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Der leere Brief


Bahn fahren ist besser als Auto fahren auf der Autobahn. Jedenfalls über große Entfernungen stimmt das so.

Es ist ein entspanntes Reisen mit den Möglichkeiten zu lesen oder seinen Gedanken nachzugehen. Auch gibt es Gelegenheit, seine Zeitgenossen zu beobachten, was mir immer besonderen Spaß bereitet. Ich versuche mir vorzustellen, wer die Person sein mag, welchen Beruf sie haben könnte oder wohin die Reise wohl gehen mag.

Oft kommt es auch zu einer interessanten Unterhaltung mit den Fahrgästen. Der Sitzplatz neben mir im voll besetzen ICE nach Ulm ist von einem schmächtigen Mann besetzt, der wie ein Geschäftsmann gekleidet ist und der äußerlich sehr gepflegt wirkt.

Er macht einen sehr nachdenklichen Eindruck, hebt den Kopf oft zur Abteildecke und reibt sich ab und zu die Hände dabei.

Wahrscheinlich ist er etwas nervös. Es scheint ihm etwas Unangenehmes durch den Kopf zu gehen, was ihm kleine Schweißperlen auf die Stirn treibt.

Meine Versuche, mit ihm ins Gespräch zu kommen scheitern. Er blockt ab, mauert regelrecht.

Jetzt kramt er in seiner Aktentasche herum und holt eine Banane zum Vorschein, die er hastig von der Schale befreit.

In großen Bissen verschlingt er die tropische Frucht und wirft die Schale in den Abfallbehälter.

Mit einem Taschentuch reinigt er seine Hände, steht auf und wankt durch den etwas holprig fahrenden Zug zum WC.

Nach einer Weile kehrt er zu seinem Platz zurück und wühlt wieder in seiner Aktentasche herum. Er zieht ein Notebook heraus und setzt es sich auf die Knie.

Nach Aufklappen des Deckels fährt er das Notebook hoch. Ich höre das Summen des Lüfters, das sich mit dem Fahrgeräusch des Zuges vermischt.

Jetzt betätigt er die Tastatur und fängt fleißig an zu tippen. Es wird wohl ein Brief sein, den mein Nebenmann da verfasst.

Ich schiele vorsichtig auf seinen Bildschirm, kann jedoch wenig erkennen, da die Schriftgröße minimal eingestellt ist.

Seine Tippbewegungen werden langsamer. Er wischt sich nervös die Stirn ab. Erneut startet er sein Tippen. Es scheint nicht mehr so recht zu klappen.

Jetzt erkenne ich wage, das er an eine Frau schreibt. Ein Liebesbrief, in dem die Worte am Ende knapp werden?

Er feilt regelrecht an seiner Liebesbotschaft. Löscht ganze Passagen und tippt sie neu.

Er wird nicht fertig vor lauter Änderungen.

Es muss jedoch wichtig sein, was der Zeitgenosse da dichtet. Würde gern den Brief mal lesen. Pfui, bin ich neugierig.

Kenne weder den Mann, noch die Frau, an die er schreibt.

Jetzt stockt der Brief wieder. Seine Finger liegen schlapp auf der Tastatur. Er scheint zu grübeln.

Er löscht eine ganze Zeile und tippt weiter.

Aus einigen Worten, die ich erkennen kann, kommt mir die Vermutung, dass er Schluss machen will mit der Frau, die er einmal geliebt hat und an die er jetzt schreibt.

Er sucht nach Worten, die nicht weh tun, nicht verletzen sollen.

Darum dauert der Brief so lange. Es ist immer schwer, eine Trennung bekannt zu geben. Er bemüht sich redlich an seiner Tastatur.

Doch der Brief scheint nie fertig zu werden.

Der Text wird immer weniger, weil der Schreiber sehr viel löscht.

Spitze Worte nimmt er heraus.

Er schreibt um den heißen Brei herum, kommt nicht zur Sache, dreht eine Satzschleife nach der anderen.


2 Sätze schreiben und 3 Sätze löschen. So wird der Brief immer kürzer, bis das Blatt zum Schluß wieder weiß ist.

Der Brief hat sich so selbst zerstört. Leere Blätter kann man nicht verschicken, weil sie unlesbar sind.

Wie wird die Frau es erfahren? Ruft er sie wohl an?

Oder ist er feige und macht einen Rückzieher?

Schleicht er sich vielleicht fort von ihr ohne Abschied?

Ich werde es nie erfahren.

Der ICE erreicht Ulm Hauptbahnhof.

Mein Nebenmann klappt sein Notebook zu, steckt es in die Aktentasche und steigt aus.

Impressum

Texte: copyright by Wilfried Kreft Juli 2009
Tag der Veröffentlichung: 21.07.2009

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