschig wie möglich, über alles liebte. Ich schwamm schon immer gern durch den Tränenkanal. Zumindest damals.

Erfahrungsgemäß sorgt das jedoch nur für Verwirrung, wenn ich diese vergangenen Phasen der ersten Schreibversuche noch weiter ausschlachte, also lasse ich es lieber. Zurück also zu Steven King!

Ich setzte mir also partout in den Kopf, meinen Lieblingsautoren und heimliches Vorbild zu analysieren. Aus einigen Interviews wusste ich, dass er bevorzugt die Urängste der Menschheit abhandelt und hatte auch schon etliche wegweisende Werke von ihm gelesen, wie gewohnt mit albtraumhaften Szenen darin. Sei es nun "Es" oder "Stark", "Needful Things" oder "Brennen muss Salem" und so weiter, keines dieser Werke ließ mich unbeeindruckt, Mr. King hat meiner Meinung nach einen unvergleichlichen Schreibstil. Noch heute hinterfrage ich mich beim Schreiben, wie er diese oder jene Inspiration, die mich grade umtreibt, umsetzen würde.

 

***

Eigentlich suchte ich in der Bibliothek nach Band sieben der Turm-Saga, doch sie war noch nicht mal auf dem Markt geschweige denn in Bibliotheksräumen vertreten. Somit stöberte ich nach anderen Werken von ihm, die ich noch nicht gelesen hatte, konnte allerdings nichts finden, was mir unbekannt war oder zusagte.

Dafür stieß ich auf "Herr der Ringe" von J.R.R. Tolkien, und meine Odyssee zum Regenbogen begann. Ich lieh es mir aus, dazu noch ein Sachbuch mit dem Titel "Schreibwerkstatt", in zwei Bänden aufgelegt. Beide nahm ich neugierigkeitshalber mit.

Sinn und Zweck der beiden Schreibratgeber war unter Anderem, die Phantasie zu schulen. Wie genau das vonstatten ging, führt an dieser Stelle zu weit, doch was zu betonen sei: Ich war in dieser Hinsicht dermaßen erfolgreich, dass ich die Bilder vom Dunklen Turm, das Auge vom Scharlachroten König und weitere Schauplätze ziemlich deutlich vor mir sah.

 Irgendwann wollte ich wissen, was es mit diesem Turm und allem, was damit zusammen hing, auf sich hat. Meine diesbezügliche Theorie war: Das Universum. Ich las alle Bücher von ihm noch einmal aus einem anderen Blickwinkel heraus, begann mich für die Erdgeschichte zu interessieren und marschierte am Ende eines weiteren langen Lesetages mit zwanzig Sachbüchern und Atlanten zu diesem Thema aus der Stadtbibliothek heraus.

So kam eines zum andern. Ich begann mit dem Titel "Auf der Suche nach dem Regenbogen", und ganz offenbar ist dies mein vielversprechendstes Werk.

Schauplatz: Avalonia und der Yapetus, ein Urozean der Paleo-Thetys.  Doch was ist Avalonia? Mehr dazu gleich.

 

***

Avalonia, eine Inselkette im Yapetus

 

Wie bereits erwähnt ist der Yapetus ein Urozean. Er ist ein Teil der Paläo-Thetys, wenn Euch dieser Begriff etwas sagt. Stephen-King-Fans würden es als Teil der Ursuppe bezeichnen, realistischer betrachtet ist die Paläo-Thetys das erste Weltmeer, vor geschätzt 4,5 Milliarden Jahren entstanden. So alt ist unsere Erde, natürlich ist dies nur eine These der Wissenschaft.

Der Yapetus an sich entstand im Zeitalter des Kambriums, und das ist keine Fiktion, sondern von renommierten Erdgeschichtlern laut Recherchen bestätigt. Das Kambrium war das erste Zeitalter, welches mit ihren Mitteln erforscht werden konnte und die ersten Lebensformen aufwies. Alle vorhergegangenen Thesen belegten das Präkambrium, das kaum Fossilien hervor brachte. Das erste Leben begann bereits zu diesem Zeitpunkt in untermeerischen Vulkanen: Die Vorläufer unserer heutigen DNS laut der Darwin'schen Evolutionstheorie.

Ich war sehr überrascht, als ich begriff, was diese Entdeckung bedeutete. Sämtliche Lebewesen sind im Endeffekt eine Zusammensetzung verschiedener Völker, wie mein Thesaurus ausspuckte. Der Begriff "Volk" hatte die gleiche Aussage wie "Stämme" und "Gattungen" und wurde auch von den Wissenschaftlern laut Recherchen für die Beschreibung von Lebensketten verwendet. Die urtümliche RNS - uns heuer besser als Einzeller oder Amöben bekannt - gehörte zu diesen Ketten dazu, benötigte keinen Sauerstoff, produzierte hingegen Stickstoff.

Diese Informationen faszinierten mich dermaßen, dass ich die ganze Erdgeschichte bis hin zum Urknall zurück verfolgte und dann noch einmal von vorn mit Recherchieren begann, um die Puzzle-Teile zusammen zu setzen. An welcher Stelle ich dann stecken blieb, war letztendlich Avalonia, existent vor zirka 500 Millionen Jahren im Yapetus. Auch diese Inselkette ist also keine Fiktion.

Die Beschaffenheit der Inseln selbst schon - sie entspringen der Fantasie. Doch wie viele es waren und wo sie ungefähr ihre geographische Lage hatten, war fix. Nicht allzu weit weg von uns, die Inseln lagen zwischen dem heutigen Europa, Asien und Afrika und sind vulkanischen Ursprungs.

 

Weshalb jedoch ausgerechnet Avalonia? Nun: Mir gefiel einfach der Name, weil ich romantisch - dramatische Legenden wie die Artus-Sage über alles liebe und insofern mich Hals über Kopf in diese Inselgruppe verliebte.

Immerhin trug sie einen ähnlichen Namen wie das Totenreich dieser oft überlieferten Sage. Mit dem Unterschied jedoch, dass der Schauplatz Avalonia in meinem Roman den Lebenden und nicht den Toten ein Paradies auf Erden bot. Ich hoffe, Ihr hattet Spaß mit meinem ersten Roman aus alten Tagen. Abgehandelt ist das Thema noch lange nicht, geplant ist noch so vieles, nicht nur in diesem Bereich. So hoffe ich nichts mehr, als dass ich irgendwann mal mit Band zwei anfangen kann.

Der Titel ist schon vorhanden, ebenso wie die Idee. Deren Ausführung hatte es schon mal gegeben, doch ach: Das Manuskript ist verschwunden. So bleibt mir nur die Geschichte in meinem Kopf, und diese zu rekonstruieren. Im folgenden Abschluss-Kapitel findet Ihr eine lyrische Vorausschau darüber, wie eine Weiterführung aussehen kann.

Drückt mir die Daumen, liebe Leserinnen und Leser, und wenn Ihr mögt, lasst mir doch ein paar liebe Worte da.

 

Herzliche Grüße von

 

Sina

Reinkarnation

Spuren von reinigendem Feuer

brennen sich in den schwarzen Sand.

Zerstörung liegt noch über der Welt,

und doch: Das Leben bricht sich Bahn.

 

Flüsse verbreiten sich über das Land

und bereiten der Zukunft den Boden.

Es rumpelt und kracht allerorten,

Kontinente stoßen berstend zusammen.

 

Die Brachialgewalt der Meeresgewässer

bahnt sich tosend und schäumend den Weg,

Geröll wird durch fruchtbaren Boden ersetzt.

Schüchtern spendet Solveigh heilendes Licht.

 

Lindgrüne Gräser recken sich der Sonne entgegen.

Aschenregen fällt vom verhangenen Himmel

und legt sich zäh über das erste Leben des Festlands.

Der Wind gewinnt indessen an Kraft und weht ihn hinfort.

 

Ozeane sind noch immer von Eismassen bedeckt,

doch von ersten Furchen und Rissen durchzogen.

Die Sonne wird indessen stärker und befreit sich

von giftigem Schwefel und dunkelstem Rauch.

 

Das Firmament erstrahlt in jungfräulichem Blau.

Klitzekleine Federwölkchen segeln darüber hinweg.

Berstend stoßen wiederum die Landmassen zusammen,

heimatliche Gefilde werden von Meeren umschlossen.

 

Kontinente aus Ewigem Eis bilden sich an den Polen,

geformt aus dem Schmelzwasser der Vergangenen Welt.

Wärmende Strahlen von Solveigh lassen Leben erhoffen,

und siehe: Sind dies nicht die Säulen der Goldenen Stadt?

 

Wasserfälle rauschen von den Gipfeln der Berge,

silberne Kaskaden funkeln im ersten Sonnenglanz,

siehe: Die Wächter der Welt werden gülden umkränzt.

Eisbedeckte Gebirge starren ehern in die Vergangenheit.

 

Moosbedeckt, ruhend zwischen Hügeln und Sand:

Die Halle der Sieben? Oh ja, das muss sie indes sein!

Ich spüre den Hauch von schicksalsträchtiger Liebe

und höre die Stimmen von Genevieve und Tronador

 

Wie sie wispernd einander suchen, wie auch Adravanta

nach ihrem Donavis ruft, flehend zuerst, hoffnungslos.

Marianis und Fronkalis, höret, oh Ihr geliebten Paare:

Möget Ihr einander wieder finden und glücklich sein.

 

Seltsames Getier, winzig klein, kreucht über Geröll.

Grashälmchen, zierlich wie Flaum, recken sich dürstend

dem Himmel entgegen, nach Lebenskraft flehend.

Die Erde ist trocken und von glutrotem Gestein übersät.

 

Möge Avalonia im Niemandsland wieder erstehen,

um der Welt Botschaften der Hoffnung zu künden,

wie auch der Regenbogen von Pol zu Pol leuchten mag:

Als Dach der Welt, als Eingang zu dem Reich Adonais.

 

Und siehe: Erste Regentropfen fallen vom Himmel,

legen sich wie Tau auf diesen lindgrünen Flaum,

der sich gierig nach Leben über Todesgestein zieht:

Winzige Grashälmchen, kaum als solche erkennbar.

 

Klitzekleine Fußspuren brennen sich in Urzeitgestein,

sie zeugen vom allerersten Leben auf den Kontinenten,

Krebstierchen gleich, noch heuer der Menschheit bekannt:

Durch den Untergang von Avalonia erschaffen.

 

Aus Erbgut der Urhummer, in Schlachten besiegt:

Von Tronador und Genevieve als Heerführer des Volks,

durch eine Kriegslist und durch Beistand tapferer Rekruten,

aus Avalonia vertrieben, sie schaffen sich neuen Raum.

 

Jene indessen, so der Himmel es will, bergen keine Gefahr.

Zeugen einer neuen Ära, einstigen Meeren enthoben,

aus jenen Schaben werden weitere Kreaturen entstehen

und Avalonia als Sühne zu neuem Leben erwecken.

 

Sie werden dem ozeanischen Volk Stimmen geben:

Um uns ihre Mär zu erzählen, von Liebe und Leben,

von Hass und Tod, auch um Versöhnung zu künden.

Genevieve und Tronador, bringt uns den Regenbogen!

 

Mein Avalonia, ich weiß, dass Du zurück kehren wirst:

Tief in den Herzen der Menschheit, bei meinem Leben.

 

© Sina Katzlach

Impressum

Texte: Sina Katzlach
Bildmaterialien: Leo Kirchner/Sina Katzlach
Cover: Leo Kirchner
Tag der Veröffentlichung: 16.10.2013

Alle Rechte vorbehalten

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