Mit einem letzten, endgültigen Strich ihres Bleistifts beendete sie ihr 'Kunstwerk'. Sie schaute herunter auf das, was sie geschaffen hatte. Ihr standen die Tränen in den Augen. Ärgerlich wischte sie sie weg. Ihr Gemälde sprach ihr direkt aus der Seele. Es war schwarz wie die Nacht. Schwärze entstanden aus lauter Wörtern. Wenn man genau hinschaute, konnte man noch einige entdecken. Hass stand dort in großen Buchstaben. Trauer. Verletzt. Verloren. Und ganz groß bedeckten die Buchstaben des Wortes Einsam das Blatt. Wieder verschwamm ihr Blick und sie konnte das Blatt nicht mehr klar erkennen. Sie legte ihren Bleistift auf das Papier und holte tief Luft. Sie konnte spüren, wie die Einsamkeit an ihrer Seele zerrte. Sie spürte die Depression, sie schrie nach ihr. Sie spürte wie ihre verletzte Seele dem entgegen kam, spürte wie ihre Seele nachgeben wollte. Nachgeben nach dem Verlangen. Dem Verlangen nach einer Pause. Einer Auszeit von all dem Schmerz, den sie spürte. Den Schmerz, der ihr Herz fest hielt und nicht mehr los lies. Ihre Seele wollte nur für eine Sekunde etwas anderes spüren. Und wenn dieses anderes eine andere Art von Schmerz war, dann sollte dies so sein. Es war ein Schmerz, den sie unter Kontrolle hatte. Ein Schmerz, den sie sich selbst zufügte. Ein Schmerz, den nur sie beginnen und auch wieder beenden konnte. Ein Schmerz, von dem sie wusste, dass er auch wieder enden würde und ein Schmerz, von dem sie wusste, dass er, wenn sie es wollte, auch alles beenden konnte.
Sie schüttelte den Kopf. Das war nicht richtig. Das wollte sie nicht mehr sein. Sie hatte aufgehört. Nur weil es zurzeit ein wenig schwerer war, würde sie nicht wieder in alte Muster verfallen. Noch dazu war es Sommer. Man würde es bemerken. Man würde ihr Fragen stellen. Sie wollte aber keine Fragen beantworten. Wie sollte sie auch Fragen beantworten, auf die sie selbst keine Antwort wusste? Sie nahm ihr Blatt in die Hände und zerriss es in winzig kleine Stücke, die sie dann in den Mülleimer neben ihr Bett warf. Sie richtete sich aus ihrer unbequemen Position auf dem Bett auf. Sie konnte es nicht leiden, dass der Sommer die größte Überzeugung war es nicht wieder zu tun. Es gab so unglaublich viele Gründe nicht den eigenen Körper zu verschandeln und nur der Sommer zog. So sollte das nicht sein. Sie schluckte trocken und blickte sich in ihrem Zimmer um.
Ihre Bettdecke lag auf dem Boden, ihre Kissen waren auf der anderen Seite des Zimmers gegen die Wand und dann auf den Boden geflogen. Sie schaute auf ihre Fingerknöchel. Geschunden und blutig. In ihrer Verzweiflung hatte sie wieder und wieder auf die Wand eingeschlagen. Die Tränen liefen ihr wieder über die Wangen. Was konnte die arme Wand denn dafür, dass sie sich so fühlte, wie sie sich eben fühlte.
Sie stand vom Bett auf. Langsam. Wie ein Mann der aus einer Ohnmacht erwachte. Wie ein ertrinkender, der aus dem Wasser auftauchte. Ihre Welt drehte sich. Verzweifelt hielt sie sich an der eben noch geschlagenen Wand fest. So ein Anfall kostete immer so unglaublich viel Energie. Sie wollte sich wieder hinsetzen. Zurück auf das Bett legen. Aber sie wusste, dass sie das jetzt nicht tun durfte. Sie musste jetzt weg von hier. Weg von dem Ort des ‚Verbrechens‘. Sie kämpfte sich weiter. Schritt für Schritt. Sie musste es nur aus diesem Raum raus schaffen und war das schlimmste geschafft. Auf dem Weg aus dem Raum schnappte sie sich ihr Handy und ihre Kopfhörer und ließ es in die Taschen ihrer Sweatshirt Jacke gleiten. Weiter, noch einen Schritt, dann hatte sie die Tür ihres Zimmers erreicht. Schwer drückte sie die Türklinke herunter und erwartete fast dahinter den Weltuntergang zu sehen. Aber nichts war passiert in der Zeit in der sie zusammen gebrochen war, in der für sie die Welt mal wieder ein bisschen mehr zusammen gebrochen war. Es war alles wie immer. Sie schloss die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen. Schwer atmend hörte sie ihrem Herzschlag zu. Er war laut und zu schnell. Noch immer viel zu schnell. Sie leckte sich über die Lippen. Wischte sich noch einmal die restlichen Tränen vom Gesicht und widmete sich dem Weg zum Badezimmer. Die Schritte waren jetzt nicht mehr ganz so schwer. Sie hörte sich nun nicht mehr an wie ein sterbender Bär, sondern nur noch wie ein müder, schleichender Bär.
Das Badezimmer war hell und schadete ihren geschwollenen Augen. Sie schaute sich im Spiegel an und sie spürte, wie beinahe die Tränen wieder zurück kamen, als sie ihr Spiegelbild sah. Ihre Augen waren aufgequollen und ihre sonst schon schlechte Haut sah noch schlimmer aus als sonst. Schnell senkte sie ihren Kopf, um sich nicht mehr ansehen zu müssen. Sie versuchte die üblichen Gedanken aus ihren Kopf zu verscheuchen. Aber sie schrien sie an. 'Wenn du dich schon nicht ansehen kannst, wer soll dich dann sonst jemals angucken wollen?' 'Kein Wunder, dass dich nie jemand schön findet. Bei deinem Gesicht.' Sie schüttelte ihren Kopf, wie um böse Geister zu vertreiben. Sie drehte den Wasserhahn auf. Eiskalt. Und hielt ihren Kopf in den Strahl. Erst ihre rechte Gesichtshälfte, dann die linke. Es war besser. Ein kleines winziges bisschen. Wenigstens brannten ihre Augen nun nicht mehr vom ganzen Heulen. Auch ihre Hände wusch sie unter dem eiskalten Strahl und spürte die Entspannung in ihren Fingerspitzen. Sie trocknete ihre Hände und ihr Gesicht und verließ das Badezimmer, ohne noch einmal in den Spiegel zu schauen. Sie stolperte die Treppe herunter und hoffte, dass ihr keiner begegnete. Denn sie sah so scheiße aus, diesmal würden auch ihre Eltern mitkriegen, dass sie geweint hatte. Sie schlüpfte schnell in die Schuhe, stopfte sich die Stöpsel in die Ohren und stürmte aus der Tür. Sie stellte ihr Handy auf volle Lautstärke und ließ sich direkt vom ersten Lied in Grund und Boden schreien. Und es tat gut. Sie spürte wie sich eine Gänsehaut auf ihrem Körper ausbreitete. Schritt für Schritt ging sie weiter und sie verspürte eine Veränderung in ihrem Körper. Mit jedem Schritt versank sie mehr in der Musik und achtete weniger auf ihre Gedanken. Und mit jedem weiteren Lied wurden ihre Schritte sanfter, schneller und federten besser ab. Als würde mit jedem Lied eine weitere Last von ihren Schultern genommen.
Tag der Veröffentlichung: 12.07.2015
Alle Rechte vorbehalten