Die Bibliothek
Ein kalter November Abend, draußen ist es schon lange dunkel. Seit zwei Stunden sitzt Hannah nun schon in der Bibliothek, um eine Seminararbeit zu schreiben. Es dauert nicht mehr lange bis die Öffnungszeiten zu ende sind. An den Fenstern rinnen dicke Wassertropfen die Scheibe herunter. Eigentlich gar nicht so schlimm, dass sie hier sitzen muss, denkt sich Hannah, zumindest ist es in der Bibliothek warm und trocken. Bei einem Blick auf die noch leeren Seiten in ihrem Laptop bereut sie diesen Gedanken aber gleich wieder. Das Thema der Seminararbeit liegt ihr nicht besonders, „Mittelhochdeutsche Sprachgeschichte“. Das kommt also davon, wenn man sich seine Kurse nur danach aussucht, wie sie in den Stundenplan passen. Ganze vier Leute hatten sich für dieses Seminar angemeldet und drei, darunter auch Hannah, haben sich entschieden alles zu geben und das Seminar zu Ende zu bringen.
Das Deutsch der Gegenwart ist eigentlich schon schwer genug, findet Hannah, aber das der Vergangenheit bereitet ihr wirklich Kopfzerbrechen. Da sitzt sie nun, ihre Bücher, Notizblöcke, Stifte auf zwei Tischen verteilt. Dazwischen Hannahs Laptop, das Schreibprogramm genau so geöffnet wie ein kleines Kartenspiel. Aber es Hilft nichts, das Wissen aus den Büchern mit so wohlklingenden Titeln wie „Historische Grammatiken“, „Mittelhochdeutsches Wörterbuch“, „Parzival – Kritische Ausgabe“ muss irgendwie in den Laptop und zwar schnell. Von außen sieht es vielleicht sogar aus als wüsste Hannah was sie da tut, ein Blick in dieses Buch, ein Blick in jenes und dann ein wenig gekritzel auf ihren Notizblock.
Doch dieser Eindruck täuscht. In der Compter-Datei auf dem Laptop findet sich nicht mehr als der Titel der Seminararbeit.
Am Tisch hinter Hannah tuscheln zwei Mädchen aufgeregt mit pipsigen Stimmen miteinander. Hannah versucht angestrengt das Gespräch auszublenden. Trotzdem erfährt sie in diesem Moment eindeutig zu viel über Schwangerschaftstests, Männer mit denen die eine der beiden Damen verkehrt hatte und die Tücken von Verhütungsmitteln als ihr lieb ist. Selbst wenn die beiden Damen nicht ihr intimstes in der Öffentlichkeit der Bibliothek diskutieren würden, könnte Hannah immer noch ein Reifenquitschen hören. Der Bibliothekar fährt gerade mit seinem Bücherwagen die Gänge ab und sortiert bereits die Bücher wieder in die Regale. Der Wagen könnte dringend mal wieder geölt werde, denkt Hannah. Auf ihre Texte konzentrieren kann Hannah sich so aber leider nicht. Eigentlich wollte sie diesen Schritt vermeiden, aber sie sah keinen anderen Ausweg. Sie bückt sich zu ihrem Rucksack nach vorne und holt die ultimative Waffe zur Abschottung von der Umwelt aus einer Seitentasche: ihren MP3-Player. Betont missmutig steckt sie sich die Kopfhörer ins Ohr und drückt auf Play. Jetzt ist sie immerhin von den sorgen der Tischnachbarn befreit, die werden sich wohl kaum beschweren, sollten sie doch etwas von ihrer Musik mitbekommen.
Tatsächlich haut Hannah nun hin und wieder in die Tasten ihres Laptops, die leeren Zeilen beginnen sich zu füllen. Die Musik scheint die Arbeit zu erleichtern, trotzdem wird die Bibliothek bald schließen. Plötzlich zuckt Hannah zusammen. Irgendetwas scheint mit der Musik-Aufnahme nicht zu stimmen, ein schriller Schrei hat sich auf die Aufnahme geschlichen. Da das Störgeräusch aber sofort wieder aufgehört hat, vertieft sich Hannah wieder in den Absatz, den sie gerade lesen wollte. Wieder zuckt Hannah zusammen, wieder ein schriller Schrei. So wie es sich angehört hat ist jetzt auch noch der Wagen des Biblothekars umgefallen, Hannah dreht entnervt den Ton weiter auf. Ein kurzer Blick auf die Uhr über dem Fenster verrät, dass nur noch dreißig Minuten Zeit bleibt, bevor sie die Bücher zurückgeben muss und in die dunkle, kalte und nasse Nacht geschickt wird. Hannah wendet sich wieder ihrem Laptop zu, nur um kurz danach wieder auf die Uhr zu schauen. Ein roter Klecks verdeckt plötzlich die Ziffern 5 und 6. Bei genauerem hinsehen sieht man, dass die rote Flüssigkeit langsam die Uhr herunter rinnt. Verwundert beginnt Hannah sich umzuschauen. An dem Tisch nebenan liegt der regungslose Kopf eines der beiden Mädchen mit der pipsigen Stimme, Augen und Mund weit aufgerissen, der Hals blutverschmiert. Auf dem Tisch eine kleine Blutlache, die sich tropfend auf den Fußboden ausbreitet. Auf dem Boden liegen in einem durcheinander hunderte Bücher, der Wagen des Bibliothekars dazwischen. Auf dem Wagen liegt der Bibliothekar, mit sonderbar verrenkten Gliedern, der Kopf unter einem Stapel Bücher vergraben.
Ruhig steht Hannah auf, ihren Mund in Schock weit geöffnet, das dicke Wörterbuch noch in ihrer Hand. Ihre Gedanken sind in diesem Moment wie leergefegt. Stumm betrachtet sie die grauenvolle Szenerie, in die sich die Bibliothek verwandelt hat. Wie sie da steht erkennt sie immer mehr grauenvolle Details.
Am andere Ende der Bibliothek ist ein Tisch umgekippt. Lediglich ein paar Füße in schwarzen Ballerinas schauen an einer Seite hervor, der Blick auf die Besitzerin ist versperrt. Plötzlich erhebt sich ein Mann hinter den Tisch. Er steht auf und starrt auf die Person, der die schwarzen Ballerinas gehören. Was oder wer auch immer hinter diesem Tisch liegt, scheint diesen fremden Mann zu amüsieren, er grinst bei dem Anblick, wischt sich genüsslich den Mund ab und schaut dann mit seinen grünen Augen direkt zu Hannah rüber.
Es ist einer dieser Momente, die sich wie eine Ewigkeit anfühlen, aber in Wirklichkeit in nur Bruchteilen einer Sekunde abspielen. Obwohl Hannah nicht genau wusste was hier passiert ist und wer dieser Fremde ist, wusste sie eins: sie wollte hier weg und zwar so schnell wie möglich. Für einen Moment schauen sich die beiden direkt in die Augen, dann beginnt Hannah so schnell sie kann, das Buch immer noch in ihre Hand geklammert, in Richtung Ausgang zu laufen. Sie war nie gut in Sport und auch nie besonders schnell, in diesem Moment war sie aber selbst überrascht wie flink sie die Tür erreicht hatte, ohne über eines der am Boden liegenden Bücher zu stolpern. Doch bevor sie sich richtig über diesen Erfolg freuen konnte, wurde sie am Arm gerissen und mit ihrem Rücken gegen die Glastür geworfen. Wäre es keine Panzertür gewesen, wäre die Scheibe wohl gesprungen. Es gab einen lauten Knall und Hannah spürte wie ihr die Luft aus der Brust gepresst wurde und ein dumpfer Schmerz in den Rücken zog. Der Mann mit den grünen Augen hatte plötzlich eine Hand an ihrem Brustbein und seine andere Hand bohrt sich fest in ihren rechten Arm.
Ohne nachzudenken holt sie mit dem schweren Buch, welches sie noch immer in der linken Hand hält, aus und zielte mit voller Wucht auf den Kopf des Fremden. Damit hat dieser, seinem etwas verwundertem Gesichtsausdruck zufolge, nicht gerechnet. Der Schlag hatte allerdings bei weitem nicht den Effekt, den Hannah sich erhofft hatte. Mühelos lies der Mann Hannas rechten Arm los und riss ihr das Buch aus der linken Hand, ohne dabei seinen Griff von ihrem Brustbein zu lösen. Interessiert mustert er das Buch, das er ihr gerade abgenommen hatte, lächelte und sagte kühl „Genau das habe ich gesucht“.
Um Hannah herum wurde alles schwarz.
Tag der Veröffentlichung: 10.08.2011
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