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Der Vierzigste



Als Kind hab ich Geburtstage geliebt. Es gab Partys, besonders leckeres Essen und natürlich massenhaft Geschenke. Das war schön. Überhaupt habe ich als Kind das Jahr als eine Ansammlung sehnlich herbei gewünschter Höhepunkte empfunden. Ich hab mich irgendwie immer auf irgendetwas gefreut. Der Geburtstag war unter all diesen Vorfreudehöhepunkten aber natürlich ein ganz besonderer. Man nähert sich Jahr für Jahr den magischen Zahlen, wo man endlich alles dürfen darf, was das Kinderherz ersehnt. Mal ganz ehrlich, liebe Kinder, ihr ahnt gar nicht, wie Recht ihr habt. Es ist toll, erwachsen zu sein. Ich darf die ganze Nacht aufbleiben, kann nach Hause kommen, wann ich will und alle Filme angucken, auch die mit Monstern oder nackten Frauen. Ich darf sogar Monster oder nackten Frauen mit nach Hause bringen, obwohl von Monstern eher abzuraten ist und die Frauen doch besser wenigsten ein bisschen was anhaben sollten. Aber ich schweife ab. Was ich euch, liebe Kinder, zu sagen versuche ist folgendes: Ich darf und ihr nicht. Ätsch.

Aber dem Moment der Freiheit folgt ziemlich bald der Moment der Einsicht. Dem „Dafür bist du noch zu jung“ folgt relativ nahtlos das „Dafür bist du schon zu alt“ und das ist wirklich SCH… on ein bisschen ärgerlich. Meine ursprüngliche Vorliebe für Geburtstage wich einer radikalen Abneigung gegen das jährliche Hochzählen der Altersangabe und ich beschloss mich einfach zu verweigern. Zu diesem Zweck übernahm ich die clevere, wenn auch zugegebenermaßen etwas feminine Strategie einer Freundin. Ich wurde nicht 20, sondern 19a, 19b, 19c… Heute bin ich mir nicht mehr sicher, ob es mein 19o-ter oder 19p-ter Geburtstag war, an dem mir die Endlichkeit des Alphabetes bewusst wurde. In absehbarer Zeit würde ich 19z Jahre alt sein, was sollte dann nur werden? Sollte ich dann einfach jedes Jahr, den 19z-ten Geburtstag feiern? Sollte ich einfach so tun, als würde ich nicht altern? Was für eine kindische, unreife Idee. Keine Ahnung, was das für Menschen sind, die so etwas tun, für mich kam es jedenfalls nicht in Frage. Ich verdrängte das Problem zunächst, doch jährlich wurde mir bewusst, dass der Tag der Wahrheit näher rückt.

Mein 19t-ter Geburtstag fiel mitten in eine mehrmonatige Dienstreise ins Ruhrgebiet, und ich beschloss ihn so zu verbringen, wie ich es seit Jahren bevorzugte. Ich nahm ein paar Glückwünsche halbherzig entgegen, denn obwohl es erst mein 19t-ter Geburtstag war schienen viele zu glauben, ich würde schon vierzig. Dann aber wollte ich mich vor den Fernseher setzen und mir von einem unvorstellbar langweiligen Programm beweisen lassen, dass auch dieser Tage unvorstellbar langweilig und doch eigentlich sehr bedeutungslos ist. Da schrillte die Klingel. Drei Arbeitskollegen standen vor der Tür, ein deutscher, ein bulgarischer und der Irre. Der Ire meine ich natürlich, irgendwie mach ich den Schreibfehler immer und mir wurde gesagt, das habe mit Freud zu tun obwohl der meines Wissens Österreicher war. Wir zogen also zu viert los. Natürlich erwähnte ich meinen Geburtstag zunächst nicht, sondern freute mich einfach auf eine nette Kneipentour.

Ein Phänomen, das mir schon mehrfach bei Partys mit internationaler Beteiligung aufgefallen ist, ist die spürbare Verbesserung meiner suboptimalen Englischkenntnisse durch Alkoholeinfluss, und ich freute mich in diesem Kernforschungsgebiet meines akademischen Interesses ein neues Experiment durchführen zu können. Im ersten Pub fand sich eine gute Gelegenheit denn ein offenbar nicht mehr ganz nüchterner amerikanischer Soldat erklärte den Anwesenden im Oberlehrerton, was Amerika so alles für Deutschland getan hat, und bellte herrisch Sympathiebefehle durch den Raum, denen aber niemand so recht folge leisten wollte. In Bezug auf mein Experiment war der Einfluss der Sprachkenntnisse auf die emotionale Reaktion höchst interessant. Während sich mir die konkrete Bedeutung der Worte nicht hundertprozentig erschloss und ich eher amüsiert war, wurde unser Ire richtig wütend. Um ihn zu beruhigen beschloss ich dann doch, meinen bis dahin verschwiegenen Ehrentag einer Erwähnung zu würdigen. Um Verwirrung zu vermeiden sprach ich natürlich vom vierzigsten Geburtstag, nicht ohne klar zu stellen, dass ich mich wie 19 fühle. Der Ire gestand im Laufe des Abends, dass er zwar erst 30 sei, sich aber wie 50 fühle. Ich hatte damals gerade wieder Kontakt zu einer deutlich jüngeren Freundin gefunden und sinnierte den Rest des Abends darüber, ob sie nicht zu alt für mich sei. Wir beehrten noch einige Kneipen und verkosteten intensiv verschiedene Alkoholsorten, bis meine Erinnerung mitten in einer Achtziger Party in einer Großraumdiskothek in Dunkelheit mündet und erst am nächsten Morgen in meinem Bett wieder einsetzt. Wie ich dorthin gelangt bin ist bis zum heutigen Tag unter Experten umstritten.

An diesem Tag begann ich mich mit meinem Alter zu versöhnen, die alberne 19-er Zählung aufzugeben und statt mich an unendliche Jugendlichkeit zu klammern, die Vorteile meiner Reife zu genießen. Das hab ich seitdem zu meinem Lebensmotto gemacht und nie bereut, obwohl es nun schon eine Weile her ist. Immerhin bin ich gestern erst 20b geworden. Ja, nach 19 kommt 20, ist doch logisch, oder etwa nicht?

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Texte: Alle Rechte beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 02.06.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Allen, die nicht erwachsen werden

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