Albtraum
Zu spät gekommen
Unsere Träume enthalten versteckte Botschaften in Form von Bildern, Handlungen oder Symbolen.
Die Träume haben unterschiedliche Qualität. Sie können entspannend wirken, aber auch das genaue Gegenteil erzeugen.
Meine Träume sind in der Regel von der letzteren Art.
Meinen jüngsten Traum, der mir unvergessen bleiben wird, habe ich in meinem Traumtagebuch niedergeschrieben.
Die Handlung des Traumes beginnt im alten Haus meines vor vierzig Jahren verstorbenen Großvaters.
Ich saß dort mit meinem dreijährigen Enkelkind Emilia im Wohnzimmer auf dem Boden und wir spielten gut gelaunt mit bunten Bauklötzen.
Häuser und Türme entstanden, die sofort nach dem Aufbau jauchzend wieder zerstört und anschließend jeweils neu aufgebaut wurden.
Es stimmte alles an der Atmosphäre in dem Zimmer, die Möbel, die Bilder an den Wänden. Sogar der Geruch nach dem kalten Rauch von Zigarren, die mein Großvater früher gern rauchte, obwohl die Ärzte es ihm mehrfach verboten hatten, war für mich wahrnehmbar.
Beim Spielen mit dem Kind bemerkte ich, dass auf dem Fußboden überall verstreut meine Tabakspfeifen lagen.
Ja, auch ich fröne der Genusssucht meines Großvaters, bevorzuge jedoch das Pfeifenrauchen.
Meine Frau war mit meinem zweiten, schon etwas älteren Enkelkind und Kindern aus der Nachbarschaft seit dem Nachmittag in einem Spaßbad im Nachbarort und wollte uns abends mit dem Auto hier abholen.
Der Abend kam, doch sie tauchte nicht auf. Ich wurde ungeduldig und des Wartens langsam müde.
Also suchte ich schließlich meine Pfeifen vom Fußboden zusammen und steckte sie in eine Pfeifentasche.
Was immer ich jedoch hinein steckte, es fiel unten wieder heraus, obwohl in der Tasche kein Loch war.
Ich gab diese sinnlose Tätigkeit schließlich auf, ließ alles liegen, nahm das Kind auf den Arm und begab mich auf die Suche nach meiner Frau.
Nach einem langen Fußmarsch kamen wir im Nachbarort an und gingen weiter zum Freizeitzentrum mit dem Spaßbad.
Wir durchwanderten suchend das Bad mit den merkwürdigsten Schwimmbecken.
In den Gewässern schwamm seltsames Getier, was ich noch nie gesehen hatte. Merkwürdige geformte Fische, Schlangen und große Käfer in bunten bizarren Farben.
Doch immer, wenn ich genauer hinsah, verlor ich mein Enkelkind, das ich dann verzweifelt suchte und immer wieder auch leicht fand.
Zuletzt blieb es jedoch verschwunden.
Eine ohnmächtige Verzweiflung überkam mich.
Ich dachte bereits an die schweren Vorwürfe, die mich erwarteten, weil ich das Enkelkind verloren hatte.
Inzwischen war die Nacht hereingebrochen.
Ich wollte der beklemmenden Situation entfliehen, kam jedoch nicht sofort von der Stelle.
Eine geheime Kraft hielt mich fest. Erst nach einiger Zeit entkrampfte ich mich und konnte wieder laufen.
So wanderte ich ziellos mitten durch den dunklen Ort und sah am Rande der Hauptstraße lauter furchterregende heruntergekommene Gestalten versammelt, die mich eiskalt und hämisch angrinsten.
Diese für mich beängstigende Szene ließ mein Blut in den Adern erstarren.
Ein starker Wind kam plötzlich auf. Die Luft wurde sehr staubig.
Ich sah, wie vor einem ziemlich vergammelten Haus ein gedrungener vollbärtiger Mann mittleren Alters eine schlanke blonde Frau an eine Mauer presste, sie festhielt und mit ihr intim werden wollte. Die Frau stieß spitze laute Schreie aus, doch der Mann ließ nicht von ihr ab.
Mir war diese Situation sehr fremd und äußerst unangenehm.
Schnell wechselte ich die Straßenseite und lief hastig weiter.
Als ich mich kurze Zeit später ängstlich und neugierig umdrehte, sah ich, wie sich jetzt zwei Männer an der blonden Frau zu schaffen machten und sie arg bedrängten. Aus ihrem Schreien war ein schwaches leises Wimmern geworden.
Mir war sofort klar, sie wollten die Frau mit brutaler Gewalt zu einer sexuellen Handlung oder gar zum Geschlechtsverkehr zwingen.
Nur einen kurzen Augenblick lang überlegte ich, der Frau zu helfen.
Ich hatte aber zu große Angst vor den Männern und lief feige weiter.
Der Wind nahm zu, verwandelte sich zum Sturm und der Staub wurde dick wie Schnee, der auf einmal ganz eigenartig bitter schmeckte.
Am nächsten Haus blieb ich stehen und schellte an.
Eine Ausländerin mittleren Alters öffnete scheu die Tür und ich bat sie, die Polizei zu verständigen, da hundert Meter von hier offensichtlich eine Frau vergewaltigt würde.
Der ungepflegt wirkenden dunkelhaarigen Frau im schäbigen Kleid stand die Angst im Gesicht geschrieben.
Sie schüttelte lautlos den Kopf und knallte mir die Tür vor der Nase zu.
Auch auf wiederholtes Trommeln blieb die Tür verschlossen. Ich lief von Angst getrieben immer weiter geradeaus.
Der Schnee, der immer stärker einsetzte und jetzt säuerlich nach verschimmeltem Brot roch, lag schon ganz hoch auf der Straße.
Da sah ich in der Ferne ein Haus mit Licht in den Fenstern.
Ich stapfte durch den Brotschnee darauf zu.
Es war mein Elternhaus, stellte ich voller Verwunderung fest.
Suchte ich unterbewusst nach etwas Vertrautem, nach Geborgenheit?
Stürmisch schellte ich an der Klingel. Die Tür wurde mit einem Summer sofort geöffnet.
Im Flur standen mit dicken Mänteln bekleidet meine Mutter und meine Schwester vor riesigen gepackten Koffern.
Sie starrten mich ganz verdattert und verwirrt an, sagten aber keinen Ton zu mir.
Sie wirkten auf mich total abwesend und verschüchtert.
Ich rannte an beiden vorbei in das Wohnzimmer und stürzte zum Tisch mit dem Telefon.
Als sich nach einer Weile die Polizei am Apparat meldete, berichtete ich dem Beamten im schnellen Redefluss von der gefährlich bedrohten Frau auf der Hauptstrasse.
Der Polizist am anderen Ende der Leitung teilte mir sehr aufgeregt mit, dass die Mordkommission vor gerade zehn Minuten dort hingefahren ist.
Es wurde eine übel zugerichtete, nur halbbekleidete Frauenleiche, blutverschmiert vor einer Mauer am Boden liegend angetroffen.
Sie starb offensichtlich an zahllosen Messerstichen.
Die Spuren am Tatort wiesen darauf hin, dass sich die Frau heftig gewehrt haben musste.
Ich traute meinen Ohren nicht und nahm diesen Bericht fast ohnmächtig zur Kenntnis.
Ich konnte also die Frau gar nicht mehr retten, sie ist ermordet worden.
Meine Meldung kam ja viel zu spät.
Und dann dröhnte es nur noch in meinem Kopf herum:
"Du bist Schuld daran, nur Du allein".
Mein Puls erhöhte sich dramatisch. Kalter Schweiß brach bei mir aus.
Da fiel ich aus meinem Traum und erwachte körperlich so geschwächt, als wäre alles raue Wirklichkeit gewesen.
Was bedeutet dieser Traum?
Warum habe ich der Frau in ihrer Not nicht geholfen?
Warum verlor ich mein Enkelkind?
Warum konnte ich meine Pfeifen nicht aufsammeln?
Was bedeuteten die Fantasietiere im den Spaßbad?
Welche Rolle spielten Mutter und Schwester?
Fragen über Fragen stellen sich mir.
Und ich suche heute immer noch Antworten.
Texte: Alle Rechte vorbehalten
Tag der Veröffentlichung: 28.02.2012
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