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„Wenn es Götter gäbe, wie könnte ich ertragen, keiner zu sein? Also gibt es sie nicht.“
-Friedrich Nietzsche-
Mit einem kurzen Zischen löste sich die schwere Außentür aus ihrer Arretierung und senkte sich langsam nach unten. Stufen rasteten ein und bildeten ein Fallreep. Die Außenbeleuchtung gab die Sicht frei auf das schneebedeckte Panorama einer dunklen Berglandschaft. Kilian Nimrod schritt vorsichtig aus dem Schiff und musterte die Umgebung. Der Tag würde sich bald verabschieden und das letzte Licht verlieh der sturmgetrübten Sicht einen roten Schimmer. Dies war das Letzte, was er erwartet hatte. Ein Planet der Terra-Klasse mit solch lebensfreundlichen Bedingungen, wie sie im bekannten Universum nie gesichtet worden waren. Er hatte Atmosphäre, verträgliche Luft und Wasser. Der Abstand zum Zentralgestirn war optimal und schuf ein Klima, das wie geschaffen war für Leben seiner Art. Er öffnet sein Visier. Die Luft roch nach frischem Schnee und war so unbelastet, wie sie es auf der Erde gewesen sein musste, bevor sie durch die Zivilisation vergiftet worden war. Mit knirschenden Schritten stapfte er durch den kniehohen Schnee und besah sich das Areal seines havarierten Schiffes. Dies musste das Eden sein, nach dem seine Vorfahren Jahrhunderte erfolglos gesucht hatten.
Er genoss den scharfen Wind in seinem Gesicht, der das Atmen erschwerte, und die Schneeflocken, die erfrischend auf der Haut schmolzen. Es erzeugte ein Hochgefühl von Freiheit – trotz der aussichtslosen Lage. Aber welch ein Anblick! Diese majestätischen Berge, deren Schattenriss vom goldenen Flirren der untergehenden Sonne gerahmt wurde. Welcher endlose Quell reinen Wassers. Eine Welt voll ungeahnter Kostbarkeit.
„Kilian – Lagebericht! Wie steht es um das Schiff“, knackte es in den Kopfhörern seines Helmkommunikationssystems.
All diese Pracht! Ein funktionierendes Ökosystem – ganz ohne die Mühen und Kosten jahrhundertelangen Terraformings! Selbst für den Schnee würde man zu Hause bezahlen.
„Kilian!“, quäkte es erneut und nun dringlicher.
„Verstanden“, antwortete er. „Die Schäden sind enorm. Die Außenhülle zeigt Risse und die Triebwerke sind vereist. Ganz zu schweigen von dem Leck in der Antimaterie-Kammer. Ohne Antimaterie lässt sich das Schiff nicht mehr flott machen! Es scheint, dass wir hier gestrandet sind.“
„Die Firma wird uns schon bergen. Diese Mission ist zu teuer, um Ergebnislos zu bleiben“, sagte Vincent.
„Vielleicht reichen ihnen die Daten, die wir schon übermittelt haben. Menschenleben sind ersetzbar und Bergungsmissionen teuer. Jedenfalls sollten wir uns keinen Illusionen hingeben und uns erst mal um unsere eigene Haut kümmern. So wie ich es sehe, ist unsere Mission grandios gescheitert. Sie werden eine Kosten-Nutzen-Kalkulation machen und nach rein ökonomischen Kriterien entscheiden. In der Firma ist kein Platz für sentimentale Erwägungen.“
„Mal nicht alles so schwarz“, antwortete Vincent. „Was schlägst du denn vor?“
„Gibt es Infos von den Drohnen?“
„Sie sind jetzt seit vier Stunden in ihrer Umlaufbahn. Und du wirst es nicht glauben. Wenn die Daten stimmen, gibt es hier Anzeichen einer primitiven menschlichen Kultur! Kannst du das fassen? Menschen – hier am anderen Ende des Universums. Irgendetwas stinkt hier. Da durchkämmen wir Ewigkeiten das Weltall nach Lebensformen und jetzt stoßen wir ausgerechnet auf Artgenossen.“
„Vielleicht ist das ja gar nicht unser Weltall. Wer sagt, dass wir uns überhaupt in der gleichen Raum-Zeit-Dimension befinden? Vielleicht ist das einfach eine andere Version der Erde, mit anderen Bedingungen, anderen Voraussetzungen. Wer weiß, wohin uns dieses Wurmloch gebracht hat, ob wir noch immer den gleichen Raum wie die Erde teilen? Vielleicht ist das hier die Bestätigung der Viele-Welten-Theorie, von der der Wissenschaftsoffizier seit Beginn der Vorbereitungen sprach“, entgegnete Kilian. „Nichtsdestotrotz müssen wir uns vorsehen und unbedingt vermeiden, entdeckt zu werden. Wir werden das Gelände sichern und dann unser Schiff tarnen. Danach werden wir das Land erkunden und mehr Daten sammeln, wie es die Protokolle vorschreiben. Doch erst werden wir die Leichen unserer Kameraden begraben. Wie es aussieht, sind wir hier erst mal vor Entdeckung sicher.“
Ein rasches Surren weckte Kilians Aufmerksamkeit. Eine der Bordgeschütze des Schiffes schwenkte in seine Richtung; die automatische Zielerfassung hatte etwas entdeckt.
„Was ist los Vincent? Meldung Vincent!“ Und schon war die Luft erfüllt vom Donner eines Feuerstoßes. Für Sekunden war die Szene vom roten Schein der Energieentladungen beleuchtet, die wenige Meter entfernt einschlugen. Die Explosion ließ ihn zusammenzucken und nach seiner Handfeuerwaffe greifen. Steinsplitter regneten hinab und trommelten gegen die Panzerung seines Anzuges. Nach dem Blitz erkannte er noch die Gischt aus Dampf, die im Licht der Abendsonne, rot glitzernd, der gierige Wind verzehrte. Rot! Das Geschütz verharrte. Sie mussten etwas getroffen haben – und es war allein.
„Verdammt Vincent, was war das? Und warum wurden wir nicht gewarnt?“, rief er in das Mikrofon seines Helmes.
„Kontakt zu einer fremden Lebensform. Und das Verteidigungssystem ist auf höchste Sensibilität gestellt – gemäß der automatischen Protokolle einer Erstsicht und Sicherung eines unbekannten Areals. Es muss eine kleine Kreatur gewesen sein, da sie erst jetzt entdeckt wurde. Ich werde jetzt den >Erst schießen, dann fragen-Modus< abstellen und auf manuelle Feuerfreigabe umstellen“, sagte Vincent.
„Das scheint mir diplomatischer. So machen wir uns keine neuen Freunde, falls wir wirklich auf Menschen stoßen“, erwiderte Kilian, fasste sich an den Helm und ließ das Visier vor seinem Gesicht hochfahren. Die Waffe im Anschlag näherte er sich dem Einschlagsort, um ihn zu untersuchen. Das Gestein im Krater glühte noch und dampfte von dem Schnee, der hineinfiel. Doch Überreste eines Wesens ließen sich nicht ausmachen. Verdammt, dachte er. Wir können es uns nicht leisten, so auf uns aufmerksam zu machen. Als er sich die Umgebung ansah, blendeten ihm die Wärmescanner seines Helmes ein leichtes Echo erkaltender Biomasse ein. Vorsichtig näherte er sich der Stelle auf einem schneebedeckten Strauch. Er griff danach und hielt es ins Licht der Schiffsbeleuchtung.
„Wahrlich ein bedrohliches Exemplar eines extraterrestrischen Ungeheuers. Ich weiß nicht, wie ich die Situation ohne Feuerschutz überlebt hätte“, sagte Kilian süffisant und hielt ein Stück Fell mit zwei Kaninchenohren in Richtung seines Freundes. „Da sind wir Lichtjahre von zu Hause entfernt und die erste Lebensform, auf die wir treffen, jagen wir in die Luft.“
„Ja, ja sehr lustig“, meinte Vincent wenig amüsiert. „Aber lieber stirbt ein Hase als wir. Wir haben schon genug Verluste, um uns auf irgendwelche Risiken einzulassen.“ Die Bemerkung ließ Kilian wieder an ihre Lage denken – und an die getöteten Kameraden. Er steckte seine Pistole zurück und schritt wieder zum Schiff.
„Lass uns unsere Freunde begraben. Für sie ist hier Endstation. Wir werden sie nicht wieder mitnehmen können, wie es aussieht – falls wir dem Planeten überhaupt entkommen können. Der Zustand des Schiffes lässt nicht viel Raum für Optimismus und auf die Firma würde ich auch nicht allzu viel bauen. Schließlich haben sie nun, was sie wollen. Die Daten der Drohnen über diesen Raumquadranten und den Planeten sind mehr, als sie sich erhofft haben.“ Vincent schluckte nur, verzichtete auf Widerspruch und betrachtete den hinteren blutbeschmierten Teil des Cockpits. Hoffnungslosigkeit machte sich in ihm breit. Alle vier weiteren Besatzungsmitglieder waren bei dem Absturz ums Leben gekommen.
Unmittelbar nach dem Passieren des Wurmloches waren sie mit einer unsagbaren Geschwindigkeit in den unbekannten Raum geflogen, welche mit konventioneller Raumfahrttechnik selten erreicht wurde. Einer Gewehrkugel gleich, beschleunigt durch die ungeheuerlichen Gravitationskräfte, die auf der achtstündigen Reise durch die Anomalie auf das Schiff eingewirkt hatten, war die >Persephone< der fremden Sonne entgegen geschossen. Unberechenbar, unbeirrbar, gefährlich. Die Bremstriebwerke hatte, trotz der Maximalleistung, mit der sie donnernd dagegenhielten, nur bedingt und viel zu langsam gewirkt. Das Gravitationsfeld der Sonne hatte zusätzlich unerbittlich am Rumpf gezogen. Nur einen Tick zu langsam abgebremst und sie wären alle verglüht. Haarscharf waren sie ihrem Schicksal entgangen, hatten einlenken, knapp vorbeifliegen und das Schiff aus dem höchsten Gefahrenbereich hinaus manövrieren können. Doch sie entkamen nur, um in die nächste tödliche Gefahr zu steuern. In einen Asteroidengürtel, dessen Schutt und Partikel fast ungebremst durch die vom Sonnenwind geschwächten Energieschilde gedrungen und auf der Außenhaut zerborsten waren. Die Schäden waren so gravierend, dass sie gerade noch den Sinkflug auf den Planeten überstehen konnten, eine andere Möglichkeit hatte es nicht gegeben, zumal die Lebenserhaltungssysteme ausgefallen waren und die Explosionen der überlasteten Energiekopplungen Löcher in den hinteren Teil des Cockpits gerissen hatten. Der unglückliche Rest der Crew war durch herumfliegende Metallteile ums Leben gekommen oder schreiend durch die wütenden Lichtbögen verbrannt. Zitternd und schwer atmend hatten Vincent und Kilian nach dem harten Aufsetzen um Fassung gerungen. Mit viel Glück waren sie nur mit Schrammen davongekommen – in dem Entsetzen, auf einer Welt gestrandet zu sein, die weit ab von ihrer Zivilisation lag und nur einen kleinen Aufschub vor dem Tod zu bieten schien.
Nun war es Zeit, die Toten zu begraben. Die meisten kannten sie noch aus der Grundausbildung der Konzern-Militärakademie. Sie waren das Sterben guter Freunde gewohnt. Es gehörte zu ihrem Job. Doch so hilflos und ausgeliefert hatten sie sich noch nie gefühlt. Stets war die Quelle des Todes auszumachen und zu bekämpfen gewesen. Aber dieses Mal konnte man das Verderben nicht auf Unachtsamkeit oder fehlende Disziplin zurückführen. Dieses Mal waren sie ausgeliefert und nichts hätte noch unternommen werden können. Zwar war das Schiff mit Einmann-Rettungskapseln ausgestattet, doch deren Einsatz war aufgrund der hohen Eintrittsgeschwindigkeit in die Atmosphäre ganz und gar ausgeschlossen gewesen.
Kein Krieger wollte so sterben. Ohne dem Ziel zu dienen.
Aber sie befanden sich nun mal nicht auf einem Schlachtfeld und ihre Mission war nicht kriegerisch. Das erste Mal wurden sie nicht geschickt, um Tod und Schrecken über ihre Feinde zu bringen, und es endete trotzdem im Blutvergießen. Das Ausheben der Gräber im gefrorenen Boden war trotz der stabilen Spaten und der Körperkraft verstärkenden pneumatischen Muskeln ihres Anzuges schwere Arbeit. Es brauchte fast drei Stunden, um ihren Kameraden den geforderten Respekt zu zollen. Es war eine Prüfung für ihren Magen, die schwer entstellten Körper in die Leinentücher zu wickeln und darauf aufzupassen, auch die entsprechenden Körperteile richtig zuzuordnen. Schweigend verrichteten sie ihre Arbeit, sprachen die Trauerworte aus den Firmenrichtlinien und reinigten sich von all dem Blut.
Dann werteten sie die ersten Ergebnisse der eingetroffenen Sonden aus. Die Aufnahmen der unmittelbaren Oberfläche zeigten meist nur die undurchdringliche Wolkendecke einer Sturmfront, die langsam verebbte. Doch ab und an erlaubte ihnen eine Lücke in den Wolken einen Blick auf den Boden. Und tatsächlich – hier und da ließen sich vereinzelte Dächer kleinerer Siedlungen ausmachen. Die Radarscans enthüllten sogar größere urbane Strukturen. Es war eine Sensation. Städte! Primitiv zwar, ohne die üblichen elektromagnetischen Emissionen einer technischen Infrastruktur, aber eindeutige Beweise für eine zivilisierte Gesellschaft. Verwunderlich war nur, dass sich diese Gesellschaft nur auf diesen einen großen Kontinent beschränkte. Andernorts war die Sicht zwar meist besser, doch außer riesigen Wäldern, Wüsten oder Meeren war nichts zu erkennen. Auch die geologischen Gegebenheiten zeigten eine merkwürdige Ähnlichkeit zur Erde. Nur ein Punkt auf einem kleineren Kontinent im Westen lieferte seltsame Daten. Zusammensetzungen und Elemente, die so in natürlicher Form auf ihrem Heimatplaneten nicht existierten. Genauere Erkenntnisse würden sich nur durch eine Untersuchung vor Ort machen lassen. Kilian und Vincent beschlossen, für heute Schluss zu machen, und schickten eine ihrer Drohnen in den Orbit, um den ersten Lagebericht zu liefern. Anschließend nahmen sie eine Standard-Feldration aus Trockenfleisch, Bohnenmus und einen mit Vitaminen versetzten Eiweißkonzentratriegel zu sich und tarnten das Schiff notdürftig mit einer Polymerplane, die die Farben der Umgebung imitierte. Erschöpft und ausgebrannt fielen sie in ihre Kojen, um noch etwas Schlaf zu bekommen, bevor sie sich den morgigen Aufgaben stellen würden.
Der nächste Tag begann frostig, aber sonnig. Der Sturm hatte aufgehört und gab den Blick frei auf eine überwältigend schöne Gebirgskette. Die Türen knirschten beim Öffnen und senkten sich auf eine völlig weiße Schneedecke. Die Visiere der Helme verdunkelten sich automatisch angesichts des strahlenden Morgens, der von Schnee und Eis reflektiert wurde. Sie gingen aus der Schlucht, die sie barg, auf offenes Gelände. Die Ergebnisse der Drohnen verrieten ihnen den Standort der nächsten Siedlung und die Einblendungen im Sichtfeld ihrer Helme markierten den Weg dorthin. Surrend und knirschend bahnten sie sich ihren Weg durch die Einöde, kräfteschonend unterstützt von ihren pneumatischen Anzügen. Die Landschaft war abschüssig und bot weite Sicht auf die Ebene, die vor ihnen lag. Nach der felsigen und relativ kahlen Bergregion würden sie bald auf die ersten Bäume und Wälder stoßen. Kilian ließ sich Geländeaufnahmen aus der Vogelperspektive von den Drohnen einblenden. Gleichzeitig fungierten sie über ihnen patrouillierend als Geleitschutz. Sie flogen hoch genug, um menschlicher Sicht zu entgehen, lieferten aber trotzdem ausgezeichnete Nahaufnahmen des Dorfes, dem sie sich näherten. Bei Gefahr würden sie sich auf jeden Feind stürzen und Vincent und Kilian Feuerschutz geben.
„Wir sollten uns der Siedlung von Süden nähern und aus dem Schutz des Waldes weitere Beobachtungen vornehmen“, sagte Kilian.
„Ja ich seh es auch. Da verläuft ein Teil des Waldes bis fast ins Dorf hinein. Das ist anscheinend der beste Weg, um nicht gleich entdeckt zu werden. Was meinst du, wie sollen wir es anstellen, mehr über die Einwohner herauszufinden? Ich mein, wir können ja nicht einfach irgendwo klopfen und sagen: Hallo! Uns schickt die Corona-Gesellschaft, um auszukundschaften, ob sich eine feindliche Übernahme wegen eurer Bodenschätze lohnt. Und der Trick mit den Glasperlen und dem Feuerwasser funktioniert bestimmt auch nicht.“
„Vorerst werden wir uns nur aufs Beobachten beschränken. Wir werden einen sicheren Lagerplatz einrichten und versuchen, bis auf Weiteres so viel wie möglich ohne Kontakt herauszufinden. Es gibt dort ein ziemlich verwachsenes und unzugängliches Gebiet im Wald, das wir nutzen können. Wir werden tief ins Gestrüpp gehen und uns unsichtbar machen.“ Kilian übermittelte Vincent das entsprechende Bild des Waldabschnittes, das er sich ausgesucht hatte.
„Das weitere Vorgehen werden wir uns dort überlegen. Aber wir müssen uns vielleicht klar werden, dass wir uns in die Gesellschaft dieser Kultur integrieren müssen, um zu überleben. Wenn die Firma das Projekt aufgibt, und die Wahrscheinlichkeit dafür steht gut, dann müssen wir uns für den Rest unseres Lebens damit abfinden, hierzubleiben.“
„Da hab ich aber keinen Bock drauf. Wir müssen unser Schiff wieder flottmachen und von hier verschwinden.“
„Du hast selbst gesehen, wie das Schiff aussieht. Der Antimaterie-Vorrat ist verloren. Hier scheint es nicht mal Anzeichen einer Industrialisierung zu geben – geschweige denn von technischen Möglichkeiten zur Antimaterie-Gewinnung. Du hast den Ernst der Lage wohl noch immer nicht erkannt – oder willst es einfach nicht.“ Vincent schwieg. Natürlich kannte er ihre Chancen. Und so oder so wusste er, dass Kilian Recht hatte mit seiner nüchternen Sicht der Dinge. Die ganze Zeit zermarterte er sich sein Gehirn nach einem Ausweg. Nach einer Möglichkeit zurückzukehren, aber eine Lösung konnte es nicht geben. Sie waren verloren und niemanden würde das interessieren. Nicht, wenn sich der finanzielle Aufwand nicht lohnen würde. Es lohnt sich nun mal unter diesen Umständen für die Firma nicht, ihre Soldaten zu bergen. Doch was, wenn wir das ändern könnten, dachte Vincent und er schöpfte Hoffnung. Was, wenn sie etwas finden, das den Aufwand lohnt. Publicity vielleicht über eine neu entdeckte Welt, die von mittelalterlichen Menschen bewohnt wird. Welche unbezahlbaren Möglichkeiten für die Wissenschaft! Die menschliche Vergangenheit ließe sich hier live untersuchen und dokumentieren – zumindest eine Version davon. Die menschliche Kultur seiner Heimat konnte hier sicher viel dazulernen. Doch außer dem Schatz an Erfahrungen und unbezahlbaren Erkenntnissen für die Gelehrten ließe sich augenscheinlich kein wirklicher finanzieller Gewinn machen. Was nützt es der Firma, für viel Geld Forschungsmissionen zu sponsern. Sie würden Anerkennung für ihren Dienst an der Wissenschaft ernten, sonst nichts. Und da dies eine geheime Mission war, über die auch innerhalb der Firma nur wenige Stellen informiert waren, war diese Option wohl weniger reizvoll für sie. Zudem müssten sie dann die Entdeckung des Wurmlochs erklären und sich für die verbotenen Tests mit Gravitationswaffen, die es hervorriefen, verantworten. Das Bekanntwerden eines solchen Verstoßes gegen die Konventionen könnten sie sich auf keinen Fall leisten. Das Einzige, was ihnen helfen würde, wäre eine Geldquelle, die man anzapfen könnte. Bodenschätze vielleicht. Ja, Bodenschätze! Das war ihre Chance. Es wäre nicht auszuschließen, hier etwas zu finden. Schließlich glich dieser Planet der Erde so ungemein. Es musste doch etwas geben, das sich ausbeuten ließe. Mineralien, die auf der Erde längst erschöpfend abgebaut wurden. Ja, das war die Lösung. Er musste etwas Wertvolles entdecken. Die ungewöhnlichen Ergebnisse der Geoscans des Kontinents im Westen kamen ihm wieder in den Sinn.
„Sei nicht so niedergeschlagen“, sagte Kilian und riss Vincent aus seinen Gedanken. „Erinnern wir uns unserer Pflichten. Wir sind auf einer Erkundungsmission – lass uns erkunden.“
„Ja unsere Pflichten“, antwortete er und dachte: Ich kenne meine Pflicht. Die, der Firma zu dienen. Ich werde ihr dienlich sein. Ich werde ihr einen Grund liefern, uns nicht zu vergessen. Sie wird ihren Profit bekommen.
Hinter dem Wald waren nun schon die ersten verschneiten Häuser zu erkennen und die Rauchsäulen, die aus den Schornsteinen in den klaren Nachmittagshimmel wallten. Es war keine große Siedlung und sie schien nur aus landwirtschaftlichen Gehöften zu bestehen.
Ein Geräusch forderte plötzlich ihre Aufmerksamkeit. Ein röhrendes Brüllen, das über die Ebene hallte. Beide blickten über ihre rechte Schulter, um die Quelle auszumachen, sahen aber nichts als endlose schneebedeckte Weiten. Nur ab und zu durchbrachen einzelne Büsche oder kleinere Felsen die dicke glitzernde Schneedecke.
„Was war das?“, fragte Vincent und betrachtete einige vergrößerte Bildbereiche, die auf seine Netzhaut projiziert wurden. Seine Hand glitt langsam Richtung Waffe.
„War bestimmt nur ein Hirsch oder so was“, antwortete Kilian. Es hörte sich tatsächlich etwa so an wie dieses >Rotwild<, das er einmal im Geschichtskanal gesehen hatte.
„Ich seh aber nichts und das Geräusch kam eindeutig nicht aus dem Wald. Ich glaub auch nicht, dass das ein Hirsch war. Es klang irgendwie ... aggressiv ...“
„Schon gut“, sagte Kilian. „Ich schau mir die Sache an.“ Er schaltete eine der Drohnen auf manuelle Steuerung. Sofort fuhr ein metallenes Gebilde aus einem Element seines Unterarmes und bildete eine Art Joystick, der sich in seine Handfläche legte. Die Drohne sank tiefer und überflog ihren Standort. Kilian lenkte sie direkt in Richtung des Brüllens. Doch außer ihnen beiden selbst war nichts zu erkennen. Selbst die Wärmesensoren konnten nichts entdecken. Das war ziemlich ungewöhnlich, denn auch wenn das Wesen schnell war, so sollte es sich doch zumindest durch seine Körpertemperatur verraten.
„Nichts zu sehen“, stellte er fest und schaltete die Drohne wieder auf Automatik.
„Ich spinn doch nicht. Du hast es doch auch gehört. Das muss was Großes gewesen sein.“
„Ja, ja ich weiß. Aber uns bleibt vorerst nichts übrig, als die Sache auf sich beruhen zu lassen und einfach noch wachsamer zu sein“, meinte Kilian. „Anscheinend gibt es hier noch gefährlichere Kreaturen als Hasen.“
Sie erreichten den Waldrand, als die Sonne langsam unterging. Die Bäume warfen lange Schatten und durch die Bilder der Drohnen sahen sie sich selbst im Dickicht verschwinden. Nur Lebewesen würden sie noch durch ihre Wärmesensoren wahrnehmen, die geografischen Gegebenheiten mussten sie nun selbst erkunden. Der Wald war dichter, als sie erwartet hatten. Nicht selten mussten sie sich den Weg mit ihren Schwertern freischlagen. Jeder Hieb fühlte sich an, als würden sie etwas Teures kaputtmachen – solche Wälder existierten nicht mehr auf ihrem Heimatplaneten. Es gab keinen klaren Weg und nur selten kamen sie über Gebiete von schwacher Vegetation, die müheloser durchquert werden konnten. Doch wenigstens der Schnee drang hier kaum durch die Baumkronen, so bildete er nur einen dünnen Belag, auf dem kaum Fußspuren hinterlassen wurden. Die Sonne war im Begriff zu schwinden und nur noch wenig Tageslicht durchdrang das dichte Astwerk. Endlich erreichten sie ihr Zielgebiet. Die Dornenbüsche waren kaum zu durchdringen und sie konnten es sich nicht leisten, zu viele Spuren durch das Freihacken zu hinterlassen. Lange, spitze Stacheln kratzten an dem Metall ihrer Panzer. Wieder einmal war Kilian froh um seinen Ganzkörperschutz. Nur ihre Rucksäcke mit dem Marschgepäck mussten sie des Öfteren befreien. Es schien, als würden Fänge aus dem Gestrüpp mit Absicht danach greifen, um es ihnen zu entreißen.
Sie kamen nun auf der kleinen Lichtung an, die sich durch die Bilder der Sonden empfohlen hatte. Kilian und Vincent beschlossen, für heute Schluss zu machen, und schlugen ihr Lager auf. So sollten sie fürs Erste sicher sein. Der Ring aus Dornengestrüpp machte ein geräuschloses Annähern unmöglich und die Polymerplanen ihres Zeltes mit den imitierenden Umgebungsfarben machten sie nahezu unsichtbar. Vincent stieg auf einen kleinen moosbewachsenen Felsen am Rande der Lichtung und sah sich um. Vor ihm konnte man schon das Ende des Waldauslaufes ausmachen, der fast bis ins Dorf reichte und ein leichter heller Schein aus den Fenstern der Behausungen war zu erkennen. Ansonsten waren sie hier abgesehen von kleineren Nagetieren und Vögeln, die sich in der Stille des Waldes hier und dort bemerkbar machten, scheinbar allein. Er installierte noch einen kleinen getarnten Bewegungssensor, um sie vor unliebsamem Besuch zu warnen, und stieg ab. Kilian hatte inzwischen zwei Feldrationen mit Reis und Synthetikfleischbällchen, die sich durch ein Knicken der beiden Aluhälften selbstständig erwärmten, hergerichtet und begann, seinen Helm als Sitz verwendend zu essen. Vincent tat es ihm nach, schnallte seinen Waffengurt mit den Standardwaffen eines Infanteristen des Firmenmilitärs, einer Projektilpistole und einem Combat-Schwert mit völlig schwarzer Klinge aus Spezialstahl ab und setzte sich. Nach der Mahlzeit krochen sie in ihr Zelt und schliefen bald ein. Die Temperaturregelung ihrer Anzüge, die sie anbehielten, sorgte für eine wohlige Wärme trotz der Umgebungstemperatur, die auch hier im Wald stets unter null Grad verblieb. Am nächsten Morgen wurden sie durch die ersten Sonnenstrahlen geweckt, die durch die Bäume drangen. Im ersten Moment musste Kilian sich wieder seiner Lage vergegenwärtigen. Der Anblick der Umgebung vertrieb die Wirren seiner Träume jedoch recht schnell.
Surrend richtete sich Vincent auf und begann, in seinem Rucksack nach Kaffee zu suchen. Er fand zwei verschlossene Becher, deren Selbsterhitzer er mit einer Drehung am Boden aktivierte und reichte einen Kilian. Nach einem schnellen Frühstück aus einem Kohlehydratriegel mit Speckaroma machten sie sich auf, die nähere Umgebung zu erkunden. Nachdem sie aus dem Dornengürtel getreten waren, bewegten sie sich langsam auf den Waldrand in Richtung Siedlung zu. Aus dem Schutz des Unterholzes konnten sie jetzt den ersten Teil des Dorfes überblicken. Das Wetter war unverändert und lieferte einen klaren Blick auf die Bauernhöfe und Ställe. Dann sahen sie die ersten Menschen dieser Welt mit eigenen Augen. Einfache, in Leinen gekleidete Leute, die an ihr Tageswerk gingen. Langsam kamen immer mehr von ihnen aus ihren Häusern und gingen in die Stallungen, um die Tiere zu versorgen, die Kühe zu melken und die Eier einzusammeln. Manche hackten Holz oder befreiten ihren Hof mit Holzschaufeln vom Schnee. Weiter Richtung Zentrum gab es eine Bäckerei, deren Duft von frisch gebackenem Brot vom Wind manchmal bis zu ihnen hinübergetragen wurde. Es war erstaunlich, wie sehr diese Menschen ihnen glichen. Und diese Gleichheit musste auf einen gleichen Nenner ihres Ursprungs gründen. Es war nahezu unmöglich, dass sich das Wunder der menschlichen Evolution nahezu identisch ein zweites Mal an einem so entfernten Orte vollzogen hatte. Der Gedanke an eine Parallelwelt zwang sich ihnen wieder auf. Das musste die Erklärung sein. Die gleiche Welt mit den gleichen Einwohnern, nur in einer anderen Dimension des Seins – mit anderen Voraussetzungen, anderen historischen Abzweigungen, die auf anderen Geschehnissen wurzelten und andere Zweige der Geschichte bildeten. Die kleinste anders verlaufende Abweichung könnte eine andere, neue Welt hervorbringen, in einer durch das abzweigende Ereignis neu erschaffenen Dimension. Und mit jeder Möglichkeit, die die Dinge hatten anders zu geschehen, konnte sich eine neue Welt bilden – unüberbrückbar getrennt durch Grenzen, die ein menschliches Wesen nie zu durchbrechen vermochte. Bis jetzt. Vielleicht war dieses Wurmloch eine Anomalie im Raum-Zeit-Gefüge und verschaffte ihnen tatsächlich Zugang in eine parallele Welt.
„Glaubst du wirklich, dass wir in einer anderen Dimension gelandet sind?“, fragte Vincent und merkte, dass Kilian ähnliche Gedankengänge verfolgte.
„Das scheint mir im Moment die wahrscheinlichste Erklärung zu sein. Obwohl die >Viele-Welten-Theorie< bislang immer noch nur eine Theorie war. Ein mathematisches Konstrukt in den Köpfen der Quantenphysiker. Gestützt durch keinen einzigen Beweis oder durch unter Laborbedingungen wiederholbare Experimente. Aber das ist trotz der hohen Wahrscheinlichkeit immer noch nur eine Vermutung. Wir müssen weiter beobachten und mehr Daten sammeln. Und irgendwann müssen wir Kontakt herstellen.“
Feindkontakt! Die Meldung auf dem Display ihrer Helme ließ sie zusammenzucken. Der Scanner in ihrem Lager schlug Alarm und meldete ein Eindringen in die Schutzzone. Beide wandten sich erschrocken um und verließen ihren Posten, um wieder zurück zu ihrem Rastplatz zu gelangen. Mit gemäßigtem Tempo pirschten sie sich heran, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, und zückten ihre Pistolen. Vincent, der voranging, schaltete seine Waffe auf leichte Munition um, die sich fast lautlos abfeuern ließ, während Kilian, der ihn von hinten deckte, stärkere Projektile mit mehr Durchschlagskraft wählte – für alle Fälle. Am Dornengürtel angelangt ließ sich noch keine Spur von einem Eindringling ausmachen. Bevor sie sich hineinwagten, sicherten sie die Umgebung, um eine vermeintliche Falle auszuschließen. Als sie auch von ihren Drohnen keine Lebenszeichen in der Nähe fanden, drangen sie langsam ins Innere. Denn dort wurde eindeutig ein Wärmesignal empfangen. Es war bestimmt ein größeres Tier, das sich gerade auf der Suche nach ihrem Proviant über ihr Gepäck hermachte. Doch ihre Ausbildung zwang sie, sich dem Unbekannten mit höchster Vorsicht zu nähern. Langsam, ihre Schritte mit Bedacht aufsetzend, näherten sie sich der Lichtung. Auf den Bildern der Sonde war das Wärmesignal nun verschwunden. Sie verharrten im Gebüsch kurz vor dem freien Gelände und musterten den Platz. Alles schien, wie es sein sollte, und keine Veränderung ließ sich feststellen. Alles war auf seinem Platz, wie sie es verlassen hatten. Es konnte nur eine Erklärung für das Schwinden des Wärmebildes geben. Das Wesen musste sich noch vor ihnen befinden, an dem einzigen Platz, der die Signale abschirmte – dem Tarnzelt. Es befand sich also in einem ihrer Zelte und wartete ab. Die helminternen Scanner zeigten noch eine schwache Reststrahlung durch die Öffnung, die nicht wieder geschlossen worden war. Ein Fehler, der ihnen auch einen länglichen metallenen Gegenstand meldete, der wie ein Kurzschwert aussah. Kein Tier. Zumindest war es kein koordinierter Angriff und der Angreifer hatte keinen Feuerschutz durch weitere Männer aus dem Hinterhalt. Die Bäume hatten sie gesichert und die Technik für getarnte Einheiten war auf dieser Welt sicher unbekannt. Er musste also alleine sein, was entweder auf Unbedarftheit oder Kühnheit schließen ließ. Vincent gab Kilian Handzeichen, ihm weiter Feuerschutz zu geben, während er langsam und geräuschlos sein Schwert zog. Nach einem kurzen Moment des geistigen Sammelns, um sein Ki zu mobilisieren, schlich er sich sachte näher an das Zelt. Er näherte sich dem Zelteingang, das Schwert mit beiden Händen umgriffen, in einer Stellung, die einen Angriff wie einen Konter ermöglichte. Er verlagerte sein Gewicht auf das hintere Bein und ging langsam in die Hocke, um in das Zelt zu sehen. Im Zelt raschelte es plötzlich und ein spitzer erschreckter Schrei zerriss die Stille. Kilians Abzugsfinger an der Waffe bewegte sich weiter Richtung Auslösepunkt. Vincent entspannte sich und richtete sich wieder auf. Er steckte sein Schwert wieder in die Scheide und gab Kilian das militärische Handzeichen für gesichertes Gelände. Kilian steckte nun auch seine Waffe weg und betrat die Lichtung. Neugierig trat er neben Vincent und beugte sich, um den Eindringling zu betrachten. Ein kleiner Junge kauerte am Ende des Zeltes und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen und Mund an. Vor seinen Füßen lag ein stumpfes Kurzschwert aus Metall.
„Es ist unklug, deine Waffe nicht in Reichweite zu haben“, sagte Vincent schmunzelnd. Kilian musste nun auch lächeln und versuchte, so wenig bedrohlich auszusehen wie irgend möglich. Dann winkte er den Jungen heran.
„Du musst keine Angst haben Kleiner. Wir tun dir nichts und sind auch nicht böse, dass du unser Lager betreten hast.“ Der Knabe, der sich noch immer nicht von seinem Schrecken erholt hatte, kauerte unbeweglich in der Zeltecke und sah aus, als wollten ihn die zwei Fremden bei lebendigem Leibe fressen.
„Wie ist denn dein Name Junge?“, fragte Vincent. Keine Antwort.
„Er versteht uns wohl nicht“, murmelte Kilian an Vincent gewandt.
„Wäre ja noch schöner. Und die Sache wird so noch komplizierter. Wie sollen wir ihm beibringen, dass wir keine Feinde sind? Und einfach laufen lassen können wir ihn auch nicht. Wer weiß, was er daheim erzählt. Wir müssen seltsam genug auf ihn wirken und kleine Jungs neigen zur Übertreibung.“
„Du hast doch nicht etwa vor ihn zu …“
„Quatsch. Aber wir müssen uns etwas einfallen lassen. Hast du nicht irgendwas Süßes, einen Schokoriegel oder so was?“
„Nein, aber ein paar Glasperlen und Feuerwasser müssten noch in meinem Annektierungsset sein“, scherzte Vincent. „Natürlich nicht. Wir haben keinen Platz für Luxus im Gepäck.“ Kilian fasste mit beiden Händen an seinen Helm und drückte mit den Daumen auf die Stellen, die den Verschluss öffneten. Nach einem Klicken, das von einem kurzen Zischen der Pneumoventile abgelöst wurde, nahm er den Helm ab und klemmte ihn unter den Arm. Er fuhr sich mit der anderen Hand durch sein Haar und versuchte nachzudenken, während er den Jungen aus den Augenwinkeln beobachtete. Auch Vincent nahm seinen Helm ab, um ihn nicht zu verschrecken.
„Korbin“, sagte der Junge plötzlich zaghaft.
„Wie bitte?“ Kilian sah ihn überrascht an.
„Korbin Borka, Sir. So heiße ich. Bitte tötet mich nicht. Ich wollte nichts anstellen oder die Ritter des Kaisers beleidigen“, wimmerte er verängstigt. Er versteht unsere Sprache doch!, dachte Kilian. Das macht alles einfacher.
„Niemand wird dir was antun. Das sagte ich doch bereits, du stehst hier unter unserem Schutz und nichts liegt uns ferner, als so einen netten Jungen wie dich zu töten. Komm erst mal da raus und wir unterhalten uns“, sagte Kilian. Langsam folgte Korbin der Anweisung und kroch hinaus.
„Setz dich da hin.“ Er wies auf einen umgefallenen Baumstamm, den er zuvor mit seiner Hand vom Schnee befreit hatte. Korbin setzte sich.
„Mein Name ist Kilian Nimrod und der da, der aussieht wie ein Walross im Schlafrock, heißt Vincent Da Mera. Und nun, da du unser Gast bist, erzähl uns von dir und warum du hier bist.“
Kilian erntete einen gespielten bösen Blick von Vincent als Reaktion auf die Anspielung zu seinem Kinnbart, den er stets zu zwei Zöpfchen geflochten trug und der nach Kilians Meinung wie die Stoßzähne eines Walrosses aussahen. Doch Korbin, der anscheinend keine Walrösser kannte, brachte das nicht wie beabsichtigt zum Schmunzeln. Er traute sich aber auch nicht, weiter danach zu fragen.
„Ihr lagert in meinem geheimen Versteck, in dem ich immer bin, wenn ich allein sein will. Ich hab diese komischen Sachen hier gefunden und wusste nicht, dass Ritter des heiligen Hauses in unserer Gegend sind. Mein Vater sagt immer, wir sind zu unwichtig, um der Aufmerksamkeit des Kaisers würdig zu sein. Aber nun seid ihr doch da. Bitte tut meiner Familie nichts – es war alles meine Schuld. Wir sind nur einfache Bauern und ... und …“
„Pst“, machte Kilian und wischte ihm mit seinem Daumen eine Träne von der Wange „Warum nennst du uns Ritter des Kaisers?“ Korbin zeigte auf das goldene Emblem des Corona-Fimenimperiums auf seiner Brust, das eine stilisierte Sonnenkorona darstellte. Ein Kranz mit wellenförmig abgehenden Zacken. Kilian machte gerade seinen Mund auf, um etwas zu sagen, doch Vincent kam ihm zuvor. Er sah ihn an und kniff die Augen kurz zusammen, um ihm zu bedeuten, still zu sein.
„Du hast einen scharfen Verstand mein Junge. Ja, wir sind Soldaten des Kaisers. Doch unsere Mission betrifft nicht deine Leute. Wir müssen dich bitten, niemanden von unserer Unterredung zu erzählen. Unsere Mission ist geheim und du willst sie doch nicht gefährden, oder?“ Korbin, der etwas stolz zu sein schien, nun Eingeweihter einer geheimen Mission des Kaisers zu sein, sagte:
„Nein, Sir. Bestimmt nicht, Sir. Ich werde niemandem was erzählen. Ihr könnt mir vertrauen, Sir.“ Kilian verstand und spielte das Spiel mit.
„Aber vielleicht willst du uns helfen. Wir sind von weit her und kennen uns hier nicht besonders gut aus. Wir brauchen noch einige Informationen. Was kannst du uns zum Beispiel über die Leute in dieser Gegend erzählen?“
„Nun ja, wie gesagt, wir sind nur einfache Bauern. Und Rebellen gibt es hier auch nicht. Wir betreiben Landwirtschaft wie fast alle in den kleineren Dörfern in Nevkoria. Nur in den größeren Dörfern und in der Hauptstadt Caska, in der unser König residiert, gibt es Truppen. Gehört ihr etwa zur Vorhut Prinz Mirobas? Ich habe gehört, er sei auf dem Weg in unser Reich. Ihr wisst schon – wegen der neuen Vereidigung des Hauses Vandakar.“
„Richtig. Wir sind Angehörige einer geheimen Schutztruppe und sollen eventuelle Gefahren zum Wohle des Prinzen ausmachen“, log Kilian. „Und da wir so unauffällig wie möglich bleiben wollten, sind wir auch nur zu zweit. Wer konnte ahnen, dass ausgerechnet ein so spitzfindiger junger Mann wie du unsere Deckung auffliegen lässt.“ Korbin schmeichelte das sichtlich und seine Angst begann zu schwinden. Nach den Gräueltaten, die man ihm von den kaiserlichen Soldaten erzählt hatte, nahm er an, ein Mitglied seines Standes würde bei einer solchen Begegnung sofort erschlagen werden – allein aus Gemeinheit. Vielleicht waren das aber auch nur Schauermärchen, um kleine Jungs zu ängstigen und davon abzuhalten, das Dorf allzu weit zu verlassen.
Diese Männer waren offensichtlich anders.
Nachdem der Junge etwas von seiner Scheu abgelegt hatte, konnten die beiden einiges mehr über diese neue Welt in Erfahrung bringen. Ständig mussten sie sich in Acht nehmen, nicht zu viel von ihrer Unwissenheit preiszugeben, um ihren gewonnenen Status von weit gereisten Rittern zu wahren, die vom ländlichen Leben nicht viel wussten. Doch sie erfuhren von dem feudalen System der achtzehn Königreiche und dem Hause Kallicor, das den Kaiser stellte und Göttlichkeit für sich beanspruchte. Er stand über allem und herrschte mit eiserner Hand. Auch wenn Korbin es nur andeutete, um seine vermeintlichen Gefolgsmänner nicht zu beleidigen, so wurde doch deutlich, dass der Kaiser ein tyrannischer, selbstverliebter Despot war, dem Menschenleben nicht sonderlich viel bedeuteten. Dennoch schien es so etwas wie einen Kult um diesen Kaiser zu geben. An Korbins Ausführungen war zu erkennen, dass viele Menschen tatsächlich etwas Göttliches in dem Regenten sahen, ihn ehrten und das Anzweifeln seines Anspruches selbst als sündig betrachteten. Korbin war sich in dieser Hinsicht auch nicht ganz sicher. Aber auch wenn er das Vorgehen und das Wirken seiner Macht beschrieb, das fast immer zulasten des einfachen Volkes ging, so griff er immer auf rechtfertigende Argumente zurück, die die Untaten des Herrschers relativierten und in einen Kontext zu seiner Verantwortung stellten. Der Zweck heiligte die Mittel.
So war er eben deswegen der Hüter des Imperiums, weil er die Fähigkeit besaß, auch grausame Maßnahmen zu ergreifen, die letztendlich dem Wohl aller Bürger dienten. Andernfalls, ohne das Zutun des heiligen Hauses würden die Königreiche im Chaos versinken und Bürgerkriege wie damals im unheiligen Zeitalter der Bruderkriege würden den Untergang der Menschheit besiegeln. Der Kaiser war also die einzige Instanz, die die Kraft der Götter auf Erden repräsentierend Ordnung schaffen konnte. Dieser Instanz war alles unterzuordnen.
Kilian erinnerte sich an ähnliche Gegebenheiten der Erdgeschichte und bewunderte diese perfekt funktionierende Propaganda. Denn nichts anderes als das Wirken von Propaganda, dachte er, konnte ein solches Weltbild erschaffen. Allein die Berufung eines Menschen auf Göttlichkeit war absurd. Für eine Gesellschaft würde solch eine Schicksalsergebenheit zu absoluter Abhängigkeit führen. Es war nichts anderes als ein Mantel für Sklaverei – gestrickt aus Hoffnungslosigkeit, falscher Frömmigkeit, Unwissen und Angst.
Vom selben Stamm
Es war später Nachmittag, als das Pferd von Prinz Miroba Kallicor über die leichte Anhöhe schritt und der Fluss Andarach, die Grenze des Reiches Nevkoria, in Sicht kam. Begleitet wurde er von den ebenfalls berittenen Gardeoffizieren und einer Armee von fünfzigtausend Mann in seinem Rücken, die seinen Geleitschutz darstellte. Die silbernen Rüstungen der auf die Anhöhe zu marschierenden Soldaten blinkten im Sonnenlicht und glichen in der Entfernung einer Meeresbrandung, die die Ebene überspülte. Die schwarzen Standarten mit den goldenen gezackten Ringen, ein Symbol der kaiserlichen Krone, flackerten stolz im Wind. Miroba ließ sein Pferd stoppen, sog die frische, kalte Luft ein und genoss das lauter werdende Geschepper der Stahlharnische und der Kriegstrommeln, die den Marschrhythmus seiner Truppen bestimmte. Es verlieh ihm ein Gefühl der Macht. Selbst wenn die mitgeführte Armee nur schmückendes Beiwerk seines Auftrittes war, denn ernst zu nehmende Gefechte gab es schon lange nicht mehr. Die Macht der Kallicor war unantastbar und niemand würde es wagen, ihm mit offensichtlicher Feindseligkeit entgegenzutreten und sich somit der Blasphemie schuldig zu machen. Denn Blasphemie war ein Kapitalverbrechen und der übliche Richtspruch versprach einen schrecklichen Tod. Fälle dieser Art hatten bereits zur Entvölkerung ganzer Landstriche geführt. Es war eine Demonstration seines Anspruches – eingemeißelt in die Köpfe der Menschen und in die Seele des Landes.
Der Zweck seiner Visite war es, sich der Loyalität seines Volks zu versichern und ihm zu zeigen, wem es zukünftig zu dienen hatte – nach der Thronbesteigung. Dazu gehörte es auch, dass er diesmal seinen Vater als Mittelpunkt der Zeremonie ablöste, in der die Könige ihre Treueschwüre auf sein Haus erneuerten. Diesmal hatten sie vor ihm zu knien. Es würde eine lange Reise sein, alle achtzehn Königshäuser zu besuchen. Er hatte auf ein persönliches Erscheinen an seinem Hof verzichtet, weil er sein zukünftiges Reich mit eigenen Augen sehen wollte. Ein Kaiser musste wissen, worüber er herrschte. Außerdem bot sich ihm diese Gelegenheit als willkommene Abwechslung seines langweiligen Palastalltages.
„Lasst sie hier das Nachtlager aufschlagen, General Pagloth“, wandte sich der Prinz an den Reiter zu seiner Linken, ohne den Blick von der Landschaft abzuwenden, die sich ihm darbot. „Morgen werden wir in die Hauptstadt einmarschieren. Außerdem bin ich hungrig und verlange nach Zerstreuung.“ Der grimmige General verstand. Er wusste ganz genau, was sein Prinz mit >Zerstreuung< meinte. Ein leichtes Lächeln verzog sein von Narben übersätes Gesicht und ließ ihn nur noch verschlagener aussehen.
„Ich bin sicher, dass Euch die nevkorischen Mädchen zusagen werden, Sire. Ich werde mich persönlich um die Auswahl kümmern.“ Er gab den Befehl, das Lager aufzuschlagen, der sogleich per Fahnensignale an den Tross weitergegeben wurde. Dann ritt er die Anhöhe zurück, um sich die Männer auszusuchen, die ihn begleiten sollten.
Miroba gähnte. Es war heute ein langer Marsch gewesen. Seine Männer waren müde und erschöpft – die meisten wurden nicht von Pferden getragen. Miroba bevorzugte es, mit ausgeruhten Soldaten zu reisen. Er hatte alle Zeit der Welt. Langsam ritt er mit seinen Offizieren ins entstehende Lager zurück. Pflöcke für die Pferde und die Zelte wurden eingeschlagen und die ersten Feuerstellen hergerichtet. Er ritt an Männern vorbei, die in geschäftigem Treiben das Abendessen zubereiteten, die Tiere versorgten oder Zelte aufbauten. Die Ersten begannen, sich an den Feuerstellen niederzulassen und ihre Wein- und Bierrationen zu sich zu nehmen. Es war ein typischer Abend im Felde. Wie leicht es doch war, den Pöbel im Zaum zu halten. Man brauchte nur genügend Wein mitnehmen und alle waren zufrieden, dachte der Prinz. Doch er wusste auch, dass dies auf längere Sicht nicht genügen würde. Es war lange her, dass sich seine Truppen einer Herausforderung stellen mussten. Schließlich haben sich die meisten der jungen Rekruten der Armee angeschlossen, um Abenteuer zu bestehen, Kämpfe auszufechten und als Helden zurückzukehren. Er würde ihnen früher oder später etwas bieten müssen.
Die Sonne versank langsam hinter den Bergen des westlichen Pekawarth-Gebirges und tauchte das Heer in ein orangenes Licht. Der kalte Wind aus dem Massiv brachte leuchtende Schneeflocken mit sich. Miroba kam bei seinem bereits errichteten Zelt an, stieg ab und übergab die Zügel einem Knappen. Das Zelt des Prinzen unterschied sich über alle Maßen von den üblichen Feldzelten seiner Soldaten. Es war viel größer und bot jeden Luxus, den man sich im Felde wünschen konnte. Der Boden war mit Fellen ausgelegt, es hatte eine eigene Feuerstelle, die für angenehme Wärme sorgte, und es bot genug Platz für einen Tisch mit Stühlen für die Besprechungen mit der Generalität. In dem mit Vorhängen abgetrennten Bereich stand ein richtiges Bett. Drei Ochsenkarren allein waren nur für diese Bedürfnisse abgestellt worden. In kriegerischen Zeiten wäre ein Zelt dieser Art ein hervorragendes Ziel für einen Angriff gewesen. Es war überdeutlich, wo sich der Kopf der Armee befand. Doch es waren keine kriegerischen Zeiten.
Miroba schenkte sich ein Glas Wein aus der Karaffe auf dem Tisch ein, zog seine Stiefel aus und setzte sich auf sein Bett. Er lauschte dem Knacken des Feuers und wartete voller Ungeduld auf die Rückkehr seines Generals – und auf die Beute, die er mit sich bringen würde.
Galgenfrist
„Die Mission ist gescheitert“, gab Henry Finser, der Leiter der Hades-Operation, bekannt und versuchte dabei, seine Frustration so gut wie möglich hinter einer Maske aus Sachlichkeit zu verbergen. Er machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr, um die Gesichter der Anwesenden zu studieren.
Im Besprechungsraum direkt unter der Kommandobrücke der Raumstation hatte sich der Offiziersstab unter Kapitän Jeremy Charun zusammengefunden, um über das weitere Vorgehen zu entscheiden. Der Raum war einfach gestaltet und die einzige Einrichtung neben den Wandbehängen mit dem Konzernlogo, einem goldenen Kreis mit gewellten sich verjüngenden Strahlen auf dunkelrotem Grund, war ein metallener Konferenztisch mit Plätzen für zwanzig Personen. Eine Wand bot einen beeindruckenden Blick durch die große Fensterfront auf den Weltraum. Eine Abordnung leichter Jäger war zu sehen, die von ihrer Patrouille zurückkamen und in den Landeanflug auf die Docks übergingen. Auch sie trugen das Corona-Logo auf ihren Rümpfen.
„Die >Persephone< hat das Wurmloch passiert, wird jedoch nicht mehr zurückkehren können. Nach den bis jetzt übermittelten Daten befindet sich unmittelbar hinter dem Ausgang ein Fixstern in der Größenordnung von null Komma sechsundneunzig Sonnenmassen. Es ist ein Wunder, dass unser Schiff den Austritt überhaupt geschafft hat und nicht sofort verbrannt ist. Nur der sofortigen Reaktion der Crew und dem Einsatz von fast sechzig Prozent des Treibstoffvorrates war es zu verdanken, dass der Flug abgebremst werden konnte. Unglücklicherweise war dies nicht das einzige Problem. Der sonnennächste Planet wird von einem Asteroidengürtel umrundet. Die Konstellation war so ungünstig wie nur möglich, sodass das Schiff auch noch zusätzlich mit diesem Gürtel kollidierte. Und weil die Energieschilde überlastet waren, wären sie fast darin zerschellt. Die gute Nachricht ist: Das Schiff ist auf diesem Planeten notgelandet. Die Schlechte: Es wird dort auch bleiben. Es ist schwer beschädigt, die Antimaterie hat sich verflüchtigt und wir haben vier Crewmitglieder verloren. Dies, meine Herren, erklärt nun auch endlich den Verlust unserer vielen unbemannten Sonden, die zuvor geschickt worden waren. Sie wurden ganz einfach sinnlos in eine Sonne geschossen und hatten nie die Chance, irgendwelche Daten zu liefern. Irgendwelche Fragen bis hierhin?“
Nach einem kurzen Schweigen stand der Mann am Tischende auf und warf einen Blick aus dem Panoramafenster der Raumstation in Richtung der Anomalie, die sich nur ab und an durch eine leichte Verzerrung der sie umgebenen Lichtquellen bemerkbar machte.
„Danke Leutnant.“
„Kapitän.“ Er drehte sich wieder zu dem Plenum des Stabes, atmete tief ein und sagte in einem ruhigen, aber gereizten Tonfall:
„Sie sagen uns also, wir haben zweiundsiebzig Millionen Credits für nichts ausgegeben? Nun. Das ist ja ein riesen Reinfall. Wie Sie alle wissen, habe ich dieser Mission von Anfang an misstrauisch gegenübergestanden. Was glauben Sie denn, hätte dabei rausspringen sollen? – Corona-Territorium am anderen Ende der Galaxie? – Ziemlich sinnlos bei einem dermaßen instabilen Zugang, meinen Sie nicht auch? Und der eigentliche Zweck unserer Anwesenheit wird auch verzögert. Es wird der Konkurrenz nicht ewig verborgen bleiben, was wir hier treiben. Und mit jedem Tag steigen die Risiken und die Kosten.“
„Sir, wir waren uns alle einig, dass wir es zumindest versuchen müssten, etwas über die andere Seite herauszufinden“, verteidigte sich Finser. „Außerdem ist mein Bericht noch nicht zu Ende.“
„Das Schiff ist Schrott und Sie haben sechs gute Männer verloren, Leutnant. Ich glaube, wir haben das Wichtigste gehört.“
„Ich sprach von vier Toten.“
„Aber die Antimaterie. Ohne Antimaterie werden sie wohl kaum ...“
„Der Planet ist terrestrisch“, schnitt ihm Finser das Wort ab. „Wir haben einen ersten Lagebericht. Hauptmann Nimrod und Fähnrich Da Mera haben überlebt und sind in diesem Moment dabei, den Planeten zu erkunden. Sie haben einen Antrag auf Bergung gestellt. Sie berichten von einem Planeten mit intakter Atmosphäre und einem etablierten menschenfreundlichen Ökosystem. Und halten Sie sich fest, meine Herren. Sie sind auf Leben gestoßen.“
Finser drückte einen Knopf in der Tischkonsole und startete seine Präsentation auf der Wand in seinem Rücken, die sich nun in einen Bildschirm verwandelte. Sie zeigte den Planeten aus einer tiefen Umlaufbahn. Auch wenn die Sicht durch eine massive Wolkenschicht getrübt wurde, so war doch eine Ähnlichkeit mit der Erde nicht zu leugnen. „Ich spreche hier nicht von niederen Mikroorganismen oder Pflanzen. Auch nicht von Schlickwürmern oder irgendwelchen Quallen. Ich spreche von menschlichem Leben. Ich wiederhole: menschlichem Leben!“
Der Stab verfiel in erstauntes Raunen. Leutnant Gauthig, ein blonder Mann mittleren Alters, runzelte die Stirn und meldete sich zu Wort.
„Das kann unmöglich wahr sein! Wissen Sie, wie unwahrscheinlich so was ist? Es ist nicht nur unwahrscheinlich, es ist ausgeschlossen … Haben Sie Beweise?“
„Ich würde keine derartigen Behauptungen machen, wenn ich keine hätte“, entgegnete Finser. Gauthig war sichtlich aufgebracht und suchte nach Erklärungen.
„Kann es sein, dass der Kai`sha-Konzern da seine Finger im Spiel hat? Wir vermuten schon lange, dass diese Mistkerle ihren eigenen Waffentest mit illegaler Gravitationstechnik machen. Vielleicht sind wir nicht die Ersten, die diese Passage geöffnet haben. Wir sollten sicherheitshalber eine Streitmacht mobilisieren.“
„Jetzt halten Sie mal die Füße still, Gauthig!“, wandte sich der Kapitän an ihn. „Lassen Sie Finser erstmal ausreden, bevor wir unsere Schlüsse ziehen. Und wie kommen Sie darauf, eine Streitmacht mobilisieren zu wollen? Wir befinden uns immer noch in einer geheimen Mission in einem neutralen Raumsektor. Die Konzernleitung würde uns hier lieber verrecken lassen, nur um kein Politikum daraus zu machen. Finser, fahren Sie bitte fort.“
„Danke.“
Der Bildschirm zeigte nun in verringerter Abspielgeschwindigkeit Großaufnahmen von Wolkenlücken. Zuerst undeutlich, dann immer schärfer waren Gebäude zu erkennen. Ganz so wie sie auch von Erdenmenschen der Frühzeit errichtet wurden. Immer wieder wurde die Sicht verdeckt, doch es waren ganz unverkennbar Häuser, Siedlungen und Straßen zu sehen. Einmal sah man sogar den Umriss eines Mannes in Zeitlupe. Und nachdem Finser die Szene noch mal in der Wärmebildsicht wiederholte, waren alle Zweifel ausgeräumt.
„Haben Sie eine erste Theorie?“, fragte Charun.
„Nun, es ist vielleicht etwas früh für eine Theorie. Aber eine Möglichkeit ist, dass es sich um ein paralleles Universum handelt. Eine Erschließung durch einen Konkurrenten ist ziemlich ausgeschlossen. Zweimal denselben Zeit-Raum-Quadranten zu treffen, ist so wahrscheinlich, als würde man dasselbe Sandkorn in einer Wüste nach einem Sturm wiederfinden. Eine komplett außerirdische Entwicklung der gleichen oder auch nur annähernd gleichen Spezies ist ungefähr ebenso wahrscheinlich. Somit kann ich derzeit nur auf die Viele-Welten-Theorie plädieren. Neue Erkenntnisse kommen bestimmt mit der nächsten Übertragung. Ich schlage also vor, Nimrod und Da Mera weiter zu unterstützen und die Waffentests vorerst einzustellen. Der Wert, den die Sache für die Wissenschaft darstellt, ist nicht abzuschätzen. Und ich bin mir sicher, dass wir uns das nicht ohne Weiteres entgehen lassen sollten.“
„Wissenschaft“, sagte Simon Doglar, der Erste Offizier und weiterer Teilnehmer der Besprechung, mit Verachtung in seiner Stimme.
„Die einzige Wissenschaft, die uns interessiert, ist die, die uns einen Vorteil in der Schlacht bietet. Wir leben nun mal nicht in einer Zeit, in der wir es uns leisten können, irgendwelche Raumanomalien oder Dimensionen zu erforschen. Unser höchstes Ziel ist immer noch die Vorherrschaft in unserem Sonnensystem zu erlangen. Was kümmert uns da irgendein schwer zugänglicher Planet im Äther, der von Primaten bewohnt wird? Ich schlage vor, wir vergessen diese ganze Sache und konzentrieren uns wieder auf die Entwicklung der Waffe. Die Konkurrenz schläft nicht und würde sich von so was sicher auch nicht abhalten lassen. Ich erinnere nur daran, was passieren würde, wenn die anderen zuerst über Gravitationswaffen verfügen würden. Wir müssen mitziehen. Wir dürfen den Anschluss nicht verlieren. Wir müssen wenigstens den Status quo erhalten, und wenn wir das nicht können, werden wir untergehen.“
„Wie können Sie nur so ignorant ...“
„Ruhe“, unterbrach der Kapitän den emotionalen Ausbruch von Finser.
„Ich sehe durchaus, unter welchem Druck Sie stehen. Sie als Wissenschaftler. Ich weiß, die Möglichkeit, ein solches Phänomen zu erforschen, muss extrem verlockend für Sie sein, aber in manchen Punkten muss ich Doglar zustimmen. Ich kann es nicht verantworten, die Tests weiter hinauszuzögern. Nur deswegen hat uns das Oberkommando entsandt. Diese Befehle zu ändern, liegt nicht in meinem Ermessen. Andererseits bin auch ich neugierig. Und diese armen Teufel dort zurückzulassen, bereitet mir Bauchschmerzen. Aber sehen wir es mal ganz objektiv. Fakt ist nun mal, dass wir sie nicht ohne unverhältnismäßige Anstrengungen und Zeitaufwand zurückholen können. Ganz zu schweigen davon, dass wir kein weiteres Budget von der Firma für derlei Aktionen bekommen werden. Allein dass wir die Hades-Mission überhaupt finanziert bekommen haben, hat mich erstaunt. Ums kurz zu machen: Ich warte noch den nächsten Datentransfer von der anderen Seite ab. Dies ist Ihre Galgenfrist – der Wissenschaft zuliebe. Nimrod und Da Mera sollen weiter Daten sammeln und bis auf Weiteres gelten sie offiziell als verschollen. Und was den Antrag der beiden betrifft, sagen Sie ihnen, wir werden eine Kapsel mit Ersatzteilen und Antimaterie durch die Anomalie schicken. Sie sollen versuchen, ein Fangnetz vor dem Ausgang zu platzieren. Ich weiß, diese Chance ist gering, aber es wird ihre Einzige sein. Das war alles meine Herren – wegtreten.“
Partei ergreifen
Ein dumpfes metallisches Geräusch erklang, als das Kurzschwert den Brustpanzer Vincents traf. Er taumelte zurück und ließ sich fallen. Nach einer Rückwärtsrolle nahm er wieder eine stabile Kampfhaltung an und erhob sein Schwert. Korbin quiekte vor Vergnügen.
„Ich hab dich erwischt!“
„Das wird auch das Letzte sein, was du in deinem jungen Leben gemacht hast“, rief Vincent in gespielter Grimmigkeit. Korbin durchschaute ihn, stieg auf den Baumstamm neben ihm und sprang, die Klinge nach vorne gestreckt auf Vincent zu. Der Junge hat tatsächlich Potenzial, dachte er. Er hat die Lücke in meiner Verteidigung erkannt und schnell genug gehandelt.
Bevor die Klinge ihn treffen konnte, wich er aus, packte den Schwertarm des Jungen, drehte ihn auf seinen Rücken und hielt ihm die stumpfe Seite seines Schwertes an den Hals.
„Aber du bist zu unbesonnen, wenn’s drauf ankommt. Nicht durch Schnelligkeit allein bezwingst du deine Gegner. Du legst zu wenig Wert auf deine Verteidigung. Aber du bist gut. Wer hat dir das beigebracht?“ Wohl kaum einer dieser Bauern aus diesem Dorf, dachte er. Korbin befreite sich aus der Umarmung und rieb sich grinsend seinen schmerzenden Arm. Mein Onkel, der in den Bergen des Pekawarth lebt, zeigt mir manchmal einige Tricks. Er ist ein guter Schwertkämpfer, müsst ihr wissen. Der ist echt massiv drauf.“
„Ich dachte, es ist euch verboten, Waffen zu tragen“, sagte Kilian, der das Treiben aus den Augenwinkeln verfolgte, während er an dem Transmitter drehte, um das Signal mit der Antwort ihrer ersten Übertragung zu empfangen.
„Äh ... natürlich. Wir üben auch immer nur mit Holzstöcken, wenn er uns besucht“, antwortete er sichtlich erschrocken und fühlte sich ertappt. „Es ist eigentlich mehr ein Spiel zwischen uns. Und mein Onkel hat mir aufgetragen, es niemandem zu erzählen. Aber ihr werdet doch niemandem davon erzählen, oder? Nun, da ich auch euer Geheimnis teile.“
„Natürlich nicht mein Freund. Da werden wir uns einfach gegenseitig vertrauen müssen. Und außerdem betrifft das ja kaum unsere Angelegenheiten, was du mit deinem Onkel spielst“, sagte er und dachte: Da steckt noch mehr dahinter. Das ist kein Spiel, das sein Lehrer ihm beibrachte. Es ist zu professionell, auch wenn er es selbst nicht bemerkt hat. Und mit Begabung allein ist das auch nicht zu erklären. Es lassen sich sogar Züge von modernem Ki-Kendo erkennen. Nein, das ist ganz bestimmt kein Spiel.
„Mein Junge, es ist langsam Zeit für dich, nach Hause zu gehen. Die Sonne wird bald untergegangen sein“, sagte Kilian, nachdem er sich aufgerichtet hatte. Er sah Vincent an und blickte dann, ohne seinen Kopf zu drehen, auf den Transmitter, der nun mit einer grünen LED anzeigte, dass die Nachricht empfangen ist.
„Wir danken dir für das Gespräch und dein Vertrauen. Aber wenn du noch länger bleibst, machen sich deine Eltern sorgen. Und wir wollen ja nicht, dass sie hier nach dir suchen.“ Korbin blickte nach unten. Er wollte noch länger bei diesen fremden Kriegern sein. Selten hatte er etwas ähnlich Aufregendes erlebt. Er fügte sich trotzdem. Es könnte ja wirklich noch jemand hinter das Geheimnis kommen, das jetzt auch das Seinige war.
Nachdem sie sich verabschiedet hatten, machte er sich auf den Heimweg. Korbin hatte noch darum gebettelt, sie am nächsten Tag wieder besuchen zu dürfen. Er war nicht gegangen, bevor sie nicht nachgegeben und unter der Bedingung, vorsichtig und vor allem schweigsam zu sein, eingewilligt hatten.
Die Übertragung von Leutnant Finser, dem Wissenschaftsoffizier und Leiter der Hades-Operation, war nüchtern und bot wenig Hoffnung auf Rettung. Es war die Rede von unüberbrückbaren Schwierigkeiten für eine Bergungsmission. Die Risiken eines weiteren bemannten Einsatzes würden in keinem Verhältnis zu den Erfolgsaussichten stehen. Als einzige Möglichkeit boten sie ihnen den fragwürdigen Plan an, eine Kapsel aus der Anomalie mit einem Energie-Fangnetz abzufangen, das üblicherweise von Raumschiffen zur Torpedoabwehr eingesetzt wurde. Mit den Teilen in der Kapsel sollten sie ihr Schiff selbst wieder flottmachen und dem Planeten entkommen. Bis die Vorbereitungen dazu abgeschlossen sein würden, hatten sie den Befehl, weitere Daten zu sammeln und Bericht zu erstatten.
Kilian und Vincent waren gerade dabei, die Konsequenzen dieser Nachricht auszuwerten und über die Chancen, eine Kapsel abzufangen, die mit halber Lichtgeschwindigkeit Richtung Sonne geschossen wurde, zu diskutieren, als sie von Schreien aus dem Dorf aufgeschreckt wurden. Auch die Stimme Korbins war auszumachen. Tumult und Panik waren in der Luft. Ohne lang zu fackeln, setzten sie ihre Helme wieder auf und eilten der Quelle entgegen.
Langsam und geräuschlos näherten sie sich dem Waldrand. Sie gingen in die Knie und sahen den Grund des Aufruhrs. Kilian blieb kurz die Luft weg angesichts des Schreckens, der sich ihm offenbarte. Vor ihnen lagen die Körper von ca. zehn toten Dorfbewohnern. Aus schrecklichen Wunden ergoss sich ihr Blut und verwandelte den Schnee in roten Matsch. Mindestens ebenso viele Schwerstverletzte schrien sich die Seelen aus dem Leib. Jene, die schon zu schwach dazu waren, stöhnten einfach vor sich hin. Überall lagen zerfetzte Körperteile. Ein Mann versuchte in seinem Schock, die Innereien zurückzuschieben, die ihm aus seinem aufgeschlitzten Bauch quollen. Eine hysterisch schreiende Frau rannte auf ihren Mann zu, der zwischen all den Leichen lag und glucksende Geräusche von sich gab, während er an seinem Blut erstickte. Ihre Stimme verstummte abrupt, als sie von einem Pfeil in den Hals getroffen wurde. Sie starb noch, bevor ihr Mann es ihr gleichtun konnte. Die übrigen anwesenden Dorfbewohner standen starr vor Schreck und zitternd vor Angst und Kälte im Schein der Fackeln einer Reiterschaft.
Scherzend stiegen die Reiter ab und wischten das Blut ihrer Schwerter und Äxte an den Kleidern der Toten ab. Diese Männer waren das Töten gewohnt. Es bereitete ihnen keine Gewissensbisse mehr. Ein hämischer Stolz war diesen Männern ins Gesicht geschrieben, der davon zeugte, dass sie ihre Opfer nicht als gleichberechtigte Menschen sahen.
„Machen wir sie fertig!“, sagte Vincent, ohne seinen Blick abzuwenden, und zog seine Pistole. „Negativ. Du weißt, dass wir uns nicht einmischen dürfen.“
„Bullshit! Sieh dir das doch an. Willst du diese Leute alle draufgehen lassen? Es sind nur fünfzehn Mann, die lediglich mit Schwertern und Lanzen bewaffnet sind.“ Kilian packte ihn an der Schulter.
„Mach nichts Unüberlegtes. Wir kennen die Hintergründe nicht und wissen nicht, auf was wir uns da einlassen. Unsere Tarnung muss gewahrt werden. Wir wissen einfach zu wenig, um solch ein Risiko einzugehen. In Deckung bleiben, sag ich. Das ist ein Befehl.“ Mit knirschenden Zähnen folgte Vincent.
Der Mann an der Spitze der Angreifer, ein leicht untersetzter großer Soldat mit einigen Narben im Gesicht, die von vielen Schlachten zeugten, stieg jetzt ebenfalls ab und nahm seinen Helm unter den Arm. Sein Durchsetzungsvermögen in diesen Kämpfen war zweifellos einer der Gründe seiner Stellung. Sein Mantel unterschied sich eindeutig in der Qualität von der einfacheren Kleidung seiner Begleiter, die Lederrüstungen mit aufgenieteten Metallplatten trugen. Unter dem Mantel, der vom eisigen Wind angehoben wurde, war ein Stahlharnisch zu erkennen, der mit goldenen Verzierungen versehen war. Unter anderem war ein Stier mit zum Angriff gesenkten Hörnern zu erkennen – das Wappentier der Kallicors. In Brusthöhe trug er deren Hauptinsignie: einen gezackten goldenen Ring. Er stellte die kaiserliche Krone aus der Vogelperspektive dar – der Sicht der Götter. Es sollte verdeutlichen, dass nur die Götter, in dessen Auftrag er handelte, höher als der Kaiser standen.
„Hört mir zu Pöbel. Ich vertrete das Heilige Haus Kallicor. Ich bin General Pagloth aus der Leibgarde seiner Hoheit des Prinzen. Ich bin hier, um euch die Ehre anzubieten, ihm die Jungfräulichkeit eurer Töchter zu schenken.“ Missfällig sah er auf einen Sterbenden vor seinen Füßen, dessen Schmerzensschreie seinen Vortrag störten. Die Soldaten in seinen Reihen verstanden. Sofort zog einer von ihnen einen Bogen aus der Satteltasche und schoss ihm einen Pfeil in die Brust. Doch der Verletzte lebte immer noch, was dem Schützen das Gelächter seiner Kameraden einbrachte. Wütend ging er auf ihn zu und zertrümmerte ihm mit seinem schweren Stiefel das Gesicht. Der General fuhr fort.
„Ich glaube, ich habe nun deutlich gemacht, was es heißt, sich uns zu widersetzen. Das wird mit euch allen geschehen, wenn ihr wie diese Würmer meint, euch regen zu müssen. Irgendwelche Fragen? ... Hab ich mir gedacht. Und jetzt stellen sich alle Jungfrauen in einer Reihe auf. Und ich meine alle Jungfrauen! Über das richtige Alter werde ich entscheiden.“
Die Mädchen des Dorfes begannen, sich zu sammeln. Einige mussten mit Gewalt von ihren Angehörigen aus ihren Häusern geschleift werden. Manch ein Vater oder Bruder weigerte sich, spuckte den Soldaten ins Gesicht und starb eines schnellen Todes. Nach einer Weile stand die Reihe der Jungfrauen. Die jüngsten waren kaum zehn Jahre alt und bibberten weinend, teilweise nur mit einem Nachthemd bekleidet im blutigen Schnee. Der General ging die Reihe ab und machte sich daran, seine Auswahl zu treffen.
„Du, du, du bist zu hässlich und du.“ Er zeigte nacheinander auf die Mädchen seiner Wahl. Dem einen oder anderen griff er an die Brust oder an den Hintern, als würde er Fleisch für ein Bankett auswählen.
„Und du auch“, schloss er ab und hielt dabei das Kinn eines gerade einmal um die vierzehn Jahre alten blonden und zierlichen Mädchens, das starr vor Angst vor ihm stand. Die Soldaten wollten sich gerade daranmachen, die Auswahl auf die Pferde zu setzen, als der wutentbrannte Korbin mit einem verzweifelten Kampfschrei auf den Soldaten zu rannte, der gerade das junge blonde Mädchen an den Haaren packte.
„Lasst meine Schwester in Frieden, ihr Schweine!“, brüllte er und sprang mit der Spitze seines stumpfen Kurzschwertes auf ihn zu. Die anderen Soldaten schien das zu amüsieren und sie warteten auf die tödliche Reaktion ihres Kameraden. Diese ließ nicht lange auf sich warten. Er ließ die Haare des Mädchens los, riss sein Schwert aus der Scheide und schlug auf den Jungen ein. Doch er unterschätzte die Geschwindigkeit des Angriffes und verfehlte ihn. Korbin verfehlte nicht. Er tauchte aus seiner Deckung auf und stieß ihm die Klinge gegen den Hals. Der Stoß reichte trotz der abgerundeten Spitze aus, um ihn den Kehlkopf zu zertrümmern. Ohnmächtig sackte er zusammen. Den anderen Soldaten gefror ihr Lachen nun im Gesicht. Fluchend zog auch der Nächststehende sein Schwert, bekam Korbin an den Haaren zu fassen und holte zum Schlag aus. Wenigstens hab ich noch einen mitgenommen, dachte Korbin. Er hatte sich als Krieger bewiesen – sein Onkel würde stolz auf ihn sein. Der Mann riss Korbins Kopf in den Nacken und zielte auf seinen Hals.
Ein Knall zerriss die Luft. Der Kopf des Soldaten explodierte und Blut schoss aus dem Rest seines Halses. Korbin konnte sich nun aus der erschlaffenden Hand befreien und rollte sich unter ein Pferd. Den Geschmack des Blutes, das ihn über und über bedeckte im Mund, schmiss er sich hinter den nächsten Busch, um sich in Sicherheit zu bringen. Die übrigen Männer starrten auf das andere Ende des Feldes, auf dem ein Mann in einer ungewöhnlichen Rüstung stand. Sie entsprach nun gar nicht der gängigen Mode. Der Helm hatte keinerlei Öffnung, durch die man sehen konnte, und die Panzerung war schlanker als gewöhnlich. Es schien fast so, als wäre sie Teil seines Körpers, wenn er sich bewegte. Jedenfalls strahlte er eine Selbstsicherheit angesichts ihrer Überzahl aus, die beängstigend war. Langsam senkte er dieses schwarze Ding, das eine Verlängerung seines Fingers, mit dem er auf sie deutete, zu sein schien.
Der Mann sah in Richtung Waldrand und sagte:
„Die Befehle haben sich geändert. Keiner darf entkommen.“ Ein weiterer Mann in derselben Rüstung trat hervor und ein gedämpftes Lachen war unter seinem Helm zu hören.
„Wir haben also doch endlich Partei ergriffen?“, antwortete er. Kilian steckte seine Pistole zurück und zog sein Schwert.
„Wer seid ihr, dass ihr es wagt, die Befehle des Prinzen zu missachten? Da ihr gleich tot sein werdet, sagt mir eure Namen und euren Herren“, sprach Pagloth.
„Unser Herr tut nichts zur Sache. Wir werden dir aus ganz eigenem Antrieb den Arsch aufreißen. Und unsere Namen brauchst du auch nicht wissen. Das Einzige, was du wissen musst, ist, dass wir aus der Hölle kommen und genau dorthin werden wir euch alle jetzt schicken.“ Pagloth lachte und seine Soldaten stimmten ein – jedenfalls die meisten von ihnen.
„Tötet sie!“, schrie er. Kilian und Vincent gingen auf sie zu und sammelten ihr Ki. Ein Pfeilhagel ging auf sie nieder. Ungerührt schlugen sie jeden davon mit dem Schwert weg oder wichen aus. Die Wenigen, die trafen, prallten einfach ab.
„Bringt euch in Sicherheit!“, rief Kilian den Dorfbewohnern zu.
„Ihr bleibt gefälligst da und ...“ Der Soldat konnte seinen Satz nicht beenden. Vincent zog seine Pistole und schoss ihm ein Loch in die Brust. Noch bevor er auf dem Boden aufschlug, saß die Waffe wieder in seinem Halfter. Die Dorfbewohner flüchteten nun in alle Richtungen und überließen ihr Schicksal den beiden Fremden. Die ersten Soldaten stürmten auf sie ein und hackten mit Schwertern, Äxten und Lanzen nach ihnen. Kilian, der sein Ki auf die Schneide fokussiert hatte, ging in den Angriff über. Seine Klinge schnitt jetzt mühelos durch Rüstungen, Sehnen und Knochen. Er ließ seinen Aggressionen freien Lauf. Auch Vincents Schneide leuchtete nun leicht rot durch die konzentrierte Energie, die seine Ki-Transistoren lieferten.
In einem Zustand gesteigerter Konzentration und gleichzeitiger Gelassenheit schlugen sie sich durch die anstürmenden Männer, vermieden dabei jede überflüssige Bewegung und verteilten fast ausschließlich tödliche Hiebe. Ihre Ausbildung in den Kampfkünsten kam ihnen wieder einmal zugute und verschaffte ihnen in Verbindung mit ihren überlegenen Waffen einen entscheidenden Vorteil. Ein Angreifer nach dem anderen ging unter ihren Schwertern zugrunde. Langsam arbeitete sich Kilian zu dem Anführer vor, der mit gezücktem Schwert wartete. In seinem Gesicht war keine Furcht zu erkennen, Überraschung zwar, aber im Gegensatz zu seinen Männern, die teilweise schon die Flucht ergriffen, rechnete er sich anscheinend immer noch Chancen aus. In wenigen Sekunden schalteten sie elf Feinde aus. Die meisten restlichen nahmen ihre Beine in die Hand und flüchteten.
„Vincent, kümmere du dich um die Flüchtenden. Ich nehme mir Scarface vor“, sagte Kilian über die Helmkommunikation und sprang in eine Rolle auf den letzten Mann zu, der mit einer Axt bewaffnet vor dem General stand. In der gleichen Bewegung stand er neben ihm auf und schlug ihm dabei das Bein ab. Zwölf, dachte Kilian, und ohne den nun vor sich stehenden General aus den Augen zu lassen, trat er mit aller Wucht gegen den Brustkorb des auf dem Boden liegenden. Ein widerliches Knacken der Rippen stoppte seine Schreie. Röchelnd starb er langsam, während sich seine Lunge mit Blut füllte.
„Und nun kannst du uns ja freundlicherweise erzählen, was die ganze Scheiße soll, Pagloth“, sagte er, seinen Namen wie ein Schimpfwort klingen lassend.
Vincent rannte den beiden Soldaten auf dem Waldweg hinterher, von dem sie her geritten waren. Um die Pferde zu besteigen, war nicht genug Zeit, und so war es für ihn nicht besonders schwer, beschleunigt durch seinen Anzug den Ersten einzuholen. Als ihn der hintere Soldat bemerkte, blieb er stehen und zog sein Schwert. Selbst in seiner Panik begriff er, dass Weglaufen jetzt die schlechtere Wahl war. Ungebremst sprang Vincent mit den Füßen voran in die Luft und traf ihn mit voller Wucht an der Brust. Der Soldat wurde durch diesen Tritt drei Meter nach hinten geschleudert und donnerte gegen einen Baum. Schwer atmend rutschte er mit dem Rücken hinunter und sah Vincent an.
„Warum greift Ihr uns an? Ihr werdet doch genauso vom Kaiser bezahlt“, stammelte er, als er die Corona auf Vincents Panzer sah. Vincent drückte ihm die Schwertklinge an den Hals und zog so kräftig durch, dass der Kopf abgetrennt wurde.
„Deine Mutter wird vom Kaiser bezahlt“, sagte er und entfernte sich wieder, um nicht von seinem herausspritzenden Blut besudelt zu werden. Wieder auf dem Weg stellte er fest, dass er den letzten Mann aus den Augen verloren hatte. Er ließ den Controller aus seinem Unterarm schnellen, um die Steuerung einer Drohne zu übernehmen. Die Drohne, die allzeit bereit über ihnen patrouillierte, konnte rasch das richtige Wärmesignal ausmachen und durch die gute Sicht erkannte er seine Beute recht schnell. Er aktivierte die Waffensysteme und flog dichter heran – es war ein Kinderspiel. Zwei Läufe fuhren aus der silbernen Kugel aus, die jetzt in Sichtlinie von hinten geräuschlos heranflog und immer näherkam. Der Verfolgte wähnte sich schon in Sicherheit und freute sich über seine heile Haut. Die Angst wurde von einem Hochgefühl ersetzt. Trotzdem wagte er es nicht, langsamer zu laufen. Er war dem Massaker entkommen und konnte dem Prinzen Bericht erstatten. Sicher würde er für seine Heldenhaftigkeit belohnt werden, dachte er und lächelte, als er sich umdrehte und keinen Verfolger erkannte. Bis zum Schluss begriff er nicht, wie ihm geschah, als er von einer Schnellfeuersalve durchlöchert wurde.
„Job erledigt“, meldete Vincent über Funk und ging zurück.
„Ich muss zugeben, Ihr seid ein hervorragender Kämpfer. Und ich fange fast tatsächlich an zu glauben, dass ihr direkt aus der Hölle kommt“, sagte der General und erhob sein Schwert. „Aber auch mein Tod wird Euch nicht von Eurer gerechten Strafe bewahren. Der Prinz wird sicher viel Spaß daran haben, Euch in den letzten Stunden zu sehen, die Ihr in unerträglichen Schmerzen verbringen werdet. Glaubt mir, er nimmt es immer sehr persönlich, wenn seine Truppen angegriffen werden, und er ist sehr erfinderisch, wenn es darum geht, Qualen zu bereiten. Auch dieses Dorf, das Ihr zu retten glaubtet, wird dem Erdboden gleichgemacht. Kein lebendes Wesen wird verschont werden. Er wird persönlich kommen und alle ...“
„Das sind ja erbärmliche letzte Worte“, unterbrach ihn Kilian. „Deine Drohungen gehen mir am Arsch vorbei.“
„Dann lass es uns zu Ende bringen, Dämon“, rief Pagloth und ließ seine Klinge niedersausen. Nur mit Mühe konnte Kilian den Schlag mit seinem Schwertrücken parieren und sprang zurück, nur um gleich dem nächsten Hieb auszuweichen. Der General war schneller, als er erwartet hatte, und es gelang ihm immer noch nicht, aus seiner defensiven Position auszubrechen. Wieder und wieder musste er seine Energie zum Blocken aufwenden. Kilian wurde wütend, ließ sich aber nicht aus seinem Rhythmus bringen. Mit einer weiteren Parade gelang es ihm, das gegnerische Schwert so kräftig wegzuschlagen, dass ihm eine kurze Lücke geboten wurde, bevor Pagloths Verteidigung wieder stand. Er nutzte sie sofort und stach Richtung Kehle. Doch Pagloth reagierte, konnte seinen Kopf im letzten Moment wegdrehen, wurde jedoch von der Spitze an der Wange gestriffen. Er schlug Kilians Schwert weg, sprang gleichzeitig nach hinten und berührte die Wunde.
„Es ist lange her, seitdem es jemand geschafft hat, mir eine Narbe beizubringen“, sagte der General und leckte das Blut von seinem Finger. „Und keiner von ihnen hat es überlebt.“
Er sprang vor, stach mit aller Kraft auf Kilian ein und verfehlte ihn nur knapp. Im Ausweichen schwang Kilian seinen linken Arm in die Höhe, um das Schwert zu fixieren, und warf sich mit dem rechten Arm, seinen Schwung ausnutzend gegen den unteren Teil. Das Schwert des Generals zerbrach klirrend und Stahlsplitter wirbelten wie Schrapnelle durch die Luft. Blitzschnell zog Pagloth einen Dolch mit der anderen Hand und stach zu. Instinktiv bekam Kilian seinen Unterarm zu fassen, drehte sich mit dem Rücken zum Gegner und platzierte den Arm auf seine Schulter. Mit einem kräftigen Ruck riss er ihn nach unten, bis es krachte. Kilian erwischte den fallenden Dolch am Griff, wirbelte herum und rammte den Dolch durch die Rüstung in Pagloths Brust. Keuchend taumelte er zurück, sah hinunter auf den Dolchgriff, der nun aus der Kronenverzierung ragte, und spuckte Blut. Fünfzehn, dachte Kilian, steckte sein Schwert zurück und sammelte sein Ki für einen Todesstoß. Er wechselte in einen festen Stand, senkte seinen Oberkörper leicht nach hinten, um Schwung zu holen, und schlug mit beiden Fäusten gegen die Mitte der Brust und den Bauch von Pagloth. Die Einschläge waren so heftig, dass der General den Boden unter den Füßen verlor und einige Meter durch die Luft flog. Krachend durchbrach er die Bretter einer Scheune. Sein Verstand, der das Geschehene noch immer nicht fassen konnte, versank noch im Flug in Dunkelheit.
Kilian entspannte sich wieder und besah sich den blutgetränkten Kampfplatz. Er nahm seinen Helm ab und atmete tief ein. Sie hatten ihre Neutralität verloren. Ein weiteres Problem in einer Reihe von Problemen. Wenigstens waren sie unbeschadet, auch wenn sie nun die volle Aufmerksamkeit dieser Welt hatten. Ein Vorfall dieser Art konnte nicht lange unbeachtet bleiben. Die Dorfbewohner kamen langsam wieder aus ihren Verstecken und begannen, ihn zu umringen.
„Er ist doch ein Mensch“ und „die Götter haben uns beigestanden“ konnte er zwischen dem Gemurmel und dem Klagen um die Toten hören. Familienmitglieder rannten zu den Leichen ihrer Männer und Brüder. Viele haderten mit ihren Göttern, die ihnen so viel Leid bescherten. Auch für die noch lebenden Verletzten bestand kaum mehr Hoffnung. Ihre Traurigkeit steckte Kilian an. Er schluckte einen trockenen Kloß hinunter und griff nach seiner Wasserflasche.
Ein alter in Lumpen gewandeter Mann kam auf ihn zu und sprach mit Tränen in den Augen: „Wer seid ihr, Fremder? Und warum habt ihr uns geholfen?“
Kilian schluckte runter, schüttete den Rest über seinen Anzug, um das Blut wegzuwaschen, und befestigte die Flasche wieder an seinem Gürtel.
„Wer wir sind, tut nichts zur Sache. Wir sind euch zur Hilfe gekommen, weil wir diese Ungerechtigkeiten nicht mit ansehen konnten. Ansonsten sind wir hier niemandem verpflichtet, erst recht nicht dem Kaiser, wie ihr ja sehen konntet. Auch wenn ihr meint, wir trügen sein Zeichen auf der Brust. Bei uns hat das eine völlig andere Bedeutung.“
„Landrya!“, raunte jemand aus der Menge.
„Unsinn!“, blaffte der Alte über seine Schulter. „Ihr müsst diesen Leuten vergeben, aber sie sind sehr einfach und abergläubisch. Landrya, ha! Niemand weiß, ob es dieses Land überhaupt gibt oder je gegeben hat. Aber sagt, was habt Ihr nun vor, nachdem Ihr das Haus Kallicor verärgert habt? Sucht Ihr nur nach Ärger oder wisst Ihr tatsächlich nicht, worin Ihr Euch verstrickt habt?“
„Wohin haben wir uns denn verstrickt?“, verlangte Kilian zu wissen.
„Nun, Ihr habt Soldaten des Kaisers erschlagen. Jetzt sieht man Staatsfeinde in Euch. Darauf steht aus welchem Grund auch immer die Todesstrafe. Und solche Verbrechen werden stets sehr konsequent verfolgt.“
„Aber es gibt niemanden mehr, der davon erzählen könnte. Darauf haben wir besonders geachtet.“
„Davon könnt ihr ausgehen“, rief Vincent, der nun wieder zurück war und sich neben Kilian stellte. Der Alte lächelte und gab seine fauligen Zähne preis.
„Wir sind Euch jedenfalls zu Dank verpflichtet, fremde Ritter, auch wenn wir nicht besonders lange überleben mögen, um eure Heldentaten zu preisen. Wir haben nicht mehr viel Zeit, um unsere Sachen zu packen. Es werden mehr Soldaten kommen. Sehr viel mehr. Auch Ihr werdet trotz eurer Kraft nicht bestehen können. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr uns begleiten. Wir kennen einen sicheren Ort in den Bergen.“ Die Männer in der Runde wurden unruhig und einige erhoben lauthals Protest.
„Wir dürfen sie nicht zu unseren Brüdern führen“, rief einer. Ein weiterer, auch nicht besonders Begeisterter stimmte mit ein:
„Woher wissen wir, dass das nicht ein Trick ist, um dem Kaiser endlich eine Hintertür zum Widerstand zu öffnen? Ja, wir haben alle gesehen, dass sie Soldaten des Imperiums getötet haben, aber wer sagt uns, dass das nicht geplant war? ... Wir wissen alle, wie verschlagen die Kallicors sind!“ Kilian sah in die Runde. Immer mehr Menschen versammelten sich. Es schien ihm, als könnte sich daraus bald ein Lynchmob bilden.
„Ruhig Blut Leute. Wir haben gar nicht die Absicht, euch in die Berge zu begleiten. Wir suchen nur nach der nächsten Möglichkeit, von hier zu verschwinden. Und ihr habt recht, niemandem zu vertrauen. Wir könnten euch wirklich wer weiß was erzählen. Aber ich schlage vor, dass ihr uns in Ruhe lasst und wir lassen euch in Ruhe. Zeigt uns nur, wie wir am besten in die Hauptstadt kommen.“ Das Männlein lächelte wieder, als er Kilian ansah.
„Nun gut“, sagte er gutmütig. „Ihr werdet eurer Wege gehen, wir die Unsrigen. Aber wir müssen uns beeilen, sonst werden wir nicht weit kommen.“
Im Augenwinkel sah Kilian etwas auf sich zu springen. Erschrocken wirbelte er herum. Doch zu spät. Mit einer Wucht, die ihn fast umgehauen hätte, landete Korbin auf ihm und schlang ihm seine Arme um den Hals. Lächelnd und leicht verwirrt erwiderte er seine Umarmung.
„Korbin, mein Junge! Das war sehr dumm von dir, dich mit den Soldaten anzulegen. Du hast mehr Glück als Verstand, auch wenn du einen von ihnen erledigt hast“, sagte er und ließ ihn wieder runter, als seine Eltern und seine Schwester herbeieilten, um den Jungen stürmisch in ihre Arme zu reißen.
„Vielen Dank, Sire. Ihr habt meine beiden Kinder gerettet. Ich wüsste nicht, was ich ohne sie machen würde“, sagte Korbins Vater, ein kleiner etwas dicker Mann, bei dem die Verwandtschaft mit seinem Sohn nicht zu leugnen war. Er wischte sich eine Träne von der Wange.
„Wie kann ich meine Dankbarkeit nur zeigen? Sagt, kann ich Euch irgendwas geben? Was immer Ihr von mir haben wollt, ich gebe es Euch, falls es in meinen Möglichkeiten steht. Wir haben etwas Geld gespart für ein Pferd. Ich überlasse es Euch gerne.“
Vincent blickte in seine Richtung. Die Braue leicht gehoben bedeutete er ihm, das Geld doch zu nehmen. Kilian ignorierte ihn.
„Behaltet euer Geld, ihr könnt es sicher besser gebrauchen. Aber wenn ihr uns helfen wollt, hätte ich eine Idee. Wir brauchen Kleidung, in der wir, na ja, weniger auffällig sind.“
„Wenn’s weiter nichts ist. Meine Frau Igna ist eine gute Schneiderin. Sie kann euch ein Gewand fertigen. Aber wir verfügen nur über einfache Stoffe, die Männer eures Standes nur beleidigen würden.“
„Nein, nichts Aufwendiges. Außerdem fehlt uns die Zeit, die Kleidung anzupassen. Sie soll nur unsere Rüstung verbergen. Lieber etwas in der Art, wie er es trägt“, antwortete Kilian und zeigte auf einen Mann, der mit einer braunen Leinenrobe bekleidet war. Sofort zog dieser die Robe aus und überreichte sie ihm mit den Worten:
„Auch meine Tochter war in der Auswahl für den Prinzen. Bitte nehmt sie, Sire. Wir haben etwa die gleiche Größe, sie passt Euch bestimmt.“ Ein weiterer Mann, der einzige, dessen Statur der Vincents nahekam, tat es ihm gleich und verschenkte sein Gewand. Die beiden Männer waren sichtlich geehrt, dass sie annahmen. Kilian und Vincent schlüpften hinein und schnallten ihren Waffengurt darüber. Da die Länge fast bis zu den Füßen ging, war nun von ihrem Anzug nichts mehr zu erkennen. Selbst behelmt könnte man sich notdürftig unter einer Kapuze verstecken.
„Lasst uns eure Abreise vorbereiten, wir werden euch so lange Schutz gewähren. Nehmt nur das Nötigste mit. Wir werden inzwischen für eine Feuerbestattung sorgen. Eine andere, respektvollere Ehrerbietung können wir euren Angehörigen derzeit leider nicht bieten. Die toten Soldaten können hier ruhig verrotten“, sagte Kilian.
„Ich werde dem Prinzen inzwischen einen kleinen Willkommensgruß bereiten. Es hat mit nem abgeschnittenen Generalskopf und ner Sprengfalle zu tun“, rief Vincent, während er zu der Scheune mit dem Loch in der Wand ging.
„Keine modernen Waffen“, antwortete Kilian, der damit begann, Leichenteile zu stapeln. Vincent quittierte mit einem missmutigen Grummeln. Auch die Dorfgemeinschaft sputete sich nun, um ihre wichtigste Habe zu packen, und belud damit ihre Pferde, Esel oder Ochsenkarren. Die letzten beiden Überlebenden des Gemetzels bettete man auf einen Wagen mit behelfsmäßigen Unterlagen aus Stroh und Leinentüchern. Eine Frau versuchte dabei immer noch krampfhaft, eine Blutung am Kopf ihres Lieben zu besiegen. Panik und Tränen sprachen aus ihrem Gesicht. Schweigend verrichtete Kilian seine Arbeit. Einige Männer halfen ebenso wortkarg dabei, einen Holzstapel auf dem notdürftig vom Schnee befreiten Feld zu errichten, auf dem sie die Toten aufbahren konnten.
„Argos I – Gelände sichern; Argos II – Richtung Südost, 100³ Kilometer Gelände sichten und nach Lebenszeichen suchen. Ansammlungen von 20+ melden und verweilen“, gab Kilian leise Anweisungen über seine Helmkom. Sogleich fuhr eine der beiden Silberkugeln die Mündungsrohre aus und begann leise über dem Dorf zu patrouillieren, während die andere Drohne höher stieg, um sich in die Richtung zu entfernen, aus der die Invasoren kamen.
„Er ist weg!“, hörte man Vincent auf einmal rufen – gefolgt von derben Flüchen. „Wie kann dieser Mistkerl entkommen sein? Ich habe selbst gesehen, wie du ihn in die Scheune geprügelt hast.“ Die Dorfbewohner schreckte diese Nachricht sichtlich auf. Einige sahen ängstlich zu der Scheune, betrachteten die Umgebung oder wichen zurück. Kilian legte den Torso eines toten Knaben wieder auf den Boden und ging, gefolgt von einigen neugierigen Männern, zur Scheune.
„Tatsächlich, er ist weg.“ Vincent war gerade dabei, mit seinem Schwert in dem Heuhaufen zu stochern, auf dem der General gelandet war.
„Wir müssen ihn unterschätzt haben. Er ist zäher, als man glauben möchte.“
„Das ist wirklich nicht zu glauben“, antwortete Vincent. „Er kann nicht weit gekommen sein. Ein Wunder, dass er sich mit diesen Verletzungen überhaupt noch auf den Beinen halten kann. Dort muss er raus sein.“ Er zeigte auf das Scheunentor, das dem Feld abgewandt war und so ein ungesehenes Entkommen ermöglichte. Blutstropfen führten vom Stroh in Richtung Ausgang.
„Ich werde ihn suchen und gebe ihm den Rest“, sagte Vincent, während er seinen Helm wieder aufsetzte und sich dem Tor zuwandte. Nach einer kurzen Modifikation sah er die Blutspur aufleuchten. Die Scanner seines Visiers erkannten das spezielle Charakteristikum von Blut und setzten entsprechende Markierungen, die er über seine Netzhautprojektoren eingespielt bekam.
Kilian wägte kurz ihre Optionen ab. Vorrangig bestand ihr Ziel erst mal darin, ein Reparaturset mittels eines Fangnetzes aus dem jenseitigen Raum abzufangen. Andererseits sollten sie sich derweil noch so viele Fakten wie möglich über diese Welt sichern. Er kam zu dem Schluss, dass sie diese Ziele schneller erreichen konnten, wenn sie sich trennen würden.
Zeit, so erkannte er, war einer ihre ärgsten Gegner. Zeit kostet Geld. Jeder weitere Tag, an dem die Experimente seiner Firma stillstanden, belastete das Budget um Unsummen. Mit jedem Tag, den sie hier verbrachten, sanken somit ihre Chancen auf Rückkehr. So ungerecht das Schicksal dieser Menschen auch sein mag, so war es nicht ihr Problem. Sie hatten ein paar Wenige gerettet, das Schicksal eines Volkes konnten sie damit aber nicht ändern. Doch zumindest sollten sie zu Ende bringen, was sie hier angefangen hatten. Ihr Einsatz wäre sonst völlig zwecklos gewesen. Wenigstens diese Dorfbewohner sollten davonkommen.
„Ok, Vincent. Hör zu“, sagte Kilian, nachdem er sicherging, dass das Gespräch nur über die Helmkom zu hören war. „Wir müssen anfangen, uns wieder unseren eigenen Angelegenheiten zu widmen. Ich bin dafür, diesen Leuten noch eine sichere Abreise zu gewährleisten. Danach werde ich allein zum Schiff zurückkehren, um die Fangnetze vorzubereiten. Du wirst inzwischen in die Hauptstadt von Nevkoria gehen und so viel wie möglich über diese Gesellschaftsstruktur herausfinden. Jetzt aber solltest du wirklich versuchen, Pagloth zu finden und zu neutralisieren, bevor er wirklich noch seinem Prinzen Bericht erstatten kann. Ich habe geschlampt und das müssen wir ausbügeln.“ Wieder für alle hörbar sagte er: „Geh und finde ihn. Ich bleibe inzwischen hier und helfe, die Gefallenen zu bestatten.“
„Bestätige.“
Mit gezücktem Schwert folgte er der Blutspur. Sie führte leicht in Richtung des Waldweges, auf dem schon die letzten beiden Flüchtlinge ihr Ende fanden. Nach einer Weile wurde er jedoch in den Wald geleitet, leicht abschüssiges Gelände. Den Spuren im Schnee nach musste der General gestürzt sein. Und an einem Baum, der diesen Sturz wohl abgefangen hatte, offenbarte sich ihm noch eine weitere Spur.
Jagdgebiet
Wenige Minuten zuvor kämpfte sich eine zerrupfte Gestalt, mühsam auf den Beinen haltend, durchs Gelände. Alle seine Sinne konzentrierten sich, der süßen Sinnesschwindung zu entsagen. Leicht rasselnder Atem zeugte von einem perforierten Lungenflügel. Schmerz ist irrelevant, rief er sich die Dogmen aus dem Ausbildungslager seiner Jugend zurück. Wankend bewegte er sich zum Waldrand und schritt in die Dunkelheit. Plötzlich verlor er seinen Stand. Er blieb mit dem Fuß an einer Wurzel hängen und fiel; rollte sich instinktiv ab. Er purzelte unkontrolliert den Hang hinunter und prallte mit dem Rücken an einen Baumstamm. Die Luft wurde ihm mit dem Geschmack seines eigenen Blutes aus der Lunge gedrückt und in den ersten Sekunden glaubte er, nicht mehr einatmen zu können. Die Ohnmacht kam wieder näher. Doch er musste weitermachen. Er musste zum Lager kommen. Er musste seinem Prinzen von der neuen Bedrohung berichten. Er durfte noch nicht sterben. Er gönnte sich noch einige Sekunden Ruhe, bevor er sich wieder langsam aufrichtete. Das Atmen fiel ihm schwer und seine Wahrnehmung schien nur noch aus Schmerz zu bestehen.
Doch da war noch etwas Anderes, das den Rand seiner Aufmerksamkeit durchdrang. Er spürte, dass er verfolgt wurde. Pagloth war nun so leise wie möglich und lauschte in die Finsternis.
Da war es wieder. Ein Schnauben. Und das Geräusch von Krallen, die sich vorsichtig in seine Richtung bewegten. Ein weiterer Jäger hatte Witterung aufgenommen und er wusste, dass dieser noch tödlicher als der Erste war. Langsam langte er nach den Verschlüssen seines Brustpanzers. Es war jetzt sehr gefährlich, sich zu bewegen oder Geräusche zu riskieren. Doch sehr viel gefährlicher war es, der Witterung der Bestie Blut zu bieten. Und momentan musste all das Blut, das ihn bedeckte, wie ein Leuchtfeuer für sie wirken. Er umklammerte den Schnappverschluss mit der ganzen Hand, um das Klicken zu verhindern. Als er vorsichtig seinen Harnisch ablegte, konnte er gerade noch einen erneuten Ohnmachtsanfall niederringen, den der entsetzliche Schmerz, der ihn durchströmte, erzeugte. Nur die Ausbildung, die er genoss, bewahrte ihn davor. Sofort entkleidete er seinen Oberkörper und legte einen behelfsmäßigen Druckverband aus dem Stoff seines Umhangs auf die Wunde. Mit zitternden Händen griff er in den Schnee und rieb sich damit ein. Jetzt konnte er nur noch hoffen, dass die notdürftige Reinigung genug Blut entfernt hatte, um den Thyratron zu täuschen. Noch war der Wind auf seiner Seite; der Seite der Bestie. Hätte sie das Blut bereits gerochen, er wäre längst tot. Rennen, so wusste er, wäre jetzt das Falscheste, was er machen konnte. Abgesehen davon, dass er dazu nicht mehr in der Lage war, würde er niemals entkommen können. Und die Geräusche einer Flucht durch den Wald würden ihm sofort die volle Aufmerksamkeit dieser Kreatur einbringen, die von der Evolution zum Töten geschaffen worden war. So leise wie möglich hüllte er sich in seinen Umhang und entfernte sich langsam. Vorher nagelte er die Frontpartie seines Panzers mit seinem Dolch an einen Baumstamm. Sein blutnasses Hemd hing er darüber. Jetzt kam es auf jede Sekunde an. Wenn er kein geeignetes Versteck fand, würde er zerfetzt werden. Seine Füße gaben fast nach, als er das gierige Röhren vernahm. Es war schon näher, als er dachte, und musste langsam Menschenfleisch wittern. Das Schnauben, nachdem es den Geruch tief eingesogen hatte, bereitete ihm eine Gänsehaut. Behutsam, Schritt für Schritt auf den Untergrund und die Windrichtung achtend, schleppte er sich tiefer in den Wald. Plötzlich konnte er noch ein weiteres Geräusch aus einer anderen Richtung wahrnehmen. Ein Ast zerbrach. Sein ureigenes hämisches Grinsen verzog seine Mundwinkel. Das konnte nur sein anderer Verfolger sein. Und wenn er Glück hatte, würde sich die Bestie zuerst um ihn kümmern.
Vincent blieb stehen, lauschte und verfluchte sich selbst, dass er den Ast, auf den er trat, nicht bemerkt hatte. Er begann langsam, den Instrumenten der Drohne zu misstrauen. Diese lieferten ihm ein eindeutiges Wärmesignal aus der Richtung der Blutspuren. Trotzdem hatte er das beklemmende Gefühl, dass sich im Unterholz noch etwas anderes befand. Etwas, das ihn beobachtete. Ein leises Quietschen, als wenn etwas Spitzes über Metall strich, trug sich ihm zu. Angestrengt blinzelnd versuchte er, etwas zu erkennen. Auch die Wärmesensoren seiner Helmvision lieferten ihm keinen besseren Blick. Als würde ein Geist die Geräusche verursachen. Doch er war sich jetzt sicher, dass im Unterholz etwas lauerte, und es fühlte sich nicht freundlich an. Vorerst ließ er von der Verfolgung des Generals ab und gestattete seinem Ki, ihn zu durchfluten. Seine schärfer werdenden Sinne konzentrierten sich auf diese neue Bedrohung. Langsam hob er sein Schwert und zwang die Energie in die Schneide, die dies mit leicht rötlichem Aufglimmen bestätigte. Die Klinge besaß nun eine Schärfe, die mit konventionellen Mitteln nicht erreicht werden konnte. Ein geübter Ki-Kendoka konnte so selbst Stein schneiden.
Ein Rascheln und Knacken ertönte, als das Ungetüm sich offenbarte. Mit anmutigen Bewegungen schritt es aus dem Gebüsch. Die unter schuppiger dunkelblauer Haut hervortretende Muskulatur seiner krallenbewehrten Pranken glänzten im Licht der Sterne. Die Szene erschien Vincent so irreal, dass ihm kurz die Luft wegblieb. Wenige Meter vor ihm stand eine Kreatur von unbekannter Bösartigkeit und sie starrte ihn direkt in die Augen.
Ein markdurchdringendes Brüllen zerriss die Stille des Waldes. Und nun wusste er auch, dass sie ihm fast schon einmal begegnet waren. In der Ebene vor dem Wald. Sie hatten es nicht lokalisieren können, doch er war sicher, dass er es schon einmal vernommen hatte.
Klauen, schwärzer als die Nacht selbst, bahnten sich ihren Weg zu ihm. Nur ab und an ließ sich deren enorme Größe durch die schwachen Reflexionen des Mondes abschätzen.
Der Thyratron richtete sich nun in seiner vollen Größe auf und überragte ihn so um zwei Kopflängen. Mit gefletschten Zähnen, ebenso schwarz wie seine Krallen, schnupperte es und war leicht irritiert, wie wenig ihm sein Geruchssinn über seine Beute verriet. Die Vollpanzerung seines Anzuges war raumtauglich und somit komplett luftdicht, wenn er den Helm anhatte. Einen Moment standen sie sich noch abschätzend gegenüber, bevor die Kreatur von seinen Instinkten übermannt wurde und angriff.
Auf dieser Welt hatte es keine natürlichen Feinde. Erfahrungsgemäß stellte ein einzelner Mensch auch keine Gefahr für es da. Mit einem Sprung, dessen Geschwindigkeit selbst den kampferprobten Vincent überraschte, katapultierte es sich, einem fliegenden Hexler gleich, nach vorn, um ihn auf der Stelle zu zerfleischen. In letzter Sekunde konnte sich Vincent mit einer Rolle retten und kam sofort wieder auf die Füße. Er sprang zurück und schlug gleichzeitig mit dem Schwert gegen den knöchernen Plattenpanzer, der den Rücken des Viehs über und über bedeckte. Doch zu seiner Verwunderung richtete der Streich nur wenig Schaden an. Einige Hornsplitter brachen aus und hinterließen eine geringfügig tiefe Kerbe im Schultersegment. Wieder wurde er fast von den Pranken erfasst. Wieder entging er ihnen nur mit knapper Not. Er beschloss, etwas defensiver vorzugehen, und wich zurück. Er wusste, dass Weglaufen angesichts der Geschwindigkeit dieses Wesens zwecklos war. Zwar besaß es eine enorm harte Panzerung, die wohl einiges an Gewicht aufbrachte, trotzdem war es ungewöhnlich agil. Von oben erinnerte es ihn in seiner Form etwas an eine Assel mit einem langen platten Schwanz, dessen Segmente zu beiden Seiten scharfe Kanten bildeten und somit eine weitere tödliche Waffe darstellte. Es fing an, komplett in seiner Raserei aufzugehen, wirbelte herum und schlug wieder und wieder, seinen Schwanz wie eine Peitsche einsetzend, auf ihn ein. Mit einem Hechtsprung zwischen zwei eng aneinander liegenden Baumstämmen landete Vincent auf einer Moosfläche. Wallartig umgab sie ein Holzgeflecht, das kurzzeitigen Schutz versprach. Er stand auf, steckte sein Schwert zurück und zog seine Pistole. Hektisch wählte er die stärkste panzerbrechende Munition, die sie besaß. Keine Sekunde zu früh riss er die Waffe hoch und feuerte auf den Thyratron, der bereits dabei war, mit wuchtigen Schlägen das Holz zu zertrümmern. Ein Volltreffer. Das Vollmantelprojektil traf unterhalb des Kopfes auf und riss einen Teil seines Halsschutzes mit sich. Der schrille Schmerzensschrei, der folgte, ließ ihn kurz zusammenzucken. Zwei weitere Schüsse in schneller Folge ließen den Nackenpanzer endgültig zerbersten. Jetzt hatte er eine verwundbare Stelle geschaffen. Eine Stelle, die sein Schwert schneiden konnte. Doch trotzdem durfte er nicht unvorsichtig werden. Noch immer schlug das Ungetüm mit verbittertem Ingrimm um sich. Ein gewaltiger Schwanzhieb fällte den jungen Baum, der noch zwischen ihnen stand, und beraubte ihn seines Schutzes. Mit geschlossenen Augen zog Vincent sein Schwert erneut und erfüllte es mit neuer Kraft. In einem Moment höchster Konzentration verlangsamte sich sein subjektives Zeitempfinden. In diesem Moment war er mit sich im Reinen. Die Erwartung des Todes konnte ihn nicht mehr schrecken. Er ließ sich nur von seinem konditionierten Instinkt leiten und übergab ihm sein Handeln. Er hob sein rot glimmendes Schwert in die Höhe und erwartete den perfekten Zeitpunkt.
Wie in Zeitlupe kam ihm das mit schwarzen Reißern gespickte Maul entgegen. Vincent drehte sich um seine eigene Achse weg, touchierte mit dem Rücken den Kiefer und ließ die Klinge mit aller Kraft hinuntersausen. Das gesamte Ki, das er aufbringen konnte, entlud sich explosionsartig wie ein Blitzeinschlag in diesem Hieb. Verfehlen bedeutet sterben.
Leblos sank der riesenhafte Körper in sich zusammen. Der Kopf der Bestie rollte polternd über den Waldboden und blieb mit einem bizarren Gesichtsausdruck vor ihm liegen, der Wut und Verwunderung zugleich ausdrückte. Dunkles, violettes Blut färbte den Waldboden und sprenkelte die Büsche. Erst jetzt öffnete Vincent seine Augen wieder.
Nach dem finalen Hieb noch immer auf den Knien verweilte er mit gestrecktem Schwert noch einige Sekunden, bevor er seine Sinne wieder sammeln und aufstehen konnte.
Schockiert beobachtete General Pagloth das Geschehen aus seinem Versteck in dem verlassenen Bau irgendeines Tieres, in den er mit letzter Kraft gekrochen war. Ein einzelner Mann hatte einen Thyratron zur Strecke gebracht! Das war eine Leistung, die ihn zugleich mit Bewunderung und Furcht erfüllte. Er war sich sicher gewesen, dass sein Verfolger diese Konfrontation nicht überleben würde. Und jetzt war er nicht nur davongekommen, er hatte es sogar erschlagen. Aber er hatte auch dieses feuerspeiende Gerät, das er zuvor schon im Einsatz gegen seine Gefolgschaft hatte erleben müssen. Es war eine mächtige, grauenvolle Waffe. Eine Waffe, deren Herkunft nur göttlichen Ursprungs sein konnte. Doch wie war das möglich? Wie kam er nur an ein Landryanisches Artefakt? Liegt der Ursprung dieser fremden Krieger vielleicht in Landrya selbst?
Seine letzten Gedanken galten den alten Mythen und Legenden der Götterschaft, die über die Schicksale der Menschheit wachten. Und dem Sitz der in Ungnade gefallenen Götter, die ihre Verbannung auf Erden verbringen mussten. In Landrya – jenem Kontinent, den kein Mensch mehr betreten hatte seit der Machtübernahme der Kallicors. Damals erlagen einige dieser Exilanten den Reizen menschlicher Frauen und ließen sich mit ihnen ein. Die Nachkommenschaft aus diesen Verbindungen begründete seine hohe Kultur. Halbgötter mit Fähigkeiten, die im Laufe der Geschichte verloren gingen. Denn sie trugen Hass in sich und befehdeten sich auf der Suche nach Macht. Große Kriege waren das Ergebnis. Die Götter, verbittert über die Streitsucht ihrer Kinder, verstießen sie und verwehrten ihnen seitdem den Zugang in ihr Land. Auf sich alleine gestellt stand die Menschheit kurz vor dem Untergang, wäre nicht ein großer Führer unter ihnen hervorgegangen – Magnus Kallicor. Der Sohn des Vorras, dem Gott der Inspiration und des Fortschritts. Er war es, der die achtzehn Reiche vereinte und unter sein Schwert zwang. Er schuf eine Dynastie, die bis in die heutige Zeit reichte und mit dem Segen der Götter bis in alle Ewigkeiten herrschen sollte. Und er – General Trogan Pagloth – hatte die Ehre, diesem Hause zu dienen. Er hatte geschworen, alles Unheil vom Herrscher abzuwenden und seine Ziele mit seinem Leben zu verteidigen.
Nun saß er geschlagen in einem Erdloch. Frierend, blutend und sich kläglich vor seinem Häscher versteckend. Das durfte noch nicht sein Ende sein. Der Prinz musste von dem Auftreten dieser Dämonen informiert werden. Erst dann konnte er sich erlauben, mit seinem Tod aus den Diensten seines Herrn zu treten.
Trotzdem gelang es ihm nicht, der Ohnmacht zu entgehen, die ihn in ihre schwarze Tiefe zog, obwohl er bis zuletzt dagegen ankämpfte.
Kilian stand schweigend vor dem brennenden Scheiterhaufen. Die Nacht war vollkommen hereingebrochen und das Licht des Feuers ließ kleine Schatten über sein ernstes Gesicht tanzen. Beunruhigende Gedanken bestimmten seine analytische Situationseinschätzung, während der Rauch knisternd in den Himmel wallte. Verkrampft wirkende Leiber, von denen fast nur noch Knochen übrig blieben, schienen ihn anzusehen und ihren Schmerz in stummen Schreien hinauszurufen. Auch einige Dorfbewohner wohnten der Zeremonie bei. Weinend, wimmernd oder stumm. Eine beängstigende, drückende Stimmung lag in der Luft. Jeder wusste, dass ein Verweilen an diesem Ort nichts Gutes bringen konnte. Und jede Verzögerung würde sie ihrem eigenen Ende näher bringen. Die Befürchtung, diesen Menschen durch ihr Einschreiten mehr Kummer zu bereiten, als sie verhindern konnten, drängte sich Kilian auf. Jetzt, da sie sie ihrem eigenen Schicksal überlassen mussten und sich ihre Wege trennen würden. War dieses Schicksal die bessere Alternative? Er wusste es nicht. Ja – sie hatten einige Leben gerettet. Aber nun waren sie völlig aus ihrem jetzigen Alltag gerissen – ein normales Weiterleben an diesem Fleck unmöglich. Würden sie woanders wohl ein Besseres finden? – in Verbannung – oder würden sie nun endgültig alle zugrunde gehen.
Doch die bewundernden Blicke der jungen Männer und der unterschwellige Optimismus, den sie verbreiteten, machte ihm Hoffnung. Es war, als hätten manche diese kleine Revolution, an der sie nun teilhaben konnten, geradezu herbeigesehnt. Ja – es steckte Kampfgeist in diesen Männern und Frauen. Und das erste Mal würden sie die Chance haben, sich der Ohnmacht der Unterdrückung widersetzen zu können. Auch wenn diese Chance erst mal darin bestand, sich dieser Ohnmacht durch einfache Flucht zu entziehen.
Ein Raunen, das durch die Menge ging, verlangte Kilians Aufmerksamkeit. Er drehte sich in die Blickrichtung der anderen und sah Vincent, der gerade aus dem Wald ins matte Licht der Feuerstelle trat. In der einen Hand hatte er den golden-rot glänzenden Harnisch des Generals, in der anderen einen dunklen nass triefenden Klumpen. Als er näherkam, hob er ihn in die Höhe und sagte mit einem müden Grinsen im Gesicht:
„Seht, was ich gefangen hab! Ist es nicht putzig? Das zweite Ungeheuer, das wir erlegt haben, war tatsächlich etwas furchterregender als das erste.“ Im Schein der Flammen erkannte Kilian den großen blau geschuppten Schädel einer widerlich anmutenden Kreatur, deren schwarzes, scharfes Gebiss grinsend in seine Richtung blickte. Aufgeregt näherten sich einige der mutigeren jungen Männer, um den Schädel zu begutachten, den Vincent auf den Boden warf.
„Er hat einen Thyratron getötet!“, verlautete einer von ihnen.
„Ich werd verrückt – er hat ihn ganz alleine erlegt“, ein Weiterer. Voller Ehrfurcht berührten einige von ihnen den Kopf der Bestie. Immer mehr von ihnen versammelten sich, um ihn zu betrachten. Auch Kilian sah ihn sich genauer an. Über die Helmkom sprach er abgeschottet vor den Ohren der Anderen:
„Wie konnte ein so großes Wesen unbemerkt in unseren Sicherheitsbereich eindringen? Wieso haben es die Drohnen nicht bemerkt?“
„Es ist ein Kaltblüter. Die Drohnen haben es nicht bemerkt, weil es kaum Körpertemperatur hat. Ich glaube, es versteckte sich im Schnee. Dadurch war es für unsere Wärmescans kaum, bis gar nicht sichtbar. Es hat mich fast das Leben gekostet. Selbst als ich ihm direkt gegenüberstand, konnten mir die Drohnen keinen Feuerschutz geben. Ich musste es ganz alleine fertigmachen. Wir müssen uns auf diese neue Bedrohung einstellen. Es war wirklich ein zäher Kampf, aber wenigstens hat es diesen General wohl als Erstes erwischt. Und wenn nicht, wird er eben im Wald erfrieren. Das war die letzte Spur, die ich von ihm fand“, sagte Vincent und hielt seinen anderen Arm mit der Rüstung hoch, in der immer noch das Messer steckte. Kilian nahm ihm den Harnisch ab und hielt ihn ins Licht. Die Fütterung unter dem geschmiedeten Äußeren fiel ihm auf. Da waren Textilien und Schock absorbierende Materialien verwebt, die unmöglich von dieser Welt stammen konnten. Er erkannte eine Fabrikation, die darauf ausgelegt war, extremen Kampfeinwirkungen zu widerstehen. Pech für den Träger, dass der Dolch genau die Naht getroffen hatte, die zwei schusssichere Panzerplatten aus Spezialkunststoff miteinander verband. Für den darüber liegenden Stoff, der Stiche eigentlich hätte stoppen sollen, war die Klinge zu spitz und schnell gewesen. Das Versagen dieses hightech Körperschutzes, so erkannte Kilian, hatte wesentlich mit dem Alter der Materialien zu tun. Es mussten Hunderte von Jahren seit seiner Herstellung vergangen sein. Es zeigte Anzeichen von Zersetzung, an einigen Stellen war es porös und zerfiel, wenn man es zwischen Zeigefinger und Daumen rieb. Dort wo das Gewebe bereits löchrig geworden war, hatte man es mit dünnmaschigem Kettenhemdvlies geflickt. Selbst dieses war schon alt und rostig.
„Hast du dir den Harnisch schon genauer angesehen, Vincent? Da ist eine schusssichere Kampfweste unter dem Metallpanzer. Zwar nicht mehr das neueste Modell, aber ich glaube nicht, dass diese mittelalterlichen Menschen so was herstellen können.“ Vincent, der umringt war von den Jungs, die unbedingt die Geschichte hören wollten, wie er das Monster erschlagen hatte, löste sich von der Meute und betrachtete das Ding, das Kilian ihm entgegenhielt. „Tatsächlich. Verrückt ... wie kommt das denn da hin? Meinst du, wir sind nicht die Ersten aus unserer Welt, die hier gestrandet sind?“
„Wenn ja – und danach sieht es aus, muss es wohl einige Hundert Jahre her sein.“
„Hmm... einige Hundert Jahre ...“, sagte Vincent nachdenklich.
„Die haben es wohl auch nicht zurückgeschafft, wie? Verdammt. Eines Tages wird man bestimmt auch unsere verrosteten Helme hier finden. Und man wird sich wie wir darüber wundern und irgendwelche Theorien aufstellen ...“
„Ja, die Sache wird immer rätselhafter. Ich werde es dem Alten zeigen. Vielleicht kann er etwas darüber sagen. Aber jetzt sollten wir wirklich aufbrechen. Das Risiko wird immer größer, je länger wir hierbleiben. Die Leute sind auch schon abreisebereit. Und übrigens: Die Drohne hat einen Truppenverband in der Stärke von mindestens fünfzigtausend Mann entdeckt. Berittene Kavallerie und Fußsoldaten, die in östlicher Richtung etwa sechs Kilometer von hier lagern. Noch tut sich nichts, aber wenn wir nicht bald verschwinden, werden wir in ernsthafte Schwierigkeiten geraten. Ich werde die Dorfbewohner noch etwas begleiten. Dir haben sie ein Pferd zur Verfügung gestellt. Nachdem wir unser Lager abgebrochen haben, will ich, dass du dir die Hauptstadt näher ansiehst. Alles, was ungewöhnlich ist, wird dokumentiert. Am besten wäre es natürlich, wenn du was über die Historie dieses Planeten erfährst. Suche also nach Bibliotheken, Geschichtenerzählern und so weiter. Wenn nötig, lade irgendwelche alten Leute zu einem Bier, oder was auch immer man hier trinkt, ein, bis sie dir ihre Lebensgeschichte erzählen ... dir wird schon was einfallen. Und noch was: Fang keinen Ärger an. Davon haben wir schon reichlich. Lass dich nicht provozieren und rette keine Jungfrauen vor dem Drachen und Ähnliches ... Sei unauffällig und gib dich als Reisender aus einem fernen Land aus oder so.“
„Ja, ja hab verstanden“, sagte Vincent, der den Tadel als unnötig empfand, leicht gereizt. „Seh du nur zu, dass du das mit dem Fangnetz richtig hinbekommst. Das ist momentan das Wichtigste. Ich hab keine Lust darauf, hier zu verrotten.“
„Na dann los – verschwinden wir von hier“, sagte Kilian nun wieder für alle hörbar.
Der Marsch des Wagentrosses erwies sich als schwieriger, als Kilian gedacht hatte. Immer wieder blieb ein Wagen im tiefen Schnee stecken, der die Ebene bedeckte, und musste freigeschaufelt werden. Die Ochsen schnaubten dicke angestrengte Wolken in die kalte Nachtluft. Obwohl sie schon fast zwei Stunden unterwegs waren, hatten sie sich noch nicht allzu weit vom Dorf entfernt. Auch im Militärlager hatte sich etwas getan. Die Drohne, die immer noch darüber kreiste, meldete eine Reiterabteilung von über einhundert Mann, die aufgebrochen war, um den Grund für das Ausbleiben von Pagloths Soldaten zu erkunden. Bald schon würden sie das Dorf erreichen und ihre toten Kameraden entdecken. Höchstwahrscheinlich werden sie dann die Verfolgung aufnehmen. Sie würden sie bald eingeholt haben. Denn trotz der Dunkelheit, die sie barg, waren die Spuren, die sie hinterließen, kaum zu übersehen. Wenn es zum Äußersten kam, würde Kilian die Drohne einsetzen müssen, die momentan über der Reiterschaft schwebte. Auch wenn er ihren Einsatz bis zuletzt zu vermeiden suchte. Kilian schritt neben dem Wagen des Dorfältesten her, um mehr über die Herkunft der modernen Technik herauszufinden, die der Harnisch des Generals offenbart hatte. Doch die Antworten, die er bekam, stellten ihn nicht zufrieden. Der Alte faselte von Legenden eines Kultes, demnach dieses Artefakt nur göttlichen Ursprungs sein konnte. Als Untergebener der Kallicors würde der General Zugang zu wunderlichen Waffen und Ausrüstungen haben, die direkt von dem Sitz der Götter auf Erden stammten. Landrya, Landrya ...
Landrya – jener mysteriöse Ort, von dem das Haus des Kaisers seine Macht bezog. Eine Macht, die früher zum Wohle des Volkes eingesetzt worden war, heute jedoch nur noch den eitlen Zwecken des Herrschers selbst diente. In den großen Kriegen der vergangenen Tage setzte der erste amtliche Gottkaiser noch viel furchterregendere Waffen ein. Große Geschütze auf riesigen Wägen, die Feuer und Verderben auf seine Feinde spuckten. Selbst die dicksten Festungsmauern konnten diesem Beschuss nicht lange standhalten. Nach und nach gelang es Magnus Kallicor damals, alle seine Widersacher zu besiegen und seine Dynastie zu gründen. Unter seiner eisernen Oberherrschaft wurde sein Land von daher von achtzehn Königen regiert, die ihm ewige Treue schwören mussten. Dieser Schwur musste von jedem neu geleistet werden, der das Erbe des Vorgängers antrat. Noch heute war dies ein fest etabliertes Ritual, dem man sich nicht entziehen konnte, wollte man nicht vernichtet werden.
Kilian begegnete diesen Erzählungen aus grauer Vorzeit jedoch mit erheblicher Skepsis. Geschichte wurde immer von den Siegermächten geschrieben. Und Menschen neigen stets dazu das, was sie nicht verstehen, mit dem Übernatürlichen zu interpretieren. Götter – pha!
Seit jeher rechtfertigen die Menschen ihre grausamen Taten mit dem Willen der Götter. Es ist ein wirkungsvolles Mittel, den Feind zu dämonisieren. Ein gutes Mittel, das Mitgefühl zu seinen Artgenossen auszuschalten.
Endlich erreichte Vincent auf seiner Reise so etwas wie eine einigermaßen befestigte Straße und konnte mehr Geschwindigkeit aufnehmen. Tagsüber waren hier sicher Wägen oder manch ein Wanderer unterwegs, denn der Schnee war hier durch ihre Spuren nicht sehr hoch. Während er sich noch in bewaldetem Gebiet befand, wagte er es nicht, allzu schnell zu reiten, da er den Weg trotz des klaren Sternenlichtes nicht richtig erkennen konnte. Außerdem war er noch nie geritten und hatte einen Heiden Respekt vor seinem Reittier. Seine Wirbelsäule fing an zu schmerzen und er hatte Angst zu stürzen. Doch allmählich begann er, den Dreh herauszubekommen. Seitdem er im selben Takt mit den Bewegungen des Pferdes wippte, gestaltete sich der Ritt etwas komfortabler. Und wie er vermutete, nicht nur für ihn. Langsam traute er sich mehr zu und ließ das Tier in einen schnelleren Tritt übergehen. Weit und breit war nichts außer Feldern und einzelnen Bäumen zu sehen. Sein Satellit, der über ihm wachte, leistete die einzige Gesellschaft. Er wusste, er würde bald auf die ersten Vorsiedlungen der Hauptstadt stoßen. Er ließ sich die Luftbilder des Straßennetzes auf seine Netzhaut projizieren und überlegte, welchen Teil er sich zuerst ansehen wollte. Er bezweifelte, dass um diese Zeit recht viele Menschen unterwegs sein werden, und beschloss, sich erst einmal eine gemütliche Taverne zu suchen. Nur wie er seine Zeche bezahlen sollte, wusste er nicht. Eine Nacht in einer Herberge reizte unendlich. Endlich mal wieder in einem richtigen Bett schlafen und ein richtiges Bad nehmen. Ein Bad nehmen! Dieser Gedanke versetzte ihn in Verzückung. In seinen vielen Tagen in der Pflicht des Konzerns war jeder Tropfen Wasser, wurde er nicht getrunken, purer Luxus. Auf dieser Welt war das anders. Wasserknappheit war unbekannt. Vielleicht konnte er irgendwas in seinem Gepäck zu Geld machen – den Dolch des Generals vielleicht. Es war schließlich ein edles Stück von hochwertiger Fertigung. Mit goldenen Ziselierungen und einem roten Edelstein am Griffende. Konnte er halt kein Souvenir mitbringen. Zumindest hatte er immer noch den Kopf des Thyratrons, den er sich an die Wand hängen konnte ...
Die Stadtmauer, die nun langsam in Sicht kam, war beeindruckend gewaltig. Er sah sie zwar schon lange vorher über die Kameras der Drohne, trotzdem war er überwältigt. Riesige Granitblöcke aus dem Stein des Berges, vor dessen Fuß die Stadt errichtet war, wuchsen an die zwanzig Meter in die Höhe. In regelmäßigen Abständen ragten mächtige Wachtürme aus ihr hervor, aus denen man das Hinterland kilometerweit überblicken mochte. Ein Überraschungsangriff war hier wohl ausgeschlossen. Er fragte sich, ob es überhaupt möglich war, einen sinnvollen Angriff zu unternehmen. Selbst die gesamte persische Armee der Antike hätte sich an diesem Bollwerk die Zähne ausgebissen. Übertroffen wurde der Wall nur von der Burg, die sich stolz an den Hang schmiegte und hoch über der Stadt thronte. Das Ausmaß dieser Anlage war gigantisch. Selbst ohne den Schutz der Stadtmauer schien sie uneinnehmbar. Sie musste Platz für Tausende Menschen bieten.
Mit ihren vielen spitzen Türmen, Brücken und unzähligen Zinnen wirkte sie gleichzeitig filigran und massiv. Verspielte Brücken mit marmornen Balustraden spannten ein Netz aus poetischer Architektur. Trotz ihrer vielen zarten Elemente war die Festung unverkennbar darauf ausgelegt, maximalen Widerstand zu leisten. Auch noch so viele Männer und Kriegsgerät würden ihr nicht zu Leibe rücken können, denn der einzige Zugang, den er erkennen konnte, war über eine einzige schmale, in den Stein gemeißelte Straße erreichbar. Kühnes Mauerwerk überbrückte Felsen und tiefe Felsspalten. Am Ende musste man eine Zugbrücke überqueren, die das letzte Stück über eine Spalte verband, die fast wieder auf Stadtniveau endete. Es sah fast so aus, als wäre die Burg als weitere Bergspitze aus dem Felsen gewachsen. Dies war also der Sitz des amtierenden Königs von Nevkoria. Wie musste dann erst der Kaiser residieren?, fragte sich Vincent, während er sich dem Stadttor näherte. Die Straßen waren breiter geworden und der Schnee wich gefrorenem Schlamm mit den Spuren Hunderter Stiefel, Hufen und Wagenräder. Sternförmig verloren sie sich alle aus Richtung des großen Südtores. Zweifel kamen in ihm auf. Hoffentlich ging sein Plan auf, mit dem er das Tor zu passieren gedachte. Um diese Zeit, das wusste er, musste es geschlossen und schwer bewacht sein. Seine Robe hatte er ausgezogen und trug sie, die Ärmel um seinen Hals gebunden, als Umhang. Sein Firmenlogo auf seiner Brust sollte zur Geltung kommen. Den Helm hatte er in seiner Satteltasche verstaut, in der auch seine Pistole lag. Er konnte nur hoffen, dass sie ihn nicht durchsuchen würden. Er wurde langsamer, als er das große eisenbeschlagene Tor aus massiver Eiche erreichte. In der Mitte prangte das Wappen des Königshauses Vandakar, zwei sich spiegelnde Widder auf den Hinterläufen, die sich gegenseitig angriffen. Die Wachen auf der Mauer über der Pforte hatten ihn schon länger bemerkt und blickten ihm aufmerksam entgegen. Einer von ihnen steckte einen Stab mit einer Öllampe darauf durch die Zinnen. Das Licht sorgte für eine bessere Sicht für die Soldaten und für eine schlechtere für Vincent. Er hob seine Hand vor die Augen, um nicht geblendet zu werden, und stand nun vor dem Einlass der Stadt Caska.
„Hey du. Wer bist du und was willst du hier mitten in der Nacht? Du musst doch wissen, dass um diese Stunde kein Einlass ist“, hörte Vincent von oben rufen.
„Auch nicht für einen Gesandten des Prinzen von Kallicor? Man schickt mich, um zu prüfen, ob alle Vorbereitungen getroffen sind. In diesem Moment lagert mein Herr keinen halben Tagesritt von hier entfernt und ruht sich aus für den morgigen Tag, welcher sicherlich denkwürdig und großartig sein wird – um das zu garantieren, bin ich hier. Und weil mein Herr so viel an eurem Wohlbefinden liegt, trug man mir auf, euch zu warnen. Wir sind auf Hinweise gestoßen, dass es hier Rebellenaktivitäten gibt“, gab Vincent zurück und versuchte dabei, möglichst offiziell zu klingen. Er neigte sich etwas zurück, um ihnen einen besseren Blick auf seine Brust zu ermöglichen. Die Lampe sank etwas tiefer. Er konnte die Soldaten tuscheln hören. Einer von ihnen rief:
„Warum schickt der Prinz nur einen einzelnen Mann? Das sieht ihm nicht ähnlich.“
„Warum sollte der Prinz mehr schicken? Für diese Angelegenheit reicht auch ein Einzelner. Und es heißt doch auch, dass Caska ein sicherer Ort sei, für dessen Schutz wohl gesorgt ist durch die tapferen Soldaten der Vandakar. Auch respektiert der Prinz die Souveränität des nevkorischen Volkes. Er möchte euch nicht dazu nötigen, mitten in der Nacht einen ganzen Truppenverband in eure Stadt hineinzulassen. Er weiß, dass das ungewöhnlich ist. Wenn ihr wollt, warte ich, bis ihr die Entscheidung mit euren Vorgesetzten besprochen habt.“ Es dauerte noch eine Weile, dann knarrte es am Tor und Scharniere kreischten, während die Türflügel langsam nach innen aufschwangen. Vier Soldaten mit langen Spießen empfingen ihn.
„Es wird nicht nötig sein, unsere Vorgesetzten wegen dieser Sache aufzuwecken.“ Vincent trabte langsam durch die Öffnung in der meterdicken Mauer auf die Männer zu.
„Ihr seid ein guter Diplomat. Prinz Miroba bemüht sich sonst selten solch vorsichtiger Worte“, sagte der vorderste Soldat, der hier wohl das Sagen hatte. Ein leicht untersetzter Mann in den Vierzigern, mit langen schwarzen Haaren, die er zu einem Zopf geflochten nach hinten unter seinem Helm trug. Erste graue Strähnen und Falten um seine Augen zeugten von den vielen Dienstjahren, von deren Erfahrung seine jüngeren Untergebenen sicherlich profitierten. Seine drei anderen jungen Begleiter, die den gleichen blauen Rock anhatten, die gleiche Haartracht trugen, zollten ihm sichtlich Respekt.
„Wir lassen Euch gewähren. Aber was meint Ihr mit Rebellenaktivitäten?“ Vincent stieg von seinem Pferd und sah dem Wortführer in die Augen.
„Na ja, ich war nicht dabei, aber es heißt, einer unserer Offiziere sei bei einem Inspektionsritt überfallen worden, als er ein Dorf besichtigen wollte. Keiner seiner Soldaten hat diesen Angriff überlebt.“
„Securras?“, fragte einer der jungen Soldaten.
„Vermutlich“, antwortete Vincent. „Jedenfalls will mein Prinz, dass Ihr von diesem Vorfall unterrichtet und wachsam seid.“ Der Kommandant der Wache bedachte den Soldaten mit einem kurzen Blick, der ihm bedeutete, ruhig zu sein.
„Es bedarf keiner Warnungen wie dieser. Wir sind immer vorbereitet. Schließlich kommen wir aus einem der Hauptsiedlungsgebiete der Securra und kennen ihre Vorgehensweise. Aber wie Ihr schon sagtet – hier seid Ihr sicher. Die Rebellen haben stets unsere Grenzen respektiert und keiner kommt unbemerkt durch unsere Wachen.“
„Wie auch immer“, sagte Vincent. „Ich möchte mir einfach die Stadt ansehen und werde dann morgen meinem Herrn Bericht erstatten – jeder muss seinen eigenen Befehlen gerecht werden. Ich werde euer Zuvorkommen erwähnen. Habt Dank.“
„Wo werdet Ihr nächtigen?“ Diese Frage kam Vincent gerade recht und war mehr, als er zu hoffen wagte.
„Ich hab mir über meine Unterkunft noch keine Gedanken gemacht, könnt Ihr mir was empfehlen?“
„Besuch eurer Art stehen sonst immer die offiziellen Gästehäuser unter der Burg zu. Da dort aber erst mit einer Belegung ab morgen gerechnet wird, weiß ich nicht sicher, ob alle Vorbereitungen abgeschlossen sind.“
„Nein, nein ich erwarte keine offizielle Unterkunft. Ich gebe mich auch mit einem einfachen Bett in einem normalen Gasthaus zufrieden. Falls ich dort ein Bad nehmen könnte, umso besser.“
„Das lässt sich einrichten.“ Der Kommandant fasste einem seiner Soldaten auf die Schulter. „Othis wird Euch zu einem Gasthaus begleiten, in dem Ihr die Nacht verbringen könnt. Ihr werdet auf Kosten des Königs logieren – ich bestehe darauf. Wenn Ihr wollt, wird Othis heute euer Führer sein, der Euch alles zeigen wird, was die Stadt zu bieten hat. Wenn Euch nach weiblicher Gesellschaft verlangt ...“
„Danke. Sehr freundlich, aber das wird nicht nötig sein. Zeigt mir einfach nur das Gasthaus.“
Nachdem Vincent mit dem jungen Soldaten in die Nacht, Richtung Stadt verschwunden war, stieg der Kommandant mit den übrigen wieder die Treppe hinauf, um seinen Posten zu besetzen.
„Uther! – folge ihm. Lass ihn nicht aus dem Auge“, raunzte er einen Wachmann an. „Pha ... als wenn dem Prinzen irgendwas an unserem Wohlbefinden interessieren würde.“
Es gefiel ihm nicht. Eine Inspektion, mitten in der Nacht? Wie auch immer. Auch wenn er ihm diese Geschichte nicht wirklich abkaufte – das Risiko, einen Gesandten des Prinzen abzuweisen, war viel zu hoch.
„Verdammte Kallicor“, murmelte er. „Jetzt schicken sie uns auch noch ein Kindermädchen, das darauf aufpasst, dass wir unser Handwerk richtig machen.“
Spurensuche
Fluchend stieg Ramier Harpiel, Kommandant der Reiterstaffel, von seinem Pferd. Zu seinen Füßen lagen die Leichen der gesamten Truppe General Trogan Pagloths. Schon der Fund des ersten Soldaten, der tot, mit seltsamen Wunden übersät, fast verschneit ihren Weg kreuzte, weckte in ihm eine seltsame Vorahnung und er bereute es, nicht mehr Männer mitgenommen zu haben. Was imstande war, so etwas anzurichten, vermochte er sich nicht zusammenzureimen. Der Anblick, der sich ihm jedoch hier bot, erfüllte seine pessimistischsten Vorstellungen. Männer, die die Farben des Kaisers trugen, lagen niedergestreckt mit schrecklichen Verletzungen in ihrem Blut. Manch einer sah aus, als hätte es ihm den Kopf zerrissen. Es war ein Sakrileg. Eine Kriegserklärung. Er war dazu verpflichtet, jeden Einzelnen aus diesem Dorf hinzurichten. Nur das Fehlen der Leiche des Generals machte ihn stutzig.
„Absitzen!“, rief er seinem Gefolge zu. „Durchsucht das Dorf nach Überlebenden. Wenn ihr auf Feinde stoßt, versucht sie nicht umzubringen oder lasst wenigstens einen von ihnen übrig, der reden kann. Wir müssen herausfinden, mit wem wir es hier zu tun haben. Zwanzig Mann schwärmen aus, durchsuchen und sichern die Umgebung.“ Die Soldaten quittierten die Befehle, indem sie die Faust auf die linke Brust schlugen. Ramier sah sich die glimmenden Überreste des Scheiterhaufens an. Die Hitze war zu schwach gewesen, um auch die Gebeine zu verzehren. Ihm war klar, dass nur die Angehörigen des Dorfes dort ihre letzte Ruhestätte fanden. Komischerweise fand sich aber kein Anzeichen dafür, dass ein Securra unter ihnen war. Securra pflegten ihre Toten stets in voller Montur mit all ihren Waffen beizusetzen. Doch nicht ein Schwert, Dolch oder sonst eine Waffe war in dem Aschehaufen zu finden. Es schien, als wenn dort ausschließlich Zivilisten verbrannt worden seien. Auch wenn Trogan überrascht worden war, so war es für ihn vollkommen unverständlich, dass sie nicht auch nur einen ihrer Feinde mit in den Tod gerissen hatten. Securras! – wie hassenswert.
Während er die Vorgänge in seinen Gedanken zu rekonstruieren versuchte, kamen die ersten Soldaten, um Bericht zu erstatten. Die Häuser waren erwartungsgemäß alle leer. Das Vieh und alle wertvollen Dinge, die nicht niet- und nagelfest waren, waren ebenfalls verschwunden. Allem Anschein nach war es eine Flucht gewesen, die alle Brücken hinter sich abgerissen hatte. Das Dorf war komplett aufgegeben. Und es wurden Spuren gefunden. Spuren, die nach Westen verliefen. Nach Westen ins Gebirge. Das Pekawarth-Gebirge der Securra. Ein Territorium, das schon seit Jahrhunderten als uneinnehmbar galt.
„Kommandant Harpiel!“, rief einer seiner Männer. „Seht!“ Er zeigte auf zwei Soldaten, die von ihrer Erkundung zurückkamen. Zwischen ihnen stützten sie ein erbärmlich aussehendes, in einen Umhang gewickeltes Bündel von einem Mann. Es war General Pagloth. Wie er da her geschleift wurde, den Kopf nach unten hängend, sah er ziemlich tot aus.
„Er lebt noch“, rief einer der beiden.
„Schnell, bringt Decken und holt etwas Stroh, um ihn hinzulegen“, wies Ramier seine Männer an, die sogleich in die Häuser und in die Scheune eilten. Vorsichtig legten sie den General auf das Stroh, das sie vor die noch Wärme abgebende Feuerbette schichteten.
„Ziemlich zäher Knochen, der Kerl“, sagte Ramier, während er den Umhang mit den gefrorenen Blutflecken entfernte, um sich die Wunde in der Brust anzusehen.
„Trogan, Trogan mein Freund. Was haben sie dir nur angetan?“ Er nahm seinen Dolch und hielt die Klinge unter seine Nase. Als sie sich beschlug, konnte er erleichtert feststellen, dass die Atmung noch nicht ausgesetzt hatte. Dann legte er Zeige- und Mittelfinger an seinen Hals und fühlte einen schwachen Puls. Mit einer schnellen Bewegung durchtrennte er die Kordel, die den Umhang zusammenhielt, legte seine Brust frei und machte sich daran, einen Druckverband mit dem Verbandsmaterial anzulegen, das ihm gereicht wurde.
„Wir müssen ihn unbedingt durchbringen. Er ist uns noch einige Antworten schuldig. Baut eine Bahre und befestigt sie an einem Pferd. Zehn Mann werden ihn zurück ins Lager eskortieren. Die anderen kommen mit mir. Wir werden den Spuren folgen und sie alle stellen. Dürfte ein leichtes Spiel sein, sie einzuholen. Und ich wünsche, dass sie langsam sterben.“
Kilian der Seefahrer
„Kommst du auch aus Landrya?“, fragte Korbin, der die ganze Zeit über neben dem Dorfältesten Zensar Pithy – sie hatten sich inzwischen vorgestellt – auf dem Bock des Wagens saß und dem Gespräch lauschte.
„Das mag euch vielleicht so vorkommen. Aber auch wenn ihr es nicht glauben wollt, habe ich bis jetzt nie von so einem Ort gehört. Ich muss euch sogar empfehlen, euren Glauben zu prüfen. Bis jetzt scheinen mir eure Geschichten auf nichts Weiterem zu gründen als auf Mythen, die entstanden, lange bevor seriöse Geschichtsschreibung begann. Bedenkt, dass Überlieferungen, besonders wenn sie mündlich sind, nur von zweifelhaftem Wahrheitsgehalt sein können.“
„Aber auch unsere offizielle Geschichtsschreibung beginnt mit der Zusammenfassung der Göttermythen“, entgegnete Zensar.
„Welche kurz nach den Großen Kriegen entstand, aus der Feder von Schreibern des Hauses Kallicor – nicht?“
„Richtig ...“
„Aber wo kommt ihr dann wirklich her?“, drängte Korbin weiter. Kilian erinnerte sich an den seltsamen Umstand, dass sich die Besiedlung anscheinend nur auf diesen Kontinent beschränkte und log:
„Nun mein Junge, das ist eigentlich geheim. Aber, weil ich glaube, dass ich euch vertrauen kann, werde ich es dir sagen. Wir kommen von einem anderen Teil dieses Planeten. Einem Kontinent weit über dem Meer. Wir sind Seefahrer, musst du wissen. Und mit einem Schiff sind wir auch hierher gelangt. Die Reise war lang und gefährlich und zuletzt gerieten wir in einen mächtigen Sturm, der unser Schiff kentern ließ. Nur mit knapper Not ist es uns gelungen, zu überleben. Alle anderen, die mit uns kamen, hatten nicht so viel Glück. Sie sind alle ertrunken. Und nun sind wir in eurem Land gestrandet und werden vielleicht nie wieder zurückkommen können. Wir hatten den Auftrag, euer Reich zu erkunden. Aber wir haben die Gefahren der Überfahrt unterschätzt.“ Diese Erklärung schien dem Jungen und dem Alten plausibel zu erscheinen. Zensar meinte:
„Ja, das ist auch der Grund dafür, dass der Kaiser die Seefahrt verbietet. Es war eines der ersten Gesetze, die nach der Machtergreifung der Kallicors erlassen wurde. Wie ihr seht nicht ohne Grund.“
„Wie ist es in eurem Land über dem Ozean?“, wollte Korbin wissen.
„Nun ja, ... wir leben in einer völlig anderen Kultur als ihr. Unsere technischen Möglichkeiten sind auf einem höheren Stand wie die euren. Das ist einer der Gründe für den geheimen Charakter unserer Mission. Euch würde manches wahrscheinlich erschreckend vorkommen. Wir leben in großen Städten in anderen Häusern als ihr, mit vielen Stockwerken. Viele dieser Gebäude sind sehr hoch. Es gibt so viele davon, dass sie von Weiten wie Gebirge erscheinen. Trotzdem leben auch wir manchmal in kriegerischen Zeiten. Nur unsere Kampfweise und unsere Waffen unterscheiden sich von ...“
In Kilians Helm erklang ein leiser Alarmton, der ihn auf die neuesten Meldungen seiner Drohne aufmerksam machte. Sie spielte ihm aktuelle Bilder aus der Nähe des Dorfes ein. Es sah aus wie ein glühender Lindwurm, der sich aus dem Wald hinausschlängelte. Eine Vergrößerung offenbarte Reiter mit Fackeln, die in dichter Formation hintereinander ritten.
„Wir müssen uns beeilen. Wie lange dauert es noch, bis wir das Gebirge erreichen?“, fragte Kilian.
„Etwa zwei Stunden in diesem Tempo – wenn nichts dazwischen kommt“, sagte Zensar. „Wir müssen es in einer schaffen. Jeder Wagen, der ab jetzt stecken bleibt, ist verloren. Die Leute sollen sich nicht mehr um ihre Sachen kümmern, sondern einfach weitermarschieren. Treibt die Tiere weiter an.“
„Ist gut. Ich weise meine Leute an. Du scheinst ein gutes Gespür für Gefahr zu haben.“
„Du sagst es – ein äußerst Gutes“, entgegnete Kilian, während er die Reiterschaft weiter von oben beobachtete.
Dämonen
Unruhig ging der Prinz in seinem Prachtzelt auf und ab. In der einen Hand hielt er ein Glas des Weines aus seinem persönlichen Vorrat, in der anderen hatte er sein Schwert in fester Umklammerung. Es war äußerst ungewöhnlich, dass ihn sein erster General so lange warten ließ, zumal Miroba als ungeduldig galt. Es musste etwas Ungewöhnliches passiert sein, wenn es Trogan aufhalten konnte. Er hatte nicht mal einen Boten geschickt. Vor geraumer Zeit hatte er ihm eine Abteilung seiner besten Kavalleristen hinterhergeschickt. Als Anführer der Reiterschaft hatte er Harpiel bestimmt. Ein erfahrener Feldmarschall, der neben Trogan einer seiner engsten Vertrauten und Lehrer war. Wie die meisten Soldaten, die es in der kaiserlichen Armee zu etwas gebracht hatten, stammte er von einer weit zurück verfolgbaren Generation von Kriegern ab. Einer adeligen Soldatenfamilie, die mit dem Schicksal des Hauses Kallicor schon seit vielen Generationen verbunden war. Loyalität dieser Qualität war von seltenem Wert. Eigentlich würde er, nachdem er sein Bett mit einer hiesigen Schönheit geteilt hätte, längst im verdienten Schlummer versinken. Er hatte bereits sein Nachtgewand aus edlem Tuch an und trug sein langes schwarzes Haar offen. Der schwarze Anzug mit den goldenen Stickereien und Säumen unterstrich sein majestätisches Auftreten. Er nahm einen großen Schluck Wein, der seine Wut jedoch nicht runterspülen konnte. Er hasste es, im Ungewissen gelassen zu werden. Irgendjemand würde büßen müssen. Und wie er büßen würde …
Er führte eine Parade in der Luft aus und stieß die Spitze seines Schwertes in den Apfel, der im Maul des unberührten Spanferkels auf seiner Tafel steckte. Er wollte gerade ausholen, um dem Ferkel den Rest zu geben, als er die aufgeregten Stimmen seiner Wachen vernahm. Es gab also Neuigkeiten. Er wischte die Klinge an dem Stoff seines Obergewandes ab, das ihm bis kurz über die Knie ging, und steckte sie zurück in die Scheide. Einer seiner Gardewachen, der versuchte, sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen, teilte den Vorhang des Zelteingangs.
„Herr! General Pagloth ist zurück.“ Mirobas finstere Miene erhellte sich nicht im Geringsten.
„Wie kann er sich nur erdreisten, erst jetzt zurückzukehren!“, blaffte er den Mann an. „Ich bin gespannt auf seine Ausrede. Was hat er gesagt, hat ihn aufgehalten?“ Der Soldat musste sich beherrschen, seine Stimme unter Kontrolle zu halten.
„Er ist momentan nicht in der Verfassung, überhaupt irgendwas zu sagen“, antwortete er. „Anscheinend ist er in einen Hinterhalt geraten. Einige Reiter Harpiels haben ihn zurückgebracht. Ich glaube, Ihr solltet ihn Euch selbst ansehen, Sire.“
„Er ist angegriffen worden? Auf meinem Hoheitsgebiet! Wer hat er gesagt, war es denn?“
Dass jemand Kaiserliche angriff, war unvorstellbar, ja einfach unglaubwürdig.
„Sire, ich kann Euch leider nicht mehr berichten. Pagloth ist derzeit nicht in der Lage zu sprechen. So wie er aussieht, ist es sogar fraglich, ob er diese Nacht überleben wird. Er ist schwer verletzt.“ Miroba griff sich in die Haare. Unter zusammengebissenen Zähnen knurrte er:
„Na dann bringt mir die restlichen Männer Pagloths, du Narr.“ Er ahnte die Antwort bereits. „Herr, sie sind alle tot. Man fand sie in einem kürzlich verlassenen Bauerndorf oder in seiner Nähe.“ Miroba rang um seine Fassung, atmete tief durch und befahl seiner Wache, ihn zu seinem zurückgekehrten General zu bringen. Zwar war er einer seiner besten Taktiker und er kannte ihn schon seit seiner Kindheit, doch objektiv war er ein Verlust, der zu ersetzen war. Er konnte ihm nichts mehr beibringen. Er hatte die Ausbildung des Prinzen beendet und sein Stab würde auch ohne ihn auskommen. Ein Herrscher durfte sich nicht von sentimentalen Gefühlen beeinflussen lassen. Die Vorstellung, dass der General nun sterben würde, schien Miroba trotzdem irreal. Der Mann, der ihm in seiner Jugend immer als unbesiegbar galt, wurde in solch einer unwichtigen Angelegenheit erschlagen. Doch noch lebte er, mahnte der Prinz sich selbst. Er sollte ihn nicht so schnell abschreiben. Die vormals feierliche Stimmung im Feldlager war nun deutlich gedämpfter. Die Neuigkeit hatte sich schnell an den Feuern herumgesprochen. Jeder seiner Soldaten wusste um die Stellung Pagloths und die persönliche Beziehung zu seinem Prinzen. Keiner wollte taktlos erscheinen oder die Aufmerksamkeit Mirobas auf sich ziehen, als er in Begleitung der Gardewachen das Lager durchschritt. Der Feldarzt schreckte auf, als er in das Lazarettzelt trat. Er war gerade dabei, die Wunden Pagloths mit Alkohol zu säubern.
„Geh zur Seite“, befahl er dem Arzt, der sogleich gehorchte. Er wusch seine blutigen Hände in einer Schüssel und berichtete dem Prinzen seine Diagnose:
„Herr, Ihr müsst mich unbedingt weitermachen lassen. Das gurgelnde Geräusch, das Ihr hört, kommt aus seiner Lunge und entsteht beim Atmen. Sie wurde von einem spitzen Gegenstand durchstoßen und füllt sich langsam mit Blut. Ein Lungenflügel ist bereits eingefallen. Wenn ich nicht bald operiere, wird er ersticken.“
„Trogan, oh Trogan …“, seufzte der Prinz. Eine ungewollte Trauer überkam ihn. Da lag sein Mentor. Schon eher im Reich der Toten als in der seinen. Ein unwürdiger Anblick für einen Mann wie ihn, wie er da zerschunden vor ihm lag. Er wurde sich bewusst, dass ihm sein Mentor näherstand, als er zugeben wollte. Näher sogar als sein Vater, der ihm nie so viel Aufmerksamkeit schenkte. Er blickte einen von Harpiels Reitern an, der mit ihm zurückgekehrt war. „Sag, wer war dafür verantwortlich.“ Der Mann nahm ehrfürchtig seinen Helm ab und klemmte ihn unter seinen Arm, bevor er antwortete. So gewann er noch etwas Zeit, um sich seine Worte zurechtzulegen.
„Leider konnten wir nicht genau herausfinden, was geschehen war. Wir fanden ihn in einem Versteck im Wald. Gerade noch rechtzeitig, bevor er verblutete. Anscheinend floh er vor einem Verfolger. In unmittelbarer Nähe lag der kopflose Körper eines dieser Bergungeheuer. Die Einheimischen nennen es Thyratron.“
„Ein Thyratron?“ Die Geschichte wurde immer mysteriöser. „Und er wurde verfolgt von nur Einem?“
„Ja, Sire. Wir fanden keine weiteren Spuren. Und dieser Eine war es anscheinend auch, der den Thyratron zur Strecke gebracht hat. Es muss ein mächtiger Krieger gewesen sein.“
„Ein mächtiger Krieger, wie? Und der hat dann auch alle anderen Soldaten getötet, oder?“, sagte Miroba zynisch. Nach einer Pause antwortete der Reiter mit gesenktem Kopf:
„Verzeiht, mein Prinz. Aber viel mehr können wir nicht mit Sicherheit sagen. Unter den Gefallenen, die nicht zu uns gehörten, fanden wir keinerlei ernsthaft bewaffneten Feinde. Nur schlecht bewaffnete Zivilisten, wie es scheint. Irgendwas musste sie völlig überrascht haben. Feldmarschall Harpiel machte sich sofort an die Verfolgung. Er sandte uns zurück, um das Leben des Generals zu retten und um euch Bericht zu erstatten. Auch wenn dieser Bericht nicht zufriedenstellend sein mag. Er ist zuversichtlich, die flüchtigen Dorfbewohner zu stellen.“
„Es waren Dämonen.“ Miroba schnellte herum. Pagloth war erwacht und sah ihn an. Unter Schmerzen flüsterte er noch. „Nicht menschlich … Dä…Dämonen …“ Dann dämmerte er erneut weg.
Die harte Schule des Ganry Kobayashi
Der Morgen graute bereits, als der Treck endlich das Vorgebirge erreichte. Der Weg wurde steiler und immer felsiger, als er in eine Schlucht führte. Zu beiden Seiten ragten immer steilere Felswände empor. Die ersten Sonnenstrahlen tauchten die Berge in ein herrlich warmes Rot. Durch die reflektierende Schneeoberfläche gewann die Helligkeit zunehmend an Intensität.
Da! Hinter einer Anhöhe blitzten die ersten Klingen der Lanzen auf. Die Reiter stürmten die ganze Nacht entschlossen hinter den Dorfbewohnern her, um ihnen den verdienten Tod zu bringen. Nun hatten sie sie endlich eingeholt. Die Frauen stießen panische Schreie aus und drückten ihre Kinder an die Brust. Auch die anderen konnten ihre Angst kaum überspielen. Einige Männer holten alle möglichen Dinge aus ihren Wägen, die sich als Waffen eignen könnten. Knüppel, Holzäxte, Stangen oder Messer. In der Ferne war jetzt die ganze Truppe zu sehen, die über den Hügel schwärmte. Der Plan war nicht aufgegangen. Sie hatten das sichere Territorium der Rebellen nicht rechtzeitig erreichen können. Sie mussten sich dem ungleichen Kampf stellen. Die Reiter gewannen immer mehr an Geschwindigkeit, trieben ihre Pferde an und senkten ihre Speere mit der festen Absicht, sie im ersten Sturm zu überrennen. Man konnte ihre mordgierigen Rufe bereits hören – und die Hufe, die donnernd den Schnee aufwirbelten. Kilian schrie den Leuten zu, sich weiter zu bewegen und Schutz in der Klamm zu suchen, die ins Gebirge führte. Dort waren sie zwar nicht geschützt, doch sie würden etwas Zeit für die Verteidigung gewinnen und nicht einfach niedergetrampelt werden. Er selbst blieb stehen und bereitete sich mental auf das Äußerste vor. In die linke Hand ließ er den Controller für die manuelle Drohnensteuerung schnellen, mit der rechten Hand zog er sein Schwert. Er machte sich keine Illusionen. Auch mit der Feuerkraft der Drohne könnte er hier leicht sterben. Trotzdem wartete er ab. Er stand allein zwischen den flüchtenden Menschen und der schwer bewaffneten und gepanzerten Meute, die auf ihn zuraste. Alle anderen hatten bereits die Nerven verloren und rannten, so schnell sie konnten, auf die Felsspalte zu. Wenigstens das Überraschungsmoment würde ihm bleiben, wenn er die erste Reihe dieser Bastarde zerfetzen würde. Die Felsen, zwischen denen er stand, würden sie zwingen, direkt auf ihn zuzuhalten. Den Finger auf dem Abzug, das Fadenkreuz vor Augen, wartete er, während das Tosen immer lauter, das Vibrieren des Bodens immer stärker wurde. Nur noch wenige Sekunden.
Etwas Unerwartetes störte seine Konzentration. Da war noch ein weiteres Ziel, das seine Drohne ausmachte, und zwar direkt neben ihm, auf dem mannshohen Felsen zu seiner Rechten.
Siegessicher gab Ramier seinem Pferd die Sporen. Seine gesenkte Lanze im Anschlag schoss er auf den einzelnen Mann zu, der es wagte, sich direkt in ihren Angriff zu stellen. An der Spitze der Formation würde es sein Speer sein, der als erstes Blut kosten würde. Ein einzelner Mann mit einem Schwert in der Hand! – wie lächerlich. Da würde ihm auch seine Rüstung nichts nützen. Er war es gar nicht wert, seine Lanze an ihm zu brechen.
Doch plötzlich war der Mann nicht mehr allein. Von einem Augenblick zum anderen stand da noch ein weiterer, auf einem Felsen neben ihm. Ramier traute seinen Augen nicht. Wie eine Sinnestäuschung tauchte er aus dem Nichts auf und starrte ihn mit seinem eiskalten Blick direkt in die Augen, bewaffnet nur mit einem Stab, dessen Enden mit Metall verstärkt waren. Und mehr als seine Augen waren von seinem Gesicht auch nicht zu erkennen. Er verbarg es unter einer Maske aus dem gleichen weißen Stoff, aus dem auch sein Kampfanzug gemacht war. Auf seinem Kopf trug er einen offenen silbernen Helm, der vorn bis zu seinen Augenbrauen reichte und die Ohren bedeckte. Obwohl diese Gestalt sichtlich keine besondere Bedrohung darstellte, so war Ramier doch plötzlich zutiefst verunsichert. Dieses Gefühl hatte etwas mit seinem durchdringenden Blick zu tun. Und der Gelassenheit, die er ausstrahlte. Ein Abbrechen des Sturmes, das war ihm klar, war nicht mehr möglich, und so ignorierte er sein Gefühl und fokussierte erneut sein erstes Ziel.
Kurz vor dem Zusammenprall kam Bewegung in den seltsamen Mann auf dem Felsen. Noch bevor Kilian abdrücken konnte, sprang die Gestalt aus dem Stand hoch in die Luft, drehte dabei die Füße nach oben und lenkte kopfüber Ramiers Lanze ab, die dieser in seine Richtung zu reißen versuchte. Als er den Scheitel seines Sprungs auf die Reiterspitze erreichte, zog er seinen Oberkörper nach oben und landete krachend mit angewinkeltem Knie genau auf Ramiers Brust. Seiner Deckung beraubt, traf dieses Manöver perfekt. Die Wucht des Aufpralls drückte ihm den Brustkorb ein und riss ihn aus dem Sattel. Mit der Kinetik einer angestoßenen Billardkugel flog er von seinem Pferd und donnerte gegen den nächsten Felsen. Er starb noch, bevor er den Boden berührte. Der seltsame Kämpfer landete verkehrt herum genau im Sattel, bekam die Zügel mit beiden Händen zu greifen und riss sie, den letzten Rest des Schwungs ausnutzend, nach vorn. Der Kopf des Reittiers wurde nach hinten geschleudert. Es bäumte sich auf, kam ins Schlingern und stürzte. Mit einem weiteren unglaublichen Rückwärtssprung katapultierte der Mann sich nach oben und landete genau neben Kilian, der sprachlos immer noch den Controller in der Hand hielt. Noch nie hatte er einen derartigen Kampf gesehen. Er war mit solch einer Perfektion und Anmut geführt, dass er es noch immer nicht fassen konnte.
„Willkommen bei den Securras.“ Kilian, der tief beeindruckt noch immer leicht paralysiert war, konnte nur stammeln:
„Wie hast du, ... wer ...“ Der Securra ließ sich nach hinten fallen und packte Kilians Arm. In derselben Bewegung, seinen Fall ausnutzend, setzte er den Fuß auf seine Hüfte und schleuderte ihn kopfüber hinter den Felsen. Mit dem Rücken landete Kilian im Schnee, fand seine Fassung wieder und richtete sich auf. Er wollte gerade zu einem Hieb ausholen, als der Fremde auch schon wieder direkt neben ihm stand und ihn gegen den Felsen drückte.
„Verzeiht, Freund. Aber das war der schnellste Weg.“
Keine Sekunde später stürzte eine Masse aus Pferden und Menschen wie eine Lawine über den Fleck, an dem sie nur wenige Augenblicke zuvor gestanden hatten. Die folgenden Reiter konnten nicht mehr bremsen und stürzten über Ramiers Pferd. In völligem Chaos kollidierten immer mehr Soldaten miteinander und purzelten scheppernd ineinander. Gellende Schreie und die Geräusche von brechenden Lanzen und Knochen hallten durch die Felsen und wurden wieder zurückgeworfen. Bis der feindliche Sturm endlich zum Stillstand kam, waren mindestens fünfzehn von ihnen kampfunfähig oder tot. Voller Entsetzen versuchten sie sich, in dem heillosen Durcheinander neu zu formieren. Befehle wurden gebrüllt. Teils widersprüchlich. Da der Hauptbefehlshaber tot war, verging ihre einstige Disziplin im Tumult. Einige stiegen ab, um zu Fuß weiterzustürmen, andere rotteten sich zusammen, um ihre Einheit nicht zu verlieren. Da sirrte der erste Pfeil an. Er durchschlug den Helm eines Soldaten und holte ihn vom Pferd. Kilian trat aus seiner Deckung hervor, um die Lage einzuschätzen, und bemerkte auf einmal, dass sie nun von allen Seiten umringt waren. Überall tauchten Securra-Krieger auf, die den gleichen weißen Tarnanzug trugen wie der Stabkämpfer. Aus dem Schnee hinter den Reitern erhoben sich Securras, die sich vorher hatten einschneien lassen, um nun den Ring zu schließen. Es war eine Falle, die darauf ausgelegt war, keinen entkommen zu lassen. Von überallher ging jetzt ein wahrer Pfeilhagel nieder. Ein jeder entlassen von geübten Fingern. Mit unglaublicher Präzision fällten sie einen Soldaten nach dem anderen.
„Jeder kämpft für sich – es lebe der Kaiser!“, schrie einer aus den Reihen der Angreifer. Er wollte noch mehr rufen, seine Stimme versagte jedoch, als er erschreckt feststellen musste, dass ein Pfeil aus seinem Hals ragte. Doch auch die Kallicor-Krieger hatten genug Kampferfahrung, um einzusehen, dass sie auf ihren Pferden ein zu gutes Ziel für die Pfeile abgaben. Sie stiegen ab, verschanzten sich hinter ihren Pferden und zogen ihre Schwerter. Aus allen Richtungen sprangen ihnen weiß gewandete Männer mit allen möglichen, exotisch aussehenden Hieb- und Stichwaffen entgegen. Es begann ein wildes Scharmützel. Schädel wurden eingeschlagen, Kehlen durchtrennt und Extremitäten flogen durch die Luft. Das Blut der Gefallenen begann, Rinnsale zu bilden. Langsam schmolz die Überzahl der einstmals so stolzen kaiserlichen Kavallerieeinheit. Kilian sah nun endgültig vom Einsatz der Drohne ab und warf sich den Angreifern entgegen, die über den Wall aus Pferde- und Menschenkörpern in seine Richtung kletterten. Er hatte seinen Ki-Fluss unter Kontrolle und konnte so Rüstungen, Helme und Gliedmaßen mühelos durchschneiden. Nachdem er zwei Feinde in kurzem Schlagabtausch niederstreckte, blickte er in einer kurzen Atempause zurück auf seinen >Freund<.
Der Platz war leer. Er entdeckte ihn wieder, vor sich – mitten ins Kampfgetümmel springend. Noch bevor er aufkam, starb ein weiterer Gegner unter seinem Stab. Diesen ließ er jetzt furios um seinen Körper kreisen und verteilte kraftvolle Hiebe. Als ihn mehrere Soldaten zu überrennen versuchten, hielt er den Stab kurz hinter seinem Rücken an und drehte eine bestimmte Stelle im Mittelgriff. An jedem Ende schnellte eine beidseitig geschliffene Klinge aus den Metallvorrichtungen. Und schon versenkte er eine davon mehrmals in dem Rumpf des Unglücklichen, der als Nächstes auf ihn einschlagen wollte. Die Spitze des Stabes schnellte wieder nach vorn und traf das fallende Schwert an der Parierstange. Mit einer schwungvollen Bewegung katapultierte er es gegen den nächsten Gegner, der durchbohrt zu Boden sank. Immer wieder schnitten seine Stabmesser schwungvoll in gegnerisches Fleisch und zwangen seine Widersacher weiter zurück. Kilian fasste sich ein Herz und kletterte dem Getümmel entgegen. Auch er wollte seinen Beitrag leisten. Er schlitterte den Leichenberg hinunter und erhielt auch gleich die Gelegenheit, sein Schwert im Rücken eines Soldaten zu versenken, der gerade dabei war, seinen Dolch aus den Rippen eines sterbenden Rebellen zu ziehen. Endlose und verbissen gestrittene Minuten später, als die Verluste der Reiterschaft ihre Niederlage nicht mehr abwendbar machten, drangen die ersten Rückzugsbefehle durch das Waffengeklirr. Ihre Kampfaktivität beschränkte sich nur noch auf Defensive. Langsam und bestimmt zogen sie sich zurück. Jene, die es schafften, saßen auf. Ein wehrhafter Block entstand so, der den einprasselnden Attacken so ein wenig weiter standhalten konnte. Manch ein Securra, der sich überschätzte, rannte in eine Lanzenspitze. Mit archaischen Schreien stürzten sich todesverachtende Berserker, in ihrer weißen Tracht gleich Geistern, auf ihre Feinde. Mit der Kraft der Verzweiflung gelang es den Imperialen, eine Bresche in den Ring zu schlagen. Die Wucht der Pferdeleiber drückten die nachrückenden Securras zurück und ermöglichten die Flucht. Die ersten, denen es gelang, durch die Lücke über leblose Körper zu springen, gingen sofort in den Galopp über. Der Rest der Verbliebenen konnte nun in fester Formation den Widerstand überwinden und es ihren Vorgängern gleichtun. Bald entschwanden sie auch der tödlichen Reichweite der Bogenschützen, welche noch manch einem das Entkommen verwehrten. Es war eine totale Niederlage. Ein Gefecht wie dieses war den meisten unbekannt. Selbst ihre jahrelange Ausbildung konnte sie auf solch eine Situation nicht vorbereiten. Meist beschränkten sich ihre Kampfeinsätze im Niederschlagen vereinzelter Bauernaufstände. Ihre Gegner waren mit Mistgabeln und primitiven, angespitzten Holzstangen bewaffnete Zivilisten ohne jegliche militärische Erfahrung. Diesmal war es komplett anders. Heute hatten sie professionellen und gut ausgerüsteten Berufskriegern gegenübergestanden. Die wenigen Überlebenden konnten von Glück sprechen, nicht völlig aufgerieben worden zu sein. Von ihrer Hundertschaft schafften es gerade mal achtzehn Männer, von denen einige so schwer verletzt waren, dass es fraglich war, ob sie den Rückweg überstanden.
Ein lautes Jubeln ertönte unter den Securras und wurde von den Felswänden zurückgeworfen. Es klang wie eine Drohung an ihre Feinde und Hohn zusammen. In den Bewegungen einiger Rebellen sah Kilian immer noch adrenalingetränkte Anspannung. Ihre Blicke transportierten eine unterschwellige, doch beherrschte Aggressivität. Er war sich nicht sicher, ob sie sich im nächsten Moment nicht auch auf ihn stürzen würden. Der Mann mit dem Stab, der ihr Anführer zu sein schien, erblickte ihn und schritt durch seine zurückweichenden Krieger auf ihn zu. Einige klopften ihm anerkennend auf die Schulter oder nickten ihm zu. Kilians Hand umschloss noch immer das Heft seiner Waffe mit zornigem Griff. Ein kurzer Dreh und die Klingen an den Enden des Kampfstabes rasteten wieder ein. Der Securra-Kommandant nahm diese wunderliche Erscheinung aus dunklem Grau in Augenschein. Eine seltsame Rüstung. Ähnliches hatte er nie zuvor gesehen. Es sah aus, als würde sie perfekt von jeder Seite gesichert. Eine Schwachstelle war nicht erkennbar. Und Dahns Erfahrung im Entdecken von solchen war ihm mittlerweile ins Blut übergegangen. Das Emblem, das auf der Brust des Harnisches prangte, zeigte zwar Ähnlichkeiten mit dem Zeichen seines verhassten Feindes, aber er wollte nicht daran glauben, dass er zu ihnen gehören würde. Ähnlichkeiten – aber trotzdem war es nicht dasselbe. Eine solche Abänderung oder überhaupt eine Abänderung des kaiserlichen Symbols war seit der Ära des Magnus nicht vorgekommen.
Er suchte Blickkontakt zu Kilian und sprach:
„Verzeih ihnen. Sie sind noch unerfahren. Haben ihre Gefühle noch nicht unter Kontrolle. Ihre unzivilisierten Regungen beschämen sie.“
Er hatte Kilians Reaktion korrekt interpretiert und kam mit einer beschwichtigenden Handgeste auf ihn zu. Sie bedeutete: Alles in Ordnung. Die Gefahr ist vorbei, ich bin nicht dein Feind.
Er senkte sein Schwert und entspannte seine Haltung.
„Aggressivität ist ein guter Verbündeter in der Schlacht“, gab Kilian zur Antwort und rezitierte dabei einen seiner Ausbilder während seiner Zeit auf der Militärakademie.
„Nur für diejenigen, die ihr Potenzial nicht kennen und auszuschöpfen vermögen.“ Der Fremde entfernte seine Gesichtstarnung und entblößte ein gewinnendes Lächeln in seinem bärtigen Gesicht. Er streckte ihm seine Hand entgegen und stellte sich vor.
„Ich bin Dahn Borka, Securra-Meister und Militärausbilder dieser Novizeneinheit. Willkommen in unserem Reich. Und wie heißt Ihr mein neuer Kampfgefährte?“
„Mein Name ist Kilian Nimrod. Ich bin neu hier in der Gegend und zufällig in eine Meinungsverschiedenheit zwischen den Dorfbewohnern und imperialen Soldaten geraten. Meine Art der Konfliktlösung hat ihren Kameraden anscheinend nicht gefallen. Und weil ich auch in die Sache verwickelt war, beschloss ich, die Dorfbewohner bei ihrer Flucht in dieses Gebiet zu begleiten. Dass sie hier Schutz finden würden, habt ihr mir ja eindrucksvoll bewiesen.“
„Es war mir ein Vergnügen. Außerdem war es eine gute Gelegenheit, die Fähigkeiten meiner Schüler unter Gefechtsbedingungen zu beobachten. Meine Späher bemerkten euch, seit ihr ins Vorgebirge gelangt seid. Als wir sahen, dass ihr verfolgt werdet, haben wir diese Überraschung für sie vorbereitet. Leider sind uns welche entkommen.“
„Deine Bescheidenheit ehrt dich. Das war eine hervorragende Leistung. Und das trotz eurer Unterzahl. Ich kann kaum glauben, dass du von Schülern sprichst.“
„Wir hatten den Geländevorteil.“
Seine vertrauliche Art ist echt, dachte Kilian. Er war ihm sogar schon sympathisch. Trotz der wenigen Worte, die sie wechselten. Er erinnerte ihn an Ganry Kobayashi, seinen alten Waffenmeister, der ihn damals die Kunst des bewaffneten Nahkampfes lehrte. Meist war er schweigsam. Doch seine knappen Worte zwischen ihren Übungen blieben Kilian meist lange in Erinnerung. Er besaß stets einen angemessenen Sinn für Bescheidenheit. „Hochmut ist ein schlechter Schmuck für einen Krieger“, sagte er und weiter: „Zu denken, man habe Meisterschaft erreicht, hindert einen daran, weiter über seine Grenzen zu gehen. So erlangt man wahre Meisterschaft nur selten.“
Viele Jahre und Lektionen war das nun her. Damals war Kilian gerade mal siebzehn Jahre alt gewesen. Frisch von der Schule meldete er sich freiwillig in der Privatarmee des Corona-Konzerns und nach dem ersten Jahr seiner Ausbildung als Soldat hielt er ein echtes Combat-Schwert in den Händen. Sein eigenes Schwert. Wie es sich anfühlte! Er hatte seinen Ki-Fluss noch nicht so unter Kontrolle, dass er die Schneide hätte aufglühen lassen können, doch der schwarze Stahl in seinen Händen vermittelte ihm bereits damals einen Eindruck von der Macht, die es ihm verleihen würde. Und Ganry sorgte dafür, dass er sie bekommen hatte. Viele schmerzhafte Stunden stand er seinem Meister in der Übungshalle der Akademie gegenüber. Der Ausbildungsphilosophie der Corona-Militärs folgend, stand die Anlage mitten in der Taklamakan-Wüste. Der Standort in Zentralasien sollte ein Klima der Entbehrung erzeugen. Jeder Rekrut musste selbst unter extremsten Bedingungen funktionieren. Die regelmäßigen Gewaltmärsche durch glühende Ebenen oder tosende Stürme verlangten einen hohen körperlichen und geistigen Tribut. Ständig musste man mit Überfällen der höheren Klassen rechnen, die einen zu kräftezehrenden Übungsgefechten zwangen. Es war für sie immer eine willkommene Gelegenheit, die erlernten Fertigkeiten zu testen. Er nahm sie später genauso in Anspruch. Ständig musste man kampfbereit sein. Schlaf fand man durch die andauernde Bedrohung meist schlecht. Nur mit einer gehörigen Portion Entschlossenheit, viel Schweiß und Leidensfähigkeit konnte man eine solche Tortur überstehen. Die meisten Rekruten seines Jahrgangs quittierten vorzeitig. Doch Kilian hielt durch. Sein Wille war groß. Und mithilfe der uralten Methoden des Zen, die einen erheblichen Teil des Unterrichts ausmachten, überwand er seinen Widerstand. Er lernte, sich durch reine Konzentration von seinen Qualen zu befreien, sich dem Umstand hinzugeben. Zu akzeptieren, was nicht veränderbar war. Er ließ sich von ihnen durchströmen und überwand sie so. Der Geist gebot über das Fleisch. Die Ruhe, die er dadurch schöpfen konnte, verbesserte seine Fähigkeiten. Fern jeder Ablenkung unterzog er sich der Selbstzucht. Sogar sein Zeitempfinden schien sich zu wandeln. In Situationen extremen Stresses verlangsamte sich sein Umfeld. Es kam ihm vor, als könne er Angriffe vorausahnen. Er vollbrachte es langsam, Angriffe schon in der ersten Bewegung richtig zu deuten und ihn manchmal sogar direkt mit einem (wirkungslosen) Gegenangriff zu parieren. Und dann gelang es ihm doch. Im vierten Jahr schaffte er es zum ersten Mal, mit seinem Schwert durch die Verteidigung Ganrys zu stoßen. Zwar war es unspektakulär und hätte einen Feind nur geringfügig verletzt, trotzdem war er damals unheimlich stolz auf sich. Ab jetzt war er so weit. Er konnte seinen Meister bald besiegen. Sein Ki, das er produzierte und das von den Ki-Transistoren in seinem Anzug verstärkt und geleitet wurde, unterstand seiner vollen Gewalt. Es bedurfte immer weniger Konzentration, den Energiestrom, der von den unter die Haut implantierten Kontaktpunkten an seinen Akupunktur-Meridianen abgenommen wurde, in das Schwert zu fokussieren. Nur den wenigsten Schülern gelang dies schon im vierten Jahr. Doch Ganry, der den Ausdruck in seinem Gesicht sah, teilte seine Euphorie nicht. Er beendete die Stunde und zerstörte seine Freude mit einem seines Ganry-typischen Tadel:
„Hochmut ist ein schlechter Schmuck für einen Krieger. Zu denken man habe Meisterschaft erreicht, hindert einen daran, weiter über seine Grenzen zu gehen. So erlangt man wahre Meisterschaft nur selten.“
Kilians Grinsen erstarb. Damals hatte er sich verletzt gefühlt. Nach so langer Zeit harten Trainings würdigte Ganry seinen Erfolg nicht mit der kleinsten Geste der Anerkennung. Er kann es nicht leiden, wenn jemand im Begriff ist, ebenbürtig zu werden, dachte er. Eine Fehleinschätzung, wie er später erkannte.
Von da an beschloss Kilian, noch härter zu trainieren. Er übte sogar in seiner dringend benötigten Freizeit weiter, während seine Kameraden schon im Bett waren. Keiner verbrachte mehr Zeit in den Trainingshallen, in denen er seine Muskeln stählte, die Übungspuppen mit seinem Schwert traktierte oder für Stunden in tiefer Meditation versank. Es bedurfte langer kräftezehrender Arbeit, sich des körpereigenen Energieflusses bedienen zu können. Die Transistoren konnten die Schwingungsebene der Ki-Energie zwar so weit verstärken, dass sie sogar in den sichtbaren Bereich wechselte, doch produzieren musste sie der Körper schon selbst. Er würde besser werden. Er würde es seinem Meister schon zeigen. Hochmut! Pfff! Wer ist hier hochmütig?
Kilian wurde besser. Und als ihm sein Meister Jahre später verkündete, die Ausbildung sei beendet und er könne ihm nichts mehr beibringen, verstand er die Lektion. Keine erhebende Emotion störte das Gleichgewicht seiner Sinne. Nur Erleichterung über das endlich erreichte Ziel verspürte er. Und tiefe Dankbarkeit seinem Meister gegenüber, der ihn nun freudig anlächelte und sagte:
„Jetzt kannst du stolz auf dich sein, mein Sohn. Und du darfst aufhören, mich Meister zu nennen.“
„Hochmut ist ein schlechter Schmuck für einen Krieger“, zitierte Kilian.
„Ich sagte Stolz und nicht Hochmut! Sei stolz, mein Junge. Sei stolz!“
Kilians Blick streifte die jungen Kämpfer, die gerade begannen, all ihre toten Kameraden unter Steinhaufen zu bestatten. Ein tieferes Grab konnten sie ihnen wegen des gefrorenen Bodens nicht gewähren und für eine Feuerbestattung fehlte ihnen das Holz. Mit Bedacht richteten sie ihre Kleidung und steckten ihnen ihre Waffen zu. Es ersparte ihnen zumindest die Umstände, die Toten mit in ihr sicheres Reich zu nehmen. Die Aasfresser sollten sich lieber an Kallicor-Soldaten satt essen.
Erst jetzt bemerkte er, wie erschöpft er war. Die zwei Gefechte und die schlaflose Nacht zehrten an seinen Kräften. Die zeitliche Verschiebung der Tageszeit auf dieser Welt trug zusätzlich dazu bei. Am liebsten würde er sich hinlegen und lange schlafen. Doch noch war nicht daran zu denken. Er hatte noch einiges zu erledigen und die Zeit spielte gegen ihn. Wenigstens die Verantwortung, die er gegenüber den Dorfbewohnern fühlte, konnte er nun in die sicheren Hände der Securra legen. Es war Zeit, sich zu verabschieden.
Zocken & Zechen
Irgendetwas an dem Fremden kam ihm seltsam vor, seit er ihm begegnet war. War es ein Fehler, ihn in die Stadt zu lassen? Gehörte er wirklich zu den kaiserlichen Truppen? Er hatte das Kallicor Emblem auf seiner Brust zwar nur kurz gesehen, aber trotzdem glaubte er, eine Abweichung zum offiziellen Symbol erkannt zu haben. Waren die Zacken gewunden?
Uther war ein misstrauischer Zeitgenosse. Das war auch einer der Gründe, weshalb ihn sein Kommandant geschickt hatte, dem Fremden nachzuspionieren. Bis jetzt hatte er noch kein sonderbares Verhalten gezeigt. Er benahm sich, wie jemand der als Vorhut geschickt wurde, um unbekanntes Gebiet zu erkunden. Nach einer Inspektion der Festungsanlagen sah er sich die Innenstadt an und steuerte dann zielsicher die nächste Spelunke an. Eine von der weniger vertrauenerweckenden Sorte, in einem Stadtteil, in das sich selbst hartgesottene Trinker nur selten verirrten. Warum zog es ihn in diese schmutzige Ecke Caskas? Die Herberge, die er bewohnte, hatte auch eine Trinkhalle. Und die Gesellschaft dort sollte einem Abgesandten des Kaiserhauses weit mehr zusagen als die des Abschaums, der hier abstieg.
Kurz bevor Vincent die Tür öffnete, blieb er noch kurz regungslos stehen und horchte in die Umgebung. Außer dem Gegröle und dem Gelächter aus der Kneipe konnte er nichts wahrnehmen. Doch er wusste, dass da noch jemand war. Er war die ganze Zeit über wachsam gewesen, seit er seine Herberge verlassen hatte, um seinen Auftrag zu erfüllen. Er spürte, dass er beobachtet wurde. Und in diesem Augenblick überkam ihm das Gefühl verstärkt. Er drehte sich nicht um, da er wusste, niemanden entdecken zu können. Doch da war jemand. Und dieser jemand sollte nicht wissen, dass er ihn vermutete. Er stieß die Tür auf und trat ein. Dicke Rauchschwaden aus Tabak und Essensdunst kamen ihm entgegen. Das schummrige Licht der Öllampen vermochte den Raum nicht gänzlich zu erhellen. Zu dieser Nachtzeit waren nur wenige Menschen unterwegs und die, die hier abstiegen, gehörten ganz offensichtlich nicht der gehobenen Gesellschaft an. Die einzige Aufgabe des Wirts schien darin zu bestehen, die Krüge neu aufzufüllen. Auf saubere Tische oder Böden wurde anscheinend kein Wert gelegt. Die schmierigen Fenster schirmten die Gäste mit ihrem Dreck zusätzlich von der Straße ab. Vincent nahm an einem unbesetzten Tisch neben der Bar Platz und ignorierte die Blicke der anderen Gäste. Die Neugier der betrunkenen Kerle, die meist in ihr Würfelspiel versunken waren, ebbte bald ab. Zu viel Neugier war gefährlich. Und hier wurde niemand gefragt, was seine Ambitionen waren. Der Wirt bewegte seinen speckigen Körper an Vincents Tisch. Nachdem er den missbilligenden Blick seines neuen Gastes gesehen hatte, mit dem er seinen Platz musterte, fuhr er mit seinem Lappen über die klebrige Fläche.
„Was solls sein mein Herr?“
„Ich bin nicht von hier. Und ehrlich gesagt bin ich zurzeit etwas knapp bei Kasse. Aber vielleicht kann ich dir was Anderes als Zahlung anbieten.“ Vincent griff unter seinen Umhang und legte den Dolch, den er erbeutet hatte, vor sich auf den Tisch. Der Wirt blickte kurz über seine Schulter zu den anderen Gestalten, von denen einige aufmerksam aus den Augenwinkeln das glänzende Ding betrachteten, und beugte sich vor, um ihnen den Blick zu verstellen.
„Es sieht wertvoll aus – eine schöne Arbeit. Ich will lieber gar nicht wissen, woher du so eine Klinge hast. Aber es ist nicht besonders klug, sie hier in dieser Gegend zu zeigen. Üble Vögel sind um diese Zeit unterwegs. Manch einer verschwindet wegen weitaus weniger wertvollen Sachen und wird nie mehr wiedergesehen. Ein Menschenleben zählt hier nicht besonders viel. Wenn du es verkaufen willst, rate ich dir, zu einem Pfandleiher in der Südstadt zu gehen. Ich könnte dir sowieso keinen angemessenen Preis zahlen.“
„Das macht nichts. Ich werde nicht viel Zeit in Caska verbringen und schon morgen wieder abreisen. Ich brauch das Geld jetzt gleich. Und um meine Sicherheit brauchst du dir keine Sorgen machen. Ich kann auf mich aufpassen. Mach mir ein Angebot.“
Der Wirt wischte sich seine Hände an seinem fleckigen Hemd ab und berührte den Dolchgriff. Er fuhr mit den Fingern über den goldgefassten Smaragd am Griffende und schüttelte dann den Kopf.
„Nein, mein Herr. Ich werde dir leider nicht weiterhelfen können. Ich kann dieses Risiko nicht eingehen. Wer sagt mir, dass ich mich hiermit nicht der Hehlerei schuldig mache? Versteh mich nicht falsch, Ihr seht aus wie ein anständiger Bürger, aber die Stadtverwaltung hat mein Gasthaus sowieso schon im Auge. Und die Polizei versteht keinen Spaß in Caska. Außerdem ist deine Sicherheit nicht die einzige, um die ich mir Sorgen mache. Habt Ihr die gierigen Blicke der anderen Kerle gesehen? Von denen würde ich nicht behaupten, anständige Bürger zu sein.“
„Wenn das so ist, werde ich heute nicht dein Gast sein“, sagte Vincent und steckte das Messer wieder zurück in seinen Gürtel. Als er sich erheben wollte, um sein Glück woanders zu versuchen, stand ein Mann von einem Tisch in der anderen Ecke des Raumes von seinem Glücksspiel auf und ging zu ihm rüber.
„Warum denn so ungastlich Gunnar. Du siehst doch, dass der Mann durstig ist. Komm und hol uns zwei Bier. Geht auf mich.“
Er drängte den Wirt beiseite und setzte sich unaufgefordert an Vincents Tisch.
„Ich bin Arith. Arith Duren. Nenn mich Ari. Und wer bist du mein Freund?“
„Vincent Da Mera. Und ob ich dein Freund bin, wird sich noch rausstellen.“ Vincent glaubte, den Grund schon zu kennen, der ihm die Aufmerksamkeit von Arith einbrachte. In einem Milieu, wie sie diese Absteige beherbergte, bekam ein Fremder nicht einfach so mal ein Bier spendiert – aus reiner Nächstenliebe. Arith sah seinerseits nicht wie jemand aus, von dem man gern eines ausgegeben bekommt. Er war etwas kleiner als er, trug einen schmutzigen grünen Mantel, der zwar aus einem feinen Material hergestellt war, aber seine besten Jahre bereits hinter sich hatte. Sein knochiges Gesicht zierte ein ungepflegter Schnäuzer unter seiner Hakennase und seine tiefen Augenringe zeugten von vielen durchzechten Nächten. Ein erwartungsvolles Lächeln enthüllte gelbe und schwarze Zahnstümpfe.
„Na ja. Ich hörte zufällig mit, dass du Geld benötigst. Und zwar am besten sofort, nicht wahr? So würde ich vorschlagen, dass ich dir einen Gefallen erweise und im Gegenzug wirst du mir ebenso einen erweisen. Machen Freunde so etwas nicht?“
„Und wie soll dieser Gefallen deiner Meinung nach aussehen?“
Arith beugte sich weiter zu Vincent und sprach etwas leiser:
„Na ja, ich sah diesen Gegenstand, den du gerade eben dem Wirt angeboten hast. So ein Banause, dass er solch einem Kleinod nicht die angemessene Achtung zeigt, die es verdient. Ich bin ein Freund von Kunstgegenständen, musst du wissen. Vielleicht können wir ja ins Geschäft kommen. Darf ich es mal sehen?“
Vincent lehnte sich zurück. Arith legte anscheinend keinen großen Wert auf übertriebene Mundhygiene. Sein Atem roch furchtbar und das lag nicht nur an dem vielen Bier, das er konsumiert hatte. Aber wenn er einen guten Preis bieten sollte, dachte er, ist mir dieser Käufer genauso recht wie jeder andere. Also holte er den Dolch erneut hervor und drückte ihn in Ariths grobe Finger. Dieser zog ihn an sich und betrachtete ihn, stets darauf bedacht, kein unnötiges Aufsehen zu erwecken. Er zuckte kurz zusammen, als der Wirt mit einem missbilligenden Ausdruck im Gesicht zwei randvoll gefüllte Bierkrüge auf den Tisch stellte. Er teilte Vincent so mit, dass sein neuer Geschäftspartner nicht von der seriösesten Art war. Vincent gab ihn mit einer verschwörerisch hochgezogenen Augenbraue zu verstehen, dass er dies bereits wusste. Aber wenn er Informationen bekommen wollte, musste er mit jemandem ins Gespräch kommen. Die leichteste Art dafür war Straßenwissen. Und hier war wohl einer der besten Plätze dafür – ein Platz, an dem sich die einfachen Leute trafen. Doch solche Leute waren Fremden gegenüber naturgemäß etwas misstrauisch. Er musste ihr Vertrauen gewinnen. Sich ihnen anschließen. Mit ihnen trinken. Aber dazu brauchte er Geld, denn niemand gab sich gern mit Schnorrern ab.
Arith tat besonders fachkundig, prüfte die Schärfe, indem er mit seinem Finger über die Klinge fuhr und den Smaragd gegen das schummerige Licht der Lampe hielt, und sagte grinsend:
„Wirklich ein schönes Stück Handwerkskunst. Wenn du einverstanden bist, gebe ich dir, … sagen wir, … zehn Goldkreos.“
„Das deckt nicht mal den Materialwert“, konterte Vincent, der sich sicher war, dass dieses erste Angebot bestimmt nicht der letzte Preis war, den er aus ihm rausholen konnte. Er war sich bewusst, dass er hier als Sonderling eingeschätzt wurde, aber naiv wollte er nicht wirken – auch wenn er keine Ahnung hatte, welcher Betrag in dieser Währung als angemessen gelten konnte.
„Ach ja, und was glaubst du, für dieses Ding, in dieser Gegend, um diese Nachtzeit bekommen zu können? Dieser Handel birgt ein gewisses Risiko. Nennen wir es einen angemessenen Gefahrenabschlag. Woher weiß ich denn, bei allem Respekt, ob dies nicht einem Toten abgenommen ist? Da könnte ganz schnell Gefängnis daraus werden, wenn nicht Schlimmeres.“
Vincent war etwas überrascht ob diesem Argwohn in der Stimme Ariths. Fast wollte er ihn am Kragen packen und schütteln für die Frechheit, ihn mit Diebstahl in Verbindung zu bringen, überlegte es sich aber anders, als er an Kilians warnenden Worte dachte, keinen Streit anzufangen. Er gab sich einsichtig, wollte es ihm aber nicht zu leicht machen. Nach einem zähen Hin und Her einigten sie sich auf einen Preis von achtzehn Gold- und fünfundzwanzig Silberkreos. Nachdem sie ihre Übereinkunft mit einem großen Schluck Bier besiegelt hatten, zeigte Vincent Interesse an dem Würfelspiel, das in der anderen Ecke noch immer angeregt gespielt wurde. Das gefiel seinem neuen >Freund< sichtlich. Er stand auf, nahm seinen Krug und klopfte Vincent auf die Schulter.
„Na komm, lass uns unser Glück versuchen und mit einsteigen. Es wird um Geld gespielt. Aber keine Angst, das sind alles gute Jungs und das Spiel ist sauber. Falschspielern würde man hier das Fell über die Ohren ziehen.“ Natürlich kam ihm das entgegen. So konnte er schnell die sozialen Kontakte knüpfen, die er brauchte. Das nötige Wettgeld hatte er ja nun auch zur Verfügung. Wortkarg begrüßten die drei Spieler sie und bedeuteten, dass sie zumindest nichts dagegen hatten, ihren Tisch zu teilen. Allesamt sahen sie aus wie schlichte Arbeiter mit ihren wettergegerbten Gesichtern und den schwieligen Händen. Trotzdem wirkten sie nicht abweisend.
Zwar trauten sie diesem Fremden nicht so recht über den Weg, doch zumindest bestand eine höhere Chance auf Gewinn. Welch seltsame Tracht er trug. Ein einfacher Leinenüberwurf, unter dem ein scheinbar aufwendig gefertigter Harnisch zu sehen war. Dunkelgrau mit einem goldenen Symbol, das an das Haus der Kallicor erinnerte. Aber doch sah er nicht aus wie einer ihrer Gefolgsleute. Ein leises Surren begleitete seine Bewegungen. Seine Statur war überaus kräftig und füllig-muskulös. Sein rasierter Schädel und der Kinnbart, der zu zwei kleinen Zöpfen geflochten war, wirkte barbarisch, doch die Rüstung, die nur aus Meisterhand stammen konnte und die makellos weißen Zähne wiesen auf einen hohen gesellschaftlichen Status hin.
Vincent bat darum, die ersten Runden einfach nur zuzusehen, während Arith ihm die Regeln erklärte. Eine ähnliche Variante kannte er bereits von den zwar nicht erlaubten, aber geduldeten Glücksspielen auf den Mannschaftsdecks der Raumkreuzer. Er war nie besonders interessiert daran gewesen. Jetzt jedoch dankbar, dass es damals trotzdem dem einen oder anderen gelungen war, ihn zu einer Partie zu überreden. Gespielt wurde mit drei Würfeln. Der Erste, der ausgewürfelt wurde, durfte die Bank spielen und einen Einsatz festlegen. Die Anderen konnten zusammen den Betrag decken. Ziel ist es, eine möglichst gute Kombination zu würfeln, wobei der >Banker< bei den niedrigen Augen bis zur Drei und bei einem Pasch-Eins verliert und das Geld im Verhältnis zum Einsatz verteilt wird. Bei hohen Augen oder einem Drilling gewinnt er alles. Ab Zweier-Paschen entscheidet die Punktzahl, wobei jeder so lange würfelt, bis er einen Pasch hat. Gewinnt der >Banker<, darf er so lange weiterspielen, bis er verliert. Sonst kam der Nächste an die Reihe.
Die Einsätze waren nicht sehr hoch. Meist setzte keiner mehr als einige Kupferkreos oder einen aus Silber. Nach einigen Runden – das Glück war nicht auf Vincents Seite – begann er, die Männer so nebenbei wie möglich über ihre Vergangenheit und die ihres Landes auszufragen. Goria, so der Name des Kontinents, war hoffnungslos in dem Feudalsystem des Imperators gefestigt. Die Könige seiner achtzehn Reiche waren tributpflichtig und kamen für den Hofstaat der Kallicor auf. Kein Vasall konnte sich dieser Pflicht entziehen, ohne seinen kompletten Untergang zu riskieren. Um diese Treue einzufordern, war der Prinz höchstpersönlich auf dem Weg nach Caska, erfuhr Vincent mit gespieltem Erstaunen. Die Wirkung des kräftigen Bieres, das stetig von dem aufmerksamen Wirt nachgefüllt wurde, dämpfte den Argwohn der Spieler. Der Ehrgeiz, diesen neugierigen Fremden um sein Geld zu bringen, beanspruchte mehr Aufmerksamkeit, als seine wunderlichen Fragen zu beantworten.
Warum trinkt dieser Trottel nicht einfach sein Bier und lässt mich meinen Job tun: Mir mein Geld wieder zu holen, dachte Arith.
„Lass doch das ganze Geschnatter über Politik und Geschichte und trink mit uns auf die Göttin des Glücks und der Geselligkeit“, sprach er, sah Vincent mit seinen biergetrübten Augen an und hob seinen Humpen.
„Die fetten Titten Matteras sollen uns ewig nähren – langen Spaß und Gewinn uns bescheren!“
„So darfst du nicht über sie sprechen!“, bekam er verärgert von einem der Männer zur Antwort. Auch der andere stimmte ihm zu.
„Ja! Niemand darf so über die Götter sprechen. Auch nicht, wenn man so besoffen ist wie du, du abgewrackter Pferdedieb.“
Arith lachte laut auf und knallte seinen Krug wieder auf den Tisch.
„Kein Grund so ausfällig zu werden, ihr frommen Kirchengänger. Da haben die Phrasendrescher des Klerus bei euch ja ganze Arbeit geleistet. Aber nichts für ungut. Das ist ein gebräuchlicher Trinkspruch aus Vengrad – dem Reich, aus dem ich komme.“
„Nun, bei uns wirst du dir was Anderes einfallen lassen müssen.“
„Ja, ja ist schon gut“, beschwichtigte Arith. Einen Streit konnte er jetzt wirklich nicht gebrauchen. Die anderen Gäste der Stube blickten auch schon angespannt herüber.
Er musste hier etwas umsichtiger mit den Befindlichkeiten der Einheimischen umgehen, sagte er sich. Er selbst war schon viel herumgekommen. Hatte viele Reiche besucht auf seinen Wanderschaften – immer auf der Suche nach der nächsten Gaunerei. Die Macht der Kirche war anderorts weniger ausgeprägt, doch hier hatte er es mit einfältigen Gesellen zu tun, die nicht über den Tellerrand blicken konnten oder wollten. Ein gutes Publikum für das Kontrollorgan des Staates.
„Lasst uns das Ganze vergessen und weiterspielen. Lasst euch das nächste Bier schmecken – es geht auf mich. Betrachtet es als Entschuldigung, eure religiösen Gefühle verletzt zu haben.“
Bei diesen Worten kühlten sich die hitzigen Gemüter der Arbeiter ab und sie gingen wieder über, den Würfelbecher zu schütteln. Nach dem letzten geglückten Wurf Ariths bekundete dieser, dass er kurz vor die Tür wolle, um ein Bedürfnis zu stillen. Vincent nahm die Würfel vom Tisch und warf sie nach einer fließenden Bewegung, bei der sie für Sekunden unter der Tischplatte verschwanden, in den Becher.
„Das ist eine gute Idee – ich werde dich begleiten“, sagte er danach und erhob sich ebenfalls. Draußen stehend – Arith versuchte soeben, ein A in den Schnee zu pinkeln – richtete Vincent das Wort an ihn.
„Wirklich eine erstaunliche Leistung, so lange überlebt zu haben.“
„Wie meinst du das?“,
„Na ja, nach dem, was du mir erzählt hast, was sie mit Falschspielern machen.“
Arith sah ihn böse an und war gleichzeitig etwas schockiert von den geradeheraus gesagten Beschuldigungen.
„Willst du damit sagen, ich spiele falsch!“ Seine Hand ging langsam zu einer versteckten Klinge. Die Zeit, um seine Hose zu schließen, nahm er sich nicht.
„Genau das will ich sagen“, meinte Vincent emotionslos. „Du benutzt gezinkte Würfel. Aber lass das Messer stecken, ich werde dich nicht auffliegen lassen. Ich muss im Gegenzug aber einen Gefallen von dir einfordern. Wir sprechen uns, wenn wir die anderen beiden los sind.“ Ohne weitere Erklärungen zu machen, drehte sich Vincent um und ließ Arith mit offenem Mund zurück.
„Aber das ist eine Lüge! ... Das kannst du nicht beweisen …“, stammelte er noch.
„Wir werden sehen“, bekam er zur Antwort, bevor sich die Tür wieder schloss.
„Und vergiss nicht, deine Hose zu schließen.“
Das hätte der verdutzte Arith fast tatsächlich vergessen. Was bildet sich dieser dumme Fremde eigentlich ein, mich so zu beschuldigen!, dachte er und gewann seine Fassung wieder.
Da er fast sein ganzes Geld für den Prachtdolch ausgegeben hatte, beschloss er, trotz des Risikos ertappt zu werden, wieder zurückzugehen. Er musste wenigstens einen Teil wieder zurückbekommen. Außerdem hatte er es schon mit brenzligeren Situationen zu tun gehabt. Der hochnäsige Fremdling konnte ihm nichts nachweisen. Dazu war er nicht gut genug.
Die Spielrunde ging weiter. Wieder zugunsten Ariths. Und er wurde wieder sicherer und war dran und drauf die Worte von vorhin in den Wind zu schießen. Als er wieder an der Reihe war, holte er in einer geübten, schnellen Bewegung seine eigenen Würfel aus dem engen Ärmel seines Untergewandes und tauschte sie aus. Wieder ein hervorragender Wurf. Der Pott gehörte ihm. Erfüllt von neuem Selbstvertrauen forderte er lauthals seinen Gewinn ein. Nur dem Gesicht Vincents mangelte es an einem verärgerten Gesichtsausdruck. Ein Lächeln umspielte seinen Mundwinkel, während er zuerst Arith in die Augen sah und dann auf die Würfel, deren Augen einen Sechser-Drilling zeigten. Arith folgte seinem Blick und erbleichte. Den anderen war es zu seinem Glück nicht aufgefallen, doch er erkannte es sofort. Die Würfel, von denen einer dem anderen wie ein Ei glich, hatten alle an derselben Stelle eine winzige Kerbe. So gekennzeichnet war es nur eine Frage der Zeit, bis dies jemandem auffallen würde. Und wenn, würde es sein Todesurteil sein. Kalter Schweiß rann ihm den Rücken runter. Gut, dass die anderen nicht mal so aufmerksam waren, seine zitternden Hände zu bemerken, als er die Würfel wieder zurücknahm. Er steckte sie wieder in seinen Ärmel und versuchte dabei, seine Gesichtsregungen unter Kontrolle zu bringen. Er sah Vincent an und nickte kaum merklich. Das Zeichen, dass er sich geschlagen gab, sollte er ihn nur nicht verraten. In der Bewegung, mit der er sie zurückgegeben hatte, hatte Vincent blitzschnell die Würfel an der Schneide seines Schwertes, das er mit dem Daumen etwas aus der Scheide hob, geritzt. Plötzlich wendete sich das Spielglück und auch Arith verlor so manche Partie. Die Würfel mit Bleieinsatz in Ariths Ärmel waren jetzt wertlos. Nach einigen weiteren Runden Spiel und Bier beschlossen sie, allmählich aufzuhören und nach Hause zu gehen. Arith begleitete Vincent noch zu dem Gasthaus, das ihn beherbergte. Ariths Gefallen sollte darin bestehen, ihn am nächsten Tag als Fremdenführer zu dienen. Vincent gab sich als kulturinteressierter Reisender aus, der mehr von der Stadt sehen wollte. Ein Ortskundiger käme ihm da sehr entgegen. Arith konnte damit sehr gut leben – befürchtete er doch, weitaus mehr für seine Schuld aufkommen zu müssen. Er durfte sogar das Geld behalten, das er gewonnen hatte. Er versprach, ihn gleich nach dem Frühstück abzuholen. Sie verabschiedeten sich und Arith ging seiner Wege – alles unter dem prüfenden Blick eines weiteren Augenpaares in der Dunkelheit.
Die zweite Bestätigung
Mit den ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages kam wieder Geschäftigkeit im Feldlager auf. Die Feuerplätze wurden fürs Frühstück angeschürt, Zelte abgebrochen und Pferdegeschirre angelegt. Miroba hatte wenig Schlaf in der letzten Nacht gefunden und war entsprechend schlecht gelaunt. Die Worte seines Generals gingen ihm immer wieder durch den Kopf. Nicht menschlich. Dämonen.
Von der zweiten Expedition gab es ebenfalls noch immer keine Nachricht und unter seinen Männern breitete sich eine Stimmung des Unbehagens aus. Doch trotz aller Umstände musste er nun aufbrechen. Er war für heute am Hof von König Vandakar angekündigt und bei einer Verspätung war er vielleicht unangenehmen Fragen ausgesetzt. Den Verlust so vieler Soldaten durch Rebellen konnte er nicht so einfach zugeben. Doch nun musste er sich für die anstehenden Aufgaben vorbereiten. Er zog seine schwarze Paradeuniform mit den Goldinsignien seines Hauses an und ließ sich die Haare bürsten. Als er um die Mittagsstunde mit seiner Körperpflege fertig war, stand auch schon der größte Teil seines Heeres marschbereit und wartete, bis er seinen Platz an der Spitze einnahm. Gerade wollte er seinen schwarz lackierten Helm mit der angeschweißten Krone anlegen, als er auf eine gewisse Unruhe in der Aufstellung der Lanzenträger aufmerksam wurde. Die Ursache war der Späher, der gerade angelaufen kam. Er kniete sich vor ihm hin und schnaufte kurz ein, bevor er berichtete.
„Herr, Harpiels Männer treffen ein. Es ist furchtbar. Sie wurden aufgerieben. Die Wenigen, die es geschafft haben, sind verletzt oder dem Sterben nahe. Der Feldarzt lässt ausrichten, dass er um Euer sofortiges Erscheinen bittet, um Euch deren Bericht anzuhören.“
„Gut.“ Er stieg auf sein Pferd und befahl seinen Offizieren, das Heer in Marsch zu setzen. Er würde die Spitze später übernehmen. Er preschte los zu den noch verbliebenen Zelten einer kleinen Abordnung, die den verletzten Pagloth versorgen sollte, bis er seine Regierungsgeschäfte abgeschlossen hatte und er sie später wieder auflesen könnte. Erbärmliches Stöhnen und Wimmern erwartete ihn in den Zelten, und weil der Platz nicht ausreichte auch davor. Der Arzt war gerade damit beschäftigt, das Bein eines ohnmächtigen Soldaten abzusägen. Seine Helfer verbanden die schlimmsten Wunden der Übrigen. Von der Hundertschaft überlebten gerade mal dreiundzwanzig. Und davon waren wiederum drei Weitere noch auf dem Rückweg gestorben. Drei der Reiter, die relativ unbeschadet wiederkehrten, kamen sofort angelaufen, als sie den Prinzen sahen, und warfen sich vor ihm in den Schnee.
„Erstattet Bericht!“, bellte er ihnen entgegen.
„Ja mein Herr. Feldmarschall Harpiel befahl die Verfolgung der Dorfbewohner, um die Sache aufzuklären und sie ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Wir ritten die ganze Nacht durch. Am Fuße des Pekawarth Gebirges konnten wir sie schließlich einholen. Es sah einfach aus – nur ein einzelner Mann in Rüstung stellte sich uns entgegen und so ritten wir einen Sturmangriff, um ihn niederzureiten. Und da, … alles ging so schnell, … wir hatten keine Chance …“
„Wir rannten in eine Falle, Sire.“, führte der andere kniende Soldat weiter aus. Ein Pfeilschaft steckte noch in seiner Schulter und verkrustetes schwarzes Blut klebte auf seinem ledernen Schulterschutz. Die Strapazen ließen ihn älter aussehen, als er war.
„Eine Falle der Securra. Sie haben uns erwartet und brachten Harpiel zu Fall. Die nachstürmenden Pferde konnten nicht schnell genug bremsen und so wurden wir das Opfer des feigen Securra-Hinterhaltes.“
„Sie waren in der Überzahl und schlachteten die meisten unserer Kameraden ab. Wir konnten von Glück sprechen, nicht ebenfalls gefallen zu sein“, log der Dritte.
Mirobas Gesicht zeigte keine Reaktion während des Berichts, doch innerlich keimte eine verzweifelte Wut. Die Machtlosigkeit seiner Truppen demütigte ihn. Als er mehr über diesen Mann in Rüstung erfahren wollte, bekam er wieder seltsame Dinge zu hören. Angeblich solle er es vermögen, aus dem Stand drei Meter in die Luft zu springen, und ein flammendes Schwert besitzen, das einfach alles durchschneiden konnte. Das war eine zweite unabhängige Bestätigung, dass da äußerst beunruhigende Dinge im Gange waren. Und diese Dinge waren ihm nicht wohlgesonnen.
Ohne ein Wort der Aufmunterung zu verlieren, schwang er sich wieder auf seinen schwarzen Vollbluthengst und gab die Order, Stellung zu halten bis zu seiner Wiederkehr.
Schnee und Eis stoben auf, als er mit seiner kleinen Geleitschaft die beschämten Männer hinter sich ließ, die vorher so stolz ihre Stellung als Elitereiter vertreten hatten.
Zwischenbericht
Zielstrebig stapfte eine einsame Gestalt durch den Schnee. Ein schwarzer Punkt auf weißer Ewigkeit. Das Einzige, was sich sonst noch bewegte, war die glänzende Kugel, die leise weit über ihm schwirrte. Es war heute zwar nicht mehr gar so kalt wie in den letzten Tagen, trotzdem wurde Kilians unbehelmtes Antlitz von Atemwolken umspielt. Diese Gegend verursachte eine leise Ahnung ewiger Einsamkeit in ihm. Gern hätte er jetzt seinen Gefährten bei sich, gern hätte er sich auch noch auf das Angebot Dahns eingelassen, ihn zu begleiten, und seine Gastfreundschaft genossen. Diese Kultur würde ihn bestimmt faszinieren und er wollte mehr über jene Krieger erfahren, die sich ebenfalls mit dem Weg des Schwertes befassten. Doch er hatte eine Mission zu erfüllen. Selbst wenn sie gescheitert schien. Die Pflichten gegenüber seinem Auftraggeber und noch mehr die gegenüber seinem letzten Kampfgenossen zwangen ihn, das alles zu ignorieren. Wenigstens ihm musste er eine sichere Heimkehr gewähren. Und so begab er sich ohne unnötige Unterbrechung wieder auf den Weg zu ihrem Schiff, um die letzte Möglichkeit zu nutzen, dieser Welt zu entfliehen. Korbins Betteln, ihn mitzunehmen, machte es nicht leichter. Zwar hatten sie sich in der kurzen Zeit schon reichlich Feinde gemacht, aber auch die aufrichtige Hochachtung neuer Freunde gewonnen. Eine seltsame Welt, dachte Kilian. Aber deren Geheimnisse zu ergründen, würde Finser, dem Missionsleiter, bestimmt besser gelingen als einem einfachen Soldaten wie ihm.
Der erste Zwischenbericht über das Leben in der Stadt konnte dank Vincent schon geliefert werden. Langsam näherte er sich wieder der Anhöhe und der Schlucht, die das Raumschiff verbarg. Nachdem er die Gegend nach ihrem Verlassen als unberührt einschätzte, durchschritt er den schmalen Eingang durch die Felsen. Er setzte seinen Helm wieder auf und gab sich dem Schiff zu erkennen. Die Verteidigungssysteme traten außer Kraft und er konnte die Plane wieder entfernen, die mittlerweile eine Schneeschicht trug und das Schiff wie einen einfachen Felsen wirken ließ. Der Bordcomputer meldete keine Zwischenfälle. Langsam verwandelten die lebenserhaltenden Systeme das Cockpit wieder in einen mollig warmen Platz und befreiten die Außenscheibe vom Frost. Kilian entledigte sich seit Langem wieder seines Anzuges und wechselte in einen bequemen Overall. Durch die eintretende Wärme taute auch das Blut wieder auf, das noch immer einen großen Teil der Inneneinrichtung bedeckte. Der Anblick und der Geruch ließen eine leichte Übelkeit in ihm aufkommen und so beschloss er, erst einmal sauber zu machen.
Danach begann er mit den Vorbereitungen der Abfangoperation. Über die Bordinstrumente startete er die Drohne, die nun wieder voll aufgeladen und mit einer Fangnetz-Kapsel munitioniert war, aus ihrer Andockstation gen Himmel. Bald schon war sie außer Sichtweite und schwenkte nach dem Eintritt in die Stratosphäre in einen vorberechneten fast waagrechten Kurs. Um so energieeffizient wie möglich zu fliegen, musste die Drohne erst den Planeten umrunden, um dann immer weiter den Fängen der Gravitation zu entfliehen. Bis sie ihre Position im All einnehmen konnte, würde es noch knapp zwei Stunden dauern und so nutzte Kilian die Zeit für ein dringend notwendiges Nickerchen.
Sightseeing
Obwohl er spät schlafen gegangen war, fühlte sich Vincent wach und belebt. Es war wieder ein heller und heute etwas wärmerer Wintertag und das Haus war erfüllt von herrlichen Essensdüften. Der erste Luxus, den er sich gönnte, bestand aus einem ausgiebigen, heißen Bad. Seinen ganzen Körper mit duftendem Wasser zu umgeben, hatte er in seinem Leben nur selten die Chance. Es war himmlisch. Die wohlige Wärme noch immer in den Gliedern, nahm er anschließend noch mit einem Morgenmantel bekleidet ein üppiges Frühstück ein. Womit er schon den zweiten Luxus geboten bekam. Es bestand nämlich aus frischem, noch warmem Brot, echten Rühreiern mit Kräutern, echtem gebratenem Speck, Fasanenpastete und weichem Süßgebäck, das mit einer für ihn unidentifizierbaren Fruchtmarmelade gefüllt war. Dazu wurde Tee und Milch gereicht. Da es in diesem Land anscheinend keinen Kaffee gab (das Hausmädchen sah ihn mit erkenntnislosen und leicht amüsierten Augen an, als er danach verlangte), nahm er sich welchen aus seinem Vorrat. Der schmeckte aus seiner >Selfheat-Dose< zwar nicht wie frisch gebrühter, doch er erfüllte seinen Zweck.
Vincent hatte noch nie solch naturbelassene Kost gehabt. Die meisten Speisen, die er kannte, waren nur aromatisierte Kunstprodukte, die den Geschmack längst verlorener oder zu teurer Lebensmittel imitierten. Er hatte sich darüber nie viele Gedanken gemacht, aber jetzt merkte er, wie weit dieser synthetische Fraß vom Original entfernt war.
Frisch gestärkt und mit neuen Kleidern trat er vor die Tür ins goldene Licht der Stadt. Am Tage wäre er mit seinem pneumatischen und Antimaterie-Reaktoren betriebenem Gefechtsanzug noch mehr aufgefallen und so gab er dem Hausburschen fünf Goldkreos, um ihm eine neue Garderobe zu beschaffen. In der Mode der Einheimischen solle sie sein, mit einem passenden Mantel und Reitstiefeln. Die Fragen einer mondänen Zusammenstellung überließ er dem Urteil des Jungen. Als er sich so vor dem Spiegel in seinem Zimmer ansah, bereute er diese Entscheidung. Es war viel zu bunt für seinen Geschmack. Eine dunkelblaue Pluderhose, die von einem dicken Gürtel gehalten wurde, der aus kleinen geschmiedeten Metallgliedern bestand. Da der Junge annahm, er habe es mit einem hohen Kallicor-Beamten zu tun, wählte er eine schwarz lackierte Schnalle, die mit der goldenen Insigne des Kaisers verziert war – einem Stier mit gesenkten Hörnern. Wie die Hose passten auch das rote Hemd und die schwarze Lederweste nahezu perfekt. Der Schneider erhielt als Referenz für die Kleidergröße den Hinweis, es sei für einen Edelmann, der die gleiche Statur wie der hünenhafte Waffenschmied hatte, der gegenüber seine Werkstatt betrieb. Er pflegte eine gute Freundschaft mit ihm und hatte für ihn vor einiger Zeit dieses Ensemble für ein Vorsprechen beim königlichen Hof angefertigt, da man vom guten Ruf seiner Schwerter gehört hatte. Der raubeinige Schmied jedoch lehnte es ab, da er es als >zu weibisch< empfand. Und so hatte der Schneider eine gute Gelegenheit, doch noch Profit daraus zu schlagen. Gekrönt wurde die neue Erscheinung Vincents durch einen prächtigen purpurnen Mantel mit weichem Fellkragen, dunkelbraunen hasenfellgefütterten Lederhandschuhen und einer Kopfbedeckung von gleicher Farbe. Bestimmt war sie topmodisch, doch auf ihn wirkte sie etwas lächerlich mit der roten Feder, die sie schmückte. Er trug sie trotzdem. Zum Thema Mode verstand er sowieso nicht viel, sagte er sich. Von seiner eigentlichen Ausrüstung trug er nur noch seinen Waffengurt mit dem Schwert an der Seite, die Pistole am Rücken unter dem Mantel verborgen und ein kleines Kommunikationsgerät, mit dem er seiner Drohne Befehle geben oder Kontakt mit Kilian aufnehmen konnte. Als er sich jedoch die Bevölkerung betrachtete, kam er sich doch etwas aufgeplustert vor.
Alle möglichen Handwerksstände waren vertreten und gingen ihrem Tageswerk nach. Bauern führten eselbespannte Wägen mit Gemüse zum Marktplatz, ein Kesselflicker zog seine mobile Werkstatt hinter sich her und krakelte dabei seine Werbung in die Wohnhäuser, und ab und an sah er auch mittelständische Gutsherren oder Edelleute, die darauf achteten, nicht mit ihrem feinen Schuhwerk in den Schmutz zu treten. Keiner aber trug so edles Tuch wie er. Er hatte dem Jungen einfach zu viel Geld mitgegeben. Einen unauffälligen Auftritt konnte er so vergessen. Viele vorbeigehende Menschen grüßten ihn höflich, manche verbeugten sich in dem Glauben, es mit einer hohen Persönlichkeit zu tun zu haben.
„Hey Großer. Bereit für die Sonderführung durch Caska?“, rief der von der anderen Straßenseite auf ihn zukommende Arith.
„Dachtest wohl, ich komme nicht? Aber auch wenn ich ein Gauner bin, ein Ehrenwort pflege ich stets zu halten. Jedenfalls, wenn‘s nicht entgegen meiner Geschäfte steht, versteht sich …“
„Verstehe.“
Er blieb vor Vincent stehen und sah in von unten bis oben mit kritischem Blick an, während er an einer gekochten, rübenartigen Wurzel – seinem Frühstück – kaute. Schmatzend und leicht belustigt sagte er:
„Na du hast dich aber herausgeputzt. Wohl noch auf Tee beim König verabredet, was?“
Da Vincent nur mit einem bösen Blick darauf einging, begannen sie ihren Ausflug. Bei Tageslicht war die Königsstadt nur umso beeindruckender. Der klare Sonnenschein vom wolkenlosen Firmament zauberte Tausende Reflexionen von den glasierten Dachziegeln Caskas und sprenkelte den Schatten der Straßen und Gassen mit schimmernden Splittern.
Erst jetzt gewahrte man sich der eigentlichen Dimension der Metropole. Alles wirkte wie eine mittelalterliche europäische Großstadt, wie sie es auch im dreizehnten Jahrhundert der Erde geben musste. Mit Ausnahme einiger Abweichungen in der Kultur wie beispielsweise der Sprache oder der technischen Errungenschaften, die es zu dieser Zeit auf seiner Welt noch nicht gab. Der Buchdruck war bereits bekannt sowie bestimmte technische Verfahren zur Herstellung von Legierungen. Als er sich die Arbeitsstätte des Waffenschmieds ansah, entdeckte er einen dampfbetriebenen Hammer, der für eine erhebliche Arbeitserleichterung sorgte und chemische Brandbeschleuniger für die Esse. Bewunderung fanden auch die meisterlich gefertigten Schwerter, die zum Verkauf aufgehängt waren. Am liebsten hätte er eines erstanden, doch erste Priorität war es, Daten zu sammeln und so schnell wie möglich zu verschwinden. Wenn der Prinz sich heute Morgen in Bewegung gesetzt hatte, würde er bald nach Mittag hier ankommen. Also beschränkte er sich darauf, Ungewöhnlichkeiten für seinen Bericht zu sammeln und einzuprägen. Unter Ariths Ausführungen zu Architektur und Geschichte schlenderten sie weiter zur Stadtmauer, zum Marktplatz und zur riesigen Hauptkathedrale des Ortes. Als sie so am Strom der Gläubigen vorbeigingen, fiel Vincent aus dem Augenwinkel eine Gestalt auf, die ihm sonderbar bekannt vorkam. Er stand also immer noch unter Beobachtung. Der Mann zeigte mit dem Finger auf ihn, doch als er sich zu ihm umdrehte, war er verschwunden. Nachdem Arith ihm noch die Stadtbibliothek gezeigt hatte, gab er an, genug gesehen zu haben, und wollte sich verabschieden. Ein mulmiges Gefühl, das er nicht begründen konnte, stieg in ihm auf. Als er Arith noch einen Goldkreo für die Führung geben wollte, tat dieser leicht entrüstet und nahm es nicht an. Er wäre letzte Nacht schon bezahlt worden und sie seien jetzt quitt. Er überredete Vincent, ihn noch auf dem Rückweg auf einer anderen Route zu begleiten. Er sprach von einer Überraschung. Einer Sehenswürdigkeit, die ihn erstaunen würde. Einer, die jeder Reisende gesehen haben musste.
Hatte man dies nicht geschaut, so sah man auch Caska nie wirklich.
Der Weg zum Gasthaus war um einiges länger, musste er feststellen, aber Arith wiederholte als Reaktion zu seiner Ungeduld nur wieder, wie lohnenswert ihr Ziel doch war. Das Viertel, in das sie kamen, war viel schäbiger als die gut instand gehaltenen weiß getünchten Gebäude im Stadtkern. Das Straßenpflaster wich einer verdreckten, unbefestigten Gasse, die durch enger werdende kleine Häuser, Lagerhallen und Baracken führte. Immer wieder blickte sich Arith verstohlen um, wenn Vincent unaufmerksam schien. Dieser wunderte sich, dass so ein begehrtes Touristenziel in so einer heruntergekommenen Gegend zu finden sei. Immer weniger Menschen waren auf den Straßen unterwegs, je tiefer sie in den Slum gelangten. Vincents Nackenhaare sträubten sich. Vielleicht lag es an den ängstlichen Augenpaaren, die sie aus manchem Fenster anstarrten. Wenn er einen dabei ertappte, zog dieser meist sofort die Fensterläden zu. Ungerührt, als wenn es nichts Ungewöhnliches gebe, plapperte Arith weiter. Es wäre ja nicht gerade ein Vorzeigeviertel, aber bald würde sich der König persönlich um die Verbesserung der Infrastruktur und der Verhältnisse der armen Bevölkerung kümmern. All dies, alles, was in seinem Blickfeld war, sollte ausgetauscht oder restauriert werden. Aber das Erste, das hier schon geleistet wurde, wäre wirklich wegweisend. Wenn er sich doch nur ein klein wenig gedulden würde.
Als Vincent eine gewisse Erregung und Nervosität in Ariths Verhalten erkannte, schob er seine linke Hand langsam zu dem Pistolenschaft an seinem Rücken. Während ihm Arith versicherte, dass sie nach dem Tor vor ihnen endlich zu seiner Überraschung gelangten, trug er seine Waffe mit ruhiger Hand unter dem Mantel und deaktivierte die Sicherung. Mit der anderen umgriff er langsam den Griff seines Schwertes und schritt weiter. Nur noch wenige Meter bis zu dem Tor in der Mauer, die ein Vorläufer der Stadtmauer zu sein schien. Nicht ganz so mächtig wie die Heutige, doch konnte man noch immer die stabile Bauweise erkennen, die für jedes Zivilgebäude unnötige Materialverschwendung wäre. Fast unmerklich verlangsamte Arith seinen Gang und fiel leicht zurück, um Vincent den Vortritt durch die Eichentür zu lassen. Die Tür stellte den einzigen Einlass durch das Tor dar. Die riesige Schwingtür, durch die man gehen konnte, war schon lange nicht mehr ganz geöffnet gewesen. Einige Kinder, die vor dem Tor Hennen jagten und in die Schlammpfützen sprangen, erschraken beim Anblick des grimmigen und hoch konzentrierten Vincent und rannten davon. Die Restlichen folgten ihrem Beispiel, als sie von ihren Eltern durch wütende Rufe getadelt wurden. Auf keinen Fall durfte er durch dieses Tor gehen, wusste Vincent. Aber die Alternative, die im Rückzug lag, war jetzt bestimmt schon genauso gefährlich. Er war in eine Falle geraten und hatte es viel zu spät gemerkt. Sein ganzes Wesen ging, wie er es gelernt hatte, in der kühlen Kalkulation seiner Optionen auf. Ohne seinen Kampfanzug musste er sich auf seine natürlichen Qualitäten berufen. Kein Ausweg bot sich ihm an. Arith – dieses Schwein! Hat mich verraten, dachte er, nachdem er die Idee verworfen hatte, ihn einfach als Geisel zu nehmen. Der Prinz würde bestimmt keine Rücksicht auf das Leben dieses Wurms nehmen.
Vier Schritte noch bis zur Tür.
Noch drei.
Die Mauer war zu hoch, um das Tor zu umgehen; hinter ihnen würden sich bald so viele Soldaten befinden, dass ein Entkommen selbst mit einem Panzer schwierig war. Wie es ein guter Stratege tun würde, wenn man es mit einem unbekannten Gegner zu tun hatte, schickte der Prinz bei jedem Fehlschlag eine wesentlich stärkere Streitmacht aus, ahnte Vincent. Es würden so viele sein, dass er sich nicht allein mit ihnen anlegen konnte. Er konnte nur noch die Art seines Todes wählen. Sollte er mit erhobenem Schwert einfach in die Reihen seiner Feinde stürmen und so viele mitnehmen, wie er konnte, oder sollte er versuchen, einen Offizier oder gar den Prinzen persönlich auszumachen, um ihn dann anzugreifen?
Zwei Schritte noch bis zur Tür.
Eine Gasse tat sich zur rechten Seite auf. Eine Enge zwar, mit wenig Tageslicht und keiner Deckung, aber trotzdem eine Option.
Ein Schritt.
Arith blieb stehen. Das war das Zeichen für Vincent. Blitzschnell vollführte er eine Seitwärtsrolle in die Gasse und kam vor einer kleinen Holztür mit dem Schwert in der Hand wieder zum Stehen. Die Kammer dahinter gehörte nicht zur früheren Wallanlage, sondern schien nachträglich in die Mauer gebrochen worden zu sein. Da über der Tür ein Fenster zu sehen war, musste es einen Weg nach oben geben. Mit einem gedrehten Kick flogen Holzstücke und der Rest der Tür durch den Gang und rissen den ersten Widersacher in seiner Überraschung nieder. Er hatte sich kurz hinter der Tür mit blank gezogenem Schwert postiert, rechnete jedoch nicht mit der Gewalt, mit der Vincent eindrang. Ohnmächtig sackte er zusammen.
„Da ist er! Seht her! Dort ist er reingegangen!“, hörte er Arith von draußen hysterisch kreischen, gefolgt von dem Gestampfe nachrückender Soldaten. Zwar musste Vincent auf die Kraft des Anzuges verzichten und die Ki-Energie konnte er daher auch nicht einsetzen, trotzdem war er noch immer ein begnadeter Fechter. So billig würde er sich nicht verkaufen. Mit den übrigen fünf Wachen, die das Haus besetzten, machte er kurzen Prozess und erschoss sie kurzerhand, um dann wie der Blitz ins zweite Stockwerk zu eilen. Dort angekommen wuchtete er einen großen Massivholzschrank die Treppe herunter, der laut krachend den Weg versperrte. Die Barriere wurde durch heftiges Fluchen der Verfolger quittiert, die um ein Haar erschlagen wurden. Was nun …
Er sah sich in dem verwahrlosten kleinen Zimmer um und suchte nach einem Ausweg. Der einzige natürliche Ausgang war die Treppe nach unten, wo gerade begonnen wurde, den Schrank mit einer Streitaxt zu bearbeiten. Durch das Fenster sah er, wie Bogenschützen im Haus gegenüber Stellung bezogen. Das mit dem >unauffälligen Reisenden< hat sich ja wohl erledigt, dachte er, richtete seine Feuerwaffe nach oben neben seinen Mund und wählte Munition:
„Explosionsgeschosse – Stufe fünf.“ Die Sprachsteuerung verarbeitete den Befehl innerhalb von Mikrosekunden. Die richtige Anzahl von Antimaterie-Moleküle aus der kleinen Magnetfalle im Griff wurde in die Projektile geschleust. Stufe fünf war die höchste Stärke, die in Kurz-Distanzwaffen zulässig war. Mit dieser Einstellung war der Vorrat an dem extrem instabilen Stoff schnell erschöpft. Auf der Munitionsanzeige leuchtete eine rote Sieben. Langsam streckte er seinen Schussarm zum Fenster und sah den Männern beim Anlegen der Pfeile zu. Der Schweiß stand ihnen im Gesicht. Sie waren von ihrem eigentlichen Posten in den Häusern der anderen Straßenseite hergerannt. Schwierig, den Bogen ruhig zu halten, wenn man noch schwerer zu schnaufen hatte. Die Anspannung der letzten Zeit tat ihr Übriges. Jeder hatte trotz des Sprechverbots über viele Ecken von den Gerüchten des Dämons mit dem flammenden Schwert gehört. Mit einem Wort könne er einen Menschen zerplatzen lassen und selbst Pfeile treffen ihn nicht.
Nachdem der Prinz von seinem Herold, der ihn schon vor dem Morgengrauen angekündigt hatte, eine ungewöhnliche Nachricht empfangen hatte, löste er sich unverzüglich aus dem Heeresverband und ritt mit einer fünfhundert Mann starken Kavallerie im Galopp voraus. Der Teil, der ihn interessierte, enthielt einen Bericht der Stadtwache über einen Mann, der sich als sein Bote ausgab. Dieser hätte seltsam ausgesehen und gesprochen, aber man habe ihn rein gelassen und ihm eine Unterkunft gestellt. Schließlich trug er das kaiserliche Wappen auf seinem Harnisch. Ein Harnisch, der übrigens nahtlos und von außergewöhnlicher Qualität sei. Dieses Detail, das so ungewöhnlich war, dass es der Chef der Wache extra erwähnte, machte ihn stutzig und ließ sein Herz höherschlagen. Das konnte die Chance sein, diesem Mistkerl habhaft zu werden. Der andere Teil der Nachricht gefiel ihm wiederum überhaupt nicht. Der Fremde posaunte in Caska umher, dass es ein Gefecht zwischen dem Prinzen und Securra-Rebellen gegeben habe. Unmöglich, dies jetzt noch in der Öffentlichkeit zu leugnen. Die Propaganda hatte nun die Aufgabe, den Prinzen als strahlenden Sieger darzustellen. Die Souveränität des Kaiserhauses musste unbedingt sichergestellt werden. Und dieses Geschwür sofort entfernt werden.
Die Männer, die die Heeresmoral abschätzen sollten, hatten schon beunruhigende Berichte geliefert, nach denen unter den Männern bereits übertriebene Gerüchte die Runde machten. Die Gerüchte trugen nicht gerade zur Souveränität Mirobas bei. Jetzt musste er alles richtig machen. Und er würde es schnell tun müssen. An dem Tor der Stadt angelangt, war bereits mehr zu erfahren. Die nevkorischen Soldaten waren keinesfalls untätig gewesen und ließen den Fremden beschatten. Ein Bürger, der Kontakt mit ihm hatte, wurde festgenommen und soeben vernommen. Als der Prinz den Verhörraum betrat, wich alle Farbe aus Ariths Gesicht. Seine Verteidigungshaltung brach augenblicklich in sich zusammen und er ließ sich zitternd auf die Knie fallen. Einen Kallicor belog man nicht. Das Beste war, ihm sofort alles, was er wissen wollte, zu sagen. Jedes andere Verhalten führte zu einem grausamen Tod unter unvorstellbaren Schmerzen. Die nevkorischen Soldaten konnte man zwar immer etwas hinhalten, aber wenn es um seine Staatsangelegenheiten ging, so war der Prinz bekannt dafür, gleich zur Folter überzugehen. So erzählte er ihm alles. Alles, was er wissen musste, um Vincent dingfest zu machen. Über seine Art, Würfel zu spielen, verlor er natürlich kein Wort. Der Prinz zeigte sich dankbar, schenkte ihm sogar sein Leben und wurde nicht mal wütend, als er den Dolch von General Trogan Pagloth vorgelegt bekam. Der Umstand, dass dieser Kleinganove im Besitz des Dolches war, war weniger von Bedeutung. Die Quelle war es allerdings.
Miroba befand sich während der schnell geplanten Offensive gegen den unberechenbaren Fremden bei den Truppen, die ihm nachstellten und ihn in der Falle erwarteten. Die letzte Bestätigung seiner Identität erhielten sie durch Uther, der ihn die vergangene Nacht beobachtet hatte und ihn wiedererkannte. Fast hätte der Fremde ihn gesehen, als er auf dem Kirchplatz auf ihn zeigte. Nur der Geistesgegenwart der Männer des Prinzen war es zu verdanken, dass sie ihn noch rechtzeitig niederwerfen konnten.
Ein leichtes Gefühl von Bedauern überkam ihn, als er den Abzug betätigte. Aber der Erfolg der Mission und sein eigenes Leben waren ihm wichtiger. Zeitgleich mit dem Schuss schnellten auch die Sehnen der Bögen vor. Deren Schützen verglühten in einem brüllenden Feuerball. Während sich Vincent gewahr wurde, dass kein Pfeil ihn getroffen hatte, richtete er seine Waffe unverzüglich auf die Decke und drückte abermals ab. Eine Fontäne aus Feuer fraß sich tosend aus dem Dach und ließ Trümmer auf erschrockene Männer regnen, die kampfbereit auf dem Platz hinter dem Tor warteten. Vincent sprang in die Höhe und zog sich an einem Dachbalken empor. Sein Sichtfeld war von den Hunderten silbrig glänzenden Rüstungen der Soldaten bestimmt, die ihm auf dem Platz unter ihm vergebens auflauerten. Er konnte der Falle zwar fürs Erste entgehen, doch war er alles andere als sicher. Die ersten Pfeile schlugen rings um ihn ein. Wie von Sinnen rannte er die Dächer entlang. Fluchend registrierte er einen Pfeil, der ihm aus der Schulter ragte, und legte sich kurz flach hin. Der Schmerz wurde momentan noch von seinem Adrenalin unterdrückt. Er brach ihn am Schaft ab. Warmes Blut rann an ihm hinab, während er einen kurzen Blick auf den Platz wagte. Alle Straßen waren gesperrt und bewacht von unzähligen Kriegern. Er schätzte ihre Zahl auf mindestens einhundertfünfzig. Immer mehr Pfeile schlugen krachend in die Dachschindeln. Die Sicht wurde getrübt von schwarzen Geschossen und Ziegelsplittern. Vincent wehrte Pfeil um Pfeil mit seinem Schwert ab und zog seinen Kommunikator heraus. Hektisch brüllte er Befehle für die Drohne hinein:
„Maximales Streufeuer! Jedes bewegliche Ziel in meiner Umgebung angreifen!“
Während Vincent sich aufrichtete und über das Dach spurtete, heulte seine Drohne unglücksverheißend in ihrem Sinkflug auf. Viele Soldaten in ihren Stellungen lief es dabei kalt über den Rücken. Und als das Hämmern der Maschinengewehrsalven eintrat, während es die ersten Reihen ihrer Kameraden zerfetzte, wich den Gerüchten über den Dämon, den sie bekämpften, eine furchterregende Gewissheit. Doch trotzdem war der Kampfgeist der Truppe noch nicht gebrochen. Die Bogen- und Armbrustschützen legten tapfer weiter nach und feuerten Salve um Salve auf die fliehende Gestalt. Vincent sprang auf das Dach eines anderen Hauses und ließ die ganze Zeit das Schwert tanzen, um die Pfeile abzuwehren. Die Drohne begann zu schlingern. Unkontrolliert raste sie plötzlich in die Menge. Als er den Kommunikator an seinen Mund riss, um weitere Befehle zu geben, erkannte er den Grund ihrer Verweigerung. Der Kommunikator, der als Fernbedienung fungierte, war von einem Armbrustbolzen getroffen und gab widersprüchliche Befehle. Viel zu schnell, als dass das automatische Notfallprogramm greifen konnte. Und so blieb die Drohne auf ihrem Kurs und zerschellte mitten in der Menge in einer fulminanten Explosion. Sie tauchte den gesamten Platz in einen rubinroten Sprühregen und ließ den Pfeilhagel kurz stagnieren.
Vincent flüchtete weiter über Dächer, Giebel und Mauern. Er nutzte das Überraschungsmoment und stürmte immer weiter in Richtung des Gasthauses, das ihn beherbergte. Er brauchte nur sein Pferd und etwas Glück, um zu entkommen. Doch die restlichen Soldaten waren weiterhin hinter ihm her. Gerade als Vincent eine weitere Häuserschlucht springend überwand, schoss ihm ein brutaler Schmerz durch seine Lenden. Er strauchelte, stürzte ab, landete auf einem Vordach und dann hart auf dem Gassenboden. Eine weitere Pfeilspitze ragte ihm direkt aus dem Bauch. Ihm wurde kurz schwarz vor Augen und er musste sich an seinem Schwert abstützen.
Nachdem er einen dicken Batzen Blut gespuckt hatte, richtete er sich wieder auf. Verschwommen nahm er die anstürmende Meute wahr und feuerte zwei zittrige Ladungen in ihre ungefähre Richtung. Das Gebrüll verriet ihm, dass mindestens ein Schuss saß. Der andere riss dicke Gesteinsbrocken aus einer Mauer, die mit den anderen Rüstungs- und Körperteilen auf die Angreifer prasselten. Dieser Angriff war fürs Erste gestoppt. Trotzdem würde es ihm nur einen kurzen Vorsprung verschaffen. Die nachrückenden Truppen begannen unverzüglich damit, das Geröll wegzuschaffen. Vincent schleppte sich weiter vor zum Gasthaus, das bereits in sein Blickfeld geriet, und musste sich beherrschen, nicht zu hyperventilieren. Hätte ich bloß nicht auf meinen Anzug verzichtet, dachte er sich. Aber wer hätte ahnen können, dass der Prinz ihn so schnell aufspüren würde. Verdammter Arith!
Mittlerweile streckten immer mehr Stadtbewohner die Köpfe aus dem Fenster, um zu sehen, woher dieser Höllenlärm kam. Die Straße selbst war längst menschenleer. Einige Leute begannen sogar Dinge auf ihn zu werfen. Wenn die Soldaten des Prinzen ihn tot sehen möchten, konnte er nur ein Bösewicht sein. Sie waren entsetzt, wie viele Soldaten er schon umgebracht hatte. Und auch wenn sie die Hintergründe nicht kannten, sympathisierten doch viele Bürger mit der kaiserlichen Armee. Überall um ihn herum landeten Holzstecken, Steine, Äpfel oder was sonst noch greifbar war. Dann– ein Volltreffer. An Vincents Hinterkopf zerschellte eine Tonvase und riss eine weitere Wunde. Während er das Blut im Rücken hinab rinnen spürte, drehte er sich zu dem Werfer im zweiten Stock eines Hauses um und richtete den Pistolenlauf noch in der Bewegung auf ihn. Kurz bevor er abdrücken wollte, senkte er die Waffe wieder und humpelte weiter. Patronen waren kostbar in seiner Lage.
Alle Leute, die den blutenden Vincent mit dem Schwert in der Hand und den zusammengebissenen, gebleckten Zähnen erblickten, nahmen sofort Reißaus. Noch war er nicht geschlagen. Alle seine Sinne wurden nunmehr vom reinen Überlebensinstinkt geleitet. Noch hatte er eine Chance. Er stolperte fast, als er endlich die Stallungen erreichte und sich gegen das Tor stemmte. Sein frisch gestärktes und gestriegeltes Pferd wurde leicht unruhig, als es den Ernst der Lage spürte und sein Blut witterte, versagte ihm jedoch nicht den Dienst. Er durchschlug den Lederriemen, der es hielt, und zerrte sich unter großer Anstrengung auf seinen Rücken. Um es zu satteln, blieb ihm keine Zeit mehr und so krallte er sich an seiner Mähne fest und drückte die Hacken gegen die Flanken. Als er den Stall verließ und auf den Vorplatz hinaus trabte, hatten ihn die Soldaten schon fast erreicht.
Lanzenträger rannten auf ihn zu und Bogenschützen waren im Begriff, die Pfeile anzulegen. Seine Flucht gewann nun mit Unterstützung des frischen Pferdes an Geschwindigkeit. Mit knapper Not entkam er der Reichweite der Pfeile und Lanzen und galoppierte ohne Rücksicht auf Verluste die Seitenstraßen Richtung Südtor. Sicherlich war es weniger gefährlich, ein anderes zu wählen, aber dazu war er nicht ortskundig genug. Es kam auf jede Sekunde an und eine Suche konnte er sich beim besten Willen nicht leisten. Eilig sprangen die Städter beiseite, als sie den wild heranpreschenden Reiter erblickten. Auch hier waren überall Soldaten höchst wachsam vertreten. Nur die Zeit, die sie benötigten, sich neu zu organisieren, würde ihm wahrscheinlich die Haut retten. Blieben nur noch die, die das Tor bewachten – das geschlossene Tor. Da machte er sich keine Illusionen. Gut, dass er Munition gespart hatte. Als sein Pferd aus der Kurve schlitternd auf den Torplatz schnellte, wurde seine Vermutung zur Gewissheit. Ohne weiter nachzudenken, trieb er sein Pferd weiter an und hielt mitten auf das Tor zu. Die Wachen, die ihre Spieße auf ihn richteten, brüllten in an. Er solle anhalten, zur Vernunft kommen. Es wäre Wahnsinn, sie anzugreifen.
Vincent blieb unvernünftig.
Wenige Meter vor der Barriere zog er seine Schusswaffe und zielte auf den Balken, der die Tür verriegelte. Armbrustbolzen rasten knapp an seinem Kopf vorbei. Er presste sich an den Tierkörper und drückte ab. Das schwere Eichentor verdampfte fast vollständig in dem Lichtblitz der Antimaterie-Annihilation. Mit einem riesigen Satz übersprang er die zu Boden gerissenen Wachen. Jetzt hatte er es geschafft. Die übrigen Männer auf der Mauer würden einige Zeit brauchen, sich von dem Schock zu erholen. Genug Zeit, um zu verschwinden. Um die Verfolgung zu erschweren, feuerte er auf das Gemäuer über dem noch rauchenden Einlass. Krachend stürzte genug Geröll und Granitgestein in die Tiefe, um einen ausreichend hohen Wall aufzuschütten.
Seine Anspannung legte sich langsam und ein Lächeln schnitt sich in seine Züge. Er hatte es geschafft! Er hatte alles gegeben, gekämpft wie ein Löwe und triumphiert. So knapp war er dem Tod schon lange nicht von der Schippe gesprungen. Diese Mission war also ebenfalls gescheitert. Zwar konnte er einige Daten sichern, doch zu einem unerwartet hohen Preis. Seine Wunden waren zwar schwer, doch die Blutung hatte nachgelassen. Er würde es bis zum Schiff schaffen. Kilian würde ihn zusammenflicken und dann würden sie endlich von diesem Kackplaneten abhauen. Vincent genoss den kühlen Wind, der ihm den Schweiß vom Gesicht wehte, und die Sonne, die ihn wärmte. Er atmete tief durch und schloss die Augen. Als er eine Anhöhe überwand, schnaubte sein Pferd plötzlich nervös. Vincent tätschelte seinen Hals, richtete sich auf und öffnete die Augen. Der Anblick, der sich ihm bot, presste ihm die Luft aus der Lunge. Das hätte er in seiner Freude über die gelungene Flucht schon ganz vergessen.
Vor ihm breitete sich die an die fünfzigtausend Mann starke Armee des Prinzen aus und marschierte direkt auf ihn zu. Die Entfernung war schon viel zu gering und die Ausdehnung der Truppen viel zu weit, als dass ein Entkommen noch möglich wäre. Und mit der einen Explosionspatrone im Lauf und seinem Schwert würde er auch nicht weit kommen. Die Offiziere der Armee hatten ihn längst bemerkt und Fahnensignale bedeuteten der Reiterei, auszuschwärmen. Vincent stoppte das Pferd, stieg langsam ab und gab ihm einen Klaps, um es fortzuschicken. Er sah ihm mit düsterer Miene nach und hielt sich seine schmerzende Seite, in der noch der Pfeil steckte. Mit seinen Verletzungen war es nicht nur sinnlos zu kämpfen, er hatte außerdem nicht mehr die geringste Lust dazu. Ein Mann sollte wissen, wann es vorbei war. Dieser Moment war nun gekommen. Er bedauerte es, keine Möglichkeit mehr zu haben, Kilian ein letztes Mal zu sprechen. Jetzt bestand seine letzte Aufgabe nur noch darin, nicht lebend in die Hände seiner Feinde zu geraten. Nachdem sie dem Prinzen so geschadet hatten, war eine Gefangenschaft eindeutig die schlimmere Option.
Als die Reiter eintrafen und ihn umringten, holte er seine Pistole vor und transferierte den letzten Rest Antimaterie wieder in den Griff zurück. Nein – er würde einen würdigen Tod bekommen. Natürlich konnten die Kallicor-Reiter nicht wissen, welchen Fang sie da eben gemacht hatten, doch sie vermuteten doch sehr stark, dass diese erbärmliche, halb tote Gestalt der Mann war, den ihr Prinz jagte. Selbstzufrieden und derbe Scherze machend, stiegen sie ab. Bestimmt würden sie belohnt werden – mit extra Schnaps und den jungen Mädchen, nachdem sich der Prinz mit ihnen vergnügt hätte. Immer mehr trafen ein und versammelten sich um den knienden Vincent, der keine Anstalten machte, sich zu verteidigen. Selbst nicht, als die Ersten anfingen, ihn zu treten. Er musste nur den perfekten Augenblick abwarten. Als eine ausreichende Menge um ihn herumstand, verfiel er in ein abgrundtief düsteres Lachen – einem Wahnsinnigen gleich. Das konnten die Männer, die ihn umstellten, nun gar nicht mit seiner Situation in Einklang bringen. Verunsichert sahen sie sich an und dann den Fremden, der auf einmal ein schwarzes Ding hinter seinem Rücken herauszog und an einer leuchtenden Stelle herumtippte. Das Letzte, was sie in ihrem Leben zu hören bekamen, war:
„Na dann gute Nacht, ihr beschissenen Steinzeitärsche!“
Es folgte eine ohrenbetäubende Explosion, die jeden im Radius von vier Metern in Stücke riss und nach acht Metern mindestens schwer verletzte. Blut und Fleischstücke regneten in den heißen Krater und erzeugten eine stinkende Dampfwolke. Der Selbstzerstörungsmechanismus hatte ganze Arbeit geleistet. Mindestens fünfzig Soldaten hatte er mit in den Tod gerissen, dreißig Andere für lange Zeit kampfunfähig gemacht. Angesichts der vielen Gegner, die er besiegt hatte, konnte man seinen Tod wohl nicht als Niederlage werten.
Traumdeutung
Ein Warnsignal von der Computerarmatur riss ihn aus einem skurrilen Traum. In einem Teil davon sah er aus einem Fenster. Er hielt eine gespannte Bogensehne und zielte auf einen schwarzen Schemen. Er zielte auf Vincent! Dieser stand ihm bewegungslos gegenüber und sah ihm in die Augen. Bei genauerem Hinsehen bemerkte er, dass er genau in den Lauf seiner Waffe blickte. Die Szene ging auf in einem plötzlichen Lichtblitz. Alles war so hell wie ein Blick in die Sonne. Dann war er plötzlich Vincent selbst. Er flüchtete vor irgendetwas. Er war ängstlich und furchtbar allein.
Schneller! Bald haben sie mich. Er flog über einen Dächerwald aus spitzen Giebeln und Türmen. Nein, keine Dachspitzen – Zähne. Er sprang von Spitze zu Spitze in einem riesigen Maul, das nach ihm schnappte. Er fiel. Er fiel in einen unendlichen, zahnbewehrten Schlund aus Hass und Boshaftigkeit. Er fiel und fiel.
Und fiel.
Dort! Aus der Dunkelheit … Ein weißes Pferd – nein, ein Pegasus, ein Bote der Götter. Er unterflog ihn mit seiner riesigen Spannweite und ließ ihn aufsitzen. Unglaublich schnell glitten sie dahin. Mit Leichtigkeit ließen sie den schwarzen Abgrund hinter sich.
Freiheit!
Alle Angst wich einem erhabenen, befreiten Gefühl des Glücks, als sie in einen hellblauen Himmel mit Zuckerwattewolken tauchten.
Doch die Gefahr war wieder da. Schlich sich von hinten in seinen Nacken und ging über in Gänsehaut. Kälte durchströmte ihn. Der Pegasus gefror. Er saß auf einem Pferd, das völlig aus Eis bestand. Risse! Es platzte unter ihm. Millionen glitzernde Splitter verteilten sich in allen Regenbogenfarben am Firmament und er fiel erneut. Er fiel und raste wie ein Komet auf einen Feuerball zu. Immer schneller und schneller. Der Ball wurde größer. Eine Sonne! Er konnte die Hitze bereits auf seiner Haut spüren. Wie groß sie war. Jetzt sah er nur noch gleißend helles Rot. Kein Entkommen. Er war an Bord der >Persephone
Tag der Veröffentlichung: 27.06.2010
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