Ich schlage die Augen auf.
Erstaunt sehe ich auf das Fenster vor mir und auf die Hand, welche gerade auf dem Fenstergriff liegt. Es ist meine Hand.
>Aber wo bin ich her? Was mache ich hier? Wer bin ich? < Panik steigt in meinem Körper auf. >Verdammt noch mal, wer bin ich? Wie heiße ich? Was mache ich hier?<
Angst überflutet meinen Körper. Erschreckt sehe ich mich um. Ich war auf einer Bühne. Regale mit nicht benötigten Teppichen, Geschirr, Bücher und Liegestühle wurden hier gelagert. Vorne am Giebel eine Holztür. Hinter mir, ebenfalls am Giebel, das Fenster. Die Seiten schräg durch das Dach.
>Was zum Henker mache ich hier? Bin ich beim Arbeiten? Habe ich Freizeit? Wurde ich entführt? W e r b i n i c h ?<
Ich öffne das Fenster und schließe es wieder. >Was soll ich hier? Warum bin ich hier? Wozu bin ich hier?< Hilflos schaue ich mich nochmals kurz um.
Ein Gedanke fährt ins Gehirn und wirbelt umher. Bevor ich zugreifen kann, ist er weg. Aber er hat etwas da gelassen. Irgendeinen Fadenanfang. Ich versuche diesen Fadenanfang zu erwischen. Er flutscht mir jedoch immer wieder weg. Panik überflutet mich. Mir wird heiß. Ich schwitze. Gleichzeitig friere ich. >Was soll das? Wieso bin ich hier?<
>Arbeite ich hier? Was bin ich dann von Beruf? Oder verbringe ich hier meine Freizeit?< Mein Herz trommelt. Ich fange an zu zittern.
Ich versuche mehrmals tief ein- und aus zu atmen. Dann überlege ich: > Also, ich bin hier. Nach Freizeit sieht es nicht aus. Warum sollte ich meine Freizeit auf der Bühne von irgendjemandem verbringen? Also, arbeite ich hier. < Erleichterung macht sich im Körper breit. Es geht schon vorwärts. Mein Gehirn ist wieder einsatzfähig.
Plötzlich habe ich den Faden. >Aha, ich muss wissen, wie ich heiße, dann kommt der Rest von alleine.< Erstaunt mustere ich mein Gedankengang. >Hatte ich so etwas schon öfters? Bin ich krank?< Keine Reaktion im Gehirn.
>Egal, ich muss überlegen, wie ich heiße. Wie könnte ich heißen?<
Mir fällt kein Vorname ein, kein Familienname. Aber beides musste doch irgendwo da sein. >Ich muß doch einen Namen haben. Jeder hat einen Namen. Hallo, Gedächtnis. Fällt dir rein gar nichts ein? Mich gibt es bestimmt schon ein Weilchen. Ich weiß nicht, wie ich aussehe, aber ich habe zwei Beine, zwei Arme mit jeweils fünf Fingern. Ich habe eine Jogginghose an und ein T-Shirt. <
>Hallo Kopf, bitte verlasse mich nicht! Lass dir etwas einfallen!< Wieder verspüre ich Panik meinen Körper hochkommen. >Nein, ich drehe nicht durch. Ich bin hier. Das ist in Ordnung. Ich bin hier um zu arbeiten. Hoffentlich kommt nicht mein Chef und will nachschauen, wie die Arbeit vorwärts geht. Und ich habe gar nichts gemacht!<
Ich schaue auf die Tür, horche auf Schritte. >Nein, ich höre nichts. Nochmal Glück gehabt. Oder wäre es besser, jemand würde hierher kommen? Er oder Sie könnte mir sagen, wer ich bin und was ich hier erledigen soll. Aber nein, das wäre doch zu peinlich.<
>Was soll ich tun? Soll ich den geschützten Raum verlassen? Vielleicht erkenne ich etwas. Aber wenn mich jemand sieht und ich erkenne ihn nicht?< Außerdem traue ich mich nicht, meinen Platz zu verlassen. Hier fühle ich mich sicher. Hier ist es ruhig, hell und es herrscht eine angenehme Temperatur. >Außerdem bin ich hier aufgewacht. Also soll ich hier sein!<
>Einen Namen brauche ich. Einen Namen! Fällt mir gar keiner ein?<
„Hanna" schreie ich. Hanna ist ein schöner Name. Ob ich wohl so heiße? „Hanna Reißler" murmele ich vor mich hin.
>Hanna Reißler!? Vielleicht heiße ich so. Ein guter Name. < Plötzlich kriege ich einen weiteren Fadenanfang. In Gedanken klettere ich ihn hoch.
>Aha, ich bin verheiratet und ich heiße Hanna Semmler geborene Reißler. Ist gut. Ich habe endlich einen Namen.<
Erleichterung am ganzen Körper. Die Anspannung wird weniger. >Ich habe einen Namen. Einen schönen Namen. Meinen Namen.< >Was wollte ich hier oben? Ist das zu klären?<
Ich schaue mich um. Dort in der Ecke sind Kartons. „Babykleidung“ steht drauf. >Oh, mein Gehirn sagt, ich habe Babys. Babys? Mehrere? Ich habe zwei Babys? Zwillinge. Na super. 2 kleine Babys. Ach, und seit einem halben Jahr sind sie immer wieder krank. Aber was habe ich hier gesucht?<
>Egal, jetzt gehe ich runter in meine Wohnung zu meinen Babys. Ich höre schon Eines schreien.<
Ich mache die Tür zum Treppenhaus auf und steige die Treppenstufen langsam runter. >Oh Mann, mir tut alles weh! Der Rücken sticht, als wenn tausend Nadeln drin stecken würden! Und meinen Kopf kann ich auch nicht richtig bewegen. Und meine Schultern schmerzen so stark!<
>Ach so, natürlich. Die Schmerzen kommen von der ständigen Überlastung durch das Babytragen und Hochheben. Und durch den wenigen Schlaf. Mehr als immer wieder mal 10 Minuten Schlaf pro Nacht klappt nicht. Immer ist ein Kind am Schreien. Und das 24 Stunden. Nein, nicht 24 Stunden, sondern seit über 1000 Stunden am Stück. Kein Wunder, dass auch das Gehirn Aussetzer hat.<
Ich steige die Treppen runter, plötzlich durchzuckt mich ein furchtbarer Schmerz am rechten Pobacken. Blitzartig greifen meine Hände an das Treppengeländer und können so meinen Körper abfangen. Langsam lasse ich mich auf die Stufen runter gleiten. Mein Bein spüre ich nicht mehr.
Panik erfasst mich nicht mehr. Das kenne ich. Mein Gehirn kennt das. Seit dem Schlafmangel habe ich immer wieder so Ausfälle. Mal ist das Bein gefühllos, manchmal der Arm. Zum Glück sind die anderen Körperteile schneller als mein Gehirn. Meistens konnte der andere Arm noch schnell das Baby oder das Fläschchen halten oder konnten sich am Türgriff oder am Geländer festhalten. Manchmal saß ich eben auf dem Boden oder der Inhalt der Hand fiel runter. Ich massiere das Bein. Nach einer Weile spüre ich es wieder.
>So, auf ein Neues. Eines der Kinder hat bestimmt Hunger. Schließlich hat immer eines Hunger. Und wenn es nach 45 Minuten fertig ist, will das nächste Baby seinen Hunger stillen. Und zwischendurch quengelt eins ums andere. Und dann der Nächste. So vergeht der Tag, so vergeht die Nacht, der nächste Tag, die nächste Nacht. Täglich spuckt jeder einmal das ganze Fläschchen über das Sofa, den Boden und die Kleider. Und ständig irgendwelche Arzttermine, und blöde Ärzte und Helferinnen, welche einem noch Vorwürfe machen, weil zu wenig mit den Kindern gesprochen, gespielt und vor allem geturnt wird. Aber ich denke und spreche doch selber nicht mehr!<
>Außer, dass ich meinen Namen denke. Schön, dass ich den wieder weiß. Ohne Namen ist man einfach kein Mensch!<
Als ich die Tür zur Wohnung öffnen wollte, fällt mir ein, warum ich auf die Bühne gegangen bin. Ich wollte aus dem Dachfenster springen. Ich bin nicht depressiv, ich wollte nur einfach meine Ruhe. Kein Geschrei, keine Schmerzen, nur noch himmlische Ruhe.
Ich öffne die Tür, beim Hindurchgehen schaue ich nochmals zur Treppe hoch. Vielleicht das nächste Mal?
Bildmaterialien: fire_wolf
Tag der Veröffentlichung: 20.01.2012
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