„Hast Du Dich nie gewundert, weil Du ganz anders aussiehst, als Dein Bruder?“ wurde ich gefragt. Verwundert schaue ich meine Clique an. „Warum?“, frage ich nach, einen Grashalm kauend. Wir, unsere Clique hat sich mal wieder beim Baden getroffen. Nach einem erfrischenden Badespurt räkeln wir uns auf der Wiese.
Teresa windet sich. Dann sagt sie offen zu mir, schaut dabei Beifall heischend in die Runde: „Weil es doch klar ist, dass Du Deinen Eltern kein bisschen ähnlich siehst. Während Dein Bruder die gleiche Haarfarbe und Größe Deiner Eltern hast“. Sie schaut mich an und sagt: „Es ist mir in Biologie aufgefallen. Du hast andere Erbanlagen wie Deine Eltern. Du bist blond, Deine Eltern sind beide braun, wie Dein jüngerer Bruder. Sie sind beide sehr groß, Du bist eher kleinwüchsig.“ Sie schaut sich um. Auch ich schaue meine Clique an. „Warum hat mir noch niemand gesagt, dass ich anders aussehe. Wahrscheinlich habe ich es schon gesehen, aber mir nichts dabei gedacht.“
Ich setze mich auf, plötzlich wird mir schlecht. „Meint Ihr, ich bin adoptiert worden?“ Als ich die anderen anschaue, wird mir klar, dass sie wirklich denken, ich habe andere Eltern. Wütend schnappe ich meine nassen Klamotten und spurte zu meinem Fahrrad. Ich schwinge mich auf den Sattel und trete heftig in die Pedale.
Mann, habe ich eine blöde Clique! Was denken die sich! Haben wohl zuviel Psychologen-Krimskrams gelesen. Natürlich sind meine Eltern meine richtigen Eltern! Schon immer gewesen. Und mein Bruder ist mein jüngerer Bruder. Auch schon immer gewesen!
Zu Hause schmeiße ich mein Fahrrad auf den Boden und renne auf mein Zimmer. Das gibt natürlich Stunk, aber das ist mir egal. Ich nehme meinen Kopfhörer und dann schalte ich das Radio auf die lauteste Frequenz. Alle können mich mal. Ich lass mich und meine Wut versinken in super Musik.
Nach einiger Zeit werde ich geweckt. Mein Bruder stupst mich in den Bauch. Ich nehme den Kopfhörer ab. „Was ist?“ fauche ich ihn an. „Du sollst zum Abendessen kommen, und dein Fahrrad vorher aufräumen“. Er verschwindet wieder. Mein lieber dunkelhaariger, groß gewachsener Bruder. Ich stehe auf. Eigentlich geht es mir wieder viel besser. Die Wut ist verraucht. Was soll´s wenn die Clique mal wieder Blödsinn gequatscht hat. Tut sie doch immer.
Grinsend setze ich mich an den Tisch. Ich strecke meine Füße aus und fühle mich sauwohl.
Eine Woche später, nachdem ich mal wieder eine Matheklassenarbeit verhauen habe, denke ich wieder an die Vererbungslehre. Meine Mutter hatte Deutsch und Mathematik im Abi-Kurs. Und mein Vater erzählt auch immer, wie gut er in allen Fächern war. So wie mein lieber kleiner Bruder.
Ich werde richtig wütend auf meinen Bruder. Als mein Vater mir Vorwürfe macht und versucht, mir zu erklären, wie ich lernen soll, schreie ich ihn an. Mein Vater verhängt Ausgehverbot, etc. Aber das nervt mich nur. Als mein Bruder sich dann auch noch reinhängt, schlage ich ihm mit der Faust in das Gesicht. Ich weiß nicht, wer erschrockener war: mein Bruder, mein Vater oder ich. Ich renne in mein Zimmer. Dennoch höre ich, dass meine Mutter mit meinem Bruderherz ins Krankenhaus fährt. Sie meint, dass die Nase angebrochen ist. Mann, bin ich ein Scheusal. Aber trotz meiner Scham, es hat richtig gut getan. Ich fühle mich irgendwie befreit.
Mein Junior hat nochmals Glück gehabt. Aber unser beider super gutes Verhältnis ist abgekühlt. Aber das finde ich nicht schlimm. Irgendwie fühle ich mich als Außenseiter. Mein Bruder und meine Eltern auf der einen gemeinsamen Seite und ich, ich bin außen vor. Ich habe einen halsstarrigen Charakter, sehe anders aus, bin viel kleiner. Während mein Bruder ein Charmeur ist und von Mädchen heute schon umschwärmt wird, sieht mich keine an.
Immer wieder versuche ich die Sache mit der Adoption anzubringen, aber die Eltern weichen immer wieder aus. So weiß ich immer noch nicht, ob sie meine leiblichen Eltern sind oder nicht. Aber eigentlich ist es auch egal. Ich bin nicht wie meine Eltern, ob sie meine richtigen Eltern sind oder nicht, ist eigentlich zweitrangig.
Dennoch plage ich mich immer wieder mit dem Mendelschen Gesetz, der Vererbungslehre. Aber so richtig weiter komme ich nicht. Schließlich ist auch mein Bruder nicht absolut gleich mit meinen Eltern. Und ein paar Gemeinsamkeiten habe ich auch mit meinen Eltern. Wahrscheinlich ist es wie mit den Horoskopen. Eine Ähnlichkeit findet sich immer.
Drei Jahre später wohne ich nicht mehr daheim. Aber ich besuche noch oft meine Eltern. Dabei erfahre ich, dass mein jüngerer Bruder heiraten möchte. Na ja, er war schon immer ein schneller und ein toller Typ. An einem Sonntag bitten meine Eltern meinen Bruder und mich zu einem Familienrat.
Sie winden sich, erzählen von früher, erzählen von unserer Kindheit, von ihrer Kindheit. Ganz plötzlich fällt mir wieder die Szene am Strand mit meiner Clique ein. Ich schaue meine Eltern und meinen Bruder genau an. Stimmt, mein Bruder hat die gleiche Größe und die gleiche Haarfarbe wie meine Eltern. Allerdings bin ich die letzten Jahre auch sehr gewachsen und auch mein Blondschopf ist dunkler geworden. Eigentlich sehen wir uns alle ähnlicher als noch vor ein paar Jahren. Aber nach dem Gehaspel meiner Eltern muss es ein Geheimnis geben. Also frage ich gerade heraus: „Bin ich adoptiert?“. Meine Eltern erschrecken und sagen „Nein, also nicht so. Also nicht Du.“ Sie wissen nicht mehr weiter, ich auch nicht.
Was soll das heißen, nicht ich. Wer denn sonst?
Plötzlich flennt mein Bruder. „Ich bin adoptiert?“ Verzweifelt schaut er meine Eltern an.
Mein Bruder adoptiert? Nein, das kann nicht sein. Er hat doch den lieben Charakter meiner Eltern, ihr super gutes Aussehen. Allerdings, sein Gesicht ist eher rundlich. Das Gesicht der Eltern und meines sind eher oval. Aber, ich sehe doch anders aus, oder?
Ich sage: „Nein, ich sehe Euch nicht gleich. Ich bin adoptiert worden. Mein kleiner Bruder sieht euch viel ähnlicher!“
Nach weiterem Gestotter kommt tatsächlich ans Licht, dass mein Bruder nicht der leibliche Sohn meiner Eltern ist. Meine Mutter erzählt von Ihrer Schwester, welche mit 19 Jahre verunglückt ist. Aber bevor sie gestorben ist, hat sie einen gesunden Sohn geboren. Meinen Bruder!
Mein armer Bruder. Er wird aus einem weich gepolsterten Nest überfallartig in eine große Tiefe gestoßen. Ich hoffe, wir können ihn auffangen, bevor er bodenlos immer tiefer fällt und vielleicht zerschellt.
Und was ist mit mir? Ich bin wirklich der leibliche Sohn meiner Eltern. Mein Vater war früher auch klein und blond. Erst mit 24 Jahren war er ausgewachsen, groß und hatte dunkle Haare, so ähnlich wie ich heute. Und mein Vater, so erklärt er mir schmunzelt, war eben auch erst mit 24 Jahren ein toller Hecht und der Schwarm vieler Mädels. Auch meiner Mutter, welche ihm früher Mathenachhilfe-Unterricht gab!
Texte: kreszentia
Bildmaterialien: bookrix Bilder
Tag der Veröffentlichung: 28.06.2012
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