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Als Verchiel, General der Gewalten der zweiten Sphäre herniederfuhr, um seine Mission zu erfüllen, war es finstere Nacht auf Erden. Klarer und kalter Dezember, doch seine fleischliche Haut brannte wie die Gluten der Unterwelt. Es war stets ein schmerzlicher Prozess, der Dimensionsübergang. Stets qualvoll, nicht selten gefährlich. Gleich einer Geburt, manchmal tödlich für die neu entstehende physische Hülle. Und doch erfüllte er den Willen des Herren mit unendlicher Hingabe und Freude. So übernahm er auch diesmal, ohne zu zögern und bar jedes Zweifels, jenen neuen Befehl an, es war ihm eine Ehre.

Seit mehr als zweitausend menschlicher Jahre betrat er wieder jene schmutzige, verderbte Welt des stofflichen. In seiner Erinnerung ward es noch wie gestern. Zeit spielte keine Rolle im Äther, dem er entstieg, nicht so wie sie es im beschränkten Geiste der Menschenkinder tat. Doch hier galten andere Gesetzmäßigkeiten. Hier musste er sich erst an die allgegenwärtige Dunkelheit gewöhnen. Und die Zeit, die seine Augen brauchten erste Umrisse seiner Umgebung zu erkennen, spielte allerdings eine Rolle. Erst wenn sein neuer Körper voll entwickelt und angepasst war, würde er mächtig sein. Würde er das Wort und den Willen Gottes verbreiten, würde sein flammendes Schwert schwingen und Hass und Verwirrung zerschmettern. Doch bis dahin war er schutzlos wie ein Kind. Bald schaffte er es seine neuen Schwingen zur vollen Größe ausbreiten. Er spürte wie heißes Blut sich in ihnen ausbreitete und umhüllte seinen frierenden Körper damit, einem schützenden Mantel gleich.

Er sehnte sich nach der göttlichen Liebe und Wärme – an diesem Ort waren sie kaum mehr zu spüren. Und doch gehörte auch dieser Teil zum Himmlischen Reiche, wenn auch er seit Anbeginn der Zeit von anderen Mächten beansprucht wurde. Dunklen, zerstörerischen und in ihrem eigenen Hass gefangenen Mächten, die sich von der Verderbtheit ihrer Bewohner nährten. Anscheinend war es ein persönliches Anliegen des Herren ihn zu erhalten und nie aufzugeben, in unendlicher Geduld, Sympathie und Optimismus seiner fehlbaren Schöpfung gegenüber. 

Verchiel verstand das nie ganz. Menschen sind selbstsüchtig und dumm. Machtbesessen und unverbesserlich naiv in ihrer Arroganz ihrer gottgegebenen Umwelt gegenüber. Sicherlich gibt es einige positive Beispiele in ihrer Geschichte. Weltverbesserer und wahre Riesen unter den Menschen, ja selbst wahre Erleuchtung wird angestrebt und manchmal erreicht. Doch schien es ihm wie ein Tropfen auf dem heißen Stein. Waren diese wenigen Lichtblicke es wert so viel Energie an ihnen zu verschwenden, gar das Leben von Engeln unwiederbringlich zu opfern?

Freier Wille – pah! 

Gottes unergründliche Wege klangen zuweilen wie Hohn in seinen Ohren. Ihm selbst, gestand er sich, fehlte dies Verständnis für derart niederen Kreaturen. Aber nichtsdestotrotz war es seine Bestimmung für Ihren Schutz zu sorgen. Die Wahrung des Gleichgewichts. Der freie Wille nicht für ihn und seinesgleichen beschieden.

Und seiner Bestimmung folgte er auch diesmal mit eiserner Entschlossenheit. Nach Abschluss seiner  Transzendation, nachdem er über all die möglichen Kräfte gebot, machte er sich auf sie zu erfüllen. Mit jedem Schritt in kniehohem, glitzerndem Schnee fühlte er mehr Kraft, die seinen Körper durchflutete und die Kälte vertrieb und durch göttlichen Lebenswillen ersetzte. Schärfer werdende Sinne ließen ihn den Weg klar erkennen. Geleitet von dem vergoldenden Schein des Kometenfeuers über ihm. Wie ein Leuchtfeuer wies es auf einen einsamen kärglichen Stall als sei es sein einziger Zweck. Sein Ziel und sein Opfer war ein einziges schwächliches Neugeborenes. Dafür einen Engel der Gewalten, einen Offizier seiner Heerscharen, zu schicken erschien ihm Maßlos. Eine geringe Anstrengung als Teil einer höheren, einer beträchtlichen Symbolik?
Zwecklos über unergründliches zu Sinnen - der Thron will sichergehen, beschied er sich.

Auf den letzten Metern breitete er seine Flügel aus und schwang der Hütte entgegen. Warmes Licht und eine trügerisch andächtige und friedliche Stimmung strahlten aus den Fenstern und aus den Ritzen in der Tür. Doch dann gewahrte er eine andere Präsenz. Dunkel, tückisch und aggressiv war sie. Viel zu spät zog er sein Schwert und wurde schwer, einem Streithammer gleich, aus der Luft getroffen. Nach harten Aufschlag folgte gnadenlos die nächste Attacke. Tiefschwarze Reißer schnappten nach seinem Gesicht und trugen Pestilenz und Schwefel in die Luft. Mit größter Mühe und ganzer Kraft warf er eine der bösartigsten Kreaturen von sich die er kannte. Marbuel, Dämonenfürst und Gebieter der infernalischen Armeen der zweiten Höllensphäre. Dafür also einen Engel. Das Kind musste großes Unheil beschwören, so enorm dass ein Kriegsfürst Lucifers bereitstand, es zu schützen. 

Schon musste er sich wieder der klauenbewehrten Pranken dieses Scheusals erwehren, die Fleisch wie Papier zerriss. Knapp duckte er sich weg und zog sein Schwert. Der Dämon hielt kurz inne, sah ihn aus glutroten Augen an, fast flehend, gequält. Er wollte etwas sagen, musste sich aber seinerseits in die Defensive begeben, wollte er nicht die flammende Lichtklinge Verchiels schmecken. 

„Du machst einen Fehler“, dröhnte seine Stimme durch die Nacht. „Den gleichen, wie ihn schon das Volk der Zwischenwelt beging. Halt ein und ich werde es dir erklären.“

Doch Verchiel wollte seine ketzerischen Worte nicht hören. Wer war er, dass er einen Erzfeind auch nur wenige Augenblicke am Leben lassen sollte. Mit all seiner Kraft und Entschlossenheit rammte er ihm seine himmlische Waffe in die Brust. Entsetzen und Schmerz war das Letzte, was in seiner Teufelsfratze zu lesen war, bevor sie auseinanderbröckelte und der ganze Leib des Dämons sich in glühenden Staub auflöste.

„Der Fehler war es dich mit mir zu messen – Höllengeburt“, gab er dem letzten Rest an stinkendem Dunst zur Antwort. Und doch spürte er, was ungewöhnlich, wenn nicht gar unmöglich war, dass gerade eine Seele Erlösung fand. Eine Aura tiefer Dankbarkeit berührte ihn, verzieh ihm.

Irritiert stieß er die Tür auf. Die zwei ärmlich gekleideten Gestalten, die die Eltern zu sein schienen, fielen sogleich ob seines göttlichen Lichtes in tiefe Ohnmacht. Kein Mensch konnte es unbeschadet erblicken, wenn er es ihm nicht gebot. Mitten im Raum stand eine Krippe. Und dort, gebettet auf einfachem Stroh lag ein Kind. Das Kind, das er töten würde. Es sah ihn an. Es sah durch sein Strahlen, unbeeindruckt in seine Augen, direkt in sein Inneres. Verchiel war erschüttert und verwirrt. Kein Mensch und sei es nur ein Säugling hatte es jemals geschafft sein Licht zu blicken, nicht seit … ja seit …

Dennoch zückte er sein Schwert. Mitleid konnte überwunden werden, sagte er sich, verharrte trotzdem und starrte stattdessen nur in dieses unschuldige aber doch wissende Gesicht. 

Doch Befehl ist Befehl. Erneut setzte er zum Hieb an, die Klinge eine einzige Lohe aus gerechtem Zorn, doch verzagte er auch diesmal. Dies Menschenkind … Er schaffte es einfach nicht. Nur ein Mensch! Aber auch doch nicht. Dieses Kind sendete ein Maß an Liebe und Weisheit aus, wie es selbst in den Sphären des Reiches selten war. Allumfassend und bedingungslos. Er haderte schwer mit sich selbst, doch das Kind sah ihn nur lächelnd an. Und dann, auf einer Ebene die keiner Worte bedurften, begriff er. 

Gott war nicht unfehlbar! 

Wie sonst konnte er ihm befehlen, diesen Heilsbringer zu erschlagen? Er irrt! Genau das wollte ihm der Dämon mitteilen. Ein Dämon, der wahrscheinlich mit dem gleichen Auftrag wie dem seinen geschickt ward. Das Kind schien ihm die Informationen in den Geist zu schreiben. Er wurde geläutert! Das Kind läuterte einen Fürsten der Hölle! Und er erfuhr als Belohnung die ewige Absolution und die Einkehr ins Paradies. Er selbst war der Böse …

Nein! Gott selbst war es, der es ihm befohlen hatte. Aber das war unmöglich.

Verchiel zweifelte ernsthaft an seinem Verstand. Das Kind musste sterben. Alternativen undenkbar … oder nicht?

Was ist, wenn er sich widersetzte? Ein ketzerischer Gedanke, eine Bedrohung seiner Existenz. Er würde als gefallener Engel in den Schlünden der Hölle schmoren bis in alle Ewigkeit. Rebellion gegen Gott! Ungeheuerlich!

Nach einem weiteren Blick in das sanfte Gesicht, welches die erhabensten Ideale der Menschheit zu verkörpern versprach, stand sein Entschluss. Dieser Mensch würde ein großer Führer werden. Ein Wegbereiter zum Lichte, und er konnte ihn nicht erschlagen, weil sein Wille es verbot.

Sein Wille …

Plötzlich erfasste ihn ein Sog aus purem Licht. Er wurde fortgerissen von Zeit und Raum und fand sich wieder vor dem Thron, dem Angesicht Gottes. Nachdem er sich instinktiv vor seinem Zorn zu schützen trachtete, offenbarte ihm der Herr, in einer zeitlosen Sekunde, seine Prüfung. Eine Prüfung, die er mit Bravour bestritten hatte. Eine Bestätigung dafür, dass der Stand der Engel soweit war. 

Freier Wille!

Er hatte freien Willen bewiesen und den zweiten Sohn Gottes auf Erden nicht getötet, wie es einst das Volk der Zwischenwelt tat. Von nun an würde das Universum auf eine höhere Ebene aufsteigen, und auch Engeln das Geschenk des freien Willens zuteil. 

Das Licht ist nahe, sein Reich komme!

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Tag der Veröffentlichung: 08.08.2010

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