… auf dem einsamen Bahnhof an und, als sich die Dampfwolken von der Lokomotive verzogen hatten, musste sie feststellen, dass der Himmel dahinter mindestens genauso trüb war. Dicke, schwere Wolken verdunkelten die Sonne und der Regen, der bald auf das Kopfsteinpflaster trommeln sollte, hing schon spürbar in der Luft. Beherzt griff sie ihren Koffer, ging durch das kleine Bahnhofsgebäude und trat auf die Straße.
Der Bahnhof lag oben auf einem Hügel an einer Einkaufsstraße mit vielen kleinen Geschäften und unter ihm breitete sich die Stadt zum Hafen hin aus. Erstaunlicherweise war zu dieser frühen Abendstunde kaum ein Mensch auf den Straßen unterwegs, sodass Gina sich ihren Weg ganz allein zum Hafen suchen musste. Kein Taxi bot sich an, sie die Strecke zu fahren, kein freundlicher Einwohner erklärte ihr den Weg und selbst die Katzen und Hunde versteckten sich vor dem drohenden Unwetter.
Ungeachtet der düsteren Stimmung, die im Moment fast greifbar war, und ihres schweren Koffers war Gina, wegen ihrer neuen Arbeitsstelle, ausgesprochen guter Laune. Neugierig betrachtete sie ihre Umgebung. Viele kleine kopfsteingepflasterte Straßen führten sie kreuz und quer durch die Stadt, beschrieben waghalsige Kurven direkt an alten Hauswänden vorbei und änderten immer wieder unvorhergesehen ihre Richtung. So war das einzige Bedauern, das sie im Moment verspürte, dass sie sich vor ihrer Abfahrt keinen Stadtplan gekauft hatte. Der ganze Ort bestand fast nur aus niedrigen, alten Häusern, Gehöften und, weiter zum Hafen gelegen, vielen Fischerkaten, die sich dicht aneinander gedrängt vor den herbstlichen Stürmen zu ducken schienen.
Schließlich kam sie vor dem Neunarmigen Kraken an und sah an der Hausfassade hoch. Etwas zweifelnd betrachtete sie das baufällige Gemäuer und überlegte ernsthaft, ob sie wirklich einen Fuß durch diese Tür setzen sollte. Der Gasthof Zum Neunarmigen Kraken lag am Ende einer Bucht. Er blickte von der gegenüberliegenden Straßenseite direkt auf den Hafen und das Meer und passte sich hervorragend in die Reihe der Fischerkaten ein. Mit dem Unterschied, dass er erheblich breiter war, und dass er mit seinem leicht vornüber gebeugten Giebel fast noch etwas verwahrloster und herunter-gekommener wirkte als die ihn umgebenden Häuser. Doch eines war auffällig: Im Gegensatz zu allen anderen Gebäuden waren die Gaststätten und Kneipen des Ortes einladend erleuchtet. Gelächter, Musik und laute Stimmen drangen aus ihnen heraus auf die Straße und lockten Gina unweigerlich an. Und sie hätte vielen von ihnen nachgegeben, wenn sie nicht ihre neue Arbeitsstelle im Blick gehabt hätte. Sie warf einen letzten Blick auf das im Wind leise quietschende Holzschild, das mit stark verblassten Farben den besagten neunarmigen Kraken zeigte, wie er eine Kogge in die Tiefe zog, fasste ihren Koffer fester und überquerte die Straße. Sie hoffte nur, dass ihr dieser Krake mehr Glück bringen würde als der Kogge.
Die Holztür, die mit groben Schnitzereien versehen war, ließ sich nur überraschend schwer öffnen und Gina musste kräftig ziehen, um dieses Hindernis zu überwinden. Sie blickte in einen niedrigeren Raum, der von wenigen Lampen über den Tischen gemütlich beleuchtet wurde. Eine dunkle Decke mit schweren Balken, an den Wänden alte Blechschilder, verschrammte und verbeulte Kupfertöpfe und ein prasselndes Kaminfeuer schufen eine behagliche Atmosphäre. Gleich neben der Eingangstür spielte eine Musicbox die letzten Takte von Sylvias Mother und ein junger Mann, in der ölverschmierten Kleidung der Seeleute, traf gerade seine Wahl für den nächsten Titel. Sie zauberte ein strahlendes Lächeln auf ihr Gesicht und trat ein. Fast augenblicklich erstarben die Gespräche an den voll besetzten Tischen und aller Augen wandten sich ihr zu. Sie nickte freundlich und selbstbewusst in die Runde und ging direkt auf den Tresen zu. Der Sixpence, der in die Musikbox fiel, klang wie ein Glockenschlag in der plötzlichen Stille.
„Guten Abend! Ich bin Gina, die neue Kellnerin“, sprach sie einen jungen Mann an, der hinter dem Tresen Gläser polierte. Er war von schmaler Statur, hatte aschblonde Haare, die schon fast ins Graue gingen, und ein spitzes kleines Gesicht. Seine ganze leicht gebückte Erscheinung vermittelte den Eindruck, dass er ständig auf der Hut war, nicht aufzufallen.
Er lächelte und nickte ihr freundlich zu, dann hob er kurz die rechte Hand, als wenn er ihr in einer lauten Umgebung bedeuten wolle, dass sie einen Moment warten solle, und verschwand durch eine Tür in einen Seitenraum. Um Gina herum begannen die Gäste, nun allerdings etwas verhaltener, wieder mit ihren Gesprächen. Sie brauchte gar nicht hinzuhören, um sich darüber im Klaren zu sein, dass sie im Moment der Gegenstand des Interesses war. Das zeigten ihr schon die verborgenen Blicke, die ihr zugeworfen wurden. Gina stellte ihren Koffer ab, lauschte dem alten Beatlessong, der gerade spielte, und drehte sich beherzt um. Sie nickte dem einen oder anderen, der sie immer noch anstarrte, freundlich zu und versuchte das Publikum abzuschätzen. Es waren fast ausschließlich Männer, die hier ihr abendliches Bitter oder Ale tranken, nur zwei oder drei Frauen waren darunter, die offensichtlich ihren Männern oder Freunden Gesellschaft leisteten. Der Lärmpegel stieg allmählich wieder an und Gina begann sich zu fragen, wie lange sie wohl noch warten müsse, als sie auch schon von hinten angesprochen wurde. Schnell drehte sie sich um und blickte in ein freundlich lächelndes, älteres Gesicht, das fast haargenau eine dickere und faltigere Ausgabe des jungen Glasputzers war. „Guten Abend Fräulein.“ Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt. „Ich bin Paul Drake. Herzlich willkommen im Neunarmigen Kraken.“ Dann reichte er ihr mit leichter Verspätung die Hand zur Begrüßung über den Tresen.
„Freut mich, ich bin Gina, Gina Trippelton-Mews. Aber alle nennen mich nur Gina, weil man sich den Nachnamen so schlecht merken kann.“ Sie merkte, dass sie ihre Nervosität nur schlecht überspielen konnte, ergriff die freundlich dargebotene Hand und schüttelte sie.
„Wen hast du dir denn da an Land gezogen? Bist du sicher, dass deine Holdeste da nicht eifersüchtig wird?“, dröhnte eine Stimme quer durch den Saal.
Der Wirt grinste. „Tja, Tom, besser zwei Frauen im Haus als gar keine, oder?“ Derbes Gelächter schallte durch den Raum. Er wandte sich an seine neue Mitarbeiterin: „Schön, Gina, dass Sie den Weg noch zu uns gefunden haben. Ist ja im Moment nicht so einladend draußen! Es zieht wohl ein Sturm auf!“
„Im Moment ist noch alles friedlich da draußen. Aber Sie haben das Haus ja ordentlich voll.“
„Ja, das ist immer so, wenn das Wetter nicht mitspielt. Dann haben wir alle Hände voll zu tun. Haben Sie Ihren Koffer schon mitgebracht, oder steht er noch am Bahnhof?“
„Ja, den habe ich dabei!“ Gina bückte sich und wuchtete den schweren Koffer auf den einzigen freien Tresenhocker in ihrer Nähe. Der ältere Fischer, der direkt neben diesem saß, drehte sich überrascht zu ihr um, als der Stuhl heftig ächzte. „Was haben Sie denn da alles drin? Bleigewichte?“
Gina grinste ihn an. „Ich muss doch trainieren, damit ich mich durchsetzen kann!“ Dann wandte sie sich wieder dem Wirt zu.
„Fein! Den kann mein Sohn Francis gleich nach oben tragen.“ Dabei grinste er und schlug dem jungen Mann, der bereits wieder hinter dem Tresen stand, so kräftig auf die Schulter, dass dieser fast das Glas fallen gelassen hätte, welches er an der Bar aufhängen wollte.
Erfreut über so viel Freundlichkeit schüttelte sie aber dennoch den Kopf. „Vielen Dank, das ist gar nicht nötig. Das schaffe ich schon allein. Wenn Sie mir nur sagen, wo mein Zimmer ist, bringe ich ihn eben nach oben und kann dann auch gleich anfangen, wenn Sie wollen.“
Der Wirt lachte dröhnend. „Immer langsam voran! Kommen Sie erst mal in Ruhe an. Sie können dahinten die Treppe neben der Tür hochgehen, Ihr Zimmer ist gleich das Erste auf der linken Seite. Den Schlüssel habe ich stecken lassen. Da können Sie sich mal in Ruhe einrichten und dann kommen Sie runter und essen etwas. Später können wir dann reden, dann habe ich mehr Zeit. Soll Francis Ihnen den Weg zeigen?“ Er wies mit dem Kopf seitwärts zu seinem Sohn, der sich wieder seiner Aufgabe zugewandt hatte.
„Nein danke!“, lachte Gina. „Den Weg werde ich wohl allein finden. Die Beschreibung ist ja nicht allzu schwierig.“
Sie griff sich ihren Koffer und trug ihn quer durch den Schankraum zur hinteren Treppe. Schmal und steil führte sie ins erste Stockwerk. Auf halber Höhe machte sie einen Knick um hundertachtzig Grad und führte wieder auf die Vorderseite des Hauses. Kaum war sie um die Kurve gegangen, verblasste der Lärm zu einem diffusen Gemurmel und die rauchgeschwängerte Luft des Schankraumes stach ihr nicht mehr in der Nase.
Tatsächlich steckte in der kräftigen, altmodischen Tür ein erstaunlich neu wirkender Sicherheitsschlüssel, der die Tür zu einer gemütlichen kleinen Kammer öffnete. Ihr gegenüber öffnete sich ein Fenster auf eine schmale Gasse. Unter diesem Fenster stand ein großes Bett, das auf der einen Seite von einem großen Schrank auf der anderen von einem altmodischen Waschtisch eingerahmt wurde. Direkt neben der Tür befand sich eine kleine Sitzgruppe, die um einen kleinen Kamin herum angeordnet war. Erfreut stellte Gina fest, dass ein mitfühlendes Wesen bereits ein kleines Feuer angezündet hatte, das dem Raum eine behagliche Wärme verlieh. Eine leichte Staubschicht auf allen Möbeln zeigte Gina schnell, dass hier schon lange niemand mehr gewohnt hatte. Doch mit dem Schmutz würde sie schnell fertig werden. Mit frischer Energie warf sie ihren Koffer auf das Bett und begann ihre Kleider in dem großen Schrank unterzubringen. Ein paar Fotos von ihren Eltern und ihrer Schwester wurden flugs auf dem Fensterbrett aufgestellt und ein Deckchen auf dem Waschtisch und dem Tisch der Sitzecke machten das Zimmer gleich noch etwas gemütlicher. Viele von ihren persönlichen Sachen hatte sie zu Hause zurücklassen müssen, weil sie nicht mehr in ihren Koffer gepasst hatten, aber wenn es ihr hier gefiele, würde sie diese nach und nach herbeischaffen. Zum Schluss warf sie den Roman, den sie erst vor wenigen Tagen begonnen hatte zu lesen, auf das Bett und verstaute den leeren Koffer oben auf dem Schrank.
Es klopfte. Gina schaute überrascht auf und rief: „Herein!“
Die Tür öffnete sich für eine etwas kräftige Frau mit fröhlich geröteten Wangen, die Gina vorhin schon bei den Gästen gesehen hatte. „Guten Abend, Kindchen. Es tut mir leid, dass ich dich nicht sofort begrüßt habe, aber ich hatte noch ein wichtiges Gespräch. Fred hat im letzten Sturm seine Mary verloren und braucht jetzt dringend Ersatz.“
Gina musste wohl sehr verwundert geguckt haben, denn im selben Moment schlug sich die Frau mit der Hand auf den Mund und brach in ein kurzes, aber lautes Gelächter aus.
„Das war jetzt aber missverständlich! Mary war natürlich nicht seine Frau, sondern sein Boot! Er ist Fischer“, ergänzte sie zur Erklärung.
Da konnte sich auch Gina nicht mehr halten und musste ebenfalls lachen.
„Hallo erst mal und herzlich willkommen.“ Die Frau kam mit ausgestreckten Armen auf Gina zu und schüttelte ihr mit beiden Händen die Hand. "Ich bin Sue, Sue Drake. Ich habe es leider noch nicht geschafft, hier oben aufzuräumen, aber das ist hoffentlich nicht so schlimm. Ich bin sicher, das machst du schon. Unsere letzte Kellnerin hat uns leider schon vor einiger Zeit verlassen und da ist die ganze Arbeit an mir hängen geblieben.“ Sie ließ Ginas Hände los und trat einige Schritte zurück. Dann musterte sie Gina von oben bis unten. Gina zog ihren Rock straff, der nach der neuesten Mode für diesen kleinen Ort vielleicht etwas kurz geschnitten war, und errötete leicht.
„Geht das so, oder möchten Sie gern, dass ich etwas anderes trage?“
„Nein, nein, das ist schon in Ordnung Kindchen!“, winkte Mrs. Drake ab und fügte lachend hinzu: „Ein bisschen modischer Pep kann uns hier schon mal ganz gut tun. Und, bevor ich es vergesse: Hast du eigentlich Hunger?“
„Nur ein bisschen.“
„Dann solltest du dich vielleicht doch etwas beeilen, damit du noch eine Kleinigkeit zu dir nehmen kannst und ich dir schon mal das Wichtigste zeigen kann, bevor wir in einer halben Stunde das Abendessen servieren.“
„Gerne! Ich komme sofort mit hinunter. Ich möchte mir nur noch etwas Wasser ins Gesicht werfen.“
„Natürlich. Ich erwarte dich dann unten in der Küche.“ Und mit einem Nicken zog sie sich rückwärts aus dem Zimmer zurück.
Gina strahlte sich im Spiegel des Waschtischs an. „Nette Menschen! Hier wirst du es gut haben und in Ruhe über diesen blöden Kerl hinwegkommen.“
... sollte Gina nicht mehr viel Gelegenheit haben, über ihre Vergangenheit nachzudenken. Schnell war sie der Wirtin in die Küche gefolgt. Dort erwartete sie die erste Überraschung. War der Schankraum noch gemütlich und rustikal gewesen, so war die Küche das genaue, chromglänzende Gegenteil. Hochmoderne Herde, Kühlschränke, hohe Regale mit blitzenden Töpfen und Pfannen und viel Ablagefläche bildeten das Reich der Mrs. Drake. Diese platzierte Gina ohne viele Worte auf einen Stuhl an einer der Arbeitsplatten und stellte ihr einen Teller mit Roastbeef und Pommes frites vor die Nase. „Möchtest du ein Bier dazu?“
„Nein danke. Lieber ein Wasser. Ich trinke nicht, wenn ich arbeiten muss.“
Mrs. Drake nickte wohlwollend mit dem Kopf. „Gute Einstellung. Wie schmeckt dir das Roastbeef?“
Gina probierte einen Bissen und sagte dann genussvoll: „Wunderbar. Wie bei meiner Mutter. Das ist genau das Richtige nach der langen Bahnfahrt.“
Mrs. Drake verschränkte die Arme über ihrem stattlichen Busen und sah sie forschend an. „Du hast noch zu Hause gewohnt?“
Gina kaute hektisch und schluckte den Bissen, den sie gerade im Mund gehabt hatte, schnell hinunter. „Ja. Ich habe bei ihr im Café gearbeitet. Mein Vater ist schon seit einigen Jahren tot und da brauchte sie jede Hilfe, die sie kriegen konnte.“
„Das finde ich gut. Man sollte sich immer innerhalb der Familie helfen.“
„Ja, das sehe ich auch so! Allerdings habe ich seit der Schule auch nichts anderes gemacht, also haben wir beschlossen, dass ich jetzt etwas Neues kennenlernen sollte.“ Gina schaute verschämt auf ihr Roastbeef und pickte mit der Gabel ein Kartoffelstäbchen auf. Im Prinzip hatte sie nicht gelogen, sie war nur noch nicht bereit, einer ihr völlig fremden Frau auch noch von ihren privaten Problemen zu erzählen.
Mrs. Drakes Augen verengten sich etwas. Sie ahnte instinktiv, dass Gina ihr nicht die ganze Wahrheit erzählt hatte, aber sie wollte im Moment auch nicht weiter nachbohren. So schwerwiegend konnte die Lüge wohl nicht sein, wenn es überhaupt eine war.
„Wenn du gleich aufgegessen hast, zeige ich dir unser Speisezimmer. Eingedeckt habe ich schon und Francis hat auch bestimmt ein Feuer angezündet, sodass ich dir nur noch zeigen muss, wo alles liegt. Du kannst dann auf jeden Fall später beim Servieren helfen.“
Gina legte das Besteck auf den fast leer gegessenen Teller und sprang auf. „Ich bin schon so weit. Wo soll ich das Geschirr hinräumen?“
„Stell es da drüben auf die Ablage neben dem Spülstein.“
Dann ließ sich Gina von Mrs. Drake durch den lärmenden Schankraum zu der Tür neben der Treppe führen, die sie vorher noch nicht beachtet hatte und durch deren Glasfenster jetzt helles Lampenlicht strahlte. Hinter dieser Tür lag ein kleinerer Raum, der mit Tischen und hohen Stühlen unterschiedlichster Arten und Sorten fast voll gestellt war. Dazu standen an der Seite, neben dem Eingang, zwei große, alte Anrichten, in denen Gläser, Servietten und Bestecke untergebracht waren. An den Wänden allerdings hingen zahllose Bilder, die Gina erst einmal sehr verblüfften. Ganz wahllos waren dort Zeichnungen, Gemälde und Aquarelle durcheinander aufgehängt und angeheftet worden, die sich irgendwie mit Märchen, Zauberern oder Rittern beschäftigten. Einige von ihnen gefielen Gina ziemlich gut, doch vielen sah man an, dass sie nur von Amateuren gemalt worden waren. Gina verkniff sich jede Frage dazu, denn sie wollte nicht allzu neugierig erscheinen, und lauschte stattdessen aufmerksam Mrs. Drake, die ihr den genauen Ablauf des Abendessens erläuterte.
„Wir servieren hier jeden Abend um halb neun Uhr das Abendessen. Eine großartige Speisekarte, wie in einem richtigen Restaurant, haben wir nicht. Ich schreibe jeden Morgen das Menü des Tages auf die große Tafel rechts vom Tresen und dann kann sich jeder der möchte bei Mr. Drake zum Essen anmelden. Du brauchst also bloß die Bestellung für die Getränke aufzunehmen und das Essen zu servieren. Bekommst du das hin?“
„Selbstverständlich, Mrs. Drake.“
„Gut. Francis und Paul werden dir an der Bar die Getränke vorbereiten. Dann kannst du jetzt den Gong da drüben läuten.“
Mrs. Drake verschwand in der Küche und Gina hatte für die nächsten Stunden genug zu tun, als dass sie noch weiterhin wegen der Bilder hätte wundern können, ganz abgesehen davon, dass sie gar nicht gewusst hätte, wen sie deswegen hätte fragen sollen. Als Mr. Drake dann zur Sperrstunde läutete und draußen der Sturm immer heftiger um das Haus wütete, hatte sie ihre Fragen über die viele Arbeit längst vergessen.
Mr. und Mrs. Drake beobachteten sie den ganzen Abend aufmerksam und nickten sich von Zeit zu Zeit erfreut zu, wenn sie sahen, wie unauffällig, freundlich und fleißig Gina arbeitete. Nachdem die Gäste zur Sperrstunde die Wirtschaft verlassen hatten und Mr. Drake die Vordertür verschlossen hatte, half Gina noch Francis die Gläser zu spülen.
Von draußen erleuchtete plötzlich ein greller Blitz den Raum und fast im selben Moment ließ ein lauter Donnerschlag die Gläser im Regal klirren. Gina zuckte zusammen und fasste sich an die Brust. „Mein Gott, war das laut!“ Sie sah Francis an, der bisher schweigsam die Gläser gespült hatte. Sie wollte irgendwie ein Gespräch mit ihm beginnen, aber es fiel ihr partout nicht ein, was sie sagen sollte. Sie fasste sich ein Herz und lächelte ihn an. „Entschuldige, du bist das wahrscheinlich gewohnt, aber ich habe mich ordentlich erschrocken.“
Francis wiegte bedächtig den Kopf. Wieder ein Blitz und ein Donner.
„Bitte entschuldige die Frage, aber kannst du nicht sprechen?“
Da drehte er seinen Kopf zu ihr und sah sie das erste Mal direkt an. Zwei strahlend blaue Augen leuchteten ihr entgegen und Gina erschrak über die plötzliche Verwandlung, die mit dem bisher so mausgrau erscheinenden Francis vor sich zu gehen schien. Sein aschblondes Haar bekam einen goldenen Schimmer, seine Haut, die ihr bisher ebenfalls fast grau erschienen war, nahm plötzlich einen kräftigen sonnen-gegerbten Ton an und er richtete sich auf, sodass aus der grauen Maus auf einmal ein kräftiger junger Mann wurde. Gina merkte, wie ihr schwindlig wurde, und hielt sich mit einer Hand am Tresen fest. Träumte sie das gerade oder war das Realität? Doch was dann kam, hatte sie wirklich nicht erwartet.
„Ich kann es schon, aber ich soll nicht soviel reden.“ Er sprach diese Worte mit einer leisen, wohltönenden Stimme, die eigentlich nicht besonders auffällig war, aber bei Gina ein Gefühl auslöste, als ob alle Lampen des Zimmers plötzlich doppelt so hell leuchteten.
Vorsicht, Gina! Was passiert hier mir dir?, sagte sie zu sich selbst. Sie atmete tief ein. „Okay! Na klar, wie du möchtest.“ Und viel leiser setzte sie mit gesenktem Blick hinzu: „Obwohl das sehr schade ist, bei deiner Stimme!“
Von der Tür her unterbrach sie Mr. Drake unerwartet rüde: „Schwatzt nicht so viel, sondern tut eure Arbeit!“ Dieses Mal hatte seine Stimme so gar nicht nach freundlichem, älteren Herrn geklungen und Gina hielt den Blick gesenkt, zog den Kopf ein und griff sich das Handtuch. Mr. Drake verschwand wieder in der Küche und Gina schaute Francis eingeschüchtert von unten heran.
Er nickte ihr lächelnd zu und, obwohl sie ihn nicht direkt ansah, konnte sie spüren, dass ihm ihre Worte gefielen. Dann drehte er sich von ihr weg dem Zapfhahn zu und begann wieder zu polieren. Und erneut konnte sie die enorme Verwandlung beobachten, die an seinem Äußeren vorging. Er schien förmlich wieder zusammenzuschrumpfen und unscheinbarer zu werden. Gina war so verwirrt, dass sie die letzten Gläser schweigend bearbeitete. Sie hängte das Handtuch zum Trocknen auf, verabschiedete sich mit einem Nicken von Francis und verschwand in der Küche.
Mr. und Mrs. Drake saßen mit einem Bier und einem Sherry am einzigen Küchentisch und winkten sie herein. Mrs. Drake ergriff sofort das Wort: „Das hast du gut gemacht, Kindchen! Ich glaube, dass du dich hier sehr gut einfügen wirst. Möchtest du einen Sherry zum Feierabend?“
Gina schüttelte immer noch etwas benommen den Kopf. Im Moment war sie so verwirrt, dass sie nur ihre Ruhe haben wollte.
„Nein, vielen Dank. Heute lieber nicht, ich bin doch sehr müde. Ich glaube, dass ich mich jetzt lieber hinlegen möchte. Kann ich eine Flasche Wasser mit nach oben nehmen?“
„Natürlich!" erwiderte Paul Drake und stand auf. „Es tut mir leid, wenn das eben ein bisschen brummig geklungen hat, aber wir hatten mal eine Kellnerin, da musste man ständig hinterher sein, dass sie ihre Arbeit machte. Da habe ich wohl eben ein bisschen überreagiert.“ Er gab ihr eine Flasche, nickte ihr noch einmal freundlich zu und sagte: „Dann eine gute erste Nacht in Ihrem neuen Heim!“
... war für Gina dann aber doch nicht so gemütlich, wie sie es eigentlich erwartet hatte. Sie hatte sich schnell bettfertig gemacht und war mit einem tiefen Seufzen in dem weichen Federbett versunken. Doch obwohl sie entsetzlich müde war, wollte der ersehnte Schlaf einfach nicht kommen. Der Regen prasselte laut auf das Dach, der Wind heulte um die Ecken des Hauses und pfiff durch den Kamin. In schneller Folge rasten die Wolken am Mond vorbei, sodass es im Zimmer immer wieder hell und dunkel wurde und die wenigen Möbel geheimnisvolle Schatten warfen, die sich gegenseitig über die Wände jagten.
Dazu gingen Gina so viele Gedanken durch den Kopf, so viele neue Eindrücke wollten verarbeitet werden, dass sie einfach nicht zur Ruhe kam. Und letztendlich musste sie zugeben, dass auch Francis und seine seltsame Verwandlung sie mehr als erwartet beschäftigte. Schließlich gab sie auf, schaltete das Licht wieder an und griff nach ihrem Roman. Irgendwann schlief sie darüber ein und wurde am frühen Morgen mit ihrem Gesicht auf dem Buch liegend wach. Sie knipste das Licht aus, das immer noch brannte, kuschelte sich wieder in die Federn und schlief tief, bis die Sonne am Himmel stand.
Ein heftiges Klopfen an ihrer Zimmertür weckte sie. „Frühstück, Gina! Es ist neun Uhr!“ Mr. Drakes schwere Schritte entfernten sich. Schnell schwang sie ihre Beine aus dem Bett und wusch sich. Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihr, dass sich der Wind kein bisschen gelegt hatte, denn die Schifferboote im Hafen tanzten auf den Wellen. Nur der Regen hatte aufgehört und ein rutschiges Kopfsteinpflaster hinterlassen.
Doch da Gina von Grund auf eine Frohnatur war, ignorierte sie das schlechte Wetter und begann auch diesen Tag mit guter Laune. An die seltsamen Erlebnisse von gestern dachte sie keine Minute mehr.
Nach dem gemeinsamen Frühstück mit der Familie Drake erklärte ihr Mrs. Drake den weiteren Tagesablauf. Mrs. Drake würde mit Francis am Vormittag, wie jeden Sonnabend, die Einkäufe erledigen, Gina sollte das Lokal aufräumen und sauber machen und Mr. Drake hatte den Weinkeller zu überprüfen, ein neues Bierfass anzustechen und die Schnapsvorräte aufzufüllen, bis der Pub um zwölf Uhr zum Lunch wieder öffnen würde. Mittags gäbe es nur Kleinigkeiten zu essen, die Mr. Drake nebenbei in der Küche zubereiten konnte.
Frohgemut machte sie sich ans Werk. Die erste Tageshälfte verging wie im Flug und Gina freute sich, wie gut sie mit den Einheimischen zurechtkam. Mittags fanden sich nur wenige Gäste ein, die meisten von ihnen Touristen, die die Stadt wegen ihres morbiden Charmes besuchten. Um drei Uhr, Francis stand wie üblich still hinter dem Tresen und polierte Gläser und Gina hatte gerade die Vordertür für den Nachmittag abgeschlossen, winkte Mr. Drake sie zu sich. „Sie arbeiten wirklich sehr gut, Gina. Deshalb habe ich auch eine schöne Überraschung für Sie. Sie haben samstags immer den Rest des Tages frei und brauchen erst ab morgen Mittag wieder zu arbeiten. Junge Leute wie Sie sollten samstags auch mal ausgehen können. Oder ein paar Besorgungen machen, falls Sie noch etwas brauchen.“ Er strahlte sie an, in der sicheren Überzeugung ihr gerade eine große Freude bereitet zu haben.
Gina war überrascht. Das hatte sie wirklich nicht erwartet. „Vielen Dank, aber damit habe ich wirklich nicht gerechnet. Ich meine, werde ich nicht gerade samstags am meisten gebraucht?“
Mit einer übertriebenen Geste wiegelte Mr. Drake ab. „Nein, nein. Das geht schon in Ordnung. Samstags sind sowieso nicht so viele Gäste da. Da haben dann meine Frau und Francis normalerweise den Tag über frei und machen dann die Abendschicht. Sie werden morgen wieder gebraucht! Sehen Sie sich doch mal ein bisschen um, wegen dem Hafen kommen eine Menge Touristen hierher. Und unsere beiden Kirchen, die an den beiden Enden der Mainstreet stehen und sich Konkurrenz machen, finden die meisten auch ganz amüsant. An der Mainstreet finden Sie übrigens auch die ganzen Geschäfte.“
„Na dann, vielen Dank! Dann geh ich mir mal meine Jacke holen.“ Gina legte den Schlüsselbund zurück auf die Theke und versuchte in Francis' Gesicht zu lesen, was sie von dieser überraschenden Eröffnung halten sollte, doch der wieder so unscheinbar wirkende junge Mann hatte sich mit einem Spültuch über die Armaturen gebeugt und wich ihrem Blick aus.
„Noch was,“ sagte Mr. Drake hinter ihr, was Gina innehalten ließ, „wenn Sie hinausgehen wollen, während vorne abgeschlossen ist, dann können Sie bei uns durch die Wohnung gehen und so das Haus verlassen. Zu unserm Hausflur kommen Sie, wenn sie in der Küche die rechte Tür nehmen. Okay?“
„Das ist sehr nett. Danke sehr!“ Gina ging hoch in ihr Zimmer. Schnell griff sie sich ihre Jacke und ihre Handtasche und schaute noch einmal aus dem Fenster, um abzuschätzen, wie sich das Wetter entwickeln würde. Immer noch unsicher, was sie von dieser Situation halten sollte, machte sie sich auf den Weg in ihren freien Nachmittag. In der Küche saß mittlerweile Francis mit der Tageszeitung, schaute bei ihrem Eintreten über den oberen Seitenrand und deutete mit dem Kopf auf die unscheinbare Zwischentür zur Wohnung. Gina lächelte zaghaft zurück, griff ihre Handtasche fester, ging hindurch und schloss sie hinter sich, damit der Küchendunst nicht in den Hausflur ziehen konnte.
Kurzzeitig ohne Orientierung fand sie sich in einem dunklen Hausflur wieder, an dessen linker Seite ein kleines Schränkchen und eine antike Holzbank ein Porträt eines alten Ehepaares einrahmten. Im Hintergrund hing eine noch ältere Garderobe unter einer Treppe, die ins obere Stockwerk führte, und rechter Hand befand sich die Haustür mit einem daneben angebrachten Schlüsselbrett, von dem Gina sich einen herunter nahm. Obwohl auch diese Tür sehr schwer war, wurde sie ihr beim Öffnen von dem Sturm fast aus der Hand gerissen. Sie trat hinaus in die gleiche kleine Gasse, auf die ihr Fenster mündete und entschied, sich zuallererst den Hafen anzusehen, von dem sie am Vortag bei ihrer Ankunft noch nicht allzu viel wahrgenommen hatte. Im Übrigen hatte sie das Gefühl, dass sie den auflandigen Sturm brauchte, um ihre verwirrten Gedanken einmal so richtig durchzupusten.
Schon nach wenigen Schritten merkte sie, wie gut ihr dieser Spaziergang tun würde. Sie lief an dem kurzen Hafenbereich vorbei, der an dem innersten Punkt einer großen Bucht gelegen war. Danach folgte sie einer langen Straße, die direkt an der Mole entlang zum offenen Meer zu führen schien. Irgendwann blieb sie stehen, starrte in das aufgewühlte Wasser, das hier draußen noch wesentlich mehr in Bewegung war, und ließ ihren Gedanken freien Lauf.
Es war für sie doch schon sehr ungewohnt hier in der Fremde zu übernachten. Nicht, dass sie sich hier nicht wohlfühlte, das war es ganz gewiss nicht. Sie fühlte sich von dem Ehepaar Drake herzlich aufgenommen und auch mit ihrem Zimmer war alles in Ordnung. Außerdem war es ja auch nicht so, dass sie nicht zu Hause auch einige Male bei ihrem ehemaligen Freund Mark oder einer Freundin übernachtet hätte, aber es war doch etwas anderes, wenn man soweit von den vertrauten Orten und Menschen weg war. Allerdings gab es in diesem Pub schon ein paar Besonderheiten, die sie etwas ungewöhnlich fand, wie die Bilder an der Wand des Speisesaals oder den doch sehr seltsamen Sohn des Hauses, aber irgendetwas Ungewohntes würde sie wahrscheinlich an jedem Arbeitsplatz finden. Sie musste sich einfach nur darin hineinfinden!
Francis! Sie seufzte, ohne es zu merken, in sich hinein. Seltsam oder nicht, er ist schon etwas Besonderes! Ich werde ihn im Auge behalten. Sie lächelte bei dem Gedanken.
Sie atmete noch einmal tief durch und voll wiederentdecktem Elan drehte sie sich um, schaute in Richtung der Stadt, die von hier ausgesehen sehr malerisch an die Hänge des Hügels geklebt schien, und schaute zu den beiden Kirchen hoch, die, auf Höhe des Bahnhofes oben am Berg, tatsächlich auf den beiden gegenüberliegenden Enden der Stadt gelegen waren. Eine kräftige Windböe von hinten ließ ihren Mantel nach vorne wehen und zerzauste ihr Haar gründlich. Sie spürte und genoss die Kraft des Windes, der sie in Richtung der Stadt vor sich hertrieb. Die Sonne war an diesem späten November-nachmittag schon lange nicht mehr stark genug, um das nasse Straßenpflaster zu trocknen. Deshalb dankte sie ihrem Schöpfer, dass sie, bevor sie losgegangen war, ihre Sandalen gegen kräftige Halbschuhe ausgetauscht hatte. Es war bereits fünf Uhr durch, die Pubs hatten schon geöffnet und der Lärm der laufenden Fußballübertragung drang an ihr Ohr, als sie die engen Gassen bergan schritt. Wieder war kaum ein Mensch auf den Straßen zu sehen, bis sie zur Mainstreet kam, wo die zahlreichen Geschäfte, die zwischen den beiden Kirchen aufgereiht waren, noch von vielen Kunden besucht wurden.
Gina war auf der Seite der anglikanischen Kirche in das Stadtzentrum gekommen. Eigentlich hatte sie es auch gar nicht wirklich erwartet, aber natürlich war sie trotzdem etwas enttäuscht, als diese tatsächlich bereits verschlossen war. Dann schlenderte sie in Richtung der katholischen Kirche, mal auf der einen, mal auf der anderen Seite der Mainstreet und sah sich die Geschäfte an. Bei einigen musste sie schmunzeln, denn es waren jene Art von Geschäften, in denen Andenken, Postkarten und Nippes verkauft wurden, die denen in ihrer Heimatstadt mehr als ähnlich sahen. In einem Süßwaren-geschäft erstand sie für ein paar Schilling eine Schachtel Kekse und Schokolade und schlenderte weiter. Auf der Mitte der Mainstreet, gleich neben dem Rathaus und gegenüber dem Bahnhof, entdeckte sie eine kleine Bücherei, die natürlich am Samstag Nachmittag geschlossen hatte. Diese würde sie bestimmt in nächster Zeit aufsuchen. Auf der anderen Seite der von links einmündenden Harbourlane befand sich eine verträumte kleine Teestube, in die Gina spontan einkehrte, denn sie war trotz ihres warmen Mantels durchgefroren. Jetzt bedauerte sie, dass sie ihren Roman in ihrem Zimmer zurückgelassen hatte, aber immerhin lagen am Eingang ein paar Tageszeitungen aus, von denen sie sich eine aussuchte, um das örtliche Geschehen etwas besser kennenzulernen.
Sie hatte sich einen Platz gleich am Fenster gesucht, der sich allerdings, und das bemerkte sie erst zu spät, direkt neben einem Tisch befand, an dem drei ältere Damen ihren Nachmittagstee einnahmen. Kaum hatte sich Gina niedergelassen, da sah sie auch schon durch die wuchernden Grünpflanzen vor dem Fenster Mr. Drake, der noch fehlende Lebensmittel für das Wochenende eingekauft hatte, mit zwei schweren Taschen von der Mainstreet in die Harbourlane einbiegen. Ihr zaghaftes Winken bemerkte er allerdings nicht, da er gar nicht in ihre Richtung schaute sondern zügig die Straße hinabschritt. Kurz verspürte Gina einen kleinen Stich des Bedauerns, dass sie übersehen worden war, doch dann strich sie diesen blödsinnigen Gedanken aus ihrem Bewusstsein und versenkte sich in die Tageszeitung.
Unweigerlich musste sie dem halblaut geführten Gespräch der Damen hinter ihr zuhören.
„Es ist doch ein Skandal, Martha! Du kannst doch hinkommen, wo du willst!“
„Ah was, so schlimm ist das doch nicht", sagte eine andere beschwichtigend.
„Doch, doch! Peggy hat ganz recht. Hast du mal versucht am Samstagabend einen unserer Freunde zu erreichen?“, mischte sich die Dritte, nun etwas lauter, in das Gespräch ein.
„Ja, aber es leidet doch nichts darunter. Solange ansonsten jeder seine Arbeit erledigt, ist das immer noch besser als diese ständige Sauferei!“, sprach nun wieder halblaut die Zweite.
„Also ich weiß nicht, ob das nun wirklich so viel besser ist …“, antwortete Peggy mit einem jetzt deutlich spitzeren Tonfall.
In diesem Moment brachte die Kellnerin Gina eine Kanne Tee und das Gespräch am Nachbartisch wurde zu Ginas tiefster Dankbarkeit unterbrochen, als die drei Frauen nun erst bemerkten, dass der Nachbartisch ihrem Gespräch problemlos folgen konnte. Jede weitere Unterhaltung wurde, bis Gina das Lokal verließ, nur noch flüsternd geführt und Gina konnte sich wieder auf ihre Tageszeitung konzentrieren.
Zwei Tassen Tee und ein großes Stück Sahnekuchen später trug Gina ihre Einkaufstüte noch die paar hundert Meter zu der katholischen Kirche, die sie sich gerne anschauen wollte, obwohl sie nicht ihrer Glaubensrichtung entsprach. Sie musste zugeben, dass diese eigentlich immer viel schöner geschmückt waren, als ihre eigenen anglikanischen Kirchen. Diese katholische Kirche allerdings war zu ihrer Enttäuschung nicht besonders spektakulär und auch ziemlich klein, sodass sie schneller als erwartet den Rückweg antrat.
Kurz vor sieben Uhr war sie wieder am Neunarmigen Kraken angelangt. Sie überlegte kurz, ob sie zur Vordertür hineingehen sollte, entschied sich aber dann dagegen, weil sie ohnehin den Schlüssel wieder an seinen Platz hängen musste. Sie öffnete die Seitentür und trat die Stufe zum Flur empor, als sie Francis gewahrte, der gerade dabei war das Bild über der Bank gerade zu rücken. Hinter Gina fiel die Tür mit einem lauten Krachen zu. Nervös sah er sich nach ihr um, nickte dann freundlich, aber ohne ihr in die Augen zu sehen, und verschwand in Richtung Gaststube.
… als Gina eintrat. Durch die verschlossene Tür zum Schankraum drang leises Stimmengewirr der Gäste.
„Guten Abend Mrs. Drake, ich bin dann wieder zurück.“ Erst jetzt in der warmen Küche bemerkte Gina, dass die feuchte Novemberluft empfindlich kalt geworden war, auch wenn der Sturm mittlerweile zu einem starken Wind abgeebbt war. Sie schauderte leicht.
Mrs. Drake hielt kurz inne und blickte auf. „Das ist schön, Kindchen. Hast du dich ein bisschen umgesehen?“
„Ja, habe ich. Es ist eine hübsche, kleine Stadt.“
„Ja, ja, das ist sie wirklich", antwortete Mrs. Drake unaufmerksam.
„Der Hafen und das Meer sind wirklich atemberaubend. Das erinnert mich so schön an zu Hause.“
„Was? Ja! Natürlich! Du kommst ja auch aus einer Hafenstadt.“ Mrs. Drake rührte einen großen Suppentopf um, schmeckte mit einem kleinen Löffel ab, nickte mit dem Kopf und drehte die Gasflamme kleiner. Dann begann sie, an einem langen Arbeitstisch Kartoffeln zu schälen.
Gina wurde langsam warm in ihrem Mantel. „Soll ich nicht doch helfen?“
„Nein, nein! Das schaffen Francis und ich schon. Am Samstagabend ist nicht so viel los.“ Sie blickte weiterhin konzentriert auf ihre Kartoffel und ließ die Schalenschlange in die Länge wachsen, bis sie in einen bereitgestellten Eimer fiel und Mrs. Drake die Kartoffel in einen großen Topf mit Wasser warf.
Gina fühlte sich bereits ziemlich überflüssig, machte aber noch einen letzten Versuch: „Sind Sie sicher?“
„Ja, ja. Aber wenn du möchtest, kannst du nachher gerne zum Essen herunterkommen.“
„Ja, vielleicht. Aber ich hatte eben in dem Café am Bahnhof ein riesiges Stück Sahnetorte zum Tee, da weiß ich nicht, ob ich nachher überhaupt schon wieder Hunger haben werde.“
Mrs. Drake warf wieder eine Kartoffel in den Topf. „Ach, Seeluft macht hungrig, das weißt du ja selbst am Besten. Und nun sieh zu, dass du aus meiner Küche hinaus kommst und dich bis morgen noch ein bisschen erholst.“
„Alles klar, bis nachher vielleicht", antwortete Gina erneut mit einem kleinen Stich in der Brust über diese Zurückweisung und ging auf ihr Zimmer. Sie fühlte, sie würde sich gegenüber Mrs. Drake besonders anstrengen müssen, um deren Achtung zu erringen.
Als sie durch die Schankstube kam, war Francis nirgendwo zu sehen und nur wenige Tische mit Gästen besetzt. Sie grüßte freundlich in die Runde, wenn ein Blick sie traf, und stieg dann die Treppe zu ihrem Zimmer empor. Oben angekommen verstaute sie Mantel und Schuhe im Schrank, öffnete das Fenster und begann den Raum ein wenig zu säubern. Lange brauchte sie dafür nicht, dann schloss sie das Fenster und heizte den Kamin ein, um die kalte und feuchte Nachtluft zu vertreiben. Sie griff sich ihre Keksschachtel und ihren Roman und machte es sich vor dem Feuer gemütlich. Sie hatte noch gar nicht lange gelesen, einem Burgfräulein wurde gerade ein ausgesprochen zudringlicher Antrag von einem widerlichen schwarzen Ritter gemacht, als sie stutzte. Sie versuchte, sich das Bild der Gaststube wieder ins Gedächtnis zu rufen. Hatten eben wirklich auf einem kleinen Beistelltisch ein Schwert, ein Zauberstab und eine Narrenkappe gelegen?
Unfug!, schalt sie sich. Ich glaube, ich sollte mir am Montag wirklich mal ein anderes Buch aus der Bücherei holen. Das hier verbiegt mir ja den Verstand! Sie versenkte sich wieder in die Geschichte.
Ein paar Hundert Kilometer weiter östlich klopfte es in einem kleinen Fischerdörfchen an das Fenster eines malerischen Cafés, das bereits für die Nacht geschlossen hatte. Eine ältere Frau öffnete und schaute hinaus. „Mark, was machen Sie denn hier?“
„Hallo Mrs. Trippelten-Mews. Ist Gina da? Kann ich mit ihr sprechen?“, kam es geflüstert aus dem Dunkel zurück.
Mrs. Trippelten-Mews seufzte. „Gina hatte Ihnen doch gesagt, dass sie Sie nicht wieder sehen möchte!“
„Aber das war doch alles nur ein entsetzliches Missverständnis. Bitte lassen Sie mich mit ihr sprechen, damit wir das wieder klären können.“
„Ich kann Sie nicht mit ihr sprechen lassen. Erstens hat sie mir das ausdrücklich verboten und zweitens ist sie gar nicht da.“ Mrs. Trippelten-Mews schlug sich mit ihrer Hand vor den Mund. Da hatte sie doch im Zorn mehr verraten, als sie eigentlich gewollt hatte.
„Wieso ist sie nicht da? Wo ist sie denn?“ Die Stimme klang verzweifelt.
„Ich kann und werde es Ihnen nicht sagen! Gehen Sie nach Hause, Mark, und vergessen Sie Gina!“ Daraufhin schloss sie vor dem jungen Mann, der seinen traurigsten Gesichts-ausdruck aufgesetzt hatte, das Fenster und löschte noch sicherheitshalber das Licht.
Gina war an diesem Abend nicht mehr heruntergekommen, sondern hatte sich in ihrem Roman fest gelesen und war dann früh ins Bett gegangen. Diese Nacht schlief sie schon sehr viel besser in ihrem neuen Bett, draußen hatte sich der laute Sturm gelegt und auch die Geräusche aus der Gaststube drangen nur sehr leise nach oben. Wahrscheinlich waren die wenigen Gäste nach dem Abendessen im Speisesaal sitzen geblieben.
In den nächsten Tagen bis zum arbeitsfreien Mittwoch gewöhnte sich Gina in die Routine des Tages ein. Einen großen Teil ihrer Tätigkeiten hatte sie ja bereits kennengelernt, sodass ihr am Dienstag schon niemand mehr sagen musste, was ihre regelmäßigen Aufgaben waren. In den Tagen seit dem Wochenende hatte sich, wie es sich bereits am Samstag angedeutet hatte, das Wetter deutlich beruhigt und viele Fischer waren tagsüber mit ihren Booten auf dem Meer, sodass die Arbeit im Pub zur Mittagszeit fast alleine zu bewältigen war. Nur an den Abenden war der Neunarmige Krake wieder gut besucht und Gina lernte im Laufe der Tage die meisten der Stammgäste schon mit Namen kennen.
Nur eines fiel ihr auf: Es gab fast keine Möglichkeit mehr, mit Francis allein zu sprechen. Sie sah ihn zwar regelmäßig an den Abenden, wenn er im Pub den Thekendienst versah, aber schon beim gemeinsamen Frühstück, dass sie mit seinen Eltern einnahm, hatte er entweder bereits gegessen oder er kam erst, wenn sie schon mit der Arbeit begonnen hatte. Doch das alles wurde ihr erst am Dienstag Nachmittag so richtig bewusst, als Francis mit einer großen Lieferung Steaks eintraf und sie ihm vorauseilen wollte, um ihm die Tür zum Kühlraum aufzuhalten. Er schleppte die schwere Kunststoffkiste mit dem Fleisch vom Hintereingang in die Küche und versuchte schon mit dem Ellbogen den großen Griff der Kühlraumtür herunter zu drücken, da schaffte sie es, ihn zu umrunden und die Tür für ihn zu öffnen. Dabei berührten sich für einen kleinen Moment ihre Fingerspitzen. Dann griff er wieder mit beiden Händen nach der schweren Kiste und blickte ihr für einen kurzen Moment tief in die Augen, bevor er in den Kühlraum trat und das Fleisch im Regal verstaute.
Da war er wieder gewesen, der Moment, der Blick und außerdem die Berührung, die Gina erneut in tiefste Verwirrung stürzten. Es war wie am Freitag, und obwohl er nichts gesagt hatte, reichte der Blick in seine tiefblauen Augen, dass sie glaubte, ihm in die Seele schauen zu können. Und wieder erschien er ihr plötzlich als der große, breitschultrige und braun gebrannte junge Mann, der sie im Handumdrehen verzauberte.
Da trat plötzlich, ohne dass sie ihn vorher gehört hätte, von hinten Mr. Drake an sie heran, nahm ihr die Tür aus der Hand und sagte freundlich aber bestimmt: „Gehen Sie doch bitte mal in den Speiseraum und decken Sie die Teller für heute Abend ein. Wir werden neunundzwanzig Gäste zum Essen haben.“
Sie sah ihn verwirrt an, nickte dann aber und ging ohne ein weiteres Wort in den Schankraum. Ihre Fingerspitzen, mit denen sie Francis berührt hatte, glühten immer noch von ihrer Begegnung und ihr Herz raste.
Im Speisesaal schaltete sie der Reihe nach die großen Leuchter ein und atmete ein paar Mal tief durch, um sich zur Ruhe zu zwingen. Dann begann sie sorgfältig die Tische einzudecken und bereitete das Holz für den Kamin vor, da die kalte Novemberluft den Raum schon sehr ausgekühlt hatte, obwohl er kein Fenster und kaum Außenwände besaß.
Im Anschluss daran löschte Gina wieder das Licht und stellte sich hinter den Tresen, um zu kontrollieren, welche Getränke nachgefüllt werden mussten. Da hörte sie die Stimmen von Mr. und Mrs. Drake aus der Küche, die sich gedämpft unterhielten, und sie rückte etwas näher an die Tür.
„Was sollen wir mit ihr machen?“, sagte Mrs. Drake gerade. Gina hielt den Atem an. Was sollte das heißen?
„Was meinst du? Sie macht doch sehr ordentliche Arbeit.“
„Natürlich macht sie sehr ordentliche Arbeit! Aber hast du nicht bemerkt, wie sie Francis ansieht? Ich gehe jede Wette ein, dass sie ihn schon berührt hat. Oh, ich habe es ihm doch so eingeschärft, dass er vorsichtig sein muss, aber er vergisst es einfach immer wieder.“
„Dann müssen wir es ihm eben noch einmal sagen. Ich möchte Gina auf jeden Fall nicht verlieren. Sie arbeitet fleißig und kommt gut mit den Gästen zurecht.“ Mr. Drakes Stimme war etwas schärfer geworden.
„Gut, ich rede mit ihm. Und du sieh zu, dass sie sich nicht so häufig über den Weg laufen.“
Knirschende Schritte von schweren Stiefeln und das Zuschlagen der Kühlraumtür verrieten Gina, dass Francis wieder aus dem Kühlraum heraus gekommen sein musste. Und dann hörte sie plötzlich seine Stimme, die so unendlich warm, weich und melodisch klang: „Ich möchte aber mit ihr reden, ich muss reden!“ Die Verzweiflung, die in diesen Worten mitklang, legte sich Gina plötzlich tief aufs Gemüt. Sie musste sich abstützen, sonst wären unter der Last der plötzlichen Tränen, die sich in ihren Augen sammelten, die Beine unter ihr zusammengebrochen.
„Ich weiß, mein Schatz, dass du das gerne möchtest. Aber du weißt doch auch, dass das unmöglich ist. Geh jetzt in dein Zimmer und ruhe dich für heute Abend aus. Da wird es wieder viel Arbeit geben.“
Und ohne eine weitere Antwort stapfte Francis nach einer kurzen Pause aus der Küche. Die schwere Beklemmung hob sich von Ginas Gemüt mit jedem Schritt, mit dem sich der junge Mann entfernte. Um sich abzulenken, begann sie mit zwei Lappen die Tische der Gäste zu polieren, als die Küchentür aufgestoßen wurde. Mrs. Drake schaute in den Schankraum, sah Gina beim Putzen der Tische und nickte ihr mit einem verkniffenen Lächeln zu. „Du kannst dann für heute Nachmittag Schluss machen, Kindchen. Ruh dich noch etwas aus, bevor die Gäste kommen.“
„Ist gut, ich mache das hier nur gerade fertig.“
„Gut, bis nachher zum Essen.“ Dann schloss sich die Tür wieder hinter Mrs. Drake, die in der Küche verschwand.
… war Mittwoch, der Ruhetag des Pubs. Das Wetter verschlechterte sich drastisch. Es kam zwar kein Sturm auf, aber ein bleiernes Novembergrau hatte sich schon am Morgen über den Himmel gelegt und jeden Gedanken an die Sonne von den vergangenen Tagen getilgt. Feuchte Luft drängte vom Meer in die Bucht und verdichtete sich in den Straßen und Gassen zu einem alles verschluckenden Nebel.
Gina schaute morgens aus dem Fenster und seufzte, obwohl das eigentlich so gar nicht ihrem Wesen entsprach. Sie hatte sich zwar für ihren ersten freien Tag nichts Besonderes vorgenommen, aber sie wollte auf jeden Fall auch nicht die ganze Zeit in ihrem Zimmer sitzen. Sie würde sehen, wie sich das Wetter entwickelte. Fürs Erste beschloss sie den Rock gegen eine warme Hose zu tauschen, zog sich noch einen festen Pullover über ihre Bluse und ging in die Küche. Ein bisschen hatte sie darauf gehofft, dass sie möglicherweise heute Francis beim Frühstück treffen würde. Dann hätte sie sich vielleicht ein Herz gefasst und ihn, wenn sie allein gewesen wären, auf die Empfindungen angesprochen, die er in ihr auslöste, obwohl es weder ihrer Erziehung entsprochen hätte, noch ihre Mutter damit einverstanden gewesen wäre. Diese hielt es für absolut ungehörig, dass eine Frau einen Mann auf ihre Gefühle ansprach. Solche Art von Gesprächen hatte selbstverständlich der Mann zu beginnen. Auf der anderen Seite lebte ihre Mutter, nach Ansicht Ginas, ohnehin noch in einem ganz anderen Jahrhundert.
Aber Gina brauchte diesen Mut nicht aufzubringen, denn nicht nur Francis, sondern auch seine Eltern waren nicht da und hatten ihr nur einen kurzen Brief auf den Küchentisch gelegt, in dem sie erklärten, dass sie zusammen eine bettlägerige Verwandte besuchen wollten und vor dem späten Abend nicht zurück sein würden. Gina schaute aus dem Küchenfenster. Der Nebel schien ihr in den vergangenen paar Minuten sogar noch dichter geworden zu sein, sodass sie nur hoffen konnte, dass er entweder ein regionales Problem sei oder aber die Drakes früh genug losgefahren waren, um dieser Suppe zu entgehen.
Kurzerhand bereitete sie sich ein kräftiges Frühstück und genoss dieses ausgiebig, während sie die Tageszeitung durchblätterte. Sie ignorierte geflissentlich die ersten Seiten, die sich fast nur mit Politik, Berichten von tragischen Unfällen und der Ölkrise auseinandersetzten, und verschlang dafür die Seiten mit dem Klatsch und Gesellschaftsnachrichten und, gezwungenermaßen, mit dem Sport. Denn eines war ihr schon lange klar geworden, wenn sie als Kellnerin in einem Pub mitreden wollte, musste sie einfach wissen, wie am Wochenende Arsenal gegen Tottenham gespielt hatte und warum.
Im Anschluss daran erwog sie kurz, nach einem Blick aus dem Nebel verhangenen Fenster, sich wieder in ihr Bett zu legen und zu lesen, doch der Gedanke an das einzige Buch, das sie derzeit dabei hatte, vertrieb diese Idee wieder. Sie hatte den bedauerlichen Eindruck, dass der Roman von Seite zu Seite erbärmlicher wurde, und brauchte einfach dringend Ersatz.
Sie warf sich ihren Mantel über, griff ihre Handtasche und einen Hausschlüssel, löschte überall das Licht und trat auf die Straße hinaus. Dieses Mal wandte sie sich vom Hafen weg, der nun ohnehin nicht mehr zu sehen war, und ging gleich die kleine Gasse hoch, die, das hatte sie bei ihrem letzten Spaziergang am Samstag herausgefunden, in ein paar Hundert Metern auf die Harbourlane stoßen würde. Sie tastete sich voran über die unebenen Bürgersteige und das glitschige Kopfsteinpflaster, wich im letzten Moment Mülltonnen und Laternenfällen aus und kämpfte das eigenartige Gefühl nieder, dass sich eine Strecke von wenigen Hundert Metern auf Kilometer dehnte, das sie immer beschlich, wenn sie im Nebel durch kaum erkennbare Straßen stolpern musste. Irgendwann kam sie dann, erfreulicherweise ohne größere Unfälle, auf der Mainstreet an, die sie in diesem Moment nur daran erkannte, dass sie auf ihrer linken Seite das Café entdeckte, in dem sie am Samstag Tee getrunken hatte. Verschwommen schimmerte Lichtschein von der anderen Straßenseite durch den Dunst an der Stelle, an der Gina die Bücherei vermutete. Sie konnte zwar beim besten Willen nicht sehen, ob sich ein Fahrzeug näherte, aber hören konnte sie auch nichts und wer würde schon so dumm sein, sich bei diesem Nebel mit dem Auto auf die Straße zu wagen. Also überquerte sie mutig die Straße, kam heil auf der anderen Seite an und betrat die Bücherei.
Diese Bücherei war eine wahre Entdeckung. Während die Bibliothek in ihrem Heimatort nur aus einem einzigen, etwa wohnzimmergroßen Lesesaal bestand, der mit einigen Regalen voll gestellt war und mit ein paar neuen und vielen alten Büchern versuchte das Interesse am Lesen zu wecken, war diese Sammlung enorm viel größer. Man sah es ihr von außen nicht an, aber sie erstreckte sich mittels einiger Wand-durchbrüche und einer großen Treppe über vermutlich drei alte Wohnhäuser und zwei Etagen. Sie hatte viele kleine Räume, die ein geschickter Bibliothekar nutzen konnte, um bestimmte Themen zusammenzufassen, und bot darüber hinaus eine unüberschaubare Menge an neuen Titeln oder zumindest solchen, die Gina noch nicht kannte. Sie stöberte durch die Abteilungen, wachsam beäugt von einer hageren älteren Dame, die ihr offensichtlich das Schlimmste zutraute und in regelmäßigen Abständen mit Listen oder Bücherstapeln misstrauisch an ihr vorbei lief.
Gina hatte sich bereits einen älteren Krimi ausgesucht, den sie noch nicht gelesen hatte, und dazu einen Geschichtsband gefunden, der sich mit der lokalen Historie auseinandersetzte, als sie in der Abteilung mit mittelalterlichen und frühgeschichtlichen Heldengeschichten ankam. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, diesem Bereich gänzlich zu ignorieren, weil sich ihr mitgebrachter Roman als ein so großer Reinfall herausgestellt hatte, aber dann blieb sie doch noch vor einem großen Buch mit irischen Heldensagen stehen. Dies lag besonders exponiert auf einem Lesepult und zeigte einen großen Mann mit flammend rotem Haar, der ein gigantisches Schwert durch die Luft schwang. Unwillkürlich musste sie dabei an Francis denken, wenn sein wahres Wesen hervorbrach. Auch wenn das natürlich eine völlig unzureichende Beschreibung für die Veränderungen war, die ihr schon zweimal an ihm aufgefallen waren, aber etwas Besseres kam ihr nicht in den Sinn.
„Finden Sie alles, was sie brauchen?“ Die Bibliothekarin war unhörbar hinter Gina aufgetaucht und erschreckte sie fast zu Tode.
„Ja doch!“, sagte sie deshalb etwas ungnädig und ein bisschen freundlicher fügte sie hinzu: „Ich stöbere erst einmal so ein wenig herum.“
„Ich habe Sie hier noch nie gesehen.“
Gina war im Moment nicht ganz klar, was ihr dieser simple Satz sagen sollte. „Das stimmt, ich bin neu in der Stadt.“ Dann wandte sie sich wieder dem Buch zu, um der Bibliothekarin zu signalisieren, dass sie jetzt gerne weiter lesen wollte. Doch das war so leicht nicht möglich.
„Ich habe schon gehört, dass sie im Neunarmigen Kraken eine neue Kellnerin haben sollen. Das sind dann bestimmt Sie?“
Gina schluckte einmal, um den aufkeimenden Ärger über die fortgesetzte Störung zu vertreiben. „Ja, das ist richtig!“ Sie drehte sich mit einem breiten Lächeln um. „Es ist ein netter Pub. Waren Sie schon einmal dort?“
Die Bibliothekarin, deren Namen ein kleines Schild auf ihrer Brust mit Mrs. Foster angab, rümpfte die Nase und sagte mit spitzem Mund: „Da werde ich gewiss nicht hineingehen! Nur Trunkenbolde und Spieler verkehren dort, das ist bestimmt nicht der richtige Ort für eine anständige Frau!“
Gina verging das Lächeln bei dieser frechen Unterstellung. „Also da kann ich Ihnen, Gott sei Dank, widersprechen. Wir haben viele Gäste, die ihr abendliches Bier bei uns trinken, aber wirklich betrunken war in der ganzen Zeit, die ich da bin, noch keiner. Und gespielt wird auch nicht!“, setzte sie noch schnell hinzu.
„Ich weiß, was ich weiß.“ Mit diesen vieldeutigen Worten drehte sich die Bibliothekarin auf dem Absatz um und trug ihren Bücherstapel zum Empfangstisch.
Gina war einigermaßen empört über diese Behandlung, sie hatte ihr doch ziemlich den Spaß am Stöbern geraubt. Trotzdem schlenderte sie noch weiter durch die Räumlichkeiten und sah sich ebenfalls noch die Kinder und Jugendbuchabteilung im ersten Stock des Hauses an. Immerhin musste sie neidlos anerkennen, dass die Bibliothekarin ihre Arbeit verstand und aus dieser Bücherei etwas ganz Besonderes gezaubert hatte. Schließlich fand sie nichts Neues mehr zu entdecken und begab sich schweren Herzens zum Empfangstisch. Dort stellte ihr die Bibliothekarin wortlos einen neuen Leseausweis aus und trug die Bücher in ihre Karteikarte ein.
Gina konnte nicht mehr an sich halten. „Was meinten Sie damit, als sie vorhin sagten, dass bei uns gespielt wird?“
„Na das weiß hier doch nun jeder! Obwohl Sie vielleicht wirklich noch nicht lange genug da sind, um es zu bemerken. Aber Sie werden schon sehen. Und der Pfarrer hat es vor zwei Wochen in seiner Predigt auch noch mal gesagt. Es ist einfach nicht richtig, dass Erwachsene spielen. Wo gespielt wird, ist auch Laster und Laster führt zu Sodom und Gomorrha, zu Verderbtheit und liederlichen Sitten! Sie sollten Ihre Augen offen halten. Mehr sage ich dazu nicht!“
„Wie Sie meinen", gab Gina nun ebenfalls schnippisch zurück. „Vielen Dank. Auf Wiedersehen." Sie stopfte die Bücher in ihre Handtasche und verließ die Bücherei.
Vor der Tür wurde Gina angenehm überrascht, denn der Nebel war lichter geworden. Am Himmel konnte man schon vage die Sonne als einen großen hellen Fleck erkennen und selbst der Bahnhof auf der gegenüberliegenden Straßenseite zeichnete sich bereits deutlich in seinen Konturen ab. Nur in den tiefer liegenden Bereichen des Ortes waberte der Nebel noch unverändert vor sich hin. Also entschloss sie sich, kurzfristig den Spaziergang durch die Mainstreet und deren Geschäfte noch ein wenig fortzusetzen. In der ihr schon bekannten Chocolaterie ergänzte sie ihre Vorräte und schlenderte durch den heller werdenden Mittagshimmel, vorbei an Modegeschäften, die für sie unbezahlbare Kleider präsentierten, in Richtung der anglikanischen Kirche. Dort lag vor dem Kirchengelände noch ein kleiner Bürgerpark, in dem sie sich, trotz der feuchten Luft, ein wenig auf die Bank setzen wollte. Es war ein eigentümliches Panorama. Die Sonne hatte den Nebel auf den Hügelspitzen so weit vertrieben, dass Gina in der immerhin ein wenig wärmenden Mittagssonne sitzen konnte. Alles, was rund um die Bucht auf dem Hügelkamm gelegen war, glänzte in ihrem Licht, doch der gesamte Bereich darunter, bis weit auf das Meer hinaus, lag immer noch in dichtem Dunst. Erst ganz weit in der Ferne konnte man wieder eine dünne Wasserlinie ausmachen.
„Guten Tag junge Frau. Was treibt Sie in den Garten des Herrn?“ Neben ihr war unerwartet ein mittelalter, schwarz gekleideter Herr aufgetaucht. „Bitte entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken. Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Reverend Hummingworth von der anglikanischen Kirche.“ Er deutete wenig respektvoll mit dem Daumen über seine rechte Schulter hinter sich.
Gina erhob sich höflich. „Guten Morgen, Reverend. Mein Name ist Gina, Gina Trippelten-Mews. Ich bin die neue Kellnerin ...“
„... des Neunarmigen Kraken. Ich weiß.“ Er lachte sie freundlich an. „In einem so kleinen Ort wie diesem schweigen sich Neuigkeiten schnell herum.“
„Ja, das stimmt wohl.“ Und jeden Sinn für Diplomatie vergessend fügte sie hinzu: „Und Sie sind dann wohl der Pastor, der gegen die Spielerei in unserem Pub wettert?“
Der Reverend zog erstaunt die Augenbrauen hoch und deutete mit der Hand auf die Bank. „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“
„Selbstverständlich!“ Sie nahm ihre Tasche und rutschte auf das äußerste Ende der Bank.
„Und was meinten Sie genau mit ihrer Bemerkung über die Spielerei? Meinten Sie die Spielsucht?“
„Das weiß ich eigentlich gar nicht so genau", gab Gina etwas kleinlauter zu. „Ich war nur eben in der Bücherei und musste es über mich ergehen lassen, dass sich die Bibliothekarin von hinten an mich heranpirschte und mich abkanzelte, dass in dem Lokal, in dem ich arbeite, angeblich gespielt würde, und wie furchtbar das alles sei.“
Der Reverend lachte aus vollem Hals und Gina sah ihn erstaunt an. Als er sich beruhigt hatte, sagte er: „Ich fürchte, da sind Sie ein wenig zwischen die Fronten eines religiösen Kleinkrieges geraten. Es ist mein katholischer Kollege von der anderen Seite, der sich in der letzten Zeit auf seiner Kanzel darüber ereifert.“
„Und was hat es damit auf sich? Ich habe in den paar Tagen, die ich jetzt dort bin, jedenfalls noch nichts bemerkt.“
„Na dann wird wohl auch gar nichts passiert sein", bemerkte der Reverend kryptisch. „Im Übrigen halte ich Gesellschaftsspiele für einen recht harmlosen Spaß unter Erwachsenen.“ Dann änderte er spontan die Thematik. „Sehe ich Sie denn am Sonntag in der Kirche?“
„Ich weiß nicht.“ Gina war sichtlich verlegen. „Ich gehe nicht häufig in die Kirche.“
Der Pastor schmunzelte und stand auf. „Ich muss mich noch einmal entschuldigen, ich wollte Sie wirklich nicht in Verlegenheit bringen. Trotzdem muss ich mich jetzt von Ihnen verabschieden. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag und würde mich freuen, wenn ich Sie demnächst einmal wiedersehen würde.“ Er verbeugte sich leicht, drehte sich um und schritt den Kiesweg in Richtung seiner Kirche davon.
… gehört hatte, brachte sie zum Nachdenken. Sie blieb noch eine kleine Weile auf der Bank des Bürgerparks sitzen, bevor ihr die Feuchtigkeit durch den Mantel drang und ihr kühl wurde. Doch schon in dieser kurzen Zeit war ihr klar geworden, dass der Reverend ihrer Frage ausgewichen war. Warum deuten alle an, dass im Neunarmigen Kraken verbotene Glücksspiele laufen, und wenn man sie dann konkret fragt, geben sie keine richtige Antwort? Energisch stand sie auf, stampfte ein paar Mal mit den Füßen auf den Boden, ob aus plötzlichem Zorn oder wegen ihrer kalt gewordenen Füße, war ihr momentan egal. Sie schwor sich, dass sie in den nächsten Tagen genau aufpassen würde, ob in dem Neunarmigen Kraken irgendwelche verbotenen Dinge passierten.
Doch nun musste sie sich erst einmal mit der Gegenwart auseinandersetzen. Ihre neue Heimat am Hafen war immer noch tief im Nebel verborgen, während ihr jetziger Aufenthaltsort einen deutlich freundlicheren Anblick bot. Und da sie keine Eile hatte, beschloss sie noch einmal die Mainstreet zurückzugehen, um sich in dem Café bei einer guten Tasse Tee etwas aufzuwärmen. Das konnte sie sich zwar nicht allzu häufig leisten, aber in dieser besonderen Situation wollte sie sich den Luxus gönnen. Doch als sie vor Ort ankam, musste sie zu ihrem Bedauern feststellen, dass auch das Café heute Ruhetag hatte. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als sich auf den Weg über das schlüpfrige Kopfsteinpflaster nach Hause zu machen. Je näher sie dem Hafen kam, desto dichter wurde der Nebel wieder. Ihr normalerweise sehr warmer und dicker Wollmantel fühlte sich schnell klamm und schwer an, als ob er sich mit der Feuchtigkeit der Luft voll gesogen hatte. Gott sei Dank war der Weg nicht allzu weit, sodass sie nach einer kurzen halben Stunde, die ihr aber, wie erwähnt, mindestens doppelt solang vorkam, bereits vor dem Seiteneingang des Pubs ankam. Schnell schloss sie die Tür auf und huschte nach drinnen, um dem ungemütlichen Wetter draußen zu entkommen.
Ein bisschen verhalten rief sie in die dunkle Stille des Hauses: „Ich bin wieder da!“, aber niemand antwortete ihr. Die Drakes waren offensichtlich noch nicht nach Hause gekommen. Ohne, dass sie es sich selbst eingestehen wollte, hatte diese totale Stille, ohne jedes Geräusch aus dem Haus oder von der Straße, etwas Unwirkliches und Unheimliches. Schnell ging sie durch die dunklen Räume und über die Treppe nach oben zu ihrem Zimmer, damit sie aus den nassen Kleidungsstücken herauskommen konnte. Dann zündete sie das Holz im Kamin an, das schnell behagliche Wärme verbreitete. Sie kuschelte sich in eine große Decke vor das Feuer und überlegte, was sie tun sollte. Auch wenn es im Zimmer dunkel war wie in tiefster Nacht, nur erleuchtet von dem flackernden Schein des Kaminfeuers, war es doch immer noch früher Nachmittag und sie hatte eigentlich noch viel Zeit für sich.
Kaum war sie leidlich durchgewärmt, schlüpfte sie in einen alten und bequemen Rock, zog einen anderen Pullover über und ging nur in dicken Wollsocken die Treppe hinunter in die Küche, wobei sie demonstrativ auf dem ganzen Weg das Licht einschaltete. Sie würde jetzt das tun, was jeder normale Engländer in einer Situation tun würde, die er nicht wirklich verstand oder die ihm unheimlich war: Sie schmierte sich ein paar Scheiben Toast und kochte sich eine Kanne Tee. Danach setzte sie sich mit beidem auf eine Bank in der Gaststube, die mit dem Rücken zur Wand stand. Nach der ersten Tasse Tee war der Entschluss gereift und sie stand auf, um eine kleine Durchsuchung zu beginnen. Wenn es hier irgendwo im Pub versteckte Spielkarten oder Würfel geben sollte oder Listen, auf denen die Wetteinsätze notiert worden waren, würde sie diese finden. Systematisch begann sie ihre Suche zuerst im Schankraum. Einige der Tische hatten noch Besteckschubladen wie bei ihren Großeltern, aber diese waren genauso leer wie die Stauräume unter den Sitzbänken an den Wänden. Im Anschluss daran durchsuchte sie noch den Tresen und schaute sich dann ratlos um. Eigentlich hätte es ihr klar sein müssen, dass sie nichts Entsprechendes fand, denn in der knappen Woche, die sie bereits hier arbeitete, hatte sie an den meisten Stellen ohnehin schon einmal geputzt, sodass ihr diese Dinge auf jeden Fall aufgefallen wären. Doch dann fiel ihr Blick auf die Tür neben der Treppe. Der Speisesaal! Aus irgendeinem unerfindlichen Grunde schlich sie hinüber, statt sich normal zu bewegen, und öffnete vorsichtig die Tür. Doch als sie das Licht im Speisesaal anschaltete, schalt sie sich selbst einen Trottel, denn natürlich war auch dieser Saal leer. Das ganze Haus war leer, ohne Beobachter, die ihr Tun befremdlich gefunden hätten.
Auch hier begann sie mit einer systematischen Suche in den beiden großen Anrichten, die immer noch nur das enthielten, was Gina ohnehin schon wusste: Gläser, Bestecke und Servietten. Dann nahm sie sich den kleinen Schrank auf der Rückseite des Saales vor. Hier war das Ergebnis insofern etwas überraschender, weil sie bisher noch gar keine Zeit gehabt hatte, in diesen Schrank hinein zu sehen. Kunterbunt durcheinander lagen dort in losen Stapeln unbeschriebenes Papier und von Kindern gemalte Bilder, die für sie noch so viel schlechter waren als die Bilder an der Wand, dass diese den Weg dorthin bestimmt nicht verdienten. Was soll das? Warum hebt jemand so etwas auf?, fragte sie sich. Auch ein ganzer Karton mit Bleistiften und Buntstiften war vertreten. Wahrscheinlich hatten die Drakes irgendwann mal einen Malwettbewerb veranstaltet und das hier waren die Ergebnisse. Unzufrieden mit den mangelhaften Ergebnissen ihrer bisherigen Suche sah sie sich noch einmal im Saal um. Dann untersuchte sie auch hier noch die zum Teil sehr alten Esstische auf verborgene Schubladen oder Fächer, aber in den wenigen, die sie fand, waren nichts als Staubflusen, wiederum ein paar Bleistifte, Radiergummis oder alte Servietten.
Sie war ratlos, bis ihr nach einigen Minuten erstaunt klar wurde, dass sie sich eigentlich freuen sollte. Denn da sie keinerlei Hinweise gefunden hatte, konnte sie jetzt doch sicher annehmen, dass alles, was sie gehört hatte, nur Gerüchte und heiße Luft gewesen waren. Voller Stolz über diese Erkenntnis richtete sie sich auf, strich sich ein paar Staubflocken von ihrem Rock und aus ihren Haaren, die sie beim Kriechen unter den Tischen eingesammelt hatte. Weil sie wegen ihres dummen Verdachts doch ein bisschen das schlechte Gewissen gegenüber ihren Arbeitgebern plagte, holte sie sich anschließend Lappen und Besen, um hier einmal so richtig zu putzen. Sie war gerade bei den letzten Handgriffen, als sie die heimkommenden Drakes hörte. Nur wenig später standen Mr. und Mrs. Drake in der Tür zum Speisesaal.
„Was machen Sie da?“, erklang die irritierte Stimme Mr. Drakes hinter ihr.
Mit einem letzten Besenstrich drehte sie sich hochrot im Gesicht um.
„Mir war ein wenig langweilig bei dem Wetter und da habe ich mir gedacht, ich könnte hier mal so richtig sauber machen. Wo doch heute keiner hier ist. Ich meine, da stört mich wenigstens keiner.“ In ihren Ohren klang dies so schrecklich fade, wie eine schlechte Ausrede, aber Mr. Drake merkte das nicht und lächelte erfreut.
„Toller Einsatz! Sehr löblich! Aber trotzdem sollten Sie das in Zukunft nur während ihrer Arbeitszeit tun.“
„Natürlich! Wie war die Fahrt? Ist da draußen immer noch so viel Nebel?“
„Nein, er hat sich ein deutlich gelichtet. Und außerhalb der Bucht ist er, wie meistens, schon ganz weg. Also war die Fahrt ganz okay!“
Hinter Mr. Drake tauchten jetzt auch Mrs. Drake und Francis auf. „Hallo Gina", sagte sie erstaunt. „Wie sieht es denn hier aus?“
Mr. Drake drehte sich zu ihr um und lachte. „So sieht es aus, wenn einer guten Mitarbeiterin langweilig wird.“
„Sehr schön! Da werde ich mich mal gleich mit einem guten Essen revanchieren. Ich habe da noch ein ganz wunderbares Rezept für einen Rinderbraten mit einer köstlichen Minzsoße.“ Dann wandte sie sich Francis zu. „Und du hast, glaube ich, noch einige Besorgungen zu erledigen.“
Francis sah sie kurz an und senkte dann den Blick.
... wieder in seinem gewohnten Bahnen. Von Donnerstag an erledigte sie wie immer mit viel Engagement die ihr anvertrauten Aufgaben, auch die Gäste spürten ihren Spaß an der Arbeit und sie musste den einen oder anderen rüden Scherz an sich abgleiten lassen. Sie servierte Essen und Getränke, erledigte die größten Bestellungen, putzte die Tische und Bänke blank und war für jeden der Gäste für einen kurzen Schwatz zu haben. Sie fühlte sich hier schon so zu Hause, als würde sie hier schon ewig arbeiten, obwohl sie doch erst eine knappe Woche hier war.
Das Einzige, was ihr weiterhin zu schaffen machte, war ihr Verhältnis zu Francis. Wenn sie abends zusammenarbeiteten, war Francis wieder unscheinbar und zurückhaltend, wie sie ihn am ersten Tag kennengelernt hatte. Er vermied jeden Blickkontakt zu ihr und zapfte schweigend die Getränke oder spülte die Gläser. Außerhalb dieser Zeit bekam sie ihn überhaupt nicht mehr zu Gesicht und wusste letztendlich nicht, was von beidem sie schlimmer fand. Sie sehnte sich nach dem anderen Francis mehr, als sie sich selbst eingestehen wollte. Doch dann kam ihr, am Wochenende darauf, der Zufall zu Hilfe.
Es war wieder Samstag und sie hatte, trotz ihres erneuten Protestes, den Abend frei. Draußen auf der Mole und in den Gassen der Stadt vertrieben bereits die etwas altmodischen Gaslaternen, die Gina wegen ihres warmen Lichtes gerade in dieser Jahreszeit so liebte, die früh hereingebrochene Dunkelheit und Gina hatte sich nach einem Lesenachmittag zu einem späten Spaziergang entschlossen, um sich die frische Luft um die Nase wehen zu lassen. Sie genoss den Gang durch die Straßen mehr als beim letzten Mal, denn in einigen Fenstern leuchteten schon die ersten Weihnachtskerzen und von der Mole betrachtet erstrahlte die ganze Stadt in einem funkelnden Lichtergewirr. Sie hatte sich fest in ihren warmen Mantel gewickelt, die neuen gefütterten Stiefel angezogen und ihre Mütze tief über die Ohren gestülpt, um für ein paar Minuten diesen Anblick von einer Bank im Hafen gegenüber des Pubs zu genießen.
Dabei fand sie es amüsant, die eintreffenden Gäste zu beobachten. Ein kleinwüchsiges Ehepaar, wahrscheinlich Touristen, denn er trug eine Kameratasche über der linken Schulter, verkroch sich geradezu in ihren Mänteln, Mützen und Handschuhen. Es kam gerade noch rechtzeitig an, um vor dem Essen noch einen Schluck zum Aufwärmen trinken zu können. Der hünenhafte Tom mit seinem Rucksack auf dem Rücken, dem die Kälte gar nichts auszumachen schien, winkte ihr über die Straße zu und brüllte: „Komm rüber Mädchen! Lass uns mal einen zusammen nehmen!" Aber sie winkte lachend ab und er verschwand im Innern des Pubs. Schließlich kamen noch zwei Matrosen, die so in einen Streit vertieft waren, dass sie schon ein paar Meter an der Eingangstür vorbei gelaufen waren, bis ihnen auffiel, wo sie eigentlich hin wollten. Das beendete schlagartig ihre hitzige Diskussion und entfachte einen neuen Streit darüber, welcher von beiden zu verantworten habe, dass sie die Stätte ihres Abendvergnügens verpasst hatten.
Fröstelnd stand Gina auf. Sie musste sich bewegen, sonst wäre eine Erkältung wohl die unweigerliche Folge. Sie lief noch ein paar Meter die Mole entlang und setzte dann ihren Spaziergang durch die Churchlane fort, die sich von dort in einigen Windungen den Weg hügelan bahnte, bis sie bei der anglikanischen Kirche auf die Mainstreet treffen würde. Dort traf sie auf halber Strecke den Reverend, der mit einem kleinen schwarzen Büchlein in der Hand in Richtung Hafen unterwegs war. „Guten Abend Reverend. Machen Sie auch einen Spaziergang?“
„Ihnen auch einen guten Abend. Das hilft den Kopf freizubekommen, wenn man noch an den letzten Worten der Predigt für morgen feilt.“ Er schmunzelte. „Und wie genießen Sie Ihren arbeitsfreien Abend?“
„Och, ich werde jetzt erstmal einen ausgiebigen Rundgang machen und dann werde ich mich mit einem guten Buch vor den Kamin kuscheln.“
„Das klingt wunderbar!“ Er rieb sich fröstelnd mit den Händen über die Arme. Er musste wohl selbst über seine nächste Frage lächeln. „Sehe ich Sie dann morgen in der Kirche?“
Jetzt schmunzelte sie auch. „Ich glaube nicht, Reverend. Aber ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend!“
„Danke! Das wünsche ich Ihnen auch.“ Er nickte noch einmal freundlich zum Abschied mit dem Kopf und schlenderte dann weiter die Straße hinab.
Kurz blickte sie der schwarz bemantelten Gestalt nach. Heute wirkte der Reverend jünger, dynamischer, als noch vor ein paar Tagen. Wie alt er wohl war? Sie setzte ihren Weg durch die Churchlane fort, bis sie zu einer kleinen Seitenstraße kam, die nach links abknickte. Etwas hochtrabend nannte sich diese Gasse The Mall, obwohl sie beim besten Willen nichts Vorzeigbares hatte. Die kleinen Häuser waren hier ohne Vorgärten direkt an die Straße gebaut. Heruntergekommene Fassaden, verschmutzte und zerrissene Gardinen sowie verbeulte oder umgefallene Mülltonnen und uralte Autos prägten das gesamte Bild. Hier leuchteten keine Weihnachtskerzen in den Fenstern und selbst das Licht der trüben Gaslaternen wirkte matter und unfreundlicher. Doch da Gina nicht gerne umkehrte und sie nichts Bedrohliches erkennen konnte, ging sie mit dem festen Vorsatz weiter, diese das letzte Mal zu betreten. Nahezu in der Mitte dieser Gasse, gleich hinter einer kleinen Kurve, gab es dann doch noch ein paar erleuchtete Fenster eines etwas größeren Hauses, die ihr Herz erwärmten. Beim Näherkommen erkannte sie im selben Moment das Schild des katholischen Gemeindehauses an der Wand und Mrs. Foster, die die Eingangstür von innen aufdrückte und die Stufen zur Straße herabstieg. Mit etwas kurzsichtig zusammengekniffenen Augen wartete sie einen Moment, bis Gina näher gekommen war.
„Guten Abend Mrs. Foster", sagte Gina freundlich, bereit das letzte Treffen einfach zu vergessen.
„Ach, Sie sind es!“, sagte Mrs. Foster, die dieses Treffen offensichtlich nicht vergessen wollte. „Arbeiten Sie heute gar nicht in dieser Lasterhöhle?“
Gina seufzte. Der Abend hatte so schön begonnen und sie hatte überhaupt keine Lust, sich in eine Diskussion mit dieser engstirnigen Frau hineinziehen zu lassen. „Sie können beruhigt sein, Mrs. Foster, es ist keine Lasterhöhle, ich habe es genau überprüft.“
„Was sollten Sie auch sonst sagen?“, schoss die Unbelehrbare zurück.
„Die Wahrheit, Mrs. Foster, die Wahrheit! Und Sie sollten vielleicht ein bisschen mehr Güte im Herzen tragen, wenn Sie aus einem Haus des Herrn kommen!“ Gina war mit ihrer Geduld am Ende, reckte erbost den Kopf in die Höhe und ging mit schnellen Schritten an Mrs. Foster vorbei, der vor Staunen über diese Unverfrorenheit der Mund offen stand.
Sie setzte ihren Weg durch die Gasse fort, die auch zu ihrem anderen Ende hin nichts an Verbesserungen vorzuweisen hatte, und kürzte ihren Spaziergang dann aber drastisch ab, als The Mall auf die Harbourlane traf. Vom Hafen her traf sie ein Schwall kalter Luft, die den Winter mit in die Stadt trug. Sie zog den Kopf tief in ihren hochgeschlagenen Mantelkragen ein, duckte sich gegen den aufkommenden Wind und freute sich auf einen Abend vor dem Kamin.
Schon von Weitem sah sie Francis vor dem Pub auf der Straße Salz streuen. Er war so vertieft in seine Arbeit, dass er ihre leisen Schritte hinter sich erst im letzten Moment hörte.
„Hallo Francis!“ Gina blieb neben ihm stehen. Sein hektischer Blick, mit dem er offensichtlich eine Möglichkeit suchte, ihr auszuweichen, verriet ihr, dass seine Mutter ihn tatsächlich noch einmal instruiert hatte, Gina auszuweichen. Er heftete seinen Blick auf die Straße vor Ginas Füßen.
„Ist es denn schon so kalt, dass du streuen musst?“, fragte sie freundlich. Bewusst steckte sie ihre Hände tief in die Manteltaschen, als sie merkte, dass diese sich selbstständig schon auf den Weg gemacht hatten, um Francis zu berühren. Sie wollte ihn nicht noch mehr in Verlegenheit bringen.
Eine kurze Zeit blieb es still zwischen ihnen und Gina musste sich zwingen, diese Pause nicht mit sinnlosem Geplapper zu füllen. Dann richtete sich Francis ein wenig auf und drehte den Kopf zum Meer. "Es wird Winter!“, flüsterte er mit einer Stimme, die klang, als ob sie nicht ans Sprechen gewöhnt war. Und mit diesen Worten war es für Gina, als ob sie die kommende Kälte spüren konnte. Das Licht schien grauer zu werden und, als ob sich zwei Bilder wie bei einem defekten Dia überlagerten, sah sie gleichzeitig die reale Welt und, wie darüber geschoben, Eiszapfen, die von Regenrinnen hingen und herab zu brechen drohten, schneebedeckte Dächer und einen zugefrorenen Hafen, der die Schiffe wie ein Gefängnis einschloss. Schnell verflog dieser Eindruck wieder, aber das Erstaunen in Gina blieb. Francis hatte es geschafft ihr mit genau drei Worten zu vermitteln, was er fühlte.
Sie konnte dem Erschrecken in seinem Gesicht ansehen, dass er etwas getan hatte, was ihm verboten worden war. Er stand da, die Augen wieder auf die Straße geheftet, und bot ein solches Bild der Verzweiflung, dass Gina sich zurückhalten musste, um ihn nicht in den Arm zu nehmen. Er wirkte mit seinen vielleicht fünfundzwanzig Jahren wie ein kleiner fünfjähriger Junge, der bei irgendetwas erwischt worden war.
"Ich werde nichts sagen!“, flüsterte sie. Und als hätten sie einen Pakt geschlossen, stahl sich ein leises Lächeln auf sein Gesicht. Dann drehte er sich abrupt um, setzte seine Arbeit fort und Gina trat durch die Seitentür ins Haus.
Es war mittlerweile Essenszeit, als Gina sich den Dreck von den Füßen getreten hatte und die Küchentür öffnete. Mrs. Drake wirbelte wieder zwischen ihren Töpfen und Pfannen umher und bot Gina nur noch eilig einen Teller Suppe an, die diese gerne annahm und mit nach oben trug. Dort angekommen tat sie genau das, was sie sich vorgenommen hatte: Sie setzte sich vor das lodernde Kaminfeuer, löffelte ihre Suppe und dachte nach. Sie versuchte sich bewusst zu machen, was in der letzten Woche so alles geschehen war, was schön oder weniger schön gewesen und was Ungewöhnliches passiert war. Es war noch nicht viel, denn sie war noch nicht lange hier, aber wenn sie ganz ehrlich war, dann kehrten ihre Gedanken, in immer kleiner werdenden Kreisen, stets wieder zu Francis zurück. Sie mochte ihn sehr, sie konnte nur noch nicht einschätzen, wie sehr. Gleichzeitig hatte er etwas Geheimnisvolles an sich, dass sie nicht verstehen konnte. Und wenn sie genau darüber nachdachte, entwickelte sie fast so etwas wie einen Beschützerinstinkt für ihn, obwohl sie gleichzeitig das Gefühl hatte, dass er sie irgendwie manipulierte. An dieser Stelle brach sie ab, stellte den leer gegessenen Teller Suppe neben sich auf das Sofa und rieb sich die Stirn. Sie verstand nicht, was in ihr vorging. Solche Gefühle einem Mann gegenüber hatte sie überhaupt noch nicht erlebt. Ihre Gedanken drehten sich im Kreise und sie versuchte sich davon loszureißen, indem sie sich den neuen Krimi nahm, um sich in die fernen Welten von Agatha Christies Nil-Kreuzfahrt entführen zu lassen.
War es ihr anfangs noch schwer gefallen sich zu konzentrieren, hatte sie nach wenigen Seiten der Roman schon so tief gepackt, dass sie es fast unterlassen hätte, rechtzeitig neues Kaminholz nachzulegen. Viel später, der Gong zur letzten Runde im Schankraum hatte schon lange geläutet und der Pub für diesen Abend bestimmt schon geschlossen, merkte sie, dass sie von der salzigen Suppe heftigen Durst bekommen hatte. Kurzerhand legte sie das Buch beiseite, schüttelte die Decke ab, griff sich den leeren Teller und ging hinunter in die Küche. Erstaunt blieb sie auf der untersten Stufe zur Wirtschaft stehen. Der Raum selbst war bereits verdunkelt, Francis musste also mit den Nacharbeiten schon fertig sein, aber durch das Fenster der Glastür zum Speisesaal drang noch Licht und von drinnen waren gedämpfte Stimmen und Gelächter zu vernehmen. Sie gab ihrer Neugier nach und spitzte die Ohren, aber durch die dicke Tür konnte sie leider kein Wort verstehen.
Dann wurde ihr plötzlich bewusst, wie seltsam es aussehen würde, wenn jemand aus dem Raum käme und sie dort stehen sähe. Also zähmte sie ihre Wissbegierde, ging mit dem Teller in die Küche und zapfte sich dann ein großes Bier am Tresen, von dem sie sofort einen großen Schluck trank.
Von ihrem Standort aus fiel ihr Blick zufällig zurück in die Küche und auf die offen stehende Tür zum Hausflur. Mit ein paar selbstverständlichen Schritten war Gina dort, um sie zu schließen, doch was sie dann sah, überraschte sie doch sehr. Francis kniete auf der Holzbank, ein Kissen unter seinen Beinen, und spähte durch ein Loch in der Wand, das Gina bisher nicht hatte bemerken können, weil das Bild des alten Ehepaares normalerweise davor hing. Auf einmal war es eigentümlich still. Sie versuchte sich nicht zu bewegen, nicht einmal laut zu atmen, um Francis nicht zu erschrecken. Auch dieser verharrte in einer so steifen Haltung, dass sie den Eindruck hatte, er würde dort schon seit einiger Zeit lauschen. Sie vergegenwärtigte sich die Architektur des Hauses und begriff plötzlich, dass dieses Loch eine Verbindung zum Speisesaal sein müsse, von wo auch sie eben schon Licht und Stimmen wahrgenommen hatte. Also gab es für sie doch noch ein Geheimnis zu entdecken, dem Francis vielleicht schon auf der Spur war!
Langsam begann sie sich, Schritt für Schritt, wieder zurückzuziehen, ließ natürlich weiterhin die Küchentür offen stehen und schlich sich zurück zum Tresen. Dort angekommen klapperte sie absichtlich laut mit der Schwingtür und schlug wie zufällig ein paar Gläser aneinander, bevor sie sich ihr Glas wieder voll zapfte. Und während noch aus dem Hausflur Geräusche drangen, die ihr verrieten, dass das Bild hektisch wieder aufgehängt wurde, nahm sie sich ihr Glas Bier und ging wieder zu ihrem Zimmer.
… die noch lange nach dieser überraschenden Entdeckung verhinderte, dass Gina zur Ruhe kam und schlafen gehen konnte. Sie saß mit ihrem großen Glas Bier, an dem sie fast schon jedes Interesse verloren hatte, vor dem Kamin, starrte sinnierend in die Flammen und versuchte sich über die Konsequenzen im Klaren zu werden, die aus ihren Entdeckungen entstanden.
Erstens, sagte sie sich, scheint es in diesem Hause doch irgendein Geheimnis zu geben. Wobei ich noch nicht genau weiß, ob es dabei um Spielsucht geht, wie die Anschuldigungen behaupten, oder etwas ganz anderes. Sie stellte ihr Glas brüsk auf den kleinen Tisch, schob die Decke von ihren Knien und begann von innerer Unruhe getrieben vor ihrem Bett auf und abzugehen.
Zweitens weiß Francis davon, aber er hat nicht direkt etwas damit zu tun, sonst würde er das Ganze nicht durch das Loch in der Wand beobachten, sondern wäre wahrscheinlich dabei. Drittens scheint es so, dass sich diese Sache immer am Samstag abspielt, weil ich schon von Anfang an das Gefühl hatte, dass ich an den Samstagabenden ganz bewusst von unten ferngehalten werden sollte. Viertens: Sind daran noch mehr Leute beteiligt, die ich kenne? Gina beendete ihren Pilgerweg und blieb wieder vor dem Kamin stehen, wo ihr Blick auf den kleinen Tisch und den Krimi darauf fiel. Sie musste grinsen und die Anspannung, die bis eben noch Besitz von ihr ergriffen hatte, löste sich auf. Ich benehme mich, wie ein Detektiv im Krimi! Sie griff nach dem Roman, blätterte mit dem Daumen durch die hundertfach benutzten Seiten und genoss den Geruch, der speziell den Werken anhaftet, die schon lange in einer Bücherei standen. Er vermittelte ihr ein Gefühl, wie viele Menschen sich schon mit dieser Erzählung im Bett, auf dem Sofa oder in einem Lehnsessel einen gemütlichen Abend gemacht hatten. Fast meinte sie, dass sie diese Leute plastisch vor sich sehen konnte, bis auf einmal die Bibliothekarin, auf einem harten Küchenstuhl sitzend, in dieser Reihe der Traumbilder auftauchte und Gina aufschreckend aus ihrer Gedankenwelt zurückkehrte. Doch da kam ihr noch eine Idee: Fünftens: Kann Francis eigentlich bei allen Menschen mit seiner Sprache diese Gefühle auslösen oder ist das nur bei mir so? Seine Eltern scheinen von diesem Phänomen, zumindest nach außen hin, nicht beeinflusst zu werden.
Sie setzte sich wieder und trank noch einen Schluck Bier. Es war ihr klar, dass sie diese Punkte nicht so einfach im Raum stehen lassen konnte, ohne zumindest zu versuchen ihre Neugier zu befriedigen. Auch wenn damit verbunden war, dass sie Gefahr lief, ihre Arbeitgeber zu verärgern. Also musste sie auf jeden Fall vorsichtig zu Werke gehen, denn sonst würde sie riskieren, dass sie Francis nicht mehr wieder sehen konnte und das würde ihr sehr schwer fallen.
Überhaupt schien sich Vieles in diesem Hause direkt um Francis zu drehen. Francis! Sie spürte den leichten Druck auf der Brust, der einem Seufzer vorausgeht.
Sie erschrak, nachdem sie einen Blick auf ihre Armbanduhr geworfen hatte, und begann sich wider Willen bettfertig zu machen. Wirklich müde war sie nicht, aber am nächsten Tag musste sie wieder früh aufstehen.
Das fast heruntergebrannte Kaminfeuer loderte noch einmal kräftig auf, als sie für einen kurzen Moment das Fenster weit öffnete, um frische Luft in das Zimmer zu lassen. Über ihr Nachthemd streifte sie nur schnell eine Strickjacke, dann beugte sie sich kurz aus dem Fenster, sah in Richtung Hafen und atmete zwei-, dreimal tief ein. Der kalte Wind vom Meer hatte begonnen Raureif auf den Dächern, den Straßen und den Autos zu verteilen, sodass sie schon vom Fenster zurücktreten wollte, als sie auf der linken Seite plötzlich den Reverend aus dem Nachbarhaus treten sah. Er wechselte noch ein paar für sie unverständliche Worte mit jemand Unsichtbaren, drückte diesem zum Abschied die Hand, nahm sein schwarzes Gebetsbuch in seine Linke und machte sich offensichtlich auf den Weg nach Hause. Nachdenklich verschloss Gina das Fenster und ging zu Bett. Hoffentlich war nebenan nichts Unangenehmes passiert, dass man mitten in der Nacht noch den Reverend rufen musste. Aber das würde sie durch die örtliche Gerüchteküche bestimmt morgen erfahren.
Wider Erwarten schlief Gina doch schnell ein und nach einer kurzen, traumlosen Nachtruhe erwachte sie am nächsten Morgen gerade noch rechtzeitig, um Mr. Drakes Frühstücksruf zu vernehmen. Abgesehen von der Glätte auf den Straßen und dem glitzernden Frost, der sich draußen überall ausgebreitet hatte, die beide dafür sorgten, dass zur Mittagszeit eher noch weniger Touristen den Weg in den Pub fanden als sonst, war dieser Sonntag genauso wie der vorangegangene. Es gab keine besonderen Höhen und Tiefen für Gina, wenn man davon absah, dass sie Francis wieder den ganzen Tag nicht zu Gesicht bekam. Als sie nach der Mittagszeit, mit einem zufrieden wirkenden Ehepaar Drake bei einem improvisierten Lunch zusammensaß, lag ihr schon die Frage auf der Zunge, ob nächtens im Nachbarhaus etwas Schwerwiegendes passiert sei, weil man den Reverend hatte rufen müssen, doch irgendetwas ließ sie zögern. Wenig später hatte sie die Frage auch schon wieder vergessen, als Mrs. Drake erklärte, dass sie in der nachmittäglichen Ruhepause beginnen wolle, die Weihnachtsdekoration vom Dachboden zu holen und zu überprüfen.
Gina bekam glänzende Augen. „Das ist schön! Ich liebe die Weihnachtszeit. Darf ich mithelfen?“
Mrs. Drake war sichtlich erfreut über so viel gezeigten Eifer. „Natürlich, gerne. Ist ja doch eine Menge Arbeit, die man sich da zusätzlich aufhalst. Und du mein Lieber“, wandte sie sich an ihren Gatten, „könntest in der Zwischenzeit den Abwasch machen. Ich schick dir Francis zum Helfen herunter.“
Gemeinsam gingen sie ins Treppenhaus. Zum ersten Mal würde sie die Wohnung sehen, in welcher Francis zu Hause war. Sie würde einen Eindruck von seinem, für sie verborgenen Leben bekommen. Innerlich lächelte Gina, sie machte, so spürte sie, einen weiteren Schritt, von den Drakes angenommen zu werden.
Während die Zimmer der Gäste, von denen sie selbst eines bewohnte, zur Hafenseite des Hauses hin orientiert waren, lag der erste Stock der Drakeschen Wohnung zur Harbourlane und zeigte mit seinen Fenstern auf die Dächer und Gärten der Nachbarn. Darunter mussten sich der große Speisesaal und das Treppenhaus befinden.
„So, hier wohnen wir“, sagte Mrs. Drake auf dem Treppenabsatz. Sie deutete auf eine offen stehende Tür eines Zimmers. „Das ist unser Wohnzimmer und der große Kater da vorne auf dem Sofa ist Mike.“ Sie kicherte still in sich hinein. „Wir haben ihn nach Pauls Vater genannt, denn der sah im Alter, mit seinen roten Haaren und den grau werdenden Flecken darin, ziemlich genauso aus. Und da vorne“, sie deutete auf die hinteren beiden Türen, „sind unser Schlafzimmer und Bad. Wir müssen noch ein Stockwerk höher.“ Und gemeinsam stiegen sie die nächste, schon etwas steilere Treppe nach oben.
„Francis!“ Die Tür zu dem zur Straße gelegenen Raum öffnete sich und Francis schaute fragend seine Mutter an.
„Geh doch bitte zu deinem Vater in die Küche und hilf ihm mit dem Abwasch. Wir holen derweil die Weihnachts-dekoration.“ Sein erstaunter Blick streifte Ginas und in ihrem Herz ging für einen Moment die Sonne auf. Und auch Francis lächelte für einen kleinen Augenblick verstohlen hinter vorgehaltener Hand, doch seine Mutter hatte sich glücklicherweise schon der Dachbodenstiege zugewandt und hakte mit einer langen Stange die Klappe zum Speicher auf. Kalte, staubige Luft fiel ihnen entgegen, als sie die schmale und wackelige Holzleiter nach oben kletterten. Zu Ginas großer Freude gab es oben sogar elektrisches Licht, für einen bangen Moment hatte sie gefürchtet, dass sie dort mit Taschenlampen oder Kerzen ihren Weg finden müssten. Mrs. Drake wusste offenbar genau, an welcher Stelle die Dekoration zu finden war, und so blieb Gina nicht viel Zeit, sich die Schätze aus den vergangenen Jahrzehnten anzusehen, die dort oben eingelagert waren. Sie liebte diese Zeugnisse der Vergangenheit genauso wie alte Bücher, gaben sie doch so viel Privates von ihren Besitzern preis. Gemeinsam zogen und schoben sie die sperrige Kiste zur Dachluke und an den Rand der Leiter. Dann sahen sie sich an und mussten lachen, auch zusammen würden sie es nie schaffen diese heil nach unten zu transportieren. Da streckte unerwartet Francis seinen Kopf durch die Öffnung und signalisierte mit einem Winken, dass er ihnen helfen würde. Francis hielt den Behälter von unten und die beiden Frauen legten sich der Länge nach auf den Dachboden und fassten diesen an den Henkeln, um wenigstens einen Teil des enormen Gewichtes abzufangen. Trotzdem wäre Francis auf dem letzten Meter fast ins Straucheln gekommen und konnte gerade noch die über Jahre enorm angewachsene Weihnachtssammlung heil auf dem Boden aufsetzen.
Völlig verdreckt und verstaubt traten die beiden Frauen mit ihrem schweren Gepäck den Rückweg in den Pub an. Den Rest des Nachmittags verbrachten sie in stillschweigender Übereinkunft damit, dass sie nach immer neuen Dekorationsstücken suchten und diese in der Gaststätte verteilten. Und während Mrs. Drake Anekdoten aus dem Leben eines Gastwirtes zum Besten gab, wurden kleine Kerzenleuchter auf die Regale an den Wänden gestellt, wenngleich auch einzelne Kupfertöpfe dafür weichen mussten, und Mistelzweige mit Lametta und Kugeln unter Gelächter an die Leuchter und Dachbalken gebunden. Irgendwann schlug die Uhr über dem Tresen dann doch fünf. Paul Drake schloss die Vordertür wieder auf und die beiden Frauen mussten wohl oder übel ihre Dekorationsarbeit unterbrechen.
„Danke Gina, dass du mir geholfen hast. Alleine hätte ich lange nicht so viel geschafft. Und ich glaube, ich habe bei der Arbeit auch schon lange nicht mehr so viel gelacht, wie dieses Mal.“
„Das habe ich gern gemacht. Und das meine ich wirklich, denn es hat mir richtig Spaß gemacht.“
„Schön! Das freut mich. Und außerdem lernt man sich dadurch auch noch ein bisschen besser kennen.“
„Genau", sagte Gina, „jetzt sollten wir uns aber umziehen!“
Mrs. Drake nickte und die beiden Frauen gingen auf ihre Zimmer, um sich etwas Frisches anzuziehen.
Etwas Gutes hat das auf jeden Fall gehabt, konstatierte Gina, wir sind uns auf jeden Fall näher gekommen!
… war es deutlich heimeliger geworden. Jeden Abend wurden die Kerzen angezündet, der Holzstapel für das Kaminfeuer in der Gaststube vergrößert, um die zunehmende Kälte zu vertreiben und der Kohleofen für den Speisesaal von Francis eingeheizt. Im ganzen Haus wurde es wohlig warm. Immer mehr Gäste bestellten, statt des abendlichen Bieres, einen Punsch oder heißen Grog und die würzigen Düfte trugen bei allen zu einer angenehm vorweihnachtlichen Stimmung bei. Darüber hinaus vermittelten die Drakes ihrer jungen Angestellten immer mehr das Gefühl zur Familie zu gehören und Gina machte sich viel weniger Sorgen, dass sie die Probezeit nicht überstehen würde. Allerdings gelang es ihr beim besten Willen nicht, Francis in einer unbeobachteten Minute abzupassen. Mrs. Drake blieb unbeirrt dabei, ihren Sohn von der Außenwelt und von Gina abzuschotten.
Die alteingesessenen Gäste waren im Gegensatz zu ihr sein Schweigen gewohnt, jedenfalls hatte sie in der ganzen Zeit niemandem gehört, der sich darüber mokiert hätte. Selbst die wenigen Touristen, die den Weg mit dem Museumszug von London in die kleine Stadt fanden, um dann nach einer Hafenbesichtigung in den malerischen Pub einzukehren, störten sich nicht daran, sondern hielten es bestenfalls für eine Krankheit oder witzige Marotte.
Noch am Sonntagabend hatte Gina beflügelt von dem kurzen Blickkontakt mit Francis, endlich ihrer Mutter einen ersten und lange fälligen Brief geschrieben. Darin berichtete sie zwar von der kleinen Stadt und ihrem Leben bei den Drakes, aber Francis erwähnte sie vorerst mit keiner Silbe. Beim nochmaligen Durchlesen des Geschriebenen beschlich sie zwar das Gefühl, dass es sich insgesamt gar nicht so positiv anhörte, wie sie sich im Moment fühlte, aber da sie eigentlich schon lange ins Bett gehörte, wollte sie daran auch nichts mehr ändern. Sie klebte den Umschlag zu und einen Kopf von Königin Elisabeth darauf, dann brachte sie ihn noch schnell nach unten und legte ihn auf den Schrank hinter dem Tresen, auf dem die ausgehende Post gesammelt wurde.
Dieses leise Glücksgefühl, das sich in ihrem Herzen eingenistet hatte und sich auch nicht mehr kleinreden ließ, fand am Sonntag noch neue Nahrung. Mr. Drake hatte beschlossen ein paar schadhafte Stellen des alten Hauses auszubessern, bevor der Winter mit seiner ganzen Strenge über sie hereinbrechen würde, sodass Mrs. Drake die ganzen Vorbereitungen für das abendliche Essen in der Küche alleine schaffen musste und Francis und Gina die Bewirtung der Gäste im Schankraum übertragen wurde.
An diesem Sonntagabend kamen besonders viele Gäste aus dem Ort, die scheinbar alle der Meinung waren, dass es sinnvoller sei, zu Hause den Ofen aus zulassen und dafür den Wochenabschluss lieber mit ein paar Freunden im Pub zu feiern. So hatte Gina zwar keine Zeit sich für ein paar Minuten zu Francis hinter die Theke zu stellen, - ungeachtet dessen, dass Mrs. Drake dieses bestimmt durch die offene Küchentür beobachtet hätte - aber immerhin probierte sie ein paar Mal am Abend Blickkontakt zu Francis herzustellen, der diese zaghaften Versuche vorsichtig, aber erfreut erwiderte.
Doch schon am späteren Abend und während der Abendessenszeit wachte Mrs. Drake wieder wie ein Luchs darüber, dass es zu keiner weiteren Kontaktaufnahme kam. Auch an den folgenden Tagen blieb sie aufmerksam, sodass Ginas kleines Pflänzchen der Hoffnung keine neue Nahrung mehr bekam und schon wieder zu verdorren begann. Doch statt Gina mutlos werden zu lassen, fachte dieses ihren Ehrgeiz eher noch an. Auch wenn sie im Moment noch nicht genau wusste, wie, würde sie einen Weg finden, Francis näher zu kommen. Tief in ihrem Inneren spürte sie, dass er das auch wollte.
Niemand konnte ahnen, dass in Ginas Heimatgemeinde sich dieser Tage das Fenster des Postgebäudes öffnete, durch das ein grau gekleideter Arm einen kleinen Zettel herausreichte, den ein junger Mann mit einem geflüsterten „Danke, ich schulde dir was!“ entgegennahm und mit ihm in den Schatten der Gassen verschwand.
„Gina, kann ich nachher einmal deine Hilfe in Anspruch nehmen?“
Es war Mittwochmorgen und Gina blickte von ihrer Zeitung hoch, die sie gerade bei einem späten Frühstück las. Wegen des Ruhetages hatte sie heute lange ausgeschlafen, und als sie schließlich in die Küche hinunter ging, waren die Drakes schon mit dem Frühstück fertig. Mrs. Drake rührte schon in einem großen Topf herum, in dem das gemeinsame Abendessen langsam vor sich hin köchelte.
„Ja, natürlich. Was soll ich tun?“
„Nebenan, ich meine vorne, in der Harbourstreet, wohnt doch Sally Blake. Ich helfe ihr ab und zu mal, wo sie doch ihre schwerkranke Mutter pflegen muss und bringe ihr Essen, oder gehe ihr bei der Hausarbeit zu Hand. Natürlich nicht viel,“ beugte sie falschen Vorstellungen vor, „immer mal ein Stündchen oder so. Aber heute wollten Mr. Drake und ich gerne noch ein paar Einkäufe machen und da habe ich mich gefragt, ob du Sally vielleicht nachher einen Topf Essen bringen möchtest.“
„Na klar, das mache ich. Wann soll ich es hinüberbringen?“
„Na, so ungefähr in einer Stunde, denke ich. Bis dahin müsste das Stew fertig sein.“
Gina freute sich über diese Aufgabe, an einem Tag, an der ihr sonst höchstens ein Spaziergang geblieben wäre, um mal hinauszukommen, selbst ein Besuch des Kinos in der Kreisstadt war schließlich ohne eigenes Auto nur schwer zu realisieren. Und so konnte sie endlich mal jemanden außerhalb des Pubs kennenlernen. Denn wenn auch Mrs. Drake es nicht ausdrücklich erwähnt hatte, war Gina sich doch sicher, dass auch Francis mit zum Einkaufen genommen würde. „Okay. Soll ich zwischendurch ab und zu mal umrühren?“
„Ja, das wäre gut. Und nach der Stunde kannst du das Stew einfach vom Feuer nehmen und stehen lassen, damit das bis heute Abend ordentlich durchzieht.“ Sie warf Gina einen so verschmitzten Blick zu, dass sich Gina fast sicher war, dass Mrs. Drake etwas im Schilde führte. Wahrscheinlich war das wieder nur ein Versuch, sie von Francis fernzuhalten. Aber sie machte sich erst einmal keine Gedanken darüber und beobachtete nur, wie tatsächlich die Drakes mit Francis eiligst das Haus verließen und den bollernden Motor des alten Wagens anwarfen.
Gina vertrieb sich die Zeit am Herd, indem sie zwischen den Phasen des Umrührens weiter die Zeitung durchblätterte. Nach ungefähr einer Stunde zog sie mit aller Kraft den großen, schweren Topf vom Feuer und füllte eine großzügig bemessende Portion für zwei Personen in ein einfaches Gefäß, das Mrs. Drake bereitgestellt hatte. Sie machte sich nicht großartig die Mühe einen Mantel überzuziehen, sondern griff sich nur einen der bereit hängenden Hausschlüssel, zog die Tür hinter sich zu und ging vorsichtig die wenigen Schritte vor dem Pub vorbei bis zum schmalen Haus der Nachbarin.
Dort suchte sie einen Augenblick vergeblich nach einer Klingel, klopfte dann dreimal kräftig an die Tür und trat wieder einen Schritt von der Schwelle herunter. Zuerst öffnete sich nur eine Holzluke, durch die Sally Blake vorsichtig nach draußen spähte.
„Ja? Was kann ich für Sie tun?“
„Guten Tag, ich bin Gina. Ich bringe das Essen von den Drakes.“ Gina hielt das Gefäß nach oben.
Die Gesichtszüge entspannten sich deutlich. „Ach, das ist aber lieb!“ Die Haustür öffnete sich und im Eingang stand eine Frau in einem einfachen, warmen Wollkleid und dicken Filzpuschen an den Füßen, deren kurze Haare unordentlich vom Kopf abstanden und auf deren Gesicht sich ein breites Lächeln gelegt hatte. „Komm rein! Komm rein!“, sagte sie und trat einen Schritt beiseite. Gina hätte hinterher auf gar keinen Fall mehr sagen können, wen sie, nach der Beschreibung von Mrs. Drake, an der Tür erwartet hatte, aber ganz gewiss war es nicht diese fröhliche, etwas pummelige, lebensbejahende junge Frau gewesen.
„Danke!“ Gina trat in einen dunklen, kalten und etwas muffig riechenden Hausflur. Sally führte ihren Gast in einen behaglichen Raum. Es war ein eigentümliches Zimmer, in dem sie jetzt stand, eine Mischung aus Wohn- und Esszimmer mit einem fast glühend geheizten Kohleofen, auf dem man Wasser hätte kochen können. Ein aufgeschlagener Roman lag umgedreht auf einem kleinen Tisch neben einem Ohrensessel.
„Nimm doch Platz! Ich darf doch du sagen?“
„Natürlich!“, erwiderte Gina. „Aber ich würde jetzt erst mal gerne das Stew loswerden.“ Sie lächelte Sally gequält an.
„Aber natürlich“, beeilte sich Sally, „wie dumm von mir. Warte, ich nehme ihn dir ab.“ Sie zog die Ärmel von ihrem dicken Wollkleid über ihre Hände, fasste damit den heißen Topf an beiden Seiten und trug ihn quer durch den Wohnraum in eine kleinere Küche. Gina folgte ihr.
„Ich möchte nicht neugierig erscheinen, aber ich habe gehört, dass du alleine deine Mutter pflegen musst?“
„Ja! Aber das hört sich schwieriger an, als es ist. Sie ist nur leider seit Jahren bettlägerig und vergisst praktisch alles, was man ihr sagt oder was um sie herum passiert. Sie weiß eigentlich nur noch die Sachen, die ganz früher, in ihrer Jugend, geschehen sind.“
„Also ich stelle mir das sehr schwer vor!“, entgegnete Gina etwas ehrfürchtig. „Also, ich werde jetzt besser gehen, damit ihr essen könnt.“
„Das machen wir und danke nochmal für deine Mühe.“ Sally war näher herangekommen und legte überraschend eine Hand auf Ginas Unterarm. „Du hast doch heute frei. Wie wäre es, wenn du heute Abend wiederkommen würdest? Dann hätte ich mehr Zeit zum Reden.“
Gina war verblüfft. „Woher weißt du, dass ich heute freihabe?“
Sally lachte. „Weil ihr heute Ruhetag habt!“
Gina schlug sich die Hand vor die Stirn und musste ebenfalls lachen. „Das stimmt, das war naheliegend. Und ja, ich komme gerne heute Abend. So um sieben?“
„Lieber um acht. Dann schläft Mama und wir können uns in Ruhe unterhalten.“
Auf der einen Seite freute sich Gina sehr, dass Sie jemanden kennengelernt hatte, den sie spontan nett fand, auf der anderen hätte sie sich lieber sofort mit Sally noch ein bisschen unterhalten, statt bis heute Abend warten zu müssen. Doch sie konnte natürlich verstehen, dass Sally jetzt keine Zeit für sie hatte, und freute sich deshalb vielleicht sogar noch mehr auf heute Abend.
Erst einmal vertrieb sie sich die Zeit, indem sie sich warm anzog und noch einmal vor die Haustür ging, um zu testen, ob die Bürgersteige immer noch übergefroren waren und sie noch einmal Salz nachstreuen müsste. Aber das Thermometer zeigte, dass die Temperaturen deutlich den Frostbereich verlassen hatten und an allen Regenrinnen begannen, die Eiszapfen abzutauen. Tief sog sie die kalte und würzige Meerluft durch die Nase ein und beschloss spontan einen kleinen Einkaufsbummel zu machen. Sie brauchte dringend ein Paar Handschuhe, denn ihre eigenen lagen noch friedlich im Schrank bei ihrer Mutter.
In der Mainstreet erwachte die Stadt am frühen Nachmittag langsam wieder zum Leben. Viele Frauen waren mit mehr oder weniger gefüllten Einkaufstaschen und Körben unterwegs, trafen sich auf der Straße oder in den Geschäften zu einem kleinen Schwatz und diejenigen, die entweder besonders höflich waren, oder aber Gina schon im Neunarmigen Kraken kennengelernt hatten, nickten auch ihr freundlich zu. Gina fing schon fast an, sich wie ein Teil dieser Gemeinde zu fühlen, als sie an der Bahnhofseite gegenüber der Bücherei vorbei lief und ihr Blick den der Bibliothekarin traf, die gerade aus dem Fenster sah. Mit nur diesem einen Blick ließ Mrs. Foster sie ihre ganze Verachtung spüren und reckte ihre spitze Nase nach oben, als ob Gina bodennahe, verdorbene Luft wäre. Normalerweise hätte sich Gina bestimmt über dieses Verhalten geärgert, aber heute war sie so guter Laune, dass sie darüber nur kichern konnte.
Sie ging noch ein Stückchen weiter bis zu dem Geschäft für Damenoberbekleidung, das den ganzen großen Bereich zwischen Parkers Elektrowarenhandel und dem Vorplatz der katholischen Kirche belegte. Es dauerte lange, bis sie mit den neuen Handschuhen wieder auf der Straße stand, weil sie es sich nicht nehmen lassen konnte, hier und da in den Regalen ein wenig zu stöbern. Als sie das Geschäft wieder verließ, hatte die Dämmerung eingesetzt. Verzaubert wie in ihrer Kindheit betrachtete Gina, wie das warme Licht aus den weihnachtlich dekorierten Geschäften der Mainstreet auf die Straße fiel. Schön!, dachte Gina. Anders kann man das nicht beschreiben.
Ohne großartig darüber nachzudenken, kaufte sie auf dem Rückweg in Dorettas Blumenladen noch ein kleines Gesteck aus Stechpalmenzweigen mit einer dicken, roten Kerze darin, um es heute Abend Sally als Gastgeschenk mitzubringen. Sie setzte ihren Rückweg durch die kleinen Gassen fort, in denen der Reihe nach die Gaslaternen entzündet wurden und immer wieder eine Weihnachtskerze mit ihrem Licht die Fenster erleuchtete.
Zuhause angekommen säuberte sie sich auf der Fußmatte die Schuhe und betrat das Haus. Die Drakes waren kurz vorher ebenfalls angekommen, hatten ihre Einkäufe eingeräumt sowie die Getränkekisten in den Keller getragen. Als Gina dazukam, saßen die drei vereint, wie sie es selten seit ihrem Einzug gesehen hatte, am Küchentisch. Mit einem Blick erfasste Gina die Situation, dass Mrs. Drake fast schon reflexartig dabei war, Francis aus dem Zimmer zu schicken, und beugte dem vor, indem sie sagte: „Bitte warten Sie mit dem Essen nicht auf mich, ich bin fast den ganzen Nachmittag draußen gewesen und möchte mich gerne erst ein wenig frisch machen.“ Dann ging sie ohne eine Antwort abzuwarten nach oben in ihr Zimmer.
Mrs. Drake wirkte einigermaßen lächerlich, denn sie hatte schon den Mund geöffnet, um ihrem Sohn die Anweisungen zum Verschwinden zu geben, die nun nicht mehr notwendig waren, und ihn in ihrer Überraschung vergessen wieder zu schließen. Francis hingegen war in vorauseilendem Gehorsam bereits halb aufgestanden und sank dann wieder zurück auf seinen Stuhl. Seinen dankbaren Blick auf ihrem Rücken spürte Gina warm zwischen den Schulterblättern.
„Die ist heute aber von der schnellen Truppe!“, bemerkte Mr. Drake, dem der Auftritt seiner Kellnerin überhaupt erst zu Bewusstsein gekommen war, als sie die Küche schon wieder verlassen hatte. Dann holte er Gabel und Löffel und wartete darauf, dass seine Frau ihnen ein paar Portionen Stew auf die Teller lud.
Gina wollte diesem Konflikt ganz bewusst aus dem Wege gehen und ließ sich in ihrem Zimmer extra viel Zeit. Sie heizte sogar noch den Kamin ein, damit es nach dem Essen in ihrem Raum angenehm warm sein würde, und ging erst nach unten, als die Drakes schon in Ruhe mit der Mahlzeit fertig geworden waren. Sie aß zügig, aber ohne Hast. Sie hatte sich vorgenommen noch ein paar Seiten zu lesen, bevor sie zu ihrer Verabredung gehen wollte.
Am Abend überreichte Gina einer völlig überraschten Sally das Gesteck und beide ließen sich bei einem Glas süßen Weins auf den bequemen Sesseln im unteren Wohnraum nieder. Anfänglich merkte man beiden Frauen ihre Nervosität an, sie wussten noch nicht, was sie der anderen erzählen konnten, ohne ihr zu nahe zu treten, oder sie in Verlegenheit zu bringen. Doch der Alkohol löste bald ihre Zungen und als sich Gina Sallys Buch, das immer noch auf dem Wohnzimmertisch lag, genauer betrachtete, hatten beide das erste Mal eine gemeinsame Gesprächsbasis gefunden.
„Hast du dir auch die Bücher aus der Bücherei ausgeliehen?“
„Ja, das mach ich viel. Weißt du, ich hab ja hier viel Zeit zum Lesen.“
„Das stimmt natürlich. Ich lese ja auch für mein Leben gern, aber bei dieser Bücherei kann man es sich echt abgewöhnen.“
„Wieso?“ fragte Sally erstaunt. „Ich finde, wir haben sogar eine ausgesprochen schöne Bücherei.“
„Wieder richtig, aber euer Bibliotheksdrachen ist eine echte Katastrophe. Die giftet mich immer an, als ob ich den Teufel im Leib hätte.“ Gina hatte sich ein bisschen in Rage geredet. Dazu hatte der Wein mittlerweile ihre Wangen so gerötet, dass sie einen ebenso lebendigen Teint hatte wie ihre Gastgeberin.
„Na ja gut, die Netteste ist sie wirklich nicht, aber sie kann eine Menge. Und sie hat die Bücherei überhaupt erst zu dem gemacht, was sie heute ist.“
Gina schaute Sally zweifelnd an. „Das mag ja alles richtig sein, aber als ich letzte Woche da war, hat sie mich ohne Einleitung sofort böse von der Seite ausgeschimpft. Weil angeblich in unserem Pub regelmäßig gespielt wird und Gott, der Herr, das doch verboten hat, weil sonst die Erde zu Sodom und Gomorrha würde.“
„Oh, jetzt verstehe ich! Da hat auch bestimmt wieder unser katholischer Priester seine Finger drin. Sehr religiös war sie ja schon immer, aber der verdreht ihr in der letzten Zeit immer mehr den Kopf.“
„Das kannst du wohl sagen. Und ich, blöde Kuh, laufe nach diesem Anschiss quer durch das ganze Haus, um irgendwo Würfel oder Spielkarten zu finden.“
Sally kicherte. „Und? Hast du was gefunden?“
„Nein, natürlich nicht! Es war nichts als leere Luft.“ Und dann begann auch sie zu kichern.
Danach plauderten die beiden Frauen über dieses und jenes. Sally war froh, dass sie endlich jemanden in ihrem Alter gefunden hatte, bei dem sie die eine oder andere Episode von der Krankheit ihrer Mutter berichten konnte. Und mit jeder Geschichte, die sie erzählte, wurde ihr leichter ums Herz. Gina dagegen hatte von ihrem neuen Leben noch nicht so viel zu berichten, was nicht in der Stadt sowieso schon bekannt gewesen wäre, und erzählte von daher fast ausschließlich Erlebnisse aus ihrer Heimatstadt. Selbstverständlich vermied sie es auch nicht im Laufe des Abends von Mark, ihrem ehemaligen Freund, zu berichten, was Sally, wenn die Erlebnisse nicht so negativ gewesen wären, fast neidisch gemacht hätte. Denn dank ihrer schon immer etwas kränklichen Mutter hatte sie mit ihren dreiundzwanzig Jahren noch keinen Freund gehabt.
„Oh, das ist aber schade. Und was ist mit Francis, deinem Nachbarn? Der sieht doch sehr nett aus!“ Gina spürte ihre glühende Ohren, als sie Francis erwähnte, aber glücklicherweise trug sie ihre Haare etwas länger und so konnte man dieses verräterische Indiz nicht bemerken.
„Ach, nee! Der nicht! Der ist mir dann doch schon ein bisschen zu seltsam. Ist der übrigens immer schon gewesen, auch in der Schule. Das liegt wahrscheinlich daran, dass seine Mutter ihn immer so eingesperrt hat.“
„Ja, das ist mir auch aufgefallen. Sie schottet ihn sogar von mir ab, obwohl ich da wohne und arbeite.“
„Wahrscheinlich will sie nicht, dass ihr Francis jemand wegnimmt. Anders kann ich mir das nicht vorstellen.“
„Das wird sie so auf jeden Fall erreichen. Ich kann ja noch nicht einmal mit ihm sprechen, ohne dass sie sofort wie eine Glucke hinter uns her ist und ihn aus dem Zimmer schickt.“
„Na, wenn es nur das wäre.“
„Wie meinst du das: Wenn es nur das wäre?“
Sally wand sich ein wenig in ihrem Sessel. „Es wird einem halt immer so ein bisschen komisch, wenn man mit ihm spricht. Geht dir das nicht so?“
Gina lehnte sich nach vorne und überging die Frage. „Ich kann ja gar nicht erst mit ihm sprechen.“
Sally lachte wieder. „Wenn es nur das ist!“
„Was meinst du jetzt wieder mit: Wenn es nur das ist?“
Sally plötzlich stand auf. „Ich meine, wenn es nur das ist, kann ich dir helfen.“
Jetzt war es an Gina verdutzt zu schauen. „Wieso?“
„Komm mit! Ich will dir was zeigen!“ Sally lächelte geheimnisvoll und zog sie mit sich.
„Sally, es ist mitten in der Nacht. Was soll ich auf deinem Speicher?“, fragte Gina empört, als ihre Freundin die Dachbodenluke herunterzog.
„Du wirst schon sehen! Geh hoch!“
Die so Aufgeforderte kletterte die Treppe nach oben, gefolgt von Sally, die dann mit einer Kerze bewaffnet quer durch den Raum ging und an einer Stelle neben dem Schornstein auf eine versteckte, schmale Holztür zeigte. „Dahinter ist euer Boden.“
„Komisch, die habe ich bei uns überhaupt nicht gesehen.“
„Kannst du auch nicht. Auf eurer Seite steht wahrscheinlich noch ein großes Bild davor.“
Gina nickte zustimmend, daran konnte sie sich erinnern.
„Früher,“ fuhr Sally fort, „bin ich ein paar Mal da durchgeklettert und habe mich heimlich mit Francis getroffen, bis mir seine Art dann wirklich zu komisch wurde.“
.... fiel Gina dieses Mal ein bisschen schwerer. Nachdem Sally ihr am gestrigen Abend die Piratentür gezeigt hatte, war es den beiden jungen Frauen ohne Mäntel bald zu kalt geworden und sie hatten es sich bei einem frisch gefüllten Glas Wein wieder unten im Wohnzimmer bequem gemacht. Im Überschwang der neuen Freundschaft hatte Sally Gina angeboten, den in Vergessenheit geratenen Durchgang zu nutzen, wenn sie es fertigbrächte, sich mit Francis zu verabreden. Und auch ohne Sally alles erzählt zu haben, was wirklich in ihr vorging, hatten sich die beiden Frauen noch bis in die späte Nacht über Francis, über die Liebe, das Leben und die Zukunft in dieser kleinen Stadt ausgetauscht.
Es war der süße Wein, der Gina an diesem Morgen besonders das Aufstehen verleidete und sie im Spiegel etwas blasser aussehen ließ, als man es von ihr gewohnt war. Doch die Euphorie, die Gina befallen hatte, ließ sich von ihrem Kater in keiner Weise dämpfen und ein gutes Frühstück würde auch das letzte bisschen Übelkeit vertreiben.
An diesem Morgen begann sie ihren Arbeitstag etwas anders. Bevor sie noch damit begann, die Stühle herunter zu stellen und die Tische zu putzen, legte sie einen Stapel neuer Bestellblöcke bereit und einige frisch angespitzte Bleistifte dazu.
„Nanu?“, wunderte sich Mr. Drake, „seit wann brauchst du einen Notizblock?“
Gina lächelte verschämt. „Es ist gestern etwas später geworden.“
„Ach ja?“ Er wischte grinsend weiter die Metallbleche und die Zapfhähne ab.
Mrs. Drake trat dazu und legte einen Stapel Handtücher in das dafür vorgesehene Fach. „Es ist doch gut, dass Gina ein wenig Kontakt findet. Und Sally ist wirklich ein nettes Mädchen!“
Mr. Drake brummte zustimmend und das Thema wurde fallen gelassen.
Es dauerte eine ganze Weile, bis nach der Öffnung die ersten Gäste eintrafen und so hatte Mr. Drake schon die ganze Zeitung ausgelesen, Francis das Getränkelager aufgefüllt und Gina sogar den Boden aufgewischt, als es für Mr. Drake endlich Zeit wurde das Essen vorzubereiten. Dann hatte Gina damit begonnen den Speisesaal ebenfalls auf Hochglanz zu wienern, um sich abzulenken, und Francis stand wieder unscheinbar grau hinter dem Tresen und beschrieb die große Tafel mit dem Menü des Tages.
Während des Frühstücks war Gina eine Idee gekommen, als sie gesehen hatte, wie Mrs. Drake den Einkaufszettel schrieb. Sie wollte Francis unauffällig zwischen den Getränke-bestellungen einen kleinen Brief zukommen lassen, den sie ebenfalls auf einem Bestellblockzettel schreiben wollte. Sie hatte sich das so schön ausgedacht und die Idee ebenso einfach wie bestechend gefunden, aber jetzt, wo sie darangehen musste, diesen Einfall zu verwirklichen, verließ sie ein wenig der Mut. Was würde passieren, wenn Mrs. Drake sie sehen würde? Doch schließlich fasste sie sich ein Herz und, als sie den Eindruck hatte, dass die Eltern Drake beschäftigt wären, setzte sie sich kurz an einen Tisch im noch unbeheizten Speisesaal, hauchte an ihre Finger, um sie anzuwärmen und begann zu schreiben:
Hallo Francis, ich weiß, dass du reden möchtest und dass dir deine Mutter das nicht erlaubt. Wie wäre es, wenn du mir einfach schreibst? Viele Grüße, Gina
Sie betrachtete kurz den eng beschriebenen Zettel, befand ihn für lesbar und steckte ihn zusammengefaltet in ihre obere Schürzentasche, dann schloss sie die Tür des Speisesaals hinter sich. Für einen Moment lang war sie enttäuscht, denn sie hatte gehofft, dass sie Francis Ihren Brief sofort geben könnte, doch außer zwei Fischern, die auf den Kissen der Fensterbank saßen und nach draußen starrten, war niemand zu sehen. Doch dann erschrak sie, als plötzlich Francis wie aus dem Boden gewachsen vor ihr stand. Für einen Augenblick zuckte er genauso zurück, doch dann verzogen sich seine Mundwinkel für einen kurzen Moment zu seinem schüchternen Lächeln und sie fing den Blick seiner blauen Augen auf. Ohne zu überlegen und ohne sich vorher vergewissert zu haben, dass niemand sie beobachtete, griff sie schnell den kleinen Zettel aus ihrer Schürze und verbarg ihn vorne in seiner Brusttasche. Dann sagte sie besonders laut: „Entschuldigung!“, was sich selbst in ihren Ohren wie der schlechte Auftritt einer besonders schlechten Schauspielerin anhörte, umkurvte ihr Gegenüber und ging in Richtung Küche.
Dort überzeugte sie sich, dass Mr. Drake nichts für sie zu tun hatte, und trat wieder hinter die Theke. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie Francis, der jetzt wieder an seinem gewohnten Platz hinter den Zapfhähnen stand, und versuchte unauffällig den halb herausgezogenen Zettel zu lesen. Sie freute sich, denn selbst aus dieser Perspektive konnte sie genau sehen, dass für einen Moment seine Augen erfreut aufleuchteten.
Ein paar Minuten später hätte sie fast die neue Getränkebestellung der beiden Fischer fallen gelassen, als sie beobachten musste, wie Francis den Zettel zusammenknüllte und ins Feuer warf. Ein klammes Gefühl bemächtigte sich ihres Herzens und ungeahnte Enttäuschung krampfte ihren Bauch zusammen. Hoch aufgerichtet und mit einem gefrorenen Lächeln im Gesicht versuchte sie ihrer Arbeit nachzugehen, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Die Minuten verstrichen und summierten sich schließlich zu einer halben Stunde und Gina musste sich auf die Lippen beißen, um aufkommende Tränen zurückzuhalten. Doch dann fand sie plötzlich einen ebensolchen Zettel unter ein Glas Bier geklemmt, das er auf ihr Serviertablett gestellt hatte. Sie war gerade mit den Getränken auf dem Weg zum Tisch, als der Anblick des Briefchens fast dafür sorgte, dass ihr Herz aussetzte. Aber bevor sie das Papier an sich nehmen und verbergen konnte, betrat Mrs. Drake während des Servierens den Schrankraum und begrüßte die beiden Fischer herzlich. Ohne zu Atmen lieferte Gina die Getränke ab, dabei klemmte sie den Zettel mit dem Daumen auf dem Tablett fest und hielt es beim Abgang hochkant vor ihre Brust, sodass zwar ein paar Tropfen auf ihre Schürze kleckerten, was ihr aber in diesem Moment herzlich egal war. Heimlich schob sie den Zettel in ihre Brusttasche und wartete sehnlichst auf die erste Möglichkeit ihn lesen zu können.
Als sich diese Möglichkeit dann endlich bot, wäre der Inhalt für jeden anderen wahrscheinlich sehr enttäuschend gewesen, aber Gina strahlte.
Ja, gerne! stand lediglich auf dem Zettel. Francis, ahnte sie, war wohl von ihrer Nachricht mehr als überrascht gewesen.
Sie überlegte hin und her, womit sie diese seltsame Form eines Gespräches beginnen könne, bis sie endlich wieder eine Gelegenheit fand, einen neuen Zettel zu schreiben.
Es tut mir leid, dass du dich nicht unterhalten darfst. Was hältst du davon, wenn wir Freunde werden?
Über den zweiten Satz hatte sie besonders lange gebrütet, denn sie wollte vermeiden, dass Francis ihn missverstehen konnte, aber es fiel einfach nichts anderes ein.
Doch sie hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen, denn noch, bevor der Pub für den Nachmittag geschlossen wurde, hatte sie die Antwort schon wieder in ihrer Schürzentasche stecken.
Noch einmal, sehr gerne! Ich habe sonst keine Freunde. Was schreibt man denn Freunden?
Als Sie diesen Satz las, brach Ginas Herz fast entzwei, weil sie seine Einsamkeit in diesen Worten gespiegelt fand. Gleichzeitig war sie überglücklich, dass sie endlich, nach zwei Wochen, einen ersten Kontakt zu Francis hatte aufbauen können.
Gerade hatte sie seinen Brief in der Tasche verborgen, als Mrs. Drake sie von hinten ansprach: „Gina? Können wir kurz miteinander sprechen?“
Wieder blieb Ginas Herz fast stehen und sie wurde blass. Hatte Mrs. Drake trotz ihrer Vorsicht etwas entdeckt? Sie musste sich mit der rechten Hand nach hinten am Tresen abstützen, um das Gleichgewicht zu halten, und spürte die Übelkeit wieder, von der sie geglaubt hatte, dass sie diese mit dem Frühstück überwunden hätte.
„Ja?“ Ihre Stimme war nur ein heiseres Krächzen.
„Es dreht sich um Francis, genauer um dich und Francis!“
„Ja, und?“ Das Krächzen war zu einem fast unhörbaren Flüstern geworden. Ihr Hals kratzte fürchterlich und sie bekam keine Luft mehr.
„Du hast wahrscheinlich schon gemerkt, dass Francis jemand ganz Besonderer ist.“ Gina nickte. Mrs. Drake wand sich ein wenig. „Siehst du, Francis hat ganz große Probleme mit Menschen zu reden. Deshalb halte ich ihn so weit wie möglich von allem fern. Auch wenn er hier in der Gaststube arbeitet, aber da muss er nicht viel sprechen. Außerdem weiß er ganz gut mit seinen Händen und Gesten umzugehen. Doch dann bist du gekommen und hast, ohne es zu wissen, unser Familienleben doch ein bisschen komplizierter gemacht. Du hast bestimmt gemerkt, dass ich versucht habe, Francis wegzuschicken, wenn du da warst?“
Gina nickte, der Knoten in ihrem Hals wurde kleiner. Sie war jetzt schon wieder so weit beruhigter, als sie zwischen dieser kleinen Ansprache und dem gerade aufgekommenen Briefverkehr keinen Zusammenhang herstellen konnte.
„Das liegt daran, dass ich zuerst vermeiden wollte, dir von seiner Behinderung zu erzählen. Aber das ist auf Dauer natürlich Unsinn, denn du hättest es ohnehin bemerkt.“
Eine kleine Flamme des Zorns loderte in Gina auf, wie konnte diese Frau von einer Behinderung reden? Francis konnte doch sprechen!
„Ich würde gerne wieder Francis bei den Mahlzeiten dabei haben, damit er sich nicht abgeschoben vorkommt. Und da wird es nur eine Lösung geben!“
So ein Mist!, dachte Gina und es überlief sie siedend heiß, jetzt wirft sie mich doch raus! Ihre Augen weiteten sich vor Schreck.
Mrs. Drake hielt einen Moment inne und sah sie an, doch dann lächelte sie: „Nein, nein! Du brauchst keinen Schreck zu kriegen. Ich will dich nicht entlassen! Ich möchte nur, dass du in Zukunft einfach nicht versuchst, mit Francis zu reden, damit du ihn nicht in Verlegenheit bringst. Können wir uns darauf einigen?“
„Ja, natürlich!“ Gina war erleichtert.
„Das ist gut. Dann könnten wir jetzt ja zusammen zum Essen gehen?“ Jovial hakte sie Gina unter und schob sie fast in die Küche.
Alles, was sich in den letzten dreizehn Tagen ereignet und auch schon zu einer gewissen Routine geführt hatte, war auf einmal wieder neu und völlig verändert. Als sie sich dieses Mal zu viert an den Tisch setzten, fühlte sich Gina tief im Innern genauso unsicher, wie damals beim ersten Abendessen mit Marks Eltern. Dazu kam noch, dass sie mittlerweile verliebter in Francis war als noch damals in Mark, und wie damals, als sie sich nur schämte, ihre Gefühle Marks Eltern zu zeigen, durften auch die Drakes davon nichts mitbekommen. Doch das Unangenehmste überhaupt war, dass Francis selbst von alldem keine Ahnung hatte. Er war so in seiner kleinen Welt verhaftet, die seine Eltern um ihn herum aufgebaut hatten, dass dieser winzige Schritt für ihn wie eine Revolution sein musste.
Es herrschte eine eigentümliche Atmosphäre. Francis saß links von Gina und war ihr damit so nahe, wie seit ihrer zufälligen Berührung nicht mehr und doch gleichzeitig so unerreichbar fern. Alle vier aßen schweigend ihre Suppe und Gina wusste einfach nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte Angst davor, Francis versehentlich in ein Gespräch zu verwickeln und damit seinen eben wiedergewonnenen Freiraum wieder zu zerstören. Sie wusste nicht, wo sie hinsehen sollte, denn am liebsten hätte sie Francis die ganze Zeit angestarrt, aber das durfte sie natürlich nicht, wenn niemand merken sollte, was sie fühlte. Im Widerspruch dazu hatte sie aber den Eindruck, dass es furchtbar auffällig sein musste, wenn sie das ganze Essen lang Francis überhaupt nicht ansah, denn das sehe doch bestimmt zu betont gleichgültig aus.
Um ihre Unruhe zu verbergen, griff sie noch einmal in den Brotkorb, obwohl sie eigentlich schon satt war, und stieß auf halbem Weg mit Francis Hand zusammen, die die gleiche Richtung eingeschlagen hatte. Hektisch zog sie ihre zurück, sah Verzeihung heischend nach oben und begegnete Francis Blick, der sie jetzt ebenso erschrocken ansah.
„Entschuldigung!“, sagte sie und drohte wieder, sich in diesen Augen zu verlieren.
Er machte eine beschwichtigende Bewegung mit der linken Hand, reichte ihr den Brotkorb und senkte dann wieder den Blick auf seinen Teller.
„Danke!“ sagte sie matt. Doch nun konnte sie die Augen nicht mehr von ihm lassen.
Verstohlen sah er seine Eltern von unten her an, doch diese erweckten den Anschein, als ob sie das ganze Geschehen, das für Gina und Francis eine so große Bedeutung hatte, überhaupt nicht wahrgenommen hätten.
Dann landete auf einmal sein warnender Blick auf ihr und Francis fingerte mit der linken Hand am Reißverschluss seines Pullunders auf der Brust herum. Verständnislos sah sie ihn an, bis die Bewegungen immer hektischer wurden, mit denen er versuchte ihre Aufmerksamkeit auf ihre Brust zu lenken. Sie spähte unauffällig nach unten und sah zu ihrem Schrecken, dass der kleine Zettel mit seinem Brief aus ihrer Tasche zu rutschen drohte. Mit einer beiläufigen Bewegung strich sie ihre Schürze glatt und schob dabei das Briefchen zurück.
„Möchtest du noch einen Teller, Kindchen?“ Mrs. Drake sah sie mit der Kanne in der Hand an.
„Nein, nein danke. Ich habe genug.“ Sie hatte das Gefühl, dass sie ihre Verwirrung kaum verstecken konnte. Sie konnte nur hoffen, dass die zukünftigen Mahlzeiten etwas weniger angespannt verlaufen würden. Dann verabschiedete sie sich und ging auf ihr Zimmer.
Die nächsten Tage waren davon geprägt, dass sich zwischen Gina und Francis ein reger Briefverkehr entwickelte. Erst waren es nur die zwischen Tür und Angel schnell hingeschriebenen Sätze, später dann schon längere Botschaften, die sie nur noch in ihren Arbeitspausen auf ihren Zimmern schreiben konnten, wenn sie nicht auffallen wollten. Alle wird Gina hinterher nicht mehr wiederfinden können, aber den größten Teil wird sie, eingelegt in Buchseiten, gesammelt haben.
Hallo Francis, wahrscheinlich wirst du mich für furchtbar neugierig halten, aber ich möchte so gerne mehr von dir erfahren. Wie war das eigentlich früher in der Schule? Da muss man doch sprechen. Liebe Grüße, Gina
Diese Nachricht steckte sie unbemerkt in eine der Getränkekisten, die Francis in den Keller tragen sollte.
Hallo Gina, ich war nur die ersten vier Jahre in der Schule, dann hat Mama mir zu Hause das Nötigste beigebracht. Sie sagt, dass ich sowieso irgendwann die Kneipe erben werde und alles, was ich dazu brauche, habe ich von ihr gelernt. Ich weiß, da muss noch viel, viel mehr sein, aber ich habe ja niemanden, den ich fragen kann.
Francis hatte diesen unter einen Brotkorb geschoben, den Gina beim Abendessen servieren musste. Die Antwort passte nun schon nicht mehr auf einen der kleinen Bestellblockzettel. Gina musste dafür eine Seite aus einem ihrer Hefte herausreißen, in denen sie, in der Zeit vor ihrem Umzug, Tagebuch geführt hatte.
Hallo Francis, du hast recht! Da draußen ist noch viel, viel mehr! Ich war zwar zehn Jahre lang in der Schule, aber selbst wenn man hinterher noch studiert, kann man immer noch nicht alles wissen. Wenn du etwas wissen möchtest, werde ich mich auf jeden Fall bemühen, deine Fragen zu beantworten. Doch ich habe auch noch ganz viele an dich. Bitte sei mir nicht böse, aber warum sprichst du eigentlich nicht? Ich warte auf deine Antwort, Gina
Von dem nächsten Brief wird ihr zwar der oberste Teil fehlen, aber der Inhalt ist noch gut verständlich.
… bin nicht böse. Ich habe bloß ein bisschen gebraucht, um mir die Antwort zu überlegen. Mama sagt, dass ich die Menschen mit meiner Stimme durcheinanderbringe. Dann werden sie böse und schlagen mich oder sagen gemeine Dinge zu mir. Das war schon früher in der Schule so. Da hat mich keiner gemocht. Deshalb war ich auch nicht traurig, als Mama mich aus der Schule genommen hat. Bringt dich meine Stimme auch durcheinander? Bitte antworte bald, Francis
Darunter war noch eine Zeile auf Nachricht gedrückt: Ich finde es schön, dass wir jetzt wieder zusammen essen.
Gina fand diesen Zettel morgens beim Aufstehen. Er war unter ihrer Tür hindurchgeschoben worden. Sie beeilte sich mit einer Antwort und verzichtete lieber auf einen Teil ihrer Frühstückszeit.
Lieber Francis, ich muss zugeben, dass mir eine Antwort schwerfällt. Ich habe deine Stimme bisher nur zweimal gehört und ich kann wirklich nicht sagen, ob das, was ich dabei empfunden habe, nicht daher rührte, dass ich dich schon zu dem Zeitpunkt gerne mochte. Beide Male warst du gerade sehr traurig und ich konnte deine Enttäuschung tief in mir drin fühlen. Ja, ich glaube, dass du mit deiner Stimme viel bei den Menschen bewirken kannst, und nein, ich glaube nicht, wie deine Mutter, dass du behindert bist. Du bist jemand Besonderes, du hast eine Gabe, die du entdecken musst. Du wirst erst dann du selbst sein, wenn du genau weißt, wer du eigentlich bist und was du für Fähigkeiten hast. Liebe Grüße, Gina
Diese schob sie Francis am Samstagmorgen beim Frühstückstisch mit der Zeitung zu und er konnte nur knapp verhindern, dass sein Vater den Sportteil an sich nahm und damit den Brief entdeckt hätte.
Die Antwort darauf fand Gina erst am Samstagnachmittag, als sie unter strahlend blauem Himmel zu einem Spaziergang aufbrechen wollte und der Zettel in ihrem Schuh drückte. Er bestand nur aus einem einzigen Satz auf einem Bestellblockzettel:
Wie soll ich das tun?
Gina konnte fast die aufkommende Verzweiflung in diesen wenigen Worten hören und spüren, aber aus dem Stand heraus hatte sie auch keine Antwort darauf. Noch wärmer angezogen als das letzte Mal machte sie sich auf ihre Spaziergangsrunde, um nachzudenken. Doch dieses Mal hatte sie kein Auge für ihre Umgebung, denn das Feuer in ihrem Herzen brannte so lichterloh, dass die Schönheit des Ortes dagegen verblasste. Sie hatte das Gefühl, auch wenn Francis ihr das bisher noch nicht geschrieben hatte, dass er sie ebenfalls immer sympathischer fand.
Sie pilgerte an der Mole auf und ab. Als sie das vierte oder fünfte Mal vor dem Neunarmigen Kraken vorbei gelaufen war, hörte sie hinter sich ein Fenster klappern. Sallys belustigte Stimme rief hinter ihr her: „Hallo Gina! Willst du hier Furchen in den Boden laufen?“
Diese drehte sich ruckartig um. Ihr war gar nicht bewusst geworden, dass sie ständig nur auf und abgegangen war. Sie sah zu Sally hinüber und grinste: „Oh, hallo! War das so auffallend?“
„Ja, war es! Möchtest du herüber kommen? Wir könnten einen Glühwein zusammen trinken.“
„Guter Gedanke, ja ich will!“ Gina in diesem Moment erst bemerkt, dass die Nacht schon hereingebrochen und sie bestimmt schon zwei Stunden auf den Beinen gewesen war. Sie wechselte die Straßenseite.
Vor dem Haus angekommen, öffnete Sally bereits die Eingangstür. „Komm schnell rein, es ist kalt draußen!“
„Das stimmt, dass habe ich auch gerade gemerkt. Wie kommt es, dass du heute schon so früh Zeit hast?“
„Mutter ging es heute nicht so gut, und ich musste ihr ein starkes Beruhigungsmittel geben. Sie schläft schon seit einiger Zeit und ich konnte mich ein bisschen dem Haushalt widmen. Sonst hätte ich dich oben aus dem Fenster auch gar nicht gesehen. Möchtest du einen Glühwein?“
„Ja, gerne!“ Sie gingen erneut in den kleinen Wohnraum im Erdgeschoss, in dem sie auch beim letzten Mal gesessen hatten.
„Wie sieht es bei Francis aus, bist du da weitergekommen?“
„Was meinst du mit weitergekommen?“ Gina hatte ihren Mantel über eine Stuhllehne geworfen und wärmte sich die Hände am Ofen, der wieder glühte, als müsste er einen ganzen Häuserblock beheizen.
„Setzt dich!“ Sally drückte Gina in den Besuchersessel. „Ich hole den Glühwein.“ Dann eilte sie in die kleine Küche, aus der es verlockend duftete.
„Nochmal: Was meinst du mit weitergekommen?“
„Meine liebe Gina,“ antwortete Sally, als sie den Glühwein auf den Tisch stellte, „wir kennen uns zwar noch nicht besonders lange, aber vor mir kannst du deine Gefühle für Francis nicht verstecken.“
„Oh! Mir war nicht bewusst, dass das so offensichtlich ist.“ Gina bekam heiße Ohren.
„Ist es für andere vermutlich auch nicht.“ Sally setzte sich und schlürfte von ihrem heißen Getränk „Aber, da sich unser Gespräch beim letzten Mal mehr und mehr in diese Richtung bewegte, habe ich mir so einiges zusammengereimt.“
Gina trank ebenfalls und verschluckte sich fast an dem Glühwein. Sie machte eine Pause, bis Sally sie erwartend ansah. „Noch nicht so viel anders“, antwortete Gina. „Aber ich habe es geschafft, einen ersten Kontakt zu ihm aufzubauen.“
„Wie?“
„Wir schreiben seit Kurzem kleine Briefchen.“ Sie bemerkte Sallys zweifelnden Blick. „Ich weiß, das ist nicht besonders viel, aber ich finde, für eine erste Kontaktaufnahme ist das schon nicht schlecht.“
„Darf ich mal neugierig sein? Worüber schreibt ihr denn so?“
Gina wusste nicht, wie sie mit dieser Situation umgehen sollte. Sie wünschte sich ihre Nachbarin als Freundin, aber sie wusste nicht, ob sie ihr jetzt schon alles anvertrauen konnte.
„Entschuldigung, geht mich wirklich nichts an.“ Sally pustete in ihre Tasse.
„Doch, doch! Ich will es dir schon erzählen, aber ich finde das Ganze ziemlich kompliziert, deshalb musste ich gerade erst überlegen. Also, ich gebe dir eine Kurzfassung von dem, was er mir bisher geschrieben hat. Seine Mutter hat ihn nach der vierten Klasse aus der Schule genommen, aber das wusstest du ja schon. Danach hat sie ihn zu Hause unterrichtet und praktisch vollkommen von der Welt abgeschottet. Überall hat sie erzählt, dass ihr Sohn eine Behinderung hat und nicht richtig sprechen kann.“
„Das stimmt, soweit bin ich auch noch im Thema.“ Sally nickte und goss noch Glühwein nach.
„Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Ich habe herausgefunden, zumindest glaube ich das, dass Francis eine Gabe hat. Er kann mit seiner Stimme die Gefühle der Leute beeinflussen. Letztens habe ich mit angehört, wie er sich bei seiner Mutter beklagt hat, dass er so allein sei. Und ich kann nicht sagen, dass an seiner Stimme irgendetwas Besonderes gewesen sei, aber ich fühlte bei seinen Worten eine abgrundtiefe Traurigkeit, die mir fast das Herz zerrissen hat.“
„Bist du sicher? Davon habe ich ja noch nie gehört!“
„Doch, bin ich. Ich habe es ja selbst erlebt. Und das war zu einem Zeitpunkt“, Gina schluckte und fuhr dann leiser fort, „wo ich mich noch nicht in ihn verliebt hatte.“
Es entstand eine nachdenkliche Pause.
„Das erklärt, warum er nicht reden darf“, fuhr Sally schließlich fort.
Gina sah Sally erstaunt an.
„Na das ist doch ganz einfach. Wenn die Leute in der Stadt glauben würden, dass er sie mit seiner Stimme manipulieren kann, dann kommen sie bestimmt nicht mehr in den Pub seiner Eltern. Das lässt doch keiner gerne mit sich machen.“
„Aber das ist doch furchtbar!“
„Ja, finde ich auch! Und das ist es wahrscheinlich auch, was seine Eltern unter allen Umständen verhindern wollen. Was sagt Francis dazu? Entschuldige, ich meinte natürlich schreibt Francis dazu.“
Ginas Gesichtsfarbe rötete sich. „Ich glaube, ich habe ich mich ein wenig weit aus dem Fenster gelehnt. Ich habe ihm geschrieben, dass es für ihn wichtig wäre, dass er sich selbst entdeckt. Ich meine, dass er lernt, damit umzugehen.“
„Und wie soll er das tun?“
„Genau das ist mein Problem. Das hat er mich auch gefragt und darauf habe ich keine Antwort.“
Die beiden Frauen verfielen in ein beredtes Schweigen.
Schließlich sagte Gina: „Ich glaube, dass ich mir erst mal Informationen besorgen muss, nur weiß ich nicht wo. Wenn ich das zu öffentlich mache, dann werden die Drakes das mitkriegen und dann war alles für die Katz.“
„Also, ich denke, es gibt mindestens zwei Möglichkeiten, wo du mit niemandem darüber reden musst. Erstens könntest du in die Bibliothek gehen und nachsehen, ob es da irgendwas Vergleichbares schon mal gegeben hat.“
„Oh nein, mit der Frau möchte ich mich nicht noch einmal auseinandersetzen müssen, das mache ich nicht.“
„Das ist gar nicht so wild, du müsstest nur morgens vor der Arbeit zu Bücherei gehen, da hat sie noch keinen Dienst. Ich hatte das früher mal nachgesehen, sie arbeitet nur nachmittags und am Samstag. Das war erstens und zweitens bleibt euch noch mein Dachboden. Dort könntet ihr euch treffen und miteinander reden, dann werden wir weiter sehen.“
Gina war begeistert. „Sally, meinst du das ernst? Dürfen wir das wirklich? Das wäre riesig nett von dir!“
Sally tat, als ob das keine große Sache sei. „Dafür hat man doch Freunde. Und außerdem bekomme ich dann wenigstens noch ein bisschen von dem mit, was draußen passiert!“
… hatte sie auf die Rückseite von Francis Brief eine kurze Antwort geschrieben, die sie ihm, so schnell wie möglich, zukommen lassen wollte.
Lieber Francis, natürlich werde ich dir helfen. Du bist nicht allein! Liebe Grüße, Gina
Als sie nach Hause kam, musste sie einsehen, dass sie ihrem Freund den Brief nicht direkt geben konnte. Er war gerade dabei, den Hauptgang aufzutragen, den ihm seine Mutter aus der Küche anreichte, sodass beide gar nicht bemerkten, dass Gina wieder im Haus war. Diese ließ sich bewusst Zeit damit, den Haustürschlüssel wieder zurückzuhängen und die Stiefel abzutreten, damit sie sich in Ruhe umsehen konnte. Francis und Mrs. Drake hatte sie schon bemerkt, doch Mr. Drake war nirgendwo zu sehen und sie konnte nur hoffen, dass er in den nächsten paar Minuten nicht in den Flur kommen würde. Dann faltete sie ihre Antwort zu einem kleinen Papierwürfel zusammen und drückte das Gemälde der Großeltern beiseite. Durch das vielleicht zwei Zoll große Loch fiel Licht in den Flur und ein leichtes Gesumm, wie die weit entfernte Geräuschkulisse von vielen sprechenden Menschen, war zu hören. Doch sie hatte jetzt nicht die Zeit, den angrenzenden Raum auszuspähen, da jeden Moment einer der Drakes auftauchen konnte und es derzeit im Speisesaal wahrscheinlich ohnehin nicht viel zu sehen gab. Deshalb stopfte sie den zusammengefalteten Zettel so in das Loch, dass man ihn schnell wieder herausfingern konnte, und schob die Großeltern wieder vor die Öffnung. Ganz bewusst ließ sie das Porträt ein wenig schief hängen, sodass eine größere Chance bestand, dass Francis die Veränderung schnell entdecken würde.
Sie richtete sich auf und strich ihren Mantel glatt. Ihr begann dieses Spiel, das sich fast wie ein Agententhriller anfühlte, Spaß zu bringen. Dann ging sie für die Nacht auf ihr Zimmer.
Das Wochenende brachte Gina das erste gemeinsame Frühstück mit den Drakes an einem Sonntag und, obwohl sie jetzt mit Francis das Geheimnis um ihre Briefe teilte, war sie wieder genauso nervös wie am Vortag. Als sie in die Küche kam, steckte Mrs. Drake gerade eine frische Ladung Toast in den Brotständer, Mr. Drake wendete ein paar Spiegeleier und auf dem Tisch dampfte eine Schüssel gebackene Bohnen. Gina entspannte sich ein wenig, wünschte allen einen guten Morgen und blickte, genau wie Mrs. Drake, hoch, als die Hintertür aufschlug. Francis kam in einer Wolke aus Nebel, der sich im warmen Hausflur schnell verflüchtigte, mit der Morgenzeitung von draußen herein. Gina war verblüfft und gleichzeitig angerührt, wie sich Francis geändert hatte. Er wirkte in sich zufriedener, ging aufgerichtet und der graue Schatten, der ihn sonst wie eine Wolke der Unauffälligkeit bedeckte, war verschwunden.
Gina blinzelte zu Mrs. Drake hinüber, die ihren Sohn mit einem gefälligen Lächeln betrachtete. Was sie wohl denkt? Gerade sie muss die Veränderungen doch auch bemerken.
Doch was Mrs. Drake dachte, konnte weder Gina noch jemand anderer erahnen. Sieh an, er hat sich verändert. Sollte meine Rechnung aufgehen? Unwillkürlich legte sie ihrem Mann eine Hand auf die Schulter, der erst sie erstaunt ansah und dann Francis die Zeitung abnahm. Auf jeden Fall war es die richtige Entscheidung, die alte Lucia Fortescue rauszuschmeißen. Er muss wenigstens ein bisschen Kontakt zu gleichaltrigen Frauen haben, und wenn ich Gina richtig einschätze, wird sie nichts Unüberlegtes tun, wenn sie ihren Job behalten will. Mrs. Drake setzte sich, wünschte allen einen guten Appetit und nahm sich von dem Spiegelei und den gebackenen Bohnen. Gleichzeitig versuchte sie sowohl Gina, wie auch Francis im Auge zu behalten, konnte aber nichts entdecken, was auf irgendwelche Kontakte schließen ließ. Im Gegenteil, Gina wirkte auf sie, seitdem sie wieder gemeinsam mit Francis aßen, eher schüchterner, unsicherer und zurückhaltender. Ich muss ihm diesen kleinen Spaß lassen, sonst wird er irgendwann ganz ausbrechen. Ich muss nur aufpassen, dass er nicht zu weit geht.
„Was?“, fragte ihr Mann.
„Bitte?“
„Was hast du gesagt? Du hast irgendetwas gemurmelt.“
„Oh, das war gar nichts“, entgegnete sie und unterband damit jede weitere Nachfrage.
Auch wenn Gina vielleicht äußerlich immer noch genauso zurückhaltend wirkte, konnte sie dem Frühstück heute doch erheblich mehr abgewinnen. Sie vermied zwar immer noch bewusst jede Berührung oder Blickkontakt mit Francis, aber allein, dass sie seine Nähe spürte, machte sie glücklich. Sie fand seine Antwort bei Arbeitsbeginn in der Tasche ihre Schürze.
Liebe Gina, ich weiß, dass ich nicht allein bin. Irgendwie habe ich das schon gespürt, als du das erste Mal durch die Tür gekommen bist. Ich bin froh, dass du angefangen hast mir Briefe zu schreiben, denn ich hätte bestimmt nicht den Mut gehabt. Trotzdem müssen wir vorsichtig sein, meine Mutter hat ihre Augen überall. Ich freue mich schon auf deinen nächsten Brief, Francis.
Lieber Francis, ich bin genauso froh wie du, dass es zu unserem Briefwechsel gekommen ist. Du hast heute so zufrieden ausgesehen. Selbst deine Mutter hat das bemerkt, deshalb hatte sie dich heute Morgen auch so verträumt angesehen. Auf jeden Fall finde ich, dass du dich nicht zu verstecken brauchst. Etwas Anderes: Kann es sein, dass du manchmal mit deiner Stimme diese Gefühle bei den Menschen auslöst und manchmal nicht? Ich frage deshalb, weil deine Mutter nicht zu erkennen gibt, dass deine Stimme sie selbst beeinflusst. Liebe Grüße, Gina P. S. Gut, dass du das Versteck gefunden hast, ich hatte mir im Nachhinein ein wenig Sorgen gemacht.
Gina schrieb diese Zeilen wieder in der Nachmittagspause auf eine Seite, die sie aus einem Schreibheft herausgetrennt hatte. In einem unbeobachteten Moment schaffte sie es, Francis den Brief heimlich zuzustecken.
Liebe Gina, ich kann dir leider nicht sagen, ob meine Stimme manchmal anders ist, weil ich ja überhaupt nur mit meinen Eltern rede. Falls es da Unterschiede geben sollte, kann ich sie jedenfalls nicht beeinflussen. Aber ich habe auch noch eine Frage an dich, weil ich von dir ja auch noch gar nichts weiß: Was machst du eigentlich in deiner Freizeit gerne? Bis hoffentlich bald, Francis
Dieser Brief fand sich am Montagmorgen in Ginas Frühstückserviette. Er fiel zwar zu Boden, als Gina diese ausschlug, aber glücklicherweise waren alle schon mit dem Essen fertig geworden und nur Mrs. Drake goss noch ein wenig Orangensaft in einen Krug am Kühlschrank.
Lieber Francis, in meiner Freizeit gehe ich gerne spazieren und lese sehr viel. Deshalb bin ich auch gleich in den ersten Tagen, du erinnerst dich an den Mittwoch, der so nebelig war, in die Bücherei gegangen, um mir neue Bücher auszuleihen. Dabei musste ich allerdings auch Eure hiesige Bibliothekarin kennenlernen. Ich weiß nicht, ob du sie kennst, aber ich finde, dass sie ein furchtbarer unangenehmer Mensch ist. Sie verstieg sich der Vorstellung, dass es hier im Pub Wettspiele gibt. Weißt du etwas davon? Als ich noch zu Hause gewohnt habe, bin ich auch gerne ins Kino gegangen, oder habe mir Sendungen im Fernsehen angeschaut. Meine Mutter hat sich vor einigen Jahren einen Fernseher gekauft. Aber da es hier am Ort kein Kino gibt, und ich kein Auto habe, ist das bisher ausgefallen. Zweimal habe ich mich auch schon mit eurer Nachbarin Sally getroffen und finde sie ganz nett, kennst du sie? Jetzt zu deiner Stimme: Ich habe sie ja bisher nur wenige Male gehört, aber da fand ich sie immer gleich stark anrührend. Viele liebe Grüße, Gina
Sie steckte Francis den Brief zu, als dieser gerade an ihr vorbei auf dem Weg nach draußen war.
Er brauchte eigentümlich lange für den, mit einem Auto kurzen Weg zum Postamt, das in einem Seitenflügel des Bahnhofes untergebracht war. Als er zurückkam, hatte er ein verrußtes Gesicht und ölverschmierte Hände, signalisierte seiner Mutter, dass er Schwierigkeiten mit dem Auto gehabt habe, steckte aber Gina unbemerkt eine Antwort in die Schürze.
Da haben wir viel gemeinsam. Wir haben zwar keinen Fernseher, aber ich gehe auch gerne ins Kino. In der Kreisstadt ist eines, das immer die neuesten Filme zeigt. Ansonsten lese ich, genau wie du, sehr viel. Am liebsten spannende Agentengeschichten oder Krimis. Die hole ich mir auch aus der Bücherei, weil ich gar nicht genug Geld hätte, die vielen Bücher zu bezahlen. Ich gehe da übrigens gerne morgens hin, weil dann Mrs. Foster nicht da ist. Sie war übrigens früher meine Grundschullehrerin, bevor sie vor ein paar Jahren pensioniert wurde. Und da war sie eigentlich auch ganz nett. Mach dir nichts aus ihrem Gerede, die hatte schon immer eine Macke, wenn es um ihren Kirchenkram ging. Wettspiele gibt es bei uns jedenfalls nicht, nur Brettspiele und eine „Ritter- und Magierrunde“ von Dad am Samstagabend. Also alles ganz harmlos. Weißt du, was mich stört? Ich würde mich viel lieber mit dir unterhalten, als immer diese Briefe schreiben zu müssen. Doch leider wird es da wohl keine Möglichkeit geben. Liebe Grüße für jetzt, Francis
Gina bekam fast das Herzflattern, als sie diese Zeilen las.
Ich glaube auch, dass wir viele Gemeinsamkeiten haben. Und ich freue mich, dass du mich wegen der Bibliothekarin beruhigen konntest. Ich verstehe wirklich nicht, worüber sie sich so aufregt. Die Brettspiele, die ich kenne, sind doch ganz harmlos oder kann es dieses „Ritter und Magierspiel“ sein, das du erwähnt hast? Das kenne ich jedenfalls nicht. Vielleicht kannst du mir bei Gelegenheit mal davon erzählen. Apropos Erzählen: Ich würde mich auch freuen, wenn wir uns mal so richtig unterhalten würden. Erinnerst du dich von früher an Sallys Dachboden? Wir könnten uns da mal treffen. Meinst du, wir bekommen das hin? Ganz liebe Grüße, Gina
Mit diesem Brief, den Gina am Montag Nachmittag schrieb, schaffte sie es Francis den Abend zu versüßen, nachdem es ihr gelungen war, denselben unter einer Packung Erdnüsse zu verstecken.
Liebe Gina, ich habe mich schon so an unsere Briefe gewöhnt, dass ich mich immer schon auf den Nächsten freue. Wie schon geschrieben, fände ich es ganz toll, wenn wir einmal miteinander richtig reden würden. Aber ich kann mir nicht so wirklich vorstellen, wie das mit Sallys Dachboden funktionieren soll. Ich glaube nicht, dass meine Mutter wirklich begeistert wäre, wenn wir zusammen das Haus verlassen würden. Was meinst du? Außerdem muss ich ehrlich zugeben, auch wenn ich mir kaum etwas mehr wünsche, so habe ich doch einen mächtigen Bammel davor. Ich habe so viele Menschen schon mit meiner Stimme erschreckt und ich möchte nicht, dass das mit dir passiert. Aber wenn du einen Weg weißt, wie wir das hinkriegen können, bin ich, glaube ich, mutig genug, es zu versuchen. Ich freue mich darauf. Übrigens, das Spiel ist so umfangreich, dass ich es dir hier nicht erklären kann, dafür brauche ich mehr Zeit. Es gibt ganze Bücher über das Spiel. Francis
Gina war hocherfreut, als sie diese Zeilen am nächsten Morgen auf ihrem Fußboden fand. Francis musste den Brief noch in der Nacht unter der Tür hindurchgeschoben haben.
… werde ich mich morgen mit Sally treffen und mit ihr besprechen, wie wir das machen können. Ist dir das recht?
Gina schaffte es, sich dicht an Francis zu drücken und ihm diese Nachricht in die Brusttasche seines Hemdes zu stecken, als sie gemeinsam den Kamin von der Asche der Vortage befreiten.
Was sie nicht sehen konnte, war, dass Mrs. Drake, die unversehens in der Küchentür aufgetaucht war, sie von hinten beobachtete. Mrs. Drake zog sich einen Schritt in die Küche zurück und winkte ihren Mann vom Gemüseputzen herbei, ohne die Augen von ihrem Sohn und der Kellnerin zu lassen. Mr. Drake trat neben sie und betrachtete wortlos die Szene, ohne dass eine Regung seines Gesichtes verriet, was er dachte.
Immer noch das alte Pokerface!, dachte seine Frau lächelnd und zog ihn in die Küche.
„Ich denke, mein Plan geht auf!“, flüsterte sie so leise, dass die Zwei im Raum nebenan nichts hören konnten, außer dem kratzenden Schaben ihrer Schaufel auf dem Schamottgestein. „Siehst du, wie sie schon an ihn heranrückt? Wahrscheinlich hat sie sich sogar schon in ihn verliebt.“
Mr. Drake hob beschwörend die Hände hoch. „Aber Sue, du wirst es noch soweit bringen, dass wir Francis ganz verlieren. Was ist, wenn sie ihn ködert und irgendwohin mitnimmt?“
„Nein, Paul! Das wird bestimmt nicht passieren, dazu hat Francis viel zu viel Angst vor den Menschen draußen. Er wird doch schon nervös, wenn er mal mit dem Auto ins Kino fährt, weil er vielleicht angesprochen werden könnte.“
Hitziger, als er es möglicherweise gewollt hatte, zischte Mr. Drake zurück: „Sue, du spielst mit dem Feuer! Ich freue mich ja auch, dass unser Sohn ein bisschen aus seinem Schneckenhaus herauskommt, aber wo willst du da die Grenze ziehen? Und vor allen Dingen wie?“
„Es ist doch ganz einfach, Paul. Ich möchte doch nur, dass Francis jemanden kennenlernt. Und ich glaube, dass wir mit Gina eine grundsolide Frau für ihn gefunden haben. Sie passt zu ihm und er wird die Chance haben, die Liebe zu entdecken. Auf der anderen Seite weiß er, dass wir ihm den Pub und das Haus eines Tages vererben, also ist es doch nur natürlich, wenn er hierbleiben will. Und sie wird sich ihm schon fügen, glaube mir. Ich erkenne eine verliebte Frau, wenn ich sie sehe!“ Mrs. Drake verschränkte selbstsicher die Arme über ihrem Busen. Sie war überzeugt davon, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Mit Gina hatte sie eine Frau gefunden, die Francis liebte und als Ehefrau geeignet war.
„Und wenn sie Francis verändert, ihn umkrempelt? Wenn sie ihm Flausen in den Kopf setzt von der großen weiten Welt?“
„Erstens glaube ich nicht, dass sie das tun wird, denn dafür ist sie nicht der Typ und zweitens wird er, mit seiner Stimme, immer der Stärkere der Beiden sein. Und meinen Sohn habe ich unter Kontrolle! Das kannst du glauben.“
„Na und notfalls“, murmelte Mr. Drake klein beigebend, „notfalls, kann ich sie ja auch einfach entlassen.“
Doch da wehrte Mrs. Drake heftig ab. „Auf gar keinen Fall, Paul. Wenn sie jetzt geht, hast du einen Sohn zu Hause, der den Rauch gerochen hat und jetzt das Feuer kennenlernen will. Und später, wenn sie zusammen sind, schon gar nicht, sonst läuft er ihr womöglich hinterher. Das werde ich schon über Francis steuern, verlass dich drauf!“
„Das ist mir alles zu kompliziert. Ich will nur das Beste für meinen Jungen, der Rest ist mir egal.“
„Genau das möchte ich doch auch!“ Sie strahlte über das ganze Gesicht, als sie diese Diskussion wieder einmal gewonnen sah.
Francis sah Gina erwartungsvoll an und genoss das Gefühl, ihre Nähe zu spüren, als sie gemeinsam ihre Arbeit am Kamin beendeten. Ein wenig verblüfft war er allerdings, als er mit dem schweren metallenen Ascheneimer in die Küche kam und seine Eltern gerade auffällig darum bemüht waren, besonders unauffällig auszusehen. Sie haben bestimmt wieder gestritten!, seufzte er in sich hinein und durchquerte mit einem Nicken in Richtung seiner Eltern den Raum. Diese hatten sich bereits wieder gefangen, als Gina mit Besen und Kehrrichtschaufel hinter Francis her die herabgefallenen Aschen auffegte.
Als Gina nach draußen kam, um die Kehrrichtschaufel in den Ascheimer zu entleeren, war Francis bereits wieder im Haus. Zweifelnd blickte sie nach oben auf das kleine Stück Himmel, das sie erkennen konnte. Das klare frostige Blau der letzten Tage war verschwunden, es war etwas wärmer geworden, obwohl der Frost noch auf den Steinen und Dächern saß. Dunkle Wolken trieben über sie hinweg und ließen sie schaudern. Das sieht nicht gut aus!
Sie stellte ihre Arbeitsutensilien neben der Tür ab und ging um das Haus herum, auf die Vorderseite. Wind war aufgekommen. Er ließ sie in ihrem Hauskleid frösteln und die Boote im Hafen unruhig auf und ab tänzeln. Heute würden sie wieder viele Gäste bekommen, denn kaum ein Boot war hinausgefahren.
„Guten Morgen, Gina! Wird dir nicht zu kalt?“ Sally hatte sie vom ersten Stock aus beobachtet und rief jetzt zu ihr herunter.
Gina drehte sich überrascht um, um die Ruferin ausfindig zu machen. „Guten Morgen, Sally! Ja natürlich, mir ist schon kalt!“ Sie grinste. „Aber ich wollte gerade mal sehen, wie viele Gäste heute kommen werden.“
„Bist du unter die Hellseher gegangen? Wie kannst du auf das leere Meer hinaussehen und sagen, ob ihr eine volle Hütte haben werdet?“
„Das erkläre ich dir morgen. Du hast doch Zeit?“
„Na klar! Morgen Abend, wie immer. Ich freue mich darauf!“
„Ich mich auch, aber ich muss jetzt wieder rein. Bis Morgen!“ Sie winkte zum Abschied und lief die paar Schritte zum Hauseingang.
Drinnen stellte sie sich erst einmal für ein paar Minuten an den Küchenofen, um sich aufzuwärmen.
„Warst du so draußen?“ Mrs. Drake sah zweifelnd von dem zu putzenden Gemüse auf.
„Nur kurz“, entgegnete Gina mit klappernden Zähnen. „Ich wollte mal nachsehen, wie das Wetter wird. Ich schätze, wir bekommen heute viele Gäste.“ Langsam wurde ihr wieder warm.
„Ich freue mich, wie du dich fürs Geschäft einsetzt.“ Mrs. Drake wirkte begeistert. „Dann werde ich schon mal vorsorglich für ein paar mehr Essensgäste das Gemüse putzen. Hilfst du mir?“
„Gerne!“ Einträchtig begannen die beiden Frauen schweigend, nur ihren Gedanken nachhängend, mit den Essensvorbereitungen. Und obwohl Gina die Arbeit Spaß bereitete, sehnte sie sich nach einer Antwort von Francis. Lange hatte sie dafür aber keinen Kopf mehr frei, denn schon um zwölf Uhr füllte sich der Pub, in diesem Falle vorwiegend mit Einheimischen. Bis drei Uhr nachmittags schleppte Gina Kannen mit Tee und große Tassen mit heißem Grog, trug Teller mit kleinen Mittagsmahlzeiten auf und beobachtete, wie sich die Speisesaalliste für den Abend immer mehr füllte, bis sie, das erste Mal seit sie die Stelle angetreten hatte, tatsächlich Gästen absagen musste, weil alle Plätze vergeben waren. Mr. Drake entschied also, die Tische des Pubs zum Essen ebenfalls zur Verfügung zu stellen.
Zum Nachmittag hatten sich die leichten Wolken des Morgens zu dicken, schwarzen Klumpen zusammengebraut, die von dem Sturm, der mittlerweile aufgekommen war und um die Häuser heulte, über den niedrigen Himmel auf Land gepeitscht wurden. Nur die Temperatur war noch erstaunlich mild, sodass die Gischtspritzer von den Wellen, die an die Mole schlugen und bis über die Straße wehten, noch nicht so kräftig in die Haut bissen.
Nachdem um drei Uhr die letzten Gäste gegangen waren, löschte Gina überall das Licht, sodass nur noch flackernde rote und schwarze Schatten des Kaminfeuers über die Wände huschten. Dann ging sie auf ihr Zimmer, um die kleine Pause zu genießen. Sie war gerade um die Ecke gebogen, da berührte plötzlich eine Hand ihre Schulter und ein Schreck fuhr ihr in die Glieder. Sie wirbelte herum. Francis zuckte ebenfalls zusammen, stand dann aber lächelnd vor ihr und stützte sich mit der Hand, die sie eben noch an der Schulter berührt hatte, an der Wand ab.
Später sollte sie nicht mehr sagen können, in welcher Reihenfolge die nächsten Ereignisse sich abspielten, doch sie hörte als Erstes ein halblautes „Ja!“ von Francis. Ein Ja!, das ihre ganze Umgebung erleuchtete, das ihr Herz zum Jagen trieb. Ein Ja!, das die verblassten Farben der Tapete zum Strahlen brachte und alles um sie herum rein und klar werden ließ. Es war dieses eine Wort mit dem Francis alles um sie herum veränderte.
Dann blitzte es plötzlich und fast gleichzeitig krachte ein Donner in einer so infernalischen Lautstärke, die Gina für kurze Zeit fast taub werden ließ. Das Fenster am Ende des Flures, das schon lange nicht mehr richtig schloss, schlug auf und knallte gegen die Wand. Ob vor Schreck oder von der Windböe gedrückt, Gina fiel die eine Treppenstufe gegen Francis, der trotz seiner Überraschung schnell reagierte und die Arme um sie schloss, um sie aufzufangen. Einen winzigen Augenblick sahen sich beide in die Augen, dann küsste er sie.
Es fühlte sich an wie eine kleine Ewigkeit, bis sie sich voneinander lösten und Gina hatte noch lange nachher das überirdische Gefühl völliger Klarheit. Francis bedeutete ihr mit Gesten, dass er jetzt leider wieder nach unten müsse, und wirkte immer noch genau so entrückt wie Gina. Er küsste sie zum Abschied noch einmal kurz auf den Mund und verschwand dann die Treppe abwärts.
Als seine Ausstrahlung mit ihm gegangen war, verblassten die Farben um Gina herum zwar wieder ein wenig, aber sie beide hatten dem Gemäuer ein bisschen von dem Leben früherer Jahre zurückgegeben. Sie drehte sich um und ging zum Ende des Flures, um das Fenster zu schließen, bei dem sich nur der Verschlussriegel gelöst hatte, aber sie musste alle Kraft aufbieten, um es gegen den Wind zuzudrücken und den Riegel einzurasten. Der Sturm peitschte draußen immer kältere Luft vor sich her und aus dem Augenwinkel konnte Gina die ersten Schneeflocken dieses Winters herunterwehen sehen.
… dauerte noch einen ganzen Tag, aber Gina nahm ihn nicht mehr wahr, weil der Sturm der Gefühle, der in ihrem Innern losgebrochen war, alles andere überdeckte. Die Welt um sie herum war schön geworden, anders ließ sich ihre Situation nicht beschreiben. Ihre Umgebung hatte sich zwar nicht wirklich verändert, aber sie wirkte auf Gina so viel realer, farbiger und facettenreicher. Selbst das Pfeifen der Lokomotive am Bahnhof, die zur Abfahrt in unbekannte Welten drängte, klang melodischer als sonst. Und als ob Francis sie angesteckt hätte, begann auch Gina, die ohnehin immer schon gut gelaunt und aufgeweckt gewesen war, so eine innere Zufriedenheit und Ruhe auszustrahlen, dass sie Schwierigkeiten hatte, dies vor anderen zu verbergen. Ein kleiner nagender Zweifel, der beständig bohrte, dass der Kuss doch nur ein Zufall gewesen sein konnte und über Francis Gefühle gar nichts aussagte, wurde von ihr in die letzten Kammern ihres Bewusstseins verschoben und sicher eingeschlossen. Trotzdem bewahrte sich Gina insoweit noch einen klaren Kopf, als sie sich weiterhin fest vorgenommen hatte, hinter das Geheimnis von Francis Stimme zu kommen.
Die neue Schönheit der Welt zeigte sich ihr bereits am nächsten Morgen, als Gina besonders früh aufwachte, erstaunlicherweise ohne den Wunsch zu haben, noch länger im Bett liegen zu bleiben. Der Sturm des Vortages war zu einem lauen Flüstern erloschen und hatte in der Nacht die Kälte gebracht. Die Kälte und den reinen, weißen Schnee, die sich genauso klar und wirklich anfühlten wie ihre Liebe. Das Morgenrot einer blassen Wintersonne an einem blauen Himmel, der über Tag strahlend schön zu werden versprach, ließ die Schneekristalle in allen Rot- und Gelbtönen aufleuchten.
Mit einem Juchzen vor Freude war sie auf den Beinen, schlüpfte in warme Hosen und Pullover, Stiefel und Mantel und stürmte nach unten. Die Küchenuhr zeigte gerade sieben Uhr und im ganzen Haus herrschte noch tiefe Ruhe. Die Drakes hatten gestern Nacht lange Gäste gehabt, denn bei diesem Wetter wollte kein Seemann oder Fischer allein zu Hause sein, und um eine Sperrstunde scherte sich dann niemand mehr. Selbst Constable Gordon saß während seiner abendlichen Runde durch den Ort gerne mal bei den Drakes in der Küche und trank ein Ale zur Stärkung.
Sie riss die Haustür auf, trat auf die Straße und stand knöcheltief im Schnee. Wie um den Morgen noch einmal zu begrüßen, reckte sie die Arme zum Himmel und sah den Atemwolken nach, die in die kalte, klare Luft emporstiegen. Aus dem kleinen Schuppen, den baufreudige Vorbesitzer in die Lücke zwischen dem Pub und dem Nachbarhaus gequetscht hatten, angelte sie den Schneeschieber und begann den Fußweg bis zur Hausecke freizuräumen. Schon nach wenigen Metern brachte sie der feuchte, schwere Schnee ins Schwitzen und an der Hausecke angekommen war sie außer Atem, dampfte aus allen Poren und strahlte vor Glück.
Plötzlich drang eine herausfordernde und leider allzu bekannte Stimme an ihr Ohr: „Hallo Gina, was machst du denn hier?“ Jeder Muskel ihres Körpers erstarrte in der Bewegung und Fassungslosigkeit zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab.
Sie fing sich wieder und richtete sich auf. „Mark? Das sollte ich wohl eher dich fragen.“
„Ich bin eben mit dem Frühzug angekommen und direkt zum Hafen gelaufen. Und siehe da, wen treffe ich da zufällig auf der Straße?“
Ginas Augen weiteten sich vor böser Erwartung, aber sie wusste, sie durfte sich ihre Angst nicht anmerken lassen. Sein so markantes, kantiges Gesicht, das sie früher einmal angezogen hatte wie das Licht die Motte, hatte jetzt einen versteckten hinterhältigen, brutalen Ausdruck bekommen. Unwillkürlich setzte sie den Schneeschieber wie eine Waffe vor sich auf den Boden und stützte sich darauf.
„Wer hat dir verraten, wo ich bin? Ist Mutter schwach geworden?“
„Oh nein, keine Sorge, aus deiner Mutter war kein Wort herauszubringen. Ich habe da andere Quellen.“ Er grinste und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ich verstehe. Wanda Hopkins! Deine Sandkastenfreundin, mit der du ja nie etwas hattest, hat wieder zugeschlagen. Ich hatte nicht daran gedacht, dass sie bei der britischen Post arbeitet!“ Gina wedelte ungeduldig einige Schneeflocken weg, die auf sie herniederrieselten.
„Woher ich meine Informationen habe, geht dich nichts an. Ich will, dass du jetzt dieses Kaff hier hinter dir lässt und wieder nach Hause kommst!“ Die verschränkten Arme lockerten sich und sein Oberkörper neigte sich nur um winzige Millimeter nach vorn, aber Gina konnte all diese bedrohlichen Anzeichen, die sie von früher zu gut kannte, jetzt viel deutlicher wahrnehmen.
„Das werde ich nicht tun“, wies sie seine Forderung klar zurück „Mit uns ist es aus und vorbei, hast du das immer noch nicht begriffen?“ Der Schneeschieber vermittelte Gina ein Gefühl der Sicherheit.
„Ha! Wir sind immer noch verlobt! Du kannst nicht einfach so ohne ein Wort verschwinden.“
„Wann hätte ich denn mit dir reden sollen? Als du auf Wanda Hopkins gelegen hast?“ Gina nahm unbewusst eine flucht-bereite Haltung ein, denn Mark hatte seine Hände in die Seiten gestemmt und seinen Oberkörper wie zum Angriff vor geneigt.
„Du hast mich doch überhaupt erst dazu gebracht zu ihr zu gehen. Wenn du nur einmal mit mir geschlafen hättest, wäre das doch alles nicht passiert.“
„Ach jetzt soll ich auf einmal Schuld daran sein, dass du fremd gehst. Tätschelst du eigentlich immer noch Trudis Hintern, wenn du im Gestrandeten Karren1 ein Bier bestellst?“ Gina wusste, dass sie mit dem Feuer spielte, aber jetzt war sie dermaßen wütend geworden, dass sie sich nicht mehr im Zaum halten konnte.
„Gina, hör auf damit oder ich werde sauer. Du hast nicht das Recht, so mit mir zu reden.“
„Oh, doch das habe ich. Das hatte ich immer, ich habe nur viel zu lange die Klappe gehalten.“
„Das ist doch Emanzengeschwätz. Du kommst jetzt mit mir nach Hause.“
„Nein, das werde ich bestimmt nicht tun! Als du mich das erste Mal geschlagen hast, war es auch das letzte Mal. Es ist aus und vorbei, für immer!“
„Okay, dann klären wir das eben anders.“ Schneller als Gina erwartet hatte, griff Mark nach dem Schneeschieber und wollte ihr diesen entreißen. Da spürte Gina, die langsam zurückzuweichen begann, einen warmen Hauch im Rücken, wie von einem Körper, der unbändige Energie ausstrahlte.
Und dann veränderte sich mit einem Mal die Welt. Mit einem einzigen „Halt!“, das Francis Mark entgegen brüllte, verschwand die aufgehende Sonne hinter dunklen Wolken, der Boden begann zu zittern und eine Gluthitze schmolz den Schnee in Bächen dahin. Gina konnte nicht anders, sie musste sich umdrehen. Hinter ihr stand Francis hoch aufgerichtet, doch jetzt wirkte er zwei Köpfe größer und die Wut loderte in seinen Augen. Die Muskeln auf dem nackten Oberkörper, die jedem Ringer zur Ehre gereicht hätten, zuckten bedrohlich, als Francis Gina mit einer Hand hinter sich schob und weiter auf Mark zuging. Dieser war zutiefst erschrocken von der plötzlichen Bedrohung, sodass er es nicht mehr schaffte, einen geordneten Rückzug anzutreten. In seinem Kopf breiteten sich Bilder aus, in denen er im Dunkeln einer unübersehbaren Horde von fackelbeleuchteten Stieren gegenüberstand, die jeden Moment zum Angriff übergehen konnten. Er stand wie versteinert da und starrte Gina und Francis fassungslos an.
„Lauf und lass Gina für immer in Ruhe!“, dröhnte es wie Glockenschläge in seinen Ohren und vor Marks Augen begannen, tanzende Fünkchen die Umgebung zu verschlucken. Er fühlte, wie er fast ohnmächtig wurde, doch mit letzter Kraft rappelte er sich auf, starrte erst Gina hasserfüllt an, die jetzt wie eine gottgleiche Jungfrau in wehenden Gewändern neben diesem Monstrum stand, dann wieder dem feurigen menschlichen Stier in die rotglühenden Augen, machte auf dem Absatz kehrt und lief wie von Furien gehetzt davon. Doch während sich diese Eindrücke in seinem Kopf eingruben und er sie zeit seines Lebens nicht mehr vergessen sollte, lichtete sich bereits die Dunkelheit in der schmalen Gasse.
Der Schneeschieber fiel klappernd zu Boden und Gina beobachte, wie der übermannsgroße lodernde Stier sich langsam wieder in Francis zurückverwandelte, der schließlich barfuß und nur in Hosen im morgendlichen Schnee stand. Das Licht der frühen Sonnenstrahlen schien wieder freundlich auf sie herab und brachte die Schneekristalle, die vorhin weggeschmolzen zu sein schienen, zum Glitzern und Funkeln. Und als auch die Kälte wieder schlagartig zurückkehrte, streifte Gina schnell ihren Mantel ab und hängte ihn Francis um, der mittlerweile wieder in seiner normalen Größe vor ihr stand.
Er legte die Hand auf ihre Stirn und in ihrem Kopf bildeten sich die Worte: „Es war nur in deiner Vorstellung!“ und „Er wird nicht wiederkommen!“
„Nein, das wird er nicht!“ Das hoffte sie jedenfalls.
Dann nahm Francis ihr Gesicht in die Hände und küsste sie.
… wieder ins Haus zurück. Im Hausflur streifte er den Mantel ab, hängte ihn an der Garderobe auf und bedeutete Gina, dass er sich jetzt fertigmachen und anziehen würde.
Doch sie hielt ihn noch kurz zurück. „Woher wusstest du, dass ich in Schwierigkeiten war?“
Francis deutete nach oben in Richtung seines Zimmers, legte eine Hand an das Ohr und tat dann so, als öffnete er ein Fenster. Unwillkürlich fasste sich Gina auf den Kopf, als spürte sie noch einmal das Herabrieseln des Schnees.
„Ich verstehe.“ sagte sie lächelnd. „Danke!“ und als sie seine Hand losließ, konnte er noch eine Ahnung von der Jungfrau in den wehenden Kleidern erkennen, als die sie eben noch erschienen war.
Francis ging leise die Treppe hoch, denn von oben waren aus dem elterlichen Schlafzimmer erste Geräusche zu hören. Gina überlegte nur kurz, dann streifte sie den Mantel wieder über und trat ein zweites Mal vor die Tür. Jetzt würde sie den Morgen so zu Ende bringen, wie sie es von Anfang an geplant hatte. Sie brauchte noch eine halbe Stunde, dann hatte sie auch den Gehweg vor dem Haus frei geschippt und noch einmal zehn Minuten später tauten bereits die restlichen Eisklumpen, die sich nicht hatten entfernen lassen, unter dem Streusalz.
Der Rest des Tages verlief ziemlich ereignisarm. Da das Wetter sich so beruhigt hatte, waren wieder alle Fischer draußen und der Hafen leer. Sie würden erst spät am Abend nach Hause kommen und damit den Ruhetag des Neunarmigen Kraken nicht bedauern müssen.
Gina war gleich nach dem gemeinsamen Frühstück in Richtung Bücherei aufgebrochen, wo sie versuchen wollte, an Literatur über Francis' seltsame Gabe heranzukommen. Dazu hatte sie dann noch die Post der Drakes mitgenommen, denn beim Frühstück wirkte Francis doch deutlich entkräftet, sodass sie ihm ersparen wollte, noch ein Mal losfahren zu müssen, sollte der Briefträger heute keine Sendungen bringen und mitnehmen.
Sally und Francis hatten völlig recht gehabt, als sie Gina erzählten, dass Mrs. Foster morgens nicht arbeiten müsste und sie konnte unbehelligt von einer jungen Frau, die am Empfangstresen saß und Weihnachtssocken strickte, durch die Abteilungen stöbern. Sie stieß zwar auf einige Bücher, die sie selbst ganz interessant fand, aber die mit der Problematik von Francis' Stimme überhaupt nichts zu tun hatten. Nicht nur, dass Gina das Register nicht weitergeholfen hatte - unter dem Stichwort Stimme waren lediglich einige wenige Werke zum Thema Gesang und Sprechübungen für Schauspieler zu finden - auch ein genaues Durchsuchen der Sachbuchabteilung, dass sich über zwei Stunden hinzog, brachte keine Ergebnisse. Selbst als Gina auf den Bereich „Paranormale Phänomene“ stieß, fand sich dort nur ein Buch eines Deutschen, der die Kunst des Löffelbiegens beschrieb, und ein paar Weitere, die behaupteten, dass man mit Gedankenkraft Gegenstände bewegen könne.
So war Gina, als sie im mittäglichen Sonnenschein in die immer noch frostige Meeresluft auf den Bürgersteig trat, trotz ihrer Euphorie, die die Liebe in ihr Herz gepflanzt hatte, einigermaßen ratlos. Sie hatte keine Idee, von welcher Seite aus sie das Problem anpacken könnte. Nachdenklich machte sie sich auf den Weg nach Hause, wo sie sich den ganzen Nachmittag mit einem neuen Buch von ihrer Einfallslosigkeit abzulenken versuchte, dabei aber nur bescheidenen Erfolg erzielte. Immer wieder schweiften ihre Gedanken von Hercule Poirots Büro in den Neunarmigen Kraken und zu Francis zurück und sie musste mit den Seiten, die sie gerade gelesen hatte, immer wieder von vorne anfangen, weil sie sich einfach nicht auf den Inhalt konzentrieren konnte. Und obwohl sie sich praktisch die gesamte Zeit in ihrem Zimmer aufhielt, hatte sie das Gefühl, Francis' Präsenz durch die Wände hindurch spüren zu können.
Endlich war es acht Uhr geworden, Gina hatte bereits seit einer Stunde in Fünf-Minuten-Abständen auf die Uhr gesehen, bis sie sich endlich auf den Weg zu Sally machen konnte. Diese würde zwar wahrscheinlich auch nicht wissen, was zu tun war, aber wenigstens hatte Gina dann jemanden, mit dem sie darüber reden konnte. Außerdem brannte es ihr unter den Nägeln, mit ihrer Freundin einen Schlachtplan auszuarbeiten, wann und wie sie sich endlich einmal unbeobachtet von den Eltern mit Francis treffen konnte.
Für den Abend hatte sie sich, weil sie nicht davon ausgehen musste, dass sie in der Öffentlichkeit gesehen wurde, nur schnell etwas Bequemes angezogen und war in flache Halbschuhe geschlüpft. Dann sprang sie vergnügt die Treppe hinunter und ging, mittlerweile ohne überall Licht anmachen zu müssen, durch den Schrankraum und die Küche in den Flur. Trotz der Dunkelheit erschrak sie dieses Mal nicht, als sie erst im letzten Moment Francis Silhouette neben der Haustür auftauchen sah. Sie konnte sein Gesicht zwar nicht erkennen, aber sie spürte die warme Herzlichkeit, die er ausstrahlte. Er küsste sie zum Abschied auf den Mund und drückte ihr, bevor er ihr die Haustür öffnete, noch einen Zettel in die Hand, der jetzt ungelesen bleiben musste. Deshalb verbarg sie ihn in ihrer Hosentasche und lief schnell aus dem Haus.
Gewohnheitsmäßig schaute sie auch im Dunkeln nach oben in den Himmel, um abschätzen zu können, wie sich das Wetter entwickeln würde. Kein Mond und keine Sterne waren zu sehen, sodass sie davon ausging, dass sich im Laufe des Nachmittages neue Wolken ausgebreitet hatten, die vermutlich wieder Schnee bringen würden. Es dauerte keine Minute, bis sie bei Sally vor dem Haus stand und heftig an die Tür klopfte. Schon jetzt begann ihr die beißende Kälte durch die Kleider zu kriechen.
Eilig wurde die Tür aufgerissen und Sally rief: „Schön, dass du da bist! Komm schnell rein, es wird kalt!“ Wie auch bei den vorigen Besuchen dirigierte sie Gina in das kleine Wohnzimmer im Erdgeschoss.
„Setz dich! Fühl dich wie zu Hause! Soll ich wieder Glühwein machen?“
„Einen Moment! Ich muss das hier erst lesen, den hat mir Francis eben zugesteckt.“
Gina angelte den Brief aus ihrer Hosentasche und las:
Liebe Gina, ich musste den ganzen Tag daran denken, was heute Morgen passiert ist. Was war das nur für einen Mann, mit dem du dich da eingelassen hast? Es war auf jeden Fall ein glücklicher Zufall, dass ich euch rechtzeitig gehört habe. (Oder war es kein Zufall und ich habe deine Schwierigkeiten gespürt? Ich weiß es nicht.) Ich hoffe nur, dass der Kerl nicht noch einmal wiederkommt und Probleme macht und ich dann vielleicht nicht zur Stelle bin, um dich zu beschützen. Ich gebe zu, dass ich mich ein bisschen vor mir selber erschreckt habe. War es sehr gruselig? Ich bete auf jeden Fall, dass ich dich damit nicht zu sehr geschockt habe und dass du trotzdem einen schönen Tag hattest. Auf jeden Fall wünsche ich dir viel Spaß heute Abend bei Sally. Es wäre schön, wenn bei eurem Gespräch herauskommt, dass wir uns in Zukunft auf dem Dachboden treffen können. Ich kann es schon gar nicht mehr abwarten, mit dir zu sprechen, deshalb habe ich beschlossen, wenn meine Eltern dann schon im Bett sind, dass ich heute Abend vielleicht ab elf Uhr auf den Dachboden gehen werde. Wenn du mich dann sehen möchtest, würde ich mich freuen. Ich klopfte dann dreimal kurz an die Piratentür, damit du weißt, dass ich es bin. Ich hoffe nur, dass ich dich damit jetzt nicht überfahren habe. In Liebe, Francis
Gina hatte ihre Freundin über die Schulter mitlesen lassen und diese schaute sie aus großen runden und erstaunten Augen fragend an. „Ich glaube, da sind ein paar Sachen passiert, die du mir dringend erzählen musst.“
Gina ließ sich auf den Sessel fallen. „Da hast du recht.“ Und noch bevor Sally anfangen konnte, den Glühwein zuzubereiten, berichtete sie von all den Briefen, von dem Gewitter mit dem ersten Kuss, von den leisen Zweifeln, die geblieben waren, und letztendlich auch von den Geschehnissen am heutigen Morgen. Es war ihr ein bisschen unangenehm, Sally spürte es genau, weil sie bisher von Mark überhaupt noch nichts so Schlechtes erzählt hatte, aber sie fühlte, dass es ihr gut tat, dass sie sich alles von der Seele reden konnte.
Zwischendurch unterbrach Sally Gina nur einmal, als sie der Meinung, war, dass sie nach dem Bericht über die Eindrücke am Morgen, ganz dringend etwas zu trinken brauche und in kurzer Zeit mit einer guten Flasche Wein wieder im Wohnzimmer stand. „Ich hätte zwar nicht gerne in deiner Haut gesteckt, aber gerne gesehen, was du gesehen hast. Francis Fähigkeiten müssen im Laufe der Jahre enorm gewachsen sein.“
„Wahrscheinlich verstecken seine Eltern weniger ihn als seine Fähigkeiten vor der Öffentlichkeit.“
„Hattest du den Eindruck, dass er das heute Morgen absichtlich gemacht hat?“
Gina dachte einen Moment nach. „Nein, den Eindruck hatte ich eigentlich nicht. Er war nur einfach unglaublich zornig. Deshalb schreibt er ja auch in dem Brief, dass er sich fast vor sich selber erschrocken hat.“
„Es muss beeindruckend gewesen sein, das zu erleben.“
„Glaube mir, das war es“, sagte Gina schwer atmend und machte eine Pause, als ihr das Geschehene noch einmal bewusst wurde. „Dann war ich heute noch in der Bücherei, aber dort war zu dem Thema überhaupt nichts zu finden. Aber du hattest auf jeden Fall damit recht, dass da morgens jemand anderes arbeitet.“
„Das ist Hanna Little. Ihre Kinder sind morgens bei ihrer Mutter. Sie ist ganz in Ordnung. Aber das mit den Büchern ist Pech.“
„Es bleibt also nur“, sagte Gina zögernd, „dass ich erst mal versuche Informationen von Francis direkt zu bekommen. Gilt dein Angebot noch?“
„Das mit dem Dachboden? Ja, natürlich. Du kannst jederzeit nach oben gehen.“
„Eigentlich wäre es mir lieber, wenn du mitkommen würdest.“
„Meinst du nicht, dass Francis ein bisschen komisch gucken würde, wenn ich zu eurem Stelldichein auftauche?“
„Mag sein, aber ich glaube, ich grusele mich ein wenig allein auf deinem Dachboden. Außerdem kannst du dann die Wirkung seiner Stimme mal direkt erleben. Überhaupt, vielleicht erlebst du das ja ganz anders, als ich und wir kommen darüber ein bisschen weiter.“
Um kurz vor elf Uhr stellte Sally die leer getrunkene Flasche in den Abfalleimer in der Küche, lieh Gina einen Mantel, damit ihr auf dem Dachboden nicht kalt werde, und stieg dann mit ihr die Treppen hinauf. Wieder umfing Gina dieser eigenartige Geruch von feuchtem, kaltem Staub, der Geruch nach altem Holz, das schon lange nicht mehr gewachst worden war, die vielen geheimnisvollen Schatten, die mit dem Aufleuchten der nackten Glühbirne sogar noch zuzunehmen schienen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken und sie drückte Sallys Hand vor Schreck fester, als es in diesem Moment an der Piratentür klopfte. Dreimal kurz. Sally schloss schnell die kleine Tür auf und Francis kam hindurch gekrochen. Er stand auf, klopfte sich den Staub von den Hosen, nickte ihr verlegen zu und nahm dann Gina in den Arm. Fast hatte es so ausgesehen, als ob er in seiner Verlegenheit wieder ein Stückchen kleiner und grauer würde, aber in Ginas Armen war er für Sally im Vergleich zu dem alten Francis, den sie kannte, nicht mehr wiederzuerkennen.
„Lasst uns nach unten gehen, hier oben wird es mir zu kalt.“ Als sie sich schon abwandte, fiel ihr Blick noch auf einen kleinen Karton, den sie sich eben unter den Arm klemmte, bevor sie die Dachstiege hinabkletterte. Gina und Francis folgten ihr nach.
Im Wohnzimmer entstand eine etwas peinliche Pause, als die Verliebten Arm in Arm im Raum stehen geblieben waren, um sich versonnen in die Augen zu schauen und Sally, mit einer neuen Flasche Wein und einem zusätzlichen Glas bewaffnet, nicht an ihnen vorbeikam, aber eben auch nicht stören wollte. Doch dann sah sie den Kuss, den Francis Gina auf den Mund hauchte und für einen kurzen Moment schien auch Sally, dass der Winter aus den Räumen vertrieben worden war und laue Frühlingsluft sich ausbreitete. Fast konnte sie Vögel zwitschern und Bäche plätschern hören, vor ihrem inneren Auge erstrahlte eine Waldlichtung im Sonnenuntergang. Der Zauber war leider nur von kurzer Dauer und alle drei nahmen in den Sesseln Platz.
„Gina, gieß du doch bitte schon mal den Wein ein und Francis, für dich habe ich dieses hier, falls du das brauchen kannst.“ Sie pustete einmal über den staubigen Karton, öffnete ihn und entnahm ihm eine alte, kleine Schülertafel mit Kreide und Schwamm, die sie Francis in die Hand drückte.
Danke! schrieb er und nickte begeistert.
„Gern geschehen. Die wirst du eher brauchen als ich.“
Es schien Sally, als habe es ihrer Freundin im Moment die Sprache verschlagen. „Gina hat gerade von deiner Vorstellung heute Morgen erzählt. Das muss beeindruckend gewesen sein.“
Das war es wohl auch. Auf jeden Fall hat es geholfen.
„Ja, das hat es wirklich und ich habe mich heute Morgen noch gar nicht richtig bedankt.“ Gina strahlte Francis an und ergriff seine Hand.
Er nickte lächelnd und deutete mit der anderen eine Verbeugung an.
„Das heißt soviel wie: Gern geschehen!“
„Danke“, sagte Sally lachend, „aber da wäre ich auch ohne dich drauf gekommen. Sag mal, Francis, passiert so etwas jedes Mal, wenn du sprichst?“
Francis nahm die Kreide zur Hand: Das weiß ich nicht genau. Mama scheint das zumindest nicht so zu empfinden.
„Hmm“, brummte Gina. „Aber bei allen anderen, die dich hören, scheinst du diese Bilder auszulösen.“
Francis nickte.
Sally überlegte einen Moment, dann stand sie rasch auf, ging in die Küche und kam mit einer knittrigen Zeitung wieder, die sie an ihrem Oberschenkel glatt strich. Sie hielt Francis das Exemplar entgegen. „Wofür interessierst du dich am wenigsten?“
Politik! schrieb er zurück.
„Okay, warte einen Moment.“ Sie schlug die erste Innenseite auf, faltete das Papier einmal um und reichte es Francis, wobei sie mit dem Finger auf einen Absatz deutete. „Lies das!“
Ginas und Francis' Gesicht waren gleichermaßen einzige Fragezeichen, keiner von beiden hatte verstanden, worauf Sally hinaus wollte.
Gina wiederholte: „Ich möchte gern, dass du uns diesen Artikel laut vorliest.“
Francis begann, wenn auch immer noch mit einem erstaunten Gesicht, vorzulesen: „Der Premierminister weiht größten Trawler ein. Der Premierminister hatte sich heute Zeit genommen, um Englands neuestes und größtes Fangschiff in der königlichen Fischereiflotte einzuweihen. Er lobte die großen Anstrengungen, die das britische Volk aufgebracht hatte, um nach dem Großen Krieg die Nation wieder aufzubauen.“ Francis hielt inne und sah die beiden Frauen an, die schläfrig in ihren Sesseln hingen. Er deutete mit einer Geste an, ob er weiterlesen solle?
„Nein, nein“, sagte Sally sofort, „ich glaube, dass eines schon mal deutlich geworden ist. Die Wirkung deiner Stimme hat ganz offensichtlich etwas damit zu tun, was du dabei empfindest.“
„Genau! Es passiert unabsichtlich, ungesteuert“, nahm Gina den Faden auf. „Beim Vorlesen empfand ich nichts anderes als müde machende Langeweile, aber es hat sich hier in unserer Umgebung vom Aussehen her nichts verändert.“
„Das heißt“, spann ihre Freundin den Faden weiter, „wenn du starke Gefühle hast, kommen die auch in deinen Worten herüber, umgekehrt, wenn du mit deiner Mutter über Alltägliches sprichst, ist das übertragende Gefühl von dir wahrscheinlich so schwach, dass sie sich da dran gewöhnt haben dürfte. Noch ein Versuch: Sag bitte Gina, wie sehr du sie liebst.“
Francis wurde rot, doch dann stand er behände aus seinem Sessel auf, zog Gina zu sich hoch und nahm ihre Hände in die seinen. Dann sagte er schlicht: „Ich liebe dich!“
Wie Musik perlten die Worte durch den Raum. Eine Welle aus roten, gelben und goldenen Farbtönen flutete über das Zimmer und umspülte alles, was sie traf. Monströse Kettenglieder, die um Francis' Brust geschmiedet waren, zerplatzen bei den Worten zu Seifenblasen. Um beide herum bildete sich eine malerische, hügelige Wiesenlandschaft, durch die sich ein gerader Weg in die Sonne legte. Dann küsste er sie.
Sally saß erbleichend in ihrem Sessel. Das also ist Liebe.
… Wie kann man einen solchen Menschen nicht lieben.
Und während die Bilder langsam verblassten, die Konturen der Möbel wieder Gestalt annahmen und die Gegenstände selbst realer wurden, konnte Sally beobachten, dass ein bisschen was von Francis' Liebe auch in ihr zurückgeblieben war. Genau, wie Gina es ihr vorher beschrieben hatte, wirkten alle Farben gesünder und die Luft war wie ein reines Elixier.
Gina und Francis lösten sich voneinander, blieben aber sich an den Händen haltend voreinander stehen.
„Nun setzt euch schon!“ Sallys Stimme klang barscher, als sie eigentlich wollte, weil sie den kleinen Stachel des Neides nicht ignorieren konnte. Ganz bewusst atmete sie einmal tief durch und sagte sich: Sally, du hast hier gerade etwas ganz Besonderes erlebt! Du solltest dankbar für diese Erfahrung sein, die die meisten Menschen nie machen werden.
„Ich glaube, das war der Beweis!“, sagte Sally nun etwas versöhnlicher. „Jetzt sollten wir uns überlegen, was wir mit diesem Wissen anfangen können.“
Ich könnte so tun, als ob ich nicht sprechen kann. Dann könnte ich ja weiterhin schreiben und mich damit verständlich machen, schrieb Francis.
„Ich glaube, das kann keine Lösung für dich sein. Für dich wäre es doch wichtig, dass du deinen Eltern zeigen kannst, dass deine Fähigkeiten kein Risiko mehr für sie darstellen. Ansonsten glaube ich, dass sie auch in Zukunft eure Beziehung nicht besonders gut aufnehmen werden.“
„Vielleicht können wir irgendwie mit ihm trainieren?“, schlug Gina zaghaft vor.
Was trainieren?
„Also ich denke, dass du üben musst, so wenig Gefühl zu zeigen wie möglich. Stell dir doch mal vor, wie schön das wäre, wenn du dich einfach mal auf der Straße mit jemandem unterhalten könntest.“
Francis wirkte bestürzt. Ich soll mir meine Gefühle abtrainieren?
„Nein, so meinte ich das nicht. Ich meinte, dass es doch schön wäre, wenn du deine Gefühle nicht mit jedem Wort deutlich machen müsstest. Sondern nur, wenn du es wirklich willst. Du musst lernen, deine Gefühle in dir zu verstecken. Ich glaube, du hast eine wirkliche Begabung. Nur musst du diese Begabung bewusst einsetzen können, sonst nützt sie dir nichts.“
Nicht lange danach, es war für alle sehr spät geworden, gingen sie nachdenklich auseinander. Francis verließ das Haus über den Dachboden und Gina durch die Vordertür. Keiner von ihnen konnte in dieser Nacht wirklich gut schlafen.
Sally war noch lange in dem Teufelskreis gefangen, dass sie auf der einen Seite mit Gina eine echte Freundin gefunden hatte, auf der anderen, dass Sally von Francis gerade ein Bruchstück der Liebe zu kosten bekommen hatte, von dessen Reichtum sie nur träumen konnte.
Francis wälzte sich im Bett und kämpfte mit der Furcht, Gina zu verlieren, wenn er in Zukunft nicht mit ihr sprechen könnte. Gleichwohl hatte er Angst davor, wie er sich verändern würde, wenn er lernte, seine Gefühle zu kontrollieren. Er konnte sich gar nicht vorstellen, wie es wäre, wenn Menschen mit weniger Gefühlen leben müssten. Hatten Sie denn auch weniger Gefühle? Oder hatten sie nur nicht seine Fähigkeit, diese so zu zeigen? Außerdem spürte er, dass er sich irgendwann zwischen seinen Eltern und Gina entscheiden müsste. Die Unruhe ließ ihn nicht los.
Auch für Gina wollte der Schlaf nicht kommen. Sie liebte Francis so sehr und nach seiner Liebeserklärung war sie sich endlich seiner Gefühle für sie wirklich sicher. Doch in ihrem Kopf geisterte die Frage herum, welche Konsequenzen ihr Tun wohl haben würde. Konnten sie es wirklich schaffen, Francis zu einem vollwertigen Mitglied der Gesellschaft zu machen, oder würden Sie ihm nur eine weitere Enttäuschung bereiten? Drängte sie Francis vielleicht sogar in eine Richtung, die er nur ihr zuliebe einschlug? Vorläufig jedenfalls würde sich diese Frage erst einmal nicht stellen, da es für die Beiden auch weiterhin nur wenige Abende geben wird, an denen sie sich bei Sally treffen konnten.
Am nächsten Morgen brauchte Gina lange, bis sie die Grillen der Nacht nach dem Aufstehen verscheucht hatte. Von ihrem Bett linste sie unter der Gardine her nach draußen. Die dünnen Schleierwolken, die schon gestern zu sehen gewesen waren, hatten keinen Neuschnee gebracht und so schien die Sonne am Donnerstag aus einem strahlend blauen Himmel auf ein frosterstarrtes Städtchen herab. Die Temperaturen waren noch ein wenig weiter gefallen und in den ruhigeren, seitlichen Bereichen der Bucht und des Hafens breiteten sich erste Eisschleier auf dem Wasser aus.
Unter der Tür durchgeschoben fand sie einen Zettel:
Liebe Gina, ich liebe dich und ich werde für uns üben und lernen, wenn du mir hilfst. In Liebe Francis
Diese wenigen Zeilen rückten für Gina alle Zweifel beiseite, die sie gehabt hatte. Sie freute sich auf den neuen Tag und auf die entfernte Möglichkeit, Francis für die Dauer eines kurzen Kusses allein zu treffen.
Mit der Nachmittagspost bekam sie einen Brief von ihrer Mutter, in dem diese beiläufig in einem Nachsatz erwähnte, dass Ginas Exfreund Mark, wenn man den Gerüchten trauen durfte, seit Montagabend mit einem Nervenzusammenbruch in einem Sanatorium liege, dass aber niemand etwas Genaues wüsste. Angeblich sei er in London von einem Schaffner aus einem Zug geholt worden, weil er nur noch unzusammenhängende Sätze vor sich hinbrabbelte. Ob ihre Tochter davon schon gehört habe?
Gina fühlte sich ein bisschen hinterhältig, aber sie musste trotzdem grinsen. So schnell würde ihr dieser Kerl wohl nicht mehr gefährlich werden können.
Fast hätte sie den Briefumschlag schon ins Feuer geworfen, als sie zufällig auf die Rückseite blickte. Dort stand in schnell hingekritzelten Worten:
Sorry! Ich habe nicht gewusst, dass das Schwein mich nur benutzt hat, um an deine Adresse heranzukommen. Wanda
Das klare und frostige Wetter hielt auch noch die nächsten Tage an, sodass Gina am Samstagnachmittag wieder ihren geliebten Spaziergang unternehmen konnte. Für sie hätte die Welt kaum schöner sein können. Sie hatte ein Gefühl im Bauch, als fielen immer wieder Weihnachten, Ostern und ihr Geburtstag auf einen Tag zusammen. Sie konnte täglich mit dem Menschen zusammen sein, den sie am meisten liebte, und auch der Umgang der Drakes mit ihr wurde von Tag zu Tag natürlicher und familiärer. Sie hatten sogar ohne Nachfrage akzeptiert, dass Francis seit Neuestem immer mit einer kleinen Schiefertafel durch die Gegend lief, um sich damit besser verständlich zu machen als vorher mit seinen Gesten.
Den Samstagabend wollte sie erneut mit Sally verbringen und klopfte gegen acht Uhr bei ihr an die Tür, mit dem etwas flauen Gefühl im Bauch, dass die Stimmung bei ihrem letzten Abschied irgendwie leicht getrübt gewesen war, obwohl sie beim besten Willen nicht sagen konnte, warum sie dieses Gefühl hatte. Doch das flaue Gefühl löste sich schnell in Wohlgefallen auf, als Sally mit einem breiten Lachen die Tür öffnete.
„Schön, dass du da bist! Ich hatte schon Sorge, dass du heute nicht kommen wolltest, weil wir am Mittwoch nichts verabredet hatten.“
Gina grinste und hielt einen kleinen Topf in die Höhe. „Hast du Appetit auf Roastbeef mit deutschen Knödeln? Mrs. Drake hat für heute Abend viel zu viel vorbereitet und hat mich gefragt, ob wir das nicht zusammen essen wollen.“
„Prima, gute Idee. Ich hatte heute so viel mit Mutter um die Ohren, dass ich gar nicht dazugekommen bin, richtig etwas zu kochen.“
Dieses Mal setzten sie sich an den Küchentisch und, während Sally auf dem alten Gasherd das Essen erwärmte, schaute ihr Gina zu und fühlte, dass der freundschaftliche Funke zwischen ihnen sofort wieder übergesprungen war.
„Darf ich dich etwas Persönliches fragen?“
Sally drehte sich beim Rühren halb um. „Ja, natürlich.“ Trotzdem merkte man an der plötzlichen Anspannung in ihren Schultern, dass sie jetzt etwas Unangenehmes erwartete.
„Du sahst am Mittwoch so aus, als hätte dich bei unserem Kuss eine Keule niedergestreckt. Hast du dich auch in Francis verliebt?“
Für ein paar Augenblicke hing eine fast greifbare Stille zwischen ihnen im Raum.
„Die Antwort ist nein!“ entgegnete Sally. „Aber das ist schwierig zu beschreiben: Du hast ja auch gefühlt, dass Francis seine gesamte Liebe in diese drei Worte gelegt hat. Und nicht nur dich hat das verzaubert, sondern natürlich habe ich diese Gefühle auch gespürt.“
Sie hielt mit dem Rühren inne und schob dann den Topf vom Feuer. Dann sagte sie mit belegter Stimme: „Und obwohl du mir vorher von der Wirkung seiner Worte erzählt hattest, war es doch so viel mehr, als ich jemals vorher erlebt habe. Ich meine, man vergießt schon mal ein paar Tränen im Kino, wenn eine Liebesszene so richtig schön ist, aber ich hatte noch nie erlebt, dass mir jemand diese Gefühle direkt ins Herz pflanzt.“
Allein bei der Erinnerung daran begannen, Sally wieder Tränen über das Gesicht zu laufen. Und leise ergänzte sie: „Und ich habe diese Gefühle nicht nur nachempfinden können, sondern ich habe sie in diesem Moment selbst gespürt.“
Auch Gina waren bei diesen Worten die Tränen gekommen, sie sprang auf, brachte dabei ihren Stuhl fast zu Fall, kümmerte sich jedoch nicht darum, sondern nahm Sally nur in den Arm. Minutenlang hielten sie sich fest, bis Sally sich langsam löste und über ihr tränennasses Gesicht wischte.
„Aber wie bei allen Gefühlen, die Francis aussendet, hat sich dieses natürlich auch wieder gelegt.“ Sally schniefte. „Nur so ein kleiner Rest sitzt noch in meiner Brust und dieser Rest zeigt mir, wie schön die Liebe sein kann, und wie sehr ich so etwas auch einmal erleben möchte.“
„Das ist lieb, dass du das sagst. Ich würde so gerne weiterhin Deine Freundin bleiben, wenn dir das möglich ist. Und ich hoffe inständig, dass du auch so eine Liebe finden wirst.“
Sally drückte Gina noch einmal fester als zuvor an sich. „Natürlich möchte ich, dass du meine Freundin bleibst. Du bist mir in den letzten Wochen so wichtig geworden wie kaum ein anderer Mensch!“
„Das macht mich sehr glücklich!“
Nachdem sie sich wieder voneinander lösen konnten, aßen sie gemeinsam die mitgebrachte Mahlzeit, die ihnen wie ein Festschmaus erschien, und besprachen nur noch unverfängliche Themen. Erst bei einer Flasche Wein, die sie im Wohnzimmer tranken, kam das Gespräch ganz natürlich auf Francis zurück.
„Hast du dir schon Gedanken gemacht, wie du dir das Training von Francis vorstellst?“
„Nein“, sagte Gina. „Aber ich habe mir gedacht, dass es doch erst einmal besonders wichtig wäre, dass Francis lernt, wie er seine Gefühle im Zaum halten kann. Ich will damit nicht sagen, dass er jetzt keine Gefühle mehr haben darf, aber er muss lernen diese Gefühle beim Sprechen zu kontrollieren.“
„Ich glaube, ich weiß, was du meinst. Was willst du tun?“
„Ich vermute, es wäre das Beste, wenn ich ihm ein paar Texte zum Lesen gebe, die ihm völlig gleichgültig sind, so wie dein Zeitungsartikel. Dann bekommt er vielleicht auf die Dauer ein Gefühl dafür, wie es ist, wenn er nicht seine ganzen Emotionen in seine Sprache legt. Und wenn das funktioniert, können wir das hinterher auch mit freier Rede üben.“
Sally goss beiden noch ein Glas Wein ein. „Das ist anspruchsvoll, aber so könnte es funktionieren. Was meinst du, welche Texte können wir nehmen?“
„Keine Ahnung!“ Gina zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, dazu werde ich ihn selbst fragen. Ich hätte wahrscheinlich irgendeine Biografie oder so etwas Langweiliges herausgesucht.“
Sally kicherte. „Genau! Neben Physiklehrbüchern ist so ziemlich das Langweiligste, was in der Bücherei herumsteht. Wann wollen wir weitermachen?“
„Ich weiß nicht genau. Auch danach möchte ich Francis erst einmal fragen, schließlich weiß er am ehesten, wann er sich zu Hause entfernen kann, ohne dass es einer merkt. Im Zweifelsfall würde ich davon ausgehen, dass wir am nächsten Mittwoch weitermachen. Wäre das in Ordnung für dich?“
„Na klar! Jederzeit! Du musst mir nur rechtzeitig Bescheid sagen, damit ich meine Weinvorräte ergänzen kann.“
„Das ist schön! Und es ist noch schöner, dass ich dich als Freundin gefunden habe.“
„Ja, das sehe ich genauso.“
In viel zu kurzer Zeit war es wieder Mitternacht geworden und die beiden Freundinnen mussten ihr Gespräch für diesen Abend beenden. Schnell huschte Gina durch die eiskalte Nachtluft zum Seiteneingang des Pubs. Dabei bemerkte sie im letzten Moment den schwachen Schein einer Glühbirne, der durch einen kleinen Türspalt des Schuppens fiel. Schnell machte sie noch den kleinen Umweg, um das Licht zu löschen und den kleinen Anbau wieder zu verschließen.
Sie hatte sich schon so sehr daran gewöhnt, dass sie ganz selbstverständlich den Eingang für die Familie benutzte. Im Flur hockte Francis wieder auf der Bank und spähte durch das Loch in der Wand. Verblüfft blieb Gina stehen.
Als hätte er ihre Gegenwart gespürt, winkte er sie ohne sich umzusehen herbei, sah sie erst an, als sie schon neben ihm auf der Bank kniete und deutete auf das Loch. Gina musste sich ein wenig recken, um an das Loch heranzukommen und Francis stützte ihr mit der Hand den Rücken, doch dann konnte sie hindurchblicken.
Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber jedenfalls nicht das, was sie jetzt zu sehen bekam. Mr. Drake, der Reverend, Tom, der große Hüne, den sie schon mehrfach in der Gaststube gesehen hatte, das Pärchen mit dem Fotokoffer, das sie offensichtlich fälschlicherweise für Touristen gehalten hatte, und die beiden streitenden Fischer saßen einmütig rund um den großen Tisch in der Mitte des Raumes, an dem noch genau ein Platz frei war. Mr. Drake hatte alle Lampen bis auf den großen Leuchter über dem Tisch abgeschaltet, sodass sich das ganze Geschehen wie von allein auf dieses Zentrum konzentrierte. Mrs. Drake trat ein, trug ein paar volle Gläser zum Tisch und setzte sich auf den letzten freien Platz. Zu ihrem Bedauern konnte Gina kein Wort von dem verstehen, was am Tisch gesagt wurde.
„Das Spiel!“, sagte Francis leise hinter ihr und urplötzlich verwandelte sich die Umgebung im Speisesaal wie durch ein Wunder. Das ganze Zimmer veränderte sich zu einem riesigen Raum, die Tische und Stühle wuchsen zu Wänden eines Labyrinths, die dunkel und geheimnisvoll, geradezu bedrohlich um den Tisch mit den Spielern aufragten. Unter der Decke kreisten drachenartige Wesen, die versuchten, feuerspuckend die Spieler anzugreifen. Das Licht der Flammengarben zuckte über die Wände und beleuchtete die Szenerie wie im Innern eines Vulkans. Selbst die Spieler hatten sich enorm verändert. Sie waren zu Schwert schwingenden Rittern, Axt schleudernden Zwergen, zaubernden Magiern und ängstlichen Gauklern geworden, die versuchten mit Schwertern, Zauberstäben, Bleistiften und riesigen Würfeln sich der Drachen zu erwehren.
Gina war sich darüber im Klaren, dass alles, was sie nebenan sah, nur in der Fantasie von Francis geschah, aber eine bessere Beschreibung des Spieles hätte sie als ersten Eindruck vermutlich von niemandem bekommen können. Doch trotz dieser eindrucksvollen Bilder hatte sie noch immer keine Vorstellung davon, was genau nebenan passierte. Wie wurde dieses Spiel gespielt?
...und er umfing sie mit seiner wortlosen Wärme. Müdigkeit legte sich bleiern über ihre Augen und sie hätte selbst in dieser ungemütlichen Haltung, auf einer Bank im kalten Hausflur kniend einschlafen können, da sie doch wusste, das Francis sie halten würde. Sie schüttelte kurz ihren Kopf, dass ihre Haare durch die Luft flogen, drehte sich zu Francis um und gab ihm einen langen Kuss. Dann sagte sie: „Ich muss ins Bett, Francis. Bitte entschuldige, aber mir fallen jeden Moment die Augen zu.“
Er bedeutete ihr, dass er sie zum Zimmer begleiten wolle, indem er mit der Hand den kurvigen Weg nachführte, aber sie schob ihn leise lachend von sich.
„Und was würde deine Mutter sagen, wenn sie uns genau in dem Moment zusammen auf der Treppe sieht?“
Sie gab ihm noch einen Kuss, wand sich aus seiner spielerisch festen Umarmung und sagte Gute Nacht. Er warf ihr noch einen Handkuss nach, dann beugte er sich wieder zu dem Loch in der Wand.
Den Sonntagmorgen begann Gina um sieben Uhr früh damit, vor Kälte schnatternd den Kamin anzuheizen und die Eisblumen vom Fenster zu wischen. Draußen tat sich eine wunderschöne Winterlandschaft auf. Es hatte nachts noch einmal stark abgekühlt, sodass die restliche Luftfeuchtigkeit wie Eiskristalle herab geschneit war und sich wie ein unberührter Flaum gleichmäßig über alles gelegt hatte. Das Wasser im Hafen war in den letzten Tagen so ruhig gewesen, dass sich eine dünne Eisschicht gebildet hatte, die jetzt ebenfalls zugeschneit war, nur von der Fahrrinne schlugen die kleinen Wellen noch auf das Eis und bildeten einen immer dicker werdenden Panzer. Es war wie der Traum einer Eisprinzessin.
Schnell vertrieb das brennende Feuerholz die kalte Luft, und bevor Gina sich noch einmal wieder in das warme Bett kuscheln konnte, erinnerte sie sich an die Aufgabe, die sie sich gestellt hatte: Sie musste eine geeignete Lektüre für Francis finden, in die er, so hoffte sie, keine Emotionen legen konnte. In dem kleinen Bücherregal, das sich in jedem anderen der Gästezimmer auch fand, stand allerdings nichts, was ihren Ansprüchen gerecht werden konnte. Es waren alles Krimis, Liebesromane oder aufregende Abenteuergeschichten, die vermutlich aus uralten Beständen der Drakes selber stammten. Sie würde noch einmal an anderer Stelle suchen müssen.
Noch vor dem Frühstück hatte sie endlich ein Buch gefunden. Es war zwar keine Autobiografie, würde aber für Francis ähnlich spannend sein: „Über das Schreiben“ von Nikolaus Ruschel.
Schon beim Frühstück selbst hatte sie unerwartet die Gelegenheit Francis in ihren Plan einzuweihen und ihm das Buch zuzuschieben, da seine Eltern es nach der langen Nacht nicht geschafft hatten rechtzeitig aufzustehen. „Du solltest das Buch laut lesen, Francis. Achte auf das, was du fühlst und versuche beim Lesen nichts zu empfinden, dein Hirn richtig freizumachen.“
Wie lange soll ich das machen?, schrieb er mit einem komisch verzweifelten Gesichtsausdruck.
„Na, bis du Erfolg hast.“
Er stöhnte.
„Wollen wir uns Mittwoch wieder bei Sally treffen? Wir können dann ja mal schauen, was du schon geschafft hast.“
Er nickte schicksalsergeben und ließ das Buch flugs in seiner Tasche verschwinden, als er seine Eltern die Treppe herunter kommen hörte. Diese gähnten herzhaft und hatten noch ungewöhnlich kleine Augen, waren aber bereit den Tag in Angriff zu nehmen.
Die Tage bis zum Mittwoch verliefen außerordentlich gleichförmig, wenn man einmal von der Tatsache absah, dass schon am Dienstagabend Francis mit einem stolzen Lächeln zur Arbeit erschien. Ich habe es vorhin das erste Mal geschafft!, schrieb er auf seine Schiefertafel und Gina nickte ihm unauffällig, aber aufmunternd zu.
Am Mittwochmorgen tätigte sie dann noch schnell ein paar Einkäufe, bevor sie sich in die Bücherei begab. Ein paar Bücher wollten umgetauscht werden und außerdem hatte sie noch eine nette kleine Idee, wozu sie als Erstes die Kinderbuch-abteilung aufsuchte.
Am Nachmittag konnte Gina einfach nicht mehr still dasitzen und nur abwarten, wie die Zeit vergehen würde. Sie zog sich ihre wärmsten Kleidungsstücke an und machte sich auf den Weg zum Weihnachtskerzengucken, wie sie es bereits nannte. Der Weg an der Mole entlang und am Hafen vorbei reichte schon, bis die Sonne soweit hinter dem Hügel verschwunden war, dass es dunkel wurde. Sie verharrte eine Weile am äußersten Rand und betrachtete liebevoll die kleine Stadt, in deren Fenstern es immer häufiger aufleuchtete, wenn die Weihnachtskerzen entzündet wurden. Sie konnte nicht anders, als diese Stadt und ihre Bewohner zu mögen, denn sie war erfüllt von so viel Liebe, dass sie das Gefühl hatte, vor Glück schier platzen zu müssen.
Um sich warm zu halten, ging sie wieder mit langen Schritten auf die Stadt zu, und als sie in die Churchlane einbog, schlich sich ein erstes Weihnachtslied auf ihre Lippen. Erst summte sie vergnügt vor sich hin, dann begann sie sogar leise zu singen. Die Welt war schön und es war nur noch eine halbe Woche bis zum ersten Advent.
„Guten Abend, Gina.“ Aus der Einmündung von The Mall kam Reverend Hummingworth auf sie zu und beobachtete sie fröhlich. Auch er hatte sich mit einem langen Mantel und Mütze gegen die Kälte gewappnet und zog sein rotes Stundenbuch mit seinen nackten, blaugefrorenen Fingern fast vollständig in den Ärmel hinein.
„Guten Abend, Reverend.“ Gina blieb auf seiner Höhe stehen.
„Sie können gerne weitersingen, ich höre das sehr gerne.“
Sie lachte. „Ja, das glaube ich. Aber eigentlich habe ich gar nicht selber gesungen, es hat mich eigentlich mehr gesungen.“
„Es freut mich, dass es Ihnen hier gut geht. Darf ich mich Ihnen für ein paar Schritte anschließen?“
„Natürlich.“ Gemeinsam gingen sie weiter die Churchlane entlang in Richtung Kirche. „Wo kommen Sie jetzt her?“
„Ich musste einem Gemeindemitglied Trost spenden, bei dem ein Elternteil verstorben ist.“ Wie zum Beleg hob er ein wenig die Hand mit dem gerade noch sichtbaren roten Stundenbuch. „Und Sie, wenn ich so neugierig fragen darf?“
„Dürfen Sie. Heute ist doch bei uns Ruhetag und ich mache einen Spaziergang, genieße die Ruhe und schaue mir die beleuchteten Fenster an.“
„Ja, das kann man wirklich genießen. Gelobt sei der Mensch, der für diese kleinen Wunder ein Auge hat.“ Sie waren mittlerweile schon fast auf Höhe der Mainstreet angekommen.
Gina errötete leicht. „Ja, das ist alles sehr schön hier. Ich freue mich, dass es mich hierher verschlagen hat, auch wenn ich noch nicht viele Menschen kenne.“
„Das wird schon noch. Die Leute hier brauchen eine Weile, bis sie sich gegenüber Fremden öffnen. Haben Sie Geduld.“ Sie waren bereits vor dem Pfarrhaus angekommen, das etwas versetzt hinter der Kirche stand. "Möchten Sie noch auf eine Tasse Kakao mit hineinkommen?“
Gina zögerte nur kurz. „Ja, warum nicht.“
Gemeinsam betraten sie den kleinen Vorflur, hängten ihre Mäntel an die Haken und betraten den warmen Hauptflur, in dem ein mächtiger Kachelofen für Wärme im ganzen Haus sorgte. Zu allen Zimmern hin standen die Türen offen. Der Pastor legte das Stundenbuch auf einen kleinen Beistelltisch im Flur und geleitete Gina in die Küche.
„Bitte nehmen Sie Platz. Ich werde sofort mit dem Kakaokochen beginnen.“ Er dirigierte sie zu einem Esstisch, der durchaus einer Gemeinderatssitzung ausreichend Platz geboten hätte. Die hintere Hälfte davon war allerdings schon mit Briefen, Zeitungen, Büchern und einer Schreibunterlage belegt. Der Reverend bemerkte ihren schnellen Blick und sagte entschuldigend: „Im Winter arbeite ich lieber in der warmen Küche. Hier ist es viel gemütlicher und wärmer, als in meinem Arbeitszimmer. Und außer meiner Putzfrau stört es ja auch niemanden.“
Gina lächelte ertappt. „Das ist kein Problem, mich stört das nicht.“ Plötzlich schoss ihr eine Erinnerung durch den Kopf. „Sagen Sie, Reverend, wenn ich so vermessen sein darf zu fragen?“
„Ja?“ der Reverend rührte gleichmäßig in dem Milchtopf auf dem Herd.
Sie deutete vage in Richtung des Flures. „Haben Sie eigentlich zwei Stundenbücher?“
Reverend Hummingworth sah sie kurz erstaunt an und rührte dann weiter in seinem Topf. „Nein, ich habe nur das eine.“ Er schmunzelte. „Wollten Sie sich eines ausleihen? Da könnte ich Ihnen eine Bibel anbieten. Davon habe ich durchaus mehrere.“
„Nein danke, das meinte ich nicht.“ Gina wand sich ein wenig und fragte sich, wie sie eben so töricht gewesen sein konnte dieses Thema anzusprechen. „Ich frage nur, weil Sie letztens, als ich Sie Samstagabend gesehen hatte, ein schwarzes Stundenbuch dabei hatten. Erinnern Sie sich? Sie kamen gerade die Churchlane herunter.“
Reverend Hummingworth zuckte zusammen und starrte kurz vor sich an die Wand. Die Milch im Topf nutzte diesen unbeobachteten Zeitpunkt um sich der Oberkante zu nähern, doch der Reverend nahm, ohne hinzusehen, den Topf vom Feuer und drehte die Flamme aus. Wortlos rührte er Kakao und Zucker hinein und trug das Ganze mit zwei großen Tassen zum Tisch. Gina konnte das Schweigen in der Küche fast nicht mehr ertragen.
„Da haben Sie mich erwischt.“ Er lächelte zaghaft und Gina stieß langsam den Atem aus, den sie unbewusst angehalten hatte. „Sie haben natürlich recht, das war kein Stundenbuch und ich habe auch keine Hausbesuche gemacht.“
Gina schwieg weiterhin, weil ihr nicht einfallen wollte, was sie zu dieser Eröffnung sagen konnte. Ein bisschen tat ihr der Reverend in diesem Moment leid, denn sie merkte, dass ihm das Thema unangenehm war.
„Bitte entschuldigen Sie die neugierige Frage. Es geht mich ja auch gar nichts an.“
Er lächelte. „Nein, nein, das ist völlig in Ordnung. Und es ist auch gar kein Geheimnis, wenn ich auch zugeben muss, dass ich damit nicht unbedingt hausieren gehe. Ich war an dem Samstag bei Ihnen im Pub und das Buch, das ich dabei hatte, war dieses.“ Er angelte ein ähnlich kleines, schwarz gebundenes Buch von der Fensterbank. Ritter & Magier stand in schlichten Goldlettern darauf.
„Was ist das?“, fragte sie wissbegierig.
„Die Antwort darauf ist eigentlich ganz einfach und doch auch recht kompliziert.“
„Ja?“
„Sie haben ja schon mitbekommen, dass mein katholischer Kollege so gegen das Spielen im Ort wettert.“ Gina nickte nur. „Dabei geht es im Wesentlichen um dieses Spiel.“ Er deutete auf das Buch.
Gina hatte noch nicht das Gefühl, viel schlauer geworden zu sein. „Darin ist ein Spiel?“ Sie erinnerte sich an das, was sie durch das Guckloch gesehen hatte. „Ist das eigentlich ein Glücksspiel, oder so etwas Verbotenes?“
Der Pastor lachte. „Nein, nein. Ganz im Gegenteil. Dabei kann niemand etwas gewinnen, außer dass alle Mitspieler viel Spaß haben können. Ich will Ihnen das kurz erklären: Alle Mitspieler spielen jeweils eine Figur, zum Beispiel Ritter, Magier, Zwerg oder so etwas. Das Ganze spielt in einer Fantasiewelt, die, je nach Geschichte, ganz unterschiedlich ausgestattet sein kann. Sie kann aussehen wie unser Mittelalter oder wie bei den Römern oder ganz frei erfunden. Der Fantasie sind da keine Grenzen gesetzt. Die Mitspieler agieren alle zusammen in einer Gruppe und müssen kniffelige Aufgaben lösen, die ihnen der Spielmeister, das bin in meiner Gruppe ich, ihnen stellt. Dabei gibt es keine vorgefertigten Situationen, sondern die Mitspieler versuchen, die Aufgaben mithilfe ihrer spezifischen Fähigkeiten und mit Ideenreichtum zu lösen.“
„Das hört sich sehr spannend an.“
„Ist es auch. Es macht viel Spaß und ein Spiel kann sich problemlos über viele Wochen hinziehen.“
„Und was kann daran der katholische Priester nicht leiden?“
„Oh, das ist ein ganz konservativer Kollege, der meint, dass jede Tätigkeit, die in der Freizeit nichts mit der Kirche und dem Glauben zu tun hat, sondern vielleicht sogar noch die Menschen zum Nachdenken bringt, zwangsläufig Teufelswerk ist.“
Gina atmete endgültig auf. „Also ich kann daran nichts Verwerfliches erkennen. Und Sie brauchen keine Sorge zu haben, ich werde Sie nicht bei Ihren Gemeindemitgliedern verraten.“
„Vielen Dank.“ Gemeinsam ließen sie sich ihren Kakao schmecken.
… bei Reverend Hummingworth aufgehalten und dabei mit Freuden festgestellt, dass er ihr ein mehr als angenehmer Gesprächspartner war. Obwohl sie selbstverständlich das Thema Francis ausklammerte, denn dafür war der Pastor zu eng mit den Drakes verbunden. So konnte sie nur wenig von ihrer Arbeit und ihrer neuen Freundschaft zu Sally erzählen, während er, ohne indiskret zu werden, einige Anekdoten zum Besten geben konnte.
Sie war aber rechtzeitig genug zu Hause, um pünktlich um acht Uhr mit einem Topf Fleischpastete in der Hand das Haus zu verlassen und ihre Freundin zu besuchen. Gemeinsam mit Sally konnte sie dann nur noch warten, bis Francis sich zu Hause gefahrlos auf den Weg über den Dachboden machen konnte.
„Ich habe heute den Reverend getroffen und mit ihm Kakao getrunken. Ein wirklich netter Mann. Wenn ich ein bisschen religiöser wäre, würde ich wahrscheinlich schon wegen ihm sonntags in die Kirche laufen.“
Sally sah sie gespielt vorwurfsvoll an und Gina musste lachen.
„Es ist nicht so, wie du denkst. Ich stelle mir nur genau so einen Seelsorger vor.“
„Da hast du recht, er ist sehr nett. Schade, dass er Anglikaner ist. Er wäre ein viel besserer Hirte als Pfarrer Mirtow.“
Sally hatte der Einfachheit halber die Piratentür offen gelassen, damit Francis direkt zu ihnen ins Wohnzimmer kommen konnte. In ihrer erwartungsvollen Anspannung glaubten die beiden Frauen immer wieder Geräusche von oben zu hören, die sich aber immer wieder nur als Ausgeburten ihrer Fantasie herausstellten oder aus den Nachbarhäusern herüberschallten. Aber endlich waren es doch noch Francis' Trittgeräusche auf der Treppe, die den Weg in das Wohnzimmer fanden.
Sorry! Dad hatte gerade heute den Wunsch das alte Gerümpel aufzuräumen.
„Kein Problem, wir haben uns bisher gut unterhalten.“ Sally drückte Francis grinsend eine Flasche Bier in die Hand.
Über mich?
„Nicht nur! Ich habe mich heute länger mit dem Reverend unterhalten. Das war sehr nett“, gab Gina schmunzelnd zur Antwort.
Der ist viel zu alt für dich!
„Zum Küssen habe ich ja dich!“ Gina grinste frech. „Also zeig uns, was du kannst.“
Mit einem Hochziehen der Augenbrauen angelte Francis das abgegriffene Buch aus der Tasche und begann zu lesen. Völlig konzentriert auf die Aufgabe, seinen Kopf von Gefühlen frei zu halten, las er Zeile um Zeile ohne Punkt und Komma. Nach zwei Seiten brach er ab, um seine Kehle zu befeuchten und musste zu seinem Entsetzen feststellen, dass beide Zuhörerinnen eingeschlafen waren. Ohne zu zögern, nutzte er die Gunst der Stunde. Zärtlich küsste er Gina wach, die das erst mit Hingabe genoss und dann Sally aus ihren Träumen rüttelte.
„Was ist los? Was ist passiert?“ Sally setzte sich im Sessel auf.
„Es war Francis“, antwortete Gina glucksend. „Er hat so emotionslos gelesen, dass er nur noch einschläfernd langweilig war. Mit dem Mann an seiner Seite braucht man keine Schlaftabletten mehr“, frotzelte sie.
Francis war zwar enttäuscht über die Wirkung, musste aber trotzdem schmunzeln. Was mache ich falsch?
Gina überlegte. „Ich glaube, es war schon sehr gut, wie du deine Gefühle herausgehalten hast, aber leider bist du komplett ohne jede Betonung durch den Text gerast.“
Sally fügte hinzu: „Das muss dann wohl den umgekehrten Effekt gehabt und Gefühle ausgelöscht haben. Es hat für uns alles, was wir wahrnahmen, extrem langweilig gemacht und deshalb werden wir eingeschlafen sein.“
„Das glaube ich auch. Versuche ihn noch mal mit normalen Betonungen zu lesen.“
Francis sah sie zweifelnd an, dann machte er sich an die Arbeit. Er las langsamer und achtete besonders auf die Modulation und zu seiner nicht geringen Freude, half ihm das sogar dabei, sich nicht auf den Inhalt des Textes zu konzentrieren, sondern nur auf die Sprache.
„Das war sehr viel besser.“ Gina war begeistert und gab Francis einen Kuss. „Wenn das weiterhin so gut läuft, hast du es bald geschafft.“
Das glaube ich nicht, denn wenn ich spreche, muss ich mich ja doch wieder auf den Inhalt konzentrieren und nicht so sehr auf den Satzbau.
„Wir werden sehen. Das ist erst der nächste Schritt. Erst einmal sollten wir hier weitermachen.“
Und sie fuhren fort. Immer wieder las Francis aus dem Buch vor, bis ihnen schließlich nicht mehr von seiner Stimme, sondern von der späten Stunde die Augen zufielen. Zum Abschied gab Gina Francis vor dem letzten Kuss noch das Buch, das sie in der Bibliothek gefunden hatte.
„Das Vorlesen hat so schnell so gut geklappt, dass ich dir dieses Buch zum Weiterüben geben möchte.“
Ein Märchenbuch?
„Ja, ein Märchenbuch. Ich dachte mir, dass du vielleicht schon so weit bist, dass du auch etwas mit ein wenig mehr Emotionen lesen kannst.“
Francis brach in Gelächter aus und der ganze Raum klang für ein paar Minuten wie verzaubert von Tausenden Glocken, die alle ihre eigene Melodie schlugen.
Am Donnerstagmorgen waren Francis und Gina darum bemüht mit ihrer Müdigkeit nicht aufzufallen, was ihnen aber ausgesprochen schwerfiel. Erst die Nachmittagspause gab ihnen die Kraft zurück, die sie am Abend brauchen würden.
Außerhalb des Pubs beeinträchtigte der anhaltend starke Frost zunehmend die Arbeitsmöglichkeiten der Fischer. Diese hatten schon damit begonnen, abwechselnd mehrmals am Tag durch die Bucht und das Hafenbecken zu fahren, um, so lange wie möglich, die derzeit noch dünne Eisdecke immer wieder aufzubrechen. Doch der Preis für Diesel war wegen des Ölmangels extrem gestiegen, sodass einige von ihnen sich diese zusätzlichen Fahrten, die nichts einbrachten, eigentlich gar nicht mehr leisten konnten.
Am Abend waren sie deshalb reizbarer und rechtschaffen müde, sodass der Umgangston spürbar rauer wurde. Doch Gina hatte dafür volles Verständnis und schenkte die Schnapsgläser etwas höher ein, Francis heizte den Kamin noch stärker und Mr. Drake dachte ernsthaft darüber nach, ob er überhaupt noch am Nachmittag den Pub schließen solle, damit er die Männer nicht mehr in die Kälte nach Hause schicken musste. Mit Constable Gordon würde er schon fertig werden, aber er hatte nicht mit seiner Frau gerechnet.
„Das kommt nicht infrage!“, entgegnete Mrs. Drake, als er ihr den Vorschlag machte. „Wenn du das machst, zettelst du hier einen Aufstand der Ehefrauen an, die ihre Gatten sonst gar nicht mehr zu Gesicht bekommen!“ Und damit war die Idee wieder vom Tisch.
Am Freitag schob Francis Gina mit frohgemuter Miene einen Zettel zu: Wann soll ich dir vorlesen? Heute in der Pause?
Sie blickte sich verstohlen um, und als sie sehen konnte, dass niemand sie beobachtete, nickte sie und sagte: „Triff mich im Bürgerpark an der anglikanischen Kirche.“
Er deutete mit fragendem Gesichtsausdruck ein Stockwerk höher in Richtung ihres Zimmers, doch Gina sah ihn erschrocken an. „Bist du verrückt, Schatz! Was, wenn uns jemand erwischt, wie du auf meinem Zimmer bist. Wie sollen wir denn das erklären?“
Francis nickte resigniert aber zustimmend, gab Gina noch einen schnellen Kuss, bevor sie die Vordertür aufschloss und fortfuhr den Whisky im Regal aufzufüllen.
Am Nachmittag war Francis dann mit dem Auto zum Einkaufen gefahren. Er wolle schon mal nach Geschenken Ausschau halten, hatte er seiner Mutter erklärt, und Gina brach zu Fuß in die andere Richtung auf. Sie begann den Weg wie ihren üblichen Spaziergang an der Mole entlang und stieg dann wieder die Churchlane hoch, bis sie zur Kirche kam.
Reverend Hummingworth saß an seinem Küchenfenster und sah versonnen nach draußen, während er über einer besonders verzwickten Stelle der Bibel brütete, die er gerne am Sonntag erläutern wollte. Sein Gesicht hellte sich für kurze Zeit auf, als er Gina sah, die sich näherte, ihm freundlich zuwinkte, dann aber leider nicht seine Haustür ansteuerte, sondern in Richtung Bürgerpark abbog. Unbewusst folgte er mit einem sehnsüchtigen Blick ihren Schritten, denn ihr Anblick brachte immer ein wenig Sonne in sein Herz. Für ihn war Gina etwas ganz Besonderes. Sie war zwar sehr zurückhaltend, aber auch selbstbewusst und hatte Initiative, wollte noch etwas vom Leben und setzte sich für Andere ein, doch leider konnte er ihr ohne Mühe ansehen, dass sie schon vergeben war, auch wenn Sie davon bisher noch nichts hatte erzählen wollen. Er seufzte und fuhr dann wieder mit der Arbeit fort.
Francis hatte in der Zwischenzeit den alten Wagen am Bahnhof geparkt und war die paar hundert Meter zu Fuß zum Park gekommen, um nicht aufzufallen. Er setzte sich hinter das Kriegerdenkmal in die Sonne, die sein Gesicht in diesem geschützten und nur schwer einsehbaren Winkel des Parks angenehm erwärmte. Nur aus Ginas Richtung konnte man ihn schon sehr gut erkennen und sie freute sich über den Anblick, den er bot. Beim Näherkommen trat sie besonders leise auf und schlich sich geradezu an ihn heran, bis sie direkt hinter der Bank stand, auf der er mit geschlossenen Augen saß.
Dann küsste sie ihn zärtlich auf den Mund.
Einen kurzen Moment erschrak er und riss die Augen weit auf, doch er entspannte sich sofort und zog Gina während des Kusses um die Bank, bis sie halb neben ihm saß, halb in seinem Schoß lag. Diese Minuten dehnten sich nach Ginas Empfinden bis ins Unendliche aus, soviel Glück hatte sie noch nie empfunden.
Sie blieb in der Haltung liegen. „Hallo, mein Schatz.“
Er strahlte sie an.
„Du wolltest mir etwas zeigen?“
Er bedeutete ihr, dass sie ihn nicht so drängen solle, er werde schon anfangen, wenn er soweit sei.
„Ich meine nur“, sagte sie schmunzelnd, „wenn ich noch mehr solche Küsse bekomme, ist unsere Nachmittagspause zu Ende, bevor du angefangen hast.“
Er machte ein gespielt resigniertes Gesicht und zog das Märchenbuch aus der Tasche. „Tischlein deck dich“, begann er und las die wenigen Seiten flüssig vor.
„Ich bin beeindruckt!“ Gina setzte sich auf und sah ihn voller Bewunderung an. „Du hast das Klassenziel viel früher erreicht, als ich erwartet hätte. Es war toll betont und ich habe nichts Ungewöhnliches gespürt, außer dass mir langsam kalt wird.“ Sie kicherte.
Doch er zog sie wieder in seinen Schoß, küsste sie und bedeutete ihr dann liegen zu bleiben. Gina sah ihn voller Erwartung an. Ich habe auch geübt, nur ganz gezielte Bilder über meine Gefühle zu projizieren, schrieb er auf seine Tafel und begann mit Aschenputtel.
Wieder lauschte sie seinen Worten und beobachtete genau die Umwelt, die sich überhaupt nicht veränderte. Doch dann flog plötzlich eine kleine Schar Tauben aus dem Himmel auf sie herab und begann sie flatternd und gurrend zu umkreisen. Sie pickten Körner aus dem Schnee, die Gina vorher gar nicht aufgefallen waren. Das Licht der Sonne wurde heller und wärmer und ein maigrüner Schimmer legte sich über das kalte Weiß. Gina war wie verzaubert, und auch als Francis aufhören musste, weil ihnen langsam die Zeit davon lief, hielt die Wirkung noch minutenlang an.
„Das, das, das war unglaublich!“ Gina konnte vor Begeisterung nur noch stottern. Sie umarmte Francis stürmisch. „Ich glaube, wir sind bald soweit, dass du ganz normal sprechen kannst, wenn du jetzt schon weißt, wie sich das anfühlt, wenn du gezielt die Bilder steuern kannst, dann musst du dir nur noch dieses Gefühl merken, damit du es immer wieder abrufen kannst.“
Francis nickte eifrig. Ich werde üben, versprochen. Ich freue mich schon darauf, mich mit dir unterhalten zu können.
Sie küssten sich noch einmal innig und mussten sich dann widerwillig trennen, um jeder auf seinem eigenen Weg nach Hause zurückzukehren.
… ihnen von seinem Logenplatz am Küchenfenster versonnen zu. Er hatte die Arbeit an seiner Predigt vorübergehend völlig vergessen, und auch wenn er zugeben musste, dass er gerne an Francis' Stelle gewesen wäre, konnte er den Anblick des glücklichen Paares durchaus genießen. Es ist doch gut, dass Gott die Liebe in die Welt gegeben hat, dachte er. Irgendwann werde ich auch eine Frau wie Gina finden. Komisch nur, dass Sue und Paul mir noch nichts von den Beiden erzählt haben. Sollten sie das noch gar nicht wissen? Er musste unwillkürlich lächeln, er würde dieses kleine Geheimnis bestimmt nicht verraten, doch dann wurde er wieder ernst. Und noch etwas ist merkwürdig: Ich dachte immer, dass Francis gar nicht richtig sprechen kann und jetzt scheint er Gina sogar Bücher vorzulesen.
Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu und wollte sich eben erneut auf die Bibelstelle konzentrieren, die ihm solches Kopfzerbrechen bereitete, als er noch aus dem Augenwinkel durch das andere Küchenfenster Mrs. Foster hinter der Ecke seines Pfarrhauses stehen sah. Alarmiert sprang er auf und ging, im Schatten der Schränke bleibend, durch die Küche auf das andere Fenster zu, um zu sehen, was die alte Frau dieses Mal wieder ausheckte. Schon lange bevor die Probleme mit seinem katholischen Kollegen so eskalierten, hatte sie sich in seinen Augen zu einem wahren Giftzahn entwickelt.
Er ermahnte sich innerlich noch, erst einmal nur Gutes von den Menschen anzunehmen, als er sie auch schon genau sehen konnte. Sie stand an der Ecke des Pfarrhauses, vom Park aus verdeckt von einer Gruppe höherer Buchsbäume, und hatte ganz offensichtlich das Geschehen ebenso mitverfolgt wie er selbst. Das konnte er an ihrer selbstzufriedenen Miene ablesen. Doch nun schickte sie sich an, weiterzugehen. Wenn sie wirklich Gina und Francis beobachtet haben sollte, wird daraus nichts Gutes entstehen. Soviel ist sicher! Von seinem Standpunkt aus konnte er genau beobachten, wie sich alle drei vom Schauplatz des Geschehens entfernten. Er konnte nicht anders, als sich Sorgen zu machen, und überlegte ernsthaft, ob er Gina darauf ansprechen und sie warnen solle, doch bevor er sich zu einem Entschluss durchringen konnte, war sie bereits außer Sichtweite.
Wenn es Francis nicht gegeben hätte, wäre der Samstag für Gina ziemlich langweilig verlaufen, denn Sally hatte ihr erst am Morgen mitteilen können, dass an diesem Wochenende ganz überraschend eine Kusine ihrer Mutter aus einem weit entfernten Winkel des Landes zu Besuch kommen und bis zum Sonntagabend bleiben werde. Selbstverständlich müsse sie sich um die Besucherin kümmern und der gemeinsame Abend leider ausfallen.
Gina hatte sich nach ihrem Spaziergang in der Küche noch mit einem schnellen Abendessen versorgt und wollte es soeben nach oben tragen, als Francis von hinten an sie herantrat und ihr nur ein Wort ins Ohr hauchte: „Liebe!“
Gina knickten die Knie ein. Sie sank auf einen Küchenstuhl und sah auf die verzauberte Welt um sich herum. Die Mahlzeit auf ihrem Tablett hatte sich in ein mehrgängiges Menü verwandelt, das appetitlich angerichtet auf verschiedenen hauchdünnen Porzellantellern vor sich hin dampfte. Das saubere Weiß der Küchenkacheln überzog sich mit einem hellroten Schimmer, Arbeitsplatten und Tische verwandelten sich in einen festlichen Speisesaal und von der großen Küchenlampe rieselte goldener Schnee, in dem sich das Licht mehrerer Kerzenleuchter glitzernd brach.
Gina musste kichern. Es war kitschig und wunderschön, aber leider war es auch genau das, was sie Francis abgewöhnen wollte. Sie flüsterte Francis unbemerkt zu: „Wirklich beeindruckend, mein Schatz. Ich liebe dich auch. Aber an deiner Art zu Sprechen müssen wir noch arbeiten.“
Als sie sich erhob, um ihr Tablett zu ihrem Zimmer zu balancieren, war es ein ganz eigenartiges Gefühl sich selbst in einem Ballkleid zu sehen und doch genau zu wissen, dass sie vor den Gästen nicht so wirken durfte, als schreite sie hoheitsvoll in einem einfachen Hauskleid die Treppe hoch. Doch zu ihrer Überraschung flüsterte er ihr ins Ohr: „Das habe ich schon getan“, und nichts veränderte sich, nur die Farben des vorherigen Trugbildes verblassten allmählich. Sie riss die Augen vor Staunen auf und nickte anerkennend. Mehr konnte sie im Augenblick nicht tun, damit die anderen Anwesenden davon nichts mitbekamen, und ging auf ihr Zimmer.
Es dauerte keine Stunde, Gina döste mit einem Buch am Kamin vor sich hin, als es sachte klopfte und Francis mit einem Glas Wein eintrat. Gina schreckte auf: „Was machst du hier?“, fragte sie erstaunt, „meinst du nicht, dass das ein bisschen auffällig ist?“
Francis schüttelte mit Kopf, servierte den Wein formvollendet vor ihr auf den kleinen Tisch. Dann zog er sie zu sich hoch und küsste sie dann sanft auf den Mund. „Deswegen habe ich ja den Wein mitgebracht.“ Seiner langsamen Aussprache hörte man zwar an, dass er sich sehr konzentrieren musste, aber Gina war erneut verblüfft, dass sie überhaupt gar keine Veränderungen fühlte.
„Das ist unglaublich!“ Sie fiel ihm stürmisch um den Hals und warf ihn dabei fast auf das Bett. „Du kannst reden. Ich meine, ohne dass etwas passiert, nein, ich meine, ohne dass sich die Welt verändert.“ Ihr fehlten die Worte und sie strahlte ihn nur noch an. „Obwohl du sie ständig auch ohne Worte für mich veränderst.“
Er hauchte ihr noch einen Kuss auf die Lippen und schob sie dann sanft von sich. „Ich muss wieder nach unten. Ich versuche, nachher noch einmal zu kommen.“ Mit einem Winken zog er die Tür hinter sich zu.
Glückselig sank Gina wieder in ihren Sessel und starrte in die Flammen. Er hatte es geschafft zu reden, ohne dass sie sich manipuliert fühlte. Und ein ganz kleiner Streifen Hoffnung tauchte auf einmal am Horizont auf, dass es mit Francis mehr als nur dieses heimliche Glück geben konnte. Vielleicht, vielleicht, vielleicht ...
Gina war bereits eingeschlafen, als Francis wieder das Zimmer betrat. Er betrachtete sie glücklich. Wie sie zusammengerollt in dem großen Sessel lag, wirkte sie, als sei sie eine zufrieden schlummernde Katze, die jeden Moment wieder munter in seine Arme springen konnte.
Unerwartet schlug sie die Augen auf und blickte direkt in das Innerste seines Wesens. Und mit diesem Blick erkannte er unzweifelhaft ihre Seelenverwandtschaft.
Im Grunde war sie genauso unsicher in ihrer neuen Welt wie er in seiner, sie war verletzlich, scheute aber auch nicht die Auseinandersetzung, wenn sie nicht zu vermeiden war. Nur besaß sie mehr Elan etwas Neues anzufangen, als er gehabt hatte, um aus dem gewohnten Leben auszubrechen, aber das musste sie wohl auch, wenn sie den Mut gehabt hatte, allein von zu Hause fortzugehen. Und in diesem Moment wusste er genau, dass er sie immer lieben würde.
„Hallo Francis, wie spät ist es?“
„Es ist halb zwölf durch.“ Jetzt musste er sich wieder voll konzentrieren. „Die anderen Gäste sind gegangen und nur die Spielrunde sitzt noch im Speisesaal.“
„Sucht dich deine Mutter nicht?“
„Nein. An den Samstagen putze ich eigentlich immer nur noch schnell einmal über und dann sind meine Eltern den ganzen Abend mit dem Spiel beschäftigt. Da habe ich dann frei.“
„Und wenn sie dich sehen, wenn du nachher wieder herunterkommst?“
„Das werden sie nicht“, er lächelte schalkhaft. „Vom oberen Gästeflur gibt es eine Tapetentür zu unserem Treppenhaus. Da kann ich direkt zu meinem Zimmer.“
Gina jubelte innerlich. Sein Sprechen war natürlich viel langsamer und bewusster, aber er sprach und sie konnte mit ihm reden. Sie zog ihn auf den zweiten Sessel und er nahm ihre Hände in seine. „Wie lange geht das jetzt schon so, mit dem Spiel meine ich?“
„Oh, ich denke so ungefähr zwei Jahre? Ja, ich glaube der Reverend hat es da von einem Konvent mitgebracht. Das haben sie mir zwar nicht erzählt, aber ich habe es aus ihren Gesprächen herausgehört.“
Gina war erstaunt. Dieses Detail hatte der Reverend nicht erwähnt. „Hast du das Spiel auch mal gespielt?“
Die Antwort war Francis unangenehm, das konnte Gina sehen, weil sie ihn wieder an seine Schwierigkeiten erinnerte, sich anderen Leuten mitzuteilen. „Nur einmal kurz mit meinen Eltern. Ich hatte gefragt, wie es funktioniert und dann haben sie es mal mit mir allein probiert. Aber man muss halt viel reden dabei und ich habe mich da wohl ziemlich hineingesteigert.“ Er machte eine Pause. „Sie haben sich furchtbar erschreckt und es sofort abgebrochen.“
Gina schmunzelte. „Gut, dass du jetzt schon soviel gelernt hast.“ Sie zog ihn zu sich heran und küsste ihn.
„Kannst du mir denn genau erklären, wie das Spiel gespielt wird? Irgendwie scheint mir, dass der Reverend mir nicht alles erzählt hat.“
Francis überlegte einen Augenblick. „Kann ich schon, denke ich, aber besser kann ich es dir jetzt zeigen.“
„Sollen wir uns unten beide vor das Loch in der Wand knien und die anderen wieder beobachten?“ Gina grinste.
„Nein, nein, ich meinte so ...“ und er begann, wunderbar zu erzählen. Vor Ginas Augen verschwand das kleine Zimmer und der Speisesaal erschien. Alle Leuchter waren bis auf den großen über dem mittleren Tisch erloschen, sodass sich mit dem Zwielicht eine geheimnisvolle Stimmung ausbreitete. Im Raum war niemand zu sehen, nur auf dem Tisch lag ein großer Bogen Papier mit einer grob skizzierten Karte. An jedem Platz lagen Zettel und Bleistifte, überall verteilt noch Radiergummis und eine große Zahl unterschiedlicher Würfel. Sie hatten zum Teil viel mehr Seiten, als sie je an einem gesehen hatte, und glitzerten in allen nur erdenklichen Farben. Fast konnte Gina sogar die trockene Hitze und die staubige Luft riechen.
„Es gibt einen Meister, der das Spiel leitet.“ Wie aus einem Nebel erschien der Reverend mit dem schwarzen Buch aufgeschlagen vor sich an der Spitze der Tafel. Er sah in die Runde. „Dieser Meister spielt nicht selber mit, sondern gestaltet die Geschichte, die in Büchern vorgegeben sind, und lenkt die Spieler auf ihren Wegen.“ Der Reverend malte einsam einige Straßen auf die große Karte. „Dann gibt es die Spieler.“ Auf jedem Platz tauchte eine der Gina schon bekannten Personen auf und sah den Meister erwartungsvoll an. „Jeder dieser Spieler verkörpert eine bestimmte Figur, die er häufig in den kommenden Spielen immer weiter entwickelt.“ Die Anwesenden verwandelten sich vor Ginas Augen in Ritter, Zauberer, Knappen, Elfen, Zwerge, Kriegerinnen und Paladine, die mit Ungeduld in ihren Augen auf den Anfang warteten. „Jede dieser Figuren hat natürlich unterschiedliche Fähigkeiten.“ Über den Köpfen tauchten rotierende Symbole auf, die unterschiedlich große Kraft, Magie oder Geschicklichkeit darstellten, gleichzeitig erschienen die passenden Waffen wie Schwerter, Bögen oder Breitäxte und lehnten sich an die Stühle der Beteiligten. Helme, Mützen und spitze Hüte hängten sich an die Lehnen.
„Was soll das? Wollen die sich den Schädel einschlagen?“ Gina wollte an sich heruntersehen und es war ein seltsames Gefühl, dass sie unsichtbar, praktisch körperlos war.
„Nein, nein!“, ertönte Francis beruhigende Stimme aus dem Nichts. „Ich wollte dir das nur als Symbol darstellen.“ Die Waffen, Zauberstäbe und Narrenkappen flogen hoch und legten sich als Miniaturen vor den Spielern ab. „Dann beginnt das Spiel, indem der Meister die Spieler in die erste Situation bringt.“ Über den Köpfen der Spieler erschien ein braunroter Punkt, der sich beim Niedersinken rasch vergrößerte und auf Augenhöhe der Spieler schon als mittelalterlicher Pub in Puppenhausgröße erkennbar war. Dort blieb er für kurze Zeit schweben. Winzige Kreaturen saßen an Tischen, lachten und tranken, spielten oder grapschten nach den Kellnerinnen, die sich sehr wohl zu wehren wussten. Doch nicht nur die Spieler, sondern auch andere Menschen, Trolle und Gnome bevölkerten diesen einzigartigen Ort, an dem sie meist friedlich beieinandersaßen. Der Pub begann zu rotieren, immer schneller, bis Gina ganz schwindelig wurde. Dabei senkte er sich weiter herab und plötzlich waren alle Spieler verschwunden. An der Stelle des Tisches stand der Pub vor dem Meister auf dem Boden, vielleicht halb so hoch wie dieser und auch in der Breite und Tiefe wie ein Kindertheater, in das man stehend von oben hineinsehen kann. Die Spieler waren mit ihrem Tisch zu einem Teil des Ganzen geworden, sie feierten und tranken und hatten doch immer noch ihre Utensilien vor sich liegen. „Dann kommt die Aufgabe, die das Spiel ihnen stellt.“ Ein edel gekleideter Herold in Gold und Blau betrat den Pub, gebot mit seiner Hand Schweigen, entrollte ein riesiges Pergament, das bis auf den Boden reichte, und begann vorzulesen, dass die Tochter des Königs von einem bösen Zauberer auf einen fernen Berg entführt worden sei und dass derjenige, der sie heil und gesund zurückbrächte, eine fürstliche Belohnung erwarten könne. Ebenfalls bekäme man für den bösen Zauberer eine große Belohnung, der müsse aber nicht mehr unbedingt lebendig sein.
„Und die Spieler erleben das so, wie ich es hier sehe? Kann der Reverend auch so reden wie du?“ Gina blickte atemlos auf das, was sie umgab.
Francis' Stimme lachte leise. „Nein, das passiert nur in ihrer Fantasie, sie müssen es sich vorstellen, aber so kann ich es dir besser erklären. Dann müssen sie sich beraten, zum Beispiel ob sie alle gemeinsam losziehen wollen, oder ob sie sich aufteilen und unterschiedliche Wege gehen. Ganz wie es ihnen einfällt.“ Der Meister, der immer noch übermächtig vor dem Puppengasthaus saß und die Szene von oben verfolgte, machte sich ein paar Notizen. Von unten erklang die Stimme des Zwerges, die an die anderen Mitspieler gerichtet sagte: „Ich kann jetzt noch nicht mit euch gehen, ich möchte noch auf meinen Bruder warten. Wir werden euch dann auf einem Pferd nachreiten.“ Der Meister unterbrach ihn mit donnergrollender Stimme: „Würdest du bitte würfeln, ob er ein Pferd hat.“ Der Zwerg nickte und warf den Würfel hoch in die Luft. Er flog aus dem Haus heraus, drehte sich wie wild um sich selbst, wuchs gleichzeitig auf Fußballgröße heran und landete schließlich vor dem Meister. „Eine Siebzehn, okay, er hat ein Pferd, aber es ist lahm und ich bin nicht sicher, ob es euch beide tragen kann.“ Der Würfel schrumpfte wieder auf seine ursprüngliche Größe zusammen und machte sich auf die Suche nach seinem Besitzer. Die Mitspieler lachten.
„Und so geht es weiter. Die Spieler sind in der Geschichte und spinnen sie weiter und alles was passiert, ist abhängig vom Würfelglück und von dem Meister, der die Spieler mit immer neuen Aufgaben und Hindernissen versucht zu steuern.“ Der Speisesaal begann sich vor Ginas Augen aufzulösen und wenige Sekunden später fand sie sich, schwer atmend vor Aufregung, auf ihrem Sessel wieder, wo Francis noch immer ihre Hand hielt.
„Das ist unglaublich. Das ist alles in dem einen Spiel?“
„Ja und in den Köpfen der Spieler. Nur Menschen mit viel Fantasie werden das Spiel mögen.“
„Und verbohrte Menschen ohne Fantasie ziehen sich einen Talar an und werden es hassen.“ Ginas Gedanken wanderten zu dem Priester und Mrs. Foster.
„Ja wahrscheinlich, aber damit muss man wohl leben“, sagte Francis.
„Ja, wahrscheinlich.“ Einen Augenblick herrschte Schweigen zwischen ihnen, als jeder seinen Gedanken nachhing.
„Francis?“
„Ja?“
„Ich weiß, wir zwei sind nicht genug, aber ich würde das Spiel auch gerne einmal spielen.“
… huschte kurz vor drei Uhr noch schnell Sally zur Vordertür herein. Gina, die schon begonnen hatte die Tische abzuwischen, sah erstaunt auf und blickte in ihr ungewöhnlich blasses Gesicht. Es war ihr sofort klar, dass etwas geschehen sein musste.
„Kann ich dich kurz sprechen?“ Es schien, als ob der Rosenkranz selbstständig und ohne ihr Zutun durch Sallys Finger glitt. Dabei zitterten diese so stark, dass er immer wieder drohte, herunterzufallen.
„Natürlich! Ist etwas passiert?“ Gina ließ besorgt den Lappen liegen und ging mit schnellen Schritten auf ihre Freundin zu. Dann führte sie die willenlos wirkende Sally zu einem der Tische am Kamin. „Du zitterst ja wie Espenlaub. Setz dich hierher ans Feuer.“
Mrs. Drake trat mit besorgtem Gesichtsausdruck dazu und stellte ein Glas vor sie auf den Tisch. „Trink das Sally, das wird Dir gut tun. Du siehst ja totenblass aus.“
Sally nahm einen Schluck von dem bernsteinfarbenen Whisky und schien sich etwas zu beruhigen.
„Was ist nun, Sally?“, fragte Mrs. Drake mit dem ihr eigenen mütterlich warmen Ton in der Stimme. „Ist irgendetwas mit deiner Mutter? Geht es ihr nicht gut? Ist mit dir etwas nicht in Ordnung, Kind?“
„Nein.“ Sally verschluckte sich fast und musste husten. „Nein. Vielen Dank, aber mit Mutter und mir ist alles in Ordnung. Naja, ich meine, wie immer.“ Sie sah Mrs. Drake dankbar an.
„Und warum bist du dann nicht bei ihr?“
„Tante Laddie ist doch gestern gekommen und hat mir erlaubt heute mal in die Kirche zu gehen, weil ich doch sonst nicht aus dem Haus komme.“
„Na gut.“ Mrs. Drake sah von Sally zu Gina und wieder zurück. „Dann brauche ich mir darum ja keine Sorgen zu machen. Du möchtest bestimmt mit Gina reden?“
Sally nickte eifrig mit dem Kopf, der schon wieder etwas Farbe bekommen hatte.
„Gut. Gina, du kannst Sally nachher zur Seitentür hinaus-lassen.“
Mrs. Drake nickte ihrem Mann auffordernd zu und sie ließen die beiden jungen Frauen in der Gaststube zurück. Lediglich Francis war halb in der Tür stehen geblieben und konnte offenbar nicht entscheiden, ob er unerwünscht war. „Soll ich gehen?“, fragte er.
Sally bekam kugelrunde Augen vor Staunen und blickte zwischen Francis und Gina hin und her. "Nein, nein, natürlich nicht. Ich habe mir gar nicht vorstellen können, dass du dich schon so schnell richtig unterhalten kannst.“
Francis trat näher und lächelte. Dann blickte er sich zur Sicherheit kurz um, ob seine Eltern wirklich gegangen waren, und nahm dann Gina in den Arm, als er sich vor Sally hinstellte. „Ich hatte eine gute Lehrerin.“
Gina kuschelte sich an. „Aber deswegen bist du doch nicht gekommen, oder?“
Sally zögerte kurz und atmete noch einmal tief durch. „Es ist wegen des Gottesdienstes heute Morgen.“
„Und? Was hat Reverend Hummingworth so Besonderes gesagt, was dich so aufgeregt hat?“ Gina konnte die Sorge nicht aus ihrer Stimme vertreiben, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, dass der Reverend überhaupt etwas Besorgniserregendes tun könnte.
„Aber ich bin doch gar nicht bei ihm in der Kirche gewesen, sondern bei Pastor Mirtow.“
„Du bist katholisch?“
Sally nickte und hielt den Rosenkranz hoch. „Ich war ja schon lange nicht mehr in der Messe, weil ich wegen Mum ja nicht so viele Möglichkeiten habe. Wahrscheinlich sind es sogar schon zwei Jahre oder länger her. Aber ich habe mich heute richtig erschrocken, was aus Pastor Mirtow geworden ist.“
„Wieso?“ Gina zog sich den nächsten Stuhl heran und setzte sich vor Sally. „Das musst du mir erklären.“
„Früher war das ein netter, grundgütiger Mann, doch heute Morgen habe ich gehört, dass er nach irgendeiner Wallfahrt mit einer orthodoxen kirchlichen Bruderschaft völlig verändert zurückgekommen sei. Er ist viel dogmatischer geworden. Seitdem predigt er die reine Lehre der Erzkonservativen und von christlicher Nächstenliebe ist auch nicht mehr viel zu spüren, außer natürlich man teilt voll und ganz seine Überzeugung.“
„Das ist natürlich nicht so schön, aber ich verstehe nicht ganz, warum dich das so aufregt.“
„Also erstens musste ich mich heute Morgen darüber ärgern, wie viele andere in der Gemeinde übrigens auch, wie der Mensch gepredigt hat. Da war kein Wort von Versöhnung und dem Guten des Menschen, das es zu Fördern gilt, sondern nur harte Gebote und Verbote. Er hat die ganze Predigt darüber hergezogen, dass Gott uns bestrafen wird, wenn wir seinen Weg verlassen, dass nur der in den Himmel kommt, der Buße tut. Und dann kam der eigentliche Hammer, er hat alle Gläubigen aufgefordert, alle Nichtkatholischen zu bekehren und das Ziel aufgestellt, deren Gedankengut radikal auszumerzen. Das ist der absolute Schritt ins Mittelalter.“ Sally hatte sich in Rage geredet.
Gina begann, zu verstehen. „Daher also dieses Ereifern gegen die Spielsucht.“
„Und es geht noch weiter: In der letzten Zeit hat er Zug um Zug den ganzen Gemeindevorstand ausgetauscht. Jetzt sitzen da nur noch Leute seiner Richtung drin, zum Beispiel die von dir geliebte Mrs. Foster und auch deine Vorgängerin, Lucia Fortescue hieß sie glaube ich. Sie fordern jetzt jedes Gemeindemitglied auf, in den katholischen Gesprächskreis im Gemeindehaus zu kommen, wo dann noch mal so richtig indoktriniert werden soll. Wer nicht kommt, wird ausgegrenzt. Es gibt sogar Listen, bei welchen Geschäften man als guter Katholik noch einkaufen kann und wo nicht.“
„Ich kann mir vorstellen, dass du dich in der Gesellschaft nicht mehr besonders wohl fühlst“, sagte Gina mitfühlend.
„Es ist schlimmer, als ihr euch vorstellen könnt. Und es könnte noch viel schlimmer kommen. Wenn Hass gepredigt wird, wird Hass entstehen.“
Gina nahm ihre Freundin still in den Arm. So schlimm wird es schon nicht werden!, dachte sie bei sich, aber sie sollte sich irren.
Am nächsten Morgen hatte ein neuerlicher Wintersturm die Fischer im Hafen festgehalten und im Pub wurde die Stimmung unter den Gästen spürbar aufgeladener. Weil die Männer heute schon wieder nicht hinausfahren konnten, erzählten sie sich immer und immer wieder die alten Geschichten von besseren Zeiten. Da tauchte kurz vor Mittag die Frau auf, mit der in dieser Umgebung wohl nur die Wenigsten gerechnet hätten. Mrs. Foster riss mit Schwung die Vordertür gegen den Sturm auf und betrat energisch den Schankraum. An allen Tischen erstarben die Gespräche und man warf sich allenthalben erstaunte Blicke zu. Mrs. Fosters hagere Gestalt sah trotz des dickgefütterten Wintermantels mit Pelzbesatz und des flauschigen Hutes über dem knochigen Gesicht immer noch aus, als könnte jede Windböe sie wegpusten. Sie warf rundherum missbilligende Blicke auf die Männer, die sie größtenteils schon als Kinder aus der Schule kannte, und wer diesen Blick spürte, ging unweigerlich in Deckung.
Hinter der Bar rückten die Drakes, Francis und Gina unbewusst dichter zusammen, als Mrs. Foster, eine Spur aus Schnee und Matsch hinter sich lassend, den Raum durchmaß und vor der Theke stehen blieb.
„Hallo Sue, Paul.“ Sie hatte ein falsches, verkniffenes Lächeln aufgesetzt. Mit der unbehandschuhten Rechten klatschte sie energisch einen kleinen Stapel Papier auf das Holz. „Ihr habt doch sicher nichts dagegen, dass ich hier ein paar Flugblätter auslege?“ Sie drehte sich um. „Gott der Herr hat uns die Sprache gegeben, damit wir uns gegen den fortgesetzten Alkoholmissbrauch und seinen schädlichen Einfluss auf die Gesellschaft wenden. Ich möchte euch alle einladen, Samstag abends in unser Gemeindehaus ...“
Hier wurde sie von Mrs. Drake rüde unterbrochen, die hinter dem Tresen vortrat. „Nehmen Sie Ihre Zettel mit und verschwinde Sie. Sofort! Das ist kein Ort für Predigten. Und ich verbiete Ihnen, jemals wieder meine Gäste mit Ihrem Unsinn zu behelligen!“ Mrs. Drakes Blick hätte eine ganze Horde wütender Bullen zum sofortigen Rückzug veranlasst, aber Mrs. Foster war so leicht nicht zu stoppen.
„Gott der Herr ist immer auf der Seite der Rechtschaffenen! Wenn ihr euch zu ihm bekennt, dann wird es euch besser gehen als je zuvor!“
„Wenn Sie dessen so sicher sind, können Sie ja jetzt gehen. Das ist hier doch bestimmt nicht der richtige Ort für Sie!“
„Nein, aber vorher muss ich noch alle Anwesenden warnen. Gott, der Herr, wird diese Lasterhöhle der Spielsucht, der Völlerei und des Ehebruchs nicht dulden. Es wird sich etwas ändern in dieser Stadt. Der Herr wird seinen Zorn schicken und das Übel hinwegfegen.“
An einem der hinteren Tische stand der lange Fred auf und lachte sie aus. „Immerhin mal was Neues, Edna. Das mit der Sauferei und dem Spielen hatte wir ja schon häufiger, aber Ehebruch ist neu.“
Vereinzeltes Gelächter an den Tischen stachelte Mrs. Foster eher noch an. Ihre Stimme wurde schriller und sie reckte ihre spitze Nase nach oben. „Ja, Ehebruch.“ Sie streckte den langen, dürren Finger in Richtung von Gina aus. „Dieses junge Flittchen ist zu Hause von ihrem Mann weggelaufen, um sich hier gleich dem Nächsten an den Hals zu werfen. Ich habe es genau gesehen.“ Ihre böse nach unten gezogenen Mundwinkel erreichten schon fast das spitze Kinn.
Gina musste unwillkürlich lachen. „Ich weiß nicht, warum Sie mich angreifen wollen, aber ich bin nicht verheiratet.“
„Das sieht der junge, ehrbare Mann aber ganz anders, den ich heute in der Kirche getroffen habe. Er sagt, dass das Aufgebot schon bestellt gewesen sei. Und betrogen hat sie ihn mit diesem armen, behinderten Jungen, der sich wahrscheinlich gar nicht ihrer erwehren kann.“ Sie deutete auf Francis, dessen Gesicht vor Wut rot anlief.
Gina kam ihm zuvor. „Da haben Sie sich aber den falschen Kronzeugen ausgesucht. Ich habe meinen Exfreund verlassen, weil er mich geschlagen hat und verlobt waren wir nie“, entgegnete sie mit gefährlich leiser Stimme, die aber trotzdem noch von jedem im Raum gehört werden konnte, denn es war so still geworden, dass man das Bier in die Untersetzer einsickern hören konnte.
Dann erklang Francis' Stimme das erste Mal vor den Gästen und alle Augen wandten sich ihm staunend zu. „Wie kommen Sie dazu, meine Liebe zu Gina in den Schmutz zu treten? Eine selbstgerechte alte Jungfer wie Sie, die in ihrem ganzen Leben nie geliebt worden ist, hat überhaupt nicht das Recht, darüber zu urteilen.“ Er war bei seinen Worten um den Tresen herumgegangen und piekte ihr mit dem Finger vor die Brust. „Und nennen Sie mich nie wieder einen Behinderten!“
Mrs. Forster schrie auf: „Der Zorn Gottes wird dich treffen, Francis Drake!“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und verließ hoch erhobenen Hauptes aber schnellen Schrittes den Pub.
Gina trat zu ihm und nahm seine Hand in ihre. „Das war wunderbar!“, flüsterte sie und blieb aufrecht neben ihm stehen, damit sie jeder sehen konnte.
Mr. und Mrs. Drake waren erst einmal sprachlos, bis Francis sich zu ihnen umdrehte.
„Das war großartig, Francis“, sagte Mrs. Drake leise und zu Mr. Drake gewandt fuhr sie laut fort: „Und du machst bitte mal eine Runde für alle fertig. Den haben wir uns jetzt verdient. So soll man keine Woche beginnen.“ Dann schob sie Francis und Gina ohne viel Federlesens in die Küche.
„Ich bin sprachlos“, sagte sie.
„Ja, Mama, das war ich bisher auch, aber Gina hat mir Mut gemacht und mit mir geübt.“ Francis' Augen strahlten glücklich aus seinem vor Aufregung schweißnassen Gesicht.
Mrs. Drake nickte Gina zu. „Ja, das habe ich mir gedacht, als ich das eben gehört habe, und ich bin sehr stolz auf deine Leistung, mein Junge.“
Gina trat mit klopfendem Herzen einen kleinen Schritt nach vorn, der sie wieder neben Francis brachte. „Und Mrs. Foster hatte recht, als sie sagte, dass wir beide ein Paar sind. Aber es hat niemals unzüchtiges Verhalten unter Ihrem Dach gegeben. Wir haben uns nur geküsst, und überhaupt sind wir auch erst seit ein paar Tagen zusammen ...“ Gina liefen ein paar Tränen über die Wangen und Mrs. Drake floss das Herz über. Sie konnte nicht anders, als Gina und Francis in die Arme zu nehmen.
„Es ist doch alles in Ordnung. Ich freue mich doch für euch beide.“ In diesem Moment tauchte Mr. Drake mit einem Tablett und vier Gläsern in der Tür auf. „Ich vermute, wir haben etwas zu feiern?“
Und noch einmal wurde die Welt für Gina völlig auf den Kopf gestellt. Einerseits fühlte sie ein Bedauern darüber, dass es ihr und Francis nicht gelungen war, selbst ihre Liebe zueinander den Drakes zu offenbaren, bevor ihre Liebe öffentlich gemacht wurde. Auf der anderen Seite genoss sie die neue Möglichkeit, nun den ganzen Tag mit Francis zusammen zu sein, und sich nicht mehr verstecken zu müssen. Keine flüchtige Berührung des anderen löste mehr Erschrecken oder Schuldgefühle aus und kein versehentlicher Blick ließ wieder ungeahnte Deutungsmöglichkeiten zu. Und überraschenderweise konnte es auf einmal sogar eine Zukunft für sie beide geben und alle Befürchtungen, dass sich Francis' Eltern ihrer Liebe in den Weg stellen würden, lösten sich in Wohlgefallen auf.
Fürs Erste holte sie der neue Alltag aber binnen Minuten wieder ein, denn in der Stadt hatte sich unter den Freunden der Drakes Mrs. Fosters Auftritt wie ein Lauffeuer verbreitet und der Pub war innerhalb von einer Stunde überfüllt. Francis zog sich natürlich wieder in seine gewohnte, schweigsame Rolle zurück, doch dafür mussten Mrs. Drake und Gina bei jeder neuen Getränkelieferung die Ereignisse um Mrs. Fosters Auftritt erneut zum Besten geben, wenn der lange Fred das nicht schon vor ihnen erledigt hatte.
Der Ansturm dauerte ohne Pause bis in die späten Abendstunden an und vor dem Zubettgehen hatten Gina und Francis gerade noch genug Kraft für einen Kuss.
Der nächste Morgen brachte alle vier dann an einen Frühstückstisch, an dem sich Francis und Gina das erste Mal so verhalten konnten, wie es ihr Bedürfnis war, wenn sie auch noch schamvoll nicht genau wussten, was seine Eltern tolerieren würden und was nicht. Und Francis' Eltern sahen sich völlig unerwartet mit einer neuen Situation konfrontiert, in die sie sich erst einmal hineinfinden mussten.
Mr. Drake lockerte die Spannung dadurch auf, dass er am Anfang zu seiner Frau sagte: „So müssen sich unsere Eltern damals gefühlt haben. Weißt du noch?“
Sie lächelte ihn unsicher an, gab aber keine Antwort.
Mehrmals konnten Francis und Gina nur schmunzeln, wenn sie die Eltern beobachteten und diese gedankenverloren alles um sich herum vergaßen, sogar das Messer mit der Butter minutenlang über dem Toast schwebte.
„Ich glaube, ich bin immer noch nicht in der Lage zu verstehen, was für Möglichkeiten du auf einmal hast, Francis“, sagte Mrs. Drake einmal.
„Ja, ich glaube auch“, entgegnete Gina, „für Francis öffnet sich auf einmal eine ganze Welt.“ Unbemerkt traf sie ein erschrockener, scharfer Blick von Mrs. Drake, doch sie hatte sich bereits wieder Francis zugewandt.
„Das ist hervorragend. Dann könntest du in Zukunft ja auch die geschäftlichen Verhandlungen führen, mein Junge, ohne dass Mama und ich dabei sein müssen? Gerade die Gespräche mit den Brauereien mag ich gar nicht.“
Francis sah Gina liebevoll an. „Wir könnten den Pub irgendwann zusammen führen, wenn Mama und Dad in Rente gehen. Was würdest du davon halten?“ Jetzt glitt, wiederum unbemerkt, ein Ausdruck der Erleichterung über Mrs. Drakes Gesicht. Gina nickte.
Für Gina und Francis brach eine glückliche Zeit an. Hatten die vielen Heimlichkeiten, wie sie zugeben mussten, die Spannung in der ersten Phase ihrer Liebe zwar noch gesteigert, so konnten sie doch nun viel offener und befreiter miteinander umgehen.
In der Nacht zum Mittwoch änderte sich das Wetter so drastisch und schnell, wie es nur an der Küste geschehen kann. Die Zeit der extremen Minusgrade ging zu Ende. Die Temperaturen stiegen und brachten, mit immer noch leichtem Frost und starken Winden, den Schnee in die Straßen der Stadt. Schon am Morgen musste sich Francis durch knöcheltiefe Schneeverwehungen schippen und es schneite und stürmte immer weiter. Vor dem Haus in der Harbourstreet bildeten sich im Laufe des Tages durch den auflandigen Wind meterhohe Schneeverwehungen, die von der Straße an die Häuser drückten. An das Freischippen der Gehwege war hier gar nicht zu denken und viele Anwohner, wie auch Sally Blake mit ihrer Mutter, hatten schon Schwierigkeiten, aus der Tür zu kommen.
Dem Pub erging es mit seiner Vordertür nicht anders, aber da Ruhetag war, beschränkten sich Francis und Gina im Wechsel darauf den Fußweg der Harbourlane freizuhalten, ließen sich von Mrs. Drake bekochen und machten es sich in der warmen Küche zusammen gemütlich. Gemeinsam auf eines ihrer Zimmer zu gehen und dort einen Nachmittag und Abend vor dem Kamin zu verbringen, erschien ihnen aber doch noch zu früh und ungehörig.
Es war größtenteils eine schweigsame Runde, die dort am Tisch saß, abwechselnd die Zeitung durchblätterte, bis diese völlig zerlesen war und das eine oder andere kleinere Fachgespräch führte.
„Was machst du an solchen Tagen?“, fragte sie Francis.
Mr. und Mrs. Drake sahen von ihren Zeitschriften auf, die sich zwischen ihnen angesammelt hatten.
Francis sah etwas ratlos aus. „Das ist ganz unterschiedlich. Ich lese, oder ich repariere irgendwas im Schuppen, aber das wäre mir jetzt zu kalt dort drinnen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, normalerweise wäre ich wohl draußen, aber das geht ja jetzt nicht.“
Sie seufzte. „Nein, das geht jetzt nicht. Aber mir juckt es in den Fingern, ich möchte irgendwas mit Dir zusammen machen. Ist es sehr weit ins Kino?“
„Ja leider. In der Kreisstadt.“
„Oh, ja, das hattest Du erzählt.“ Gerade konnte sie noch das Wort geschrieben vermeiden. „Das ist natürlich zu weit bei dem Wetter.“
Ein paar Augenblicke lang herrschte wieder Schweigen, nur das Knacken der Holzscheite im Ofen unterbrach die Stille. Eine Stille, die besonders lautlos erschien, wenn draußen der Schnee jedes Geräusch unterband.
„Wie wäre es, wenn wir ein Spiel spielen?“ fragte Mr. Drake forsch.
„Du meinst doch nicht das Spiel?“ Mrs. Drake wirkte ein bisschen entsetzt.
„Haben wir ein anderes?“
„Du meinst 'Ritter & Magier', Dad?“
„Ja“, erwiderte Mr. Drake erstaunt. „Woher weißt du davon?“
„Na, ja, ihr spielt das ja nun schon seit über einem Jahr und es gibt da doch dieses Loch hinter dem Bild von Grandma und Granddad im Flur.“
„So? Davon weißt du also auch?“, entgegnete Mrs. Drake etwas schnippisch.
„Wenn man nicht reden kann, hört man mehr.“ Die Drakes sahen aus, als ob ihnen dämmerte, dass auch sie ihren Sohn bisher zu wenig beachtet und unterschätzt hatten.
„Nun, ja. Dieses alte Schmugglernest hat halt deutlich mehr zu bieten, als man ihm auf Anhieb ansieht.“ Mr. Drake räusperte sich. Er stand auf, sandte einen rückversichernden Blick an seine Frau und holte einen kleinen Kunstlederkoffer aus der Bank im Flur, deren hochklappbare Sitzfläche ein unübersichtliches Sammelsurium offenlegte.
„Das stimmt“, bestätigte seine Frau, legte die Zeitschriften auf einen unbenutzten Küchenstuhl und fischte hinter einer versteckten Klappe am Schornstein einen Topf mit Glühwein hervor. „Diese Verstecke gibt es im ganzen Haus, und in diesem kann man hervorragend Speisen warm halten.“
Gina wurde plötzlich Einiges klar. „Dann gibt es vermutlich eine versteckte Tür vom Speisesaal zum Schuppen?“
Mr. Drake sah sie erstaunt an. „Allerdings, und woher weißt du davon?“
„Ich hatte letztens den Reverend von meinem Fenster aus gesehen, als er sich verabschiedet hat und eben ist mir klar geworden, dass er gar nicht aus der Tür der Mastersons gekommen sein kann, weil die noch viel weiter links liegt. Also muss er aus dem Schuppen gekommen sein.“
„Gut erkannt, Mädchen. Aber nun lasst uns spielen. Ich denke, ich mache den Meister, Paul. Ist das für dich in Ordnung?“ Mr. Drake nickte nur.
„Okay, dann erkläre ich euch mal, worum es eigentlich geht.“
„Das brauchst du nicht, Mama. Das wissen wir bereits.“ Er deutete mit dem Kopf durch die geschlossene Küchentür auf das Bild im Flur.
Mrs. Drake nickte anerkennend mit dem Kopf. „Also gut. Dann lasst uns Drachen jagen!“
… war für Gina eine der schönsten und überraschendsten Erfahrungen, die sie bis dahin mit Gesellschaftsspielen gemacht hatte, obwohl sie dachte, durch Francis' Vorstellung schon bestens darauf vorbereitet gewesen zu sein. In den Tassen dampfte heißer Tee und die frischen Kekse, die Mrs. Drake kürzlich gebacken haben musste, ohne das Gina hätte sagen können, wann sie das auch noch geschafft haben sollte, verbreiteten einen leckeren Duft nach Weihnachtszeit in der Küche. Mrs. Drake hatte ihr Köfferchen an der Stirnseite des Tisches ausgepackt und an den beiden langen Seiten saßen auf der einen alleine Mr. Drake und ihm gegenüber Gina und Francis. Dieser drückte noch einmal leicht Ginas Hand. Sie konnte die Aufregung spüren, die ihn erfasst hatte, und fieberte dem Spiel dadurch umso mehr entgegen.
„Ich denke“, begann Mrs. Drake, „Paul, du wirst wieder deinen Ritter Sir Pellingworth spielen?“ Zur Erläuterung setzte sie zu Gina und Francis gewandt hinzu: „Es ist allgemein üblich, dass man eine Figur von einem zum anderen Spiel mitnehmen kann.“
Gina und Francis nickten nur.
„Nein, ich denke nicht, Sue“, entgegnete Mr. Drake zu ihrer großen Überraschung. „Hier könnte eine ganz neue Spielrunde beginnen und außerdem wäre ich den beiden zu weit voraus. Ich werde einen neuen Ritter spielen.“ Er grinste breit. „Ganz neu von der Berufsschule für Ritter, sagen wir, ich heiße Sir Fearless Hollingston.“
Mrs. Drake musste an sich halten, um nicht laut loszulachen. „Sir Angstlos, schöner Name. Hier ist deine Startkarte.“ Sie reichte Mr. Drake eine Karte mit dem Bild eines Ritters und einiger Angaben darauf.
Mr. Drake zeigte die Karte Francis und Gina. „Hier könnt ihr sehen, als Ritter fange ich immer mit einem einfachen Schwert und Schild an. Das heißt, ich habe nur eine leichte Bewaffnung, keine Magie und mit meiner Geschicklichkeit ist es auch noch nicht weit her. Alles, was ich mehr haben möchte, muss ich mir im Spiel verdienen, klar soweit?“ Allgemeines Nicken bestätigte seine Frage.
„Jetzt kommt ihr dran.“ Mrs. Drake hielt ihnen verdeckt einen Fächer von Karten hin. „Ihr habt ja noch keinen Spielcharakter, also müsst ihr einen ziehen.“
Gina zog zuerst, erwischte die Karte eines hässlichen Zwerges und war ein bisschen enttäuscht. Mrs. Drake, die das sofort bemerkt hatte, beruhigte sie schnell. „Kein Grund enttäuscht zu sein. Du bist also ebenfalls ein Kämpfer und hast als Waffe eine Breitaxt und zum Schutz einen Lederharnisch. Du bist am Anfang etwas stärker als der Ritter, aber eben auch nur halb so groß. Noch ein Vorteil, du kannst im Laufe des Spieles Erdmagie erlernen, während ein Ritter mit Magie gar nichts am Hut hat.“ Sie nickte ihrem Mann zu. „Verzeihung, am Helm, meine ich.“ Alle lachten und die Stimmung entspannte sich wieder.
Francis zog den Magier. „Gut“, sagte Mrs. Drake, „dein Startvorteil ist dein einfacher Zauberstab und deine Schnelligkeit. Du kannst doppelt so schnell sein wie die anderen und du hast zum Start den Zauberspruch 'Adveni', womit du eine Sache herbeikommen lassen kannst.“ Francis nickte begeistert.
„Dann lasst uns spielen.“
Mrs. Drake entwarf eine Geschichte, in der sich der Ritter Sir Fearless, der Zwerg Mineheart und der junge Magier Woodstick in einer verruchten Kneipe bei schlechtem Bier zusammenfanden. Sie hatten alle noch kein eigenes Geld verdient und mussten sich jetzt auf eigenen Füßen durchs Leben schlagen. Da kam es ihnen gerade recht, dass das Königreich von Drachen bedroht wurde. Besonders ein Drache hoch im Norden erregte immer wieder das Missfallen des Königs. Diesem mussten alle Jahre wieder die schönsten Jungfrauen geopfert werden, um ihn bei Laune zu halten, und so würden bald schon nicht mehr genug am Leben sein, um des Königs regelmäßigen Nachwuchs an Rittern zum Freien zur Verfügung zu stehen. Als praktisch denkender König versprach er dem Drachentöter, dass er die Jungfrau, die er aus den Klauen des Untiers befreien würde, heiraten dürfte. Eine Mitsprachemöglichkeit für die Maid war in diesem Falle nicht vorgesehen.
„In seinem stillen Kämmerlein rieb sich der König die Hände“, erzählte Mrs. Drake weiter, „denn so würde er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, genauer auch noch schlagen lassen. Und daraufhin freute er sich gleich noch einmal mehr.“
„Und was haben wir davon, wenn wir dir helfen?“, fragte Woodstick, der Magier, an Sir Fearless gewandt frech dazwischen.
„Genau. Was springt für uns dabei heraus?“ Mineheart rieb Daumen und Zeigefinger aneinander und rutschte bereits aufgeregt auf dem Küchenstuhl hin und her.
Mr. Drake schickte einen nachdenklichen und hilfesuchenden Blick an die Spielleiterin, da ihm spontan keine Antwort auf die Frage einfiel.
Der Meister überlegte kurz. „Dem König war natürlich bewusst, dass diese Belohnung allein nicht ausreichen würde. Denn auch sein Kanzler hatte ihn darauf hingewiesen, dass bereits die Mitglieder der großen Gruppe der ausgesprochen dämlichen Ritter, denen diese Belohnung allein genügt hatte, lange schon aufgebrochen waren, ohne dass das Problem zur Zufriedenheit gelöst werden konnte. Also lobte er darüber hinaus noch einen Sack voll Gold und eine Lehrstunde bei Merlin, seinem Haus- und Hofmagier aus.“
„Gut.“ Der Magier nickte. „Das hört sich schon besser an. Bist du mit dabei, Mineheart?“ Gina nickte und Francis spürte die Aufregung, die an seiner Konzentration zerrte. Vielleicht sollte er sogar zwischendurch auf seine Gesten ausweichen, schoss es ihm durch den Kopf, um im Eifer des Gefechtes keine Niederlage zu erleiden. Er musste über das Wortspiel lächeln und Gina, die gedacht hatte, dass das Lächeln ihr gegolten hatte, lächelte zurück.
In der nächsten Stunde entwickelte Mrs. Drake das Spiel für die drei Helden mit kleineren Aufgaben weiter, die nur zum Ziel hatten, sie auf die eigentliche Herausforderung, den Drachen zu töten, vorzubereiten. Gleich am Anfang der Geschichte musste der Magier Woodstick die zehn Goldtaler beschaffen, die die Gruppe brauchte, um sich beim Schreiber des Königs für diese Aufgabe eintragen und instruieren zu lassen. Der König war eben doch ein ungemein praktisch denkender Mensch. Leider fiel weder Gina noch Mr. Drake spontan etwas ein, wie sie in dieser mittelalterlichen Stadt etwas Geld beschaffen konnten, da alle drei ja arm wie die Kirchenmäuse waren. Also blieb nur der Magier, um diese Startsumme zu organisieren. Er sollte auf dem Markt seine bescheidenen Künste vorführen. Dazu versammelte er mit lautem Geschrei eine Gruppe von Marktbesuchern um sich und rief: „Kommt herbei, staunt über meine Magie. Ihr glaubt Zauberei gibt es nicht, aber ich werde euch zeigen, was nur ein wahrer Magier kann!“ Mit seinem Zauberstab, den er soweit in den Ärmel geschoben hatte, dass nur noch die Spitze so eben zwischen Fingerspitzen sichtbar war, deutete er auf einen fetten Kaufmann.
„Und dann zaubert Woodstick: 'Adveni Geldbörse!' und der Geldbeutel erscheint in seiner Hand“, erläuterte Francis.
Mrs. Drake wiegte mit dem Kopf. „Eine so schwere Geldbörse ist wahrscheinlich mit einer Kette gesichert, sodass sie nicht so einfach aus der Tasche fallen kann.“ Sie schob Francis den zwanzigseitigen Würfel zu. „Deine Zauberkraft liegt bei eins und der Widerstand der Geldbörse bei zehn, also brauchst du mindestens eine Neun, damit es klappt.“
Francis würfelte schweigend und kam auf eine Sieben. „Mist!“, murmelte er. Er brauchte noch drei weitere Versuche, bei denen die ersten Zuschauer schon unruhig wurden, bis ihm der Trick gelang. Der Viehhändler, dem die Geldbörse gehörte, war begeistert. Er freute sich und applaudierte mitreißend, sodass es nicht lange dauerte, bis die anderen Zuschauer sich schließlich anstecken ließen. Am Ende des Nachmittages lagen allerdings nur fünfzehn Kupfermünzen und ein halber Silbertaler in seinem Hut, als sich die Menge auflöste. Es würde lange dauern, bis sie auf diese Weise das Geld zusammenhätten.
So nahm die Geschichte ihren Lauf. Bis zum Abendessen, das Mrs. Drake nebenbei aus den Resten des Vortages zubereitete, musste der Zwerg mit seiner Axt bei diversen Leuten Holz hacken und Bäume fällen, wovon ihn einer fast erschlug und eine hässliche Delle in seinem Helm hinterließ, und der Ritter half bei der Verfolgung eines entflohenen Sträflings, sodass es ihnen am Ende doch knapp gelang das Geld zusammen-zubekommen, bevor Mrs. Drake die Teller auf den Tisch stellte. Ein für die Teilnehmer erfreuliches Nebenergebnis hatte diese erste Runde auch. Mrs. Drake teilte Francis, Mr. Drake und Gina je einen Erfahrungspunkt zu, der ihre individuellen Fähigkeiten verbesserte und ihnen in Zukunft das Leben etwas leichter machen würde.
Von dem Abendessen hätte Gina nun eigentlich erwartet, dass es die entspannteste Mahlzeit bisher werden würde, weil so viel Druck und so viele Probleme von ihren Schultern genommen waren und sie selbst sich jetzt vollständig zur Familie zugehörig fühlte. Doch weit gefehlt. Immer wieder brachen die wenigen Gesprächsansätze ab, weil alle Teilnehmer des Spiels immer wieder in Gedanken versunken dasaßen und darüber nachdachten, was dieses Abenteuer wohl noch für sie bereithalten würde und wofür sie welche ihrer Fähigkeiten einsetzen konnten.
Irgendwann am Ende des Abendessens meinte Gina aus den Augenwinkeln vor dem Fenster einen Schatten entlang huschen zu sehen, der ihr unangenehm bekannt vorkam. Doch als sie aufstand und ans Fenster trat, um genauer nachzusehen, war draußen nichts mehr zu erkennen.
„Was ist, Gina?“, fragte Mrs. Drake.
Diese drehte sich zu den anderen zurück und so entging ihr der feine Atemdunst, der direkt unterhalb des Fensters aufstieg. „Nichts. Ich dachte nur, ich hätte jemanden auf der Straße vorbeigehen sehen. Aber das war Unsinn, das konnte sowieso nicht sein.“
Vor dem Haus entfernten sich leise knirschende Fußstapfen in Richtung Innenstadt.
Francis sah sie unbemerkt von Mr. und Mrs. Drake fragend an. „Mark?“
Gina nickte nur.
Für den Rest des Abends schlug sie das Spiel wieder ganz und gar in seinen Bann, sodass sie an das kurze Erlebnis nicht weiter dachte. Sir Fearless, Woodstick und Mineheart waren im Laufe ihrer Wanderschaft schon weit durch das Land gekommen und hatten sich einige kleinere Scharmützel mit einer verzauberten Wildschweinrotte, die die Bauern eines Tales terrorisierte, einer Räuberbande und einer Horde diebischer Elstern geliefert, aus denen sie immer siegreich hervorgingen und die ihnen eine Menge an Erfahrung einbrachte.
„Mit euren nächsten Schritten“, fuhr der Meister fort, „biegt ihr um eine Kurve des Waldweges und der Wald öffnet sich auf große Wiesen und Felder. Direkt am Wegrand steht ein robustes Backsteinhaus mit einem wunderschön gepflegten Garten davor. Aus drei bodentiefen Fenstern schauen drei wunderschöne Frauen heraus und winken euch herbei. Da der Abend schon lange hereingebrochen ist und nur noch ein Rest Sonnenlicht seine Ausläufer über die Bergwipfel schiebt, wird es langsam dunkel und ihr habt Hunger.“
„Ich bin dafür, dass wir die Damen fragen, ob wir in ihrem Heuschober übernachten können“, sagte Francis als Woodstick.
„Vorsicht!“, entgegnete der Zwerg Mineheart. „Die drei Frauen sind mir ein bisschen zu schön und auch der Rastplatz kommt mir zu gelegen, als dass damit alles in Ordnung sein kann. Ich bin für Weitergehen.“
„Wenn wir nicht hineingehen, werden wir es nicht herausbekommen. Vielleicht brauchen sie unsere Hilfe und wir können uns hier ein bisschen was dazu verdienen?“, gab Sir Fearless zu bedenken. „Ich bin für Hingehen.“
Damit war das entschieden und mit mehr oder weniger guten Erwartungen betraten die drei Recken den Garten.
„Möchtet Ihr nicht hereinkommen, Ihr starken Krieger?“, flöteten die drei Frauen im Chor. „Wir servieren späten Wanderern, die den Weg zum nächsten Dorf nicht mehr schaffen, bevor es dunkel wird, gerne eine kleine Mahlzeit und bereiten ihnen ein Nachtlager.“
Die drei traten ein und, als sich die Haustür hinter ihnen schloss, fanden sie sich in einem weitläufigen Treppenhaus mit riesigen Spiegeln an der Wand wieder. Die Damen geleiteten sie in einen großen Speisesaal, auf dessen Tisch die wunder-barsten Braten und Brote serviert worden waren. Auch hier hingen an den Wänden überall Spiegel.
„Irgendwie habe ich das Gefühl, dass das Haus von innen größer ist, als von draußen.“ Minehaert blickte sich unruhig um.
Sir Fearless blickte ihn belustigt an. „Bist du sicher? Ich glaube nicht, dass Größe eine von deinen Stärken ist. Mir kommt das hier alles ganz normal vor.
Sie nahmen ohne weitere Diskussion Platz und ließen sich das lukullische Abendessen schmecken, bis sie müde, aber gestärkt in den Sesseln hingen. Dann standen die Damen plötzlich auf und stellten sich jede vor einen der großen Spiegel. Sofort spürten die drei Männer, wie sie merklich schwächer wurden.
„Was passiert hier mit uns?“ Der Zwerg sprang auf, auch wenn sein Kopf dadurch nicht nennenswert höher über die Tischplatte hinausragte.
„Mit meinen magischen Kräften kann ich fühlen, dass uns die Lebenskraft entzogen wird.“
„Würfel das bitte aus, Francis.“ Mrs. Drake schob ihm den Würfel hin. Eine Neunzehn bestätigte die Fähigkeit Woodsticks, den Verlust an Energie spüren zu können.
„Wir müssen hier raus!“, rief Sir Fearless und bewegte sich schon deutlich geschwächt auf die Tür zu, doch diese ließ sich nicht öffnen.
„Lass mich es versuchen“, rief der Zwerg Mineheart und hieb mit der Axt auf das Türblatt ein. Eine Fünf zeigte leider deutlich, dass er der Tür nicht einmal einen Kratzer zugefügt hatte.
„Dann versuchen wir es mit den Fenstern.“ Sir Fearless drosch auf die Fenster ein, doch auch dieses Unterfangen war mit einer Neun zum Scheitern verurteilt.
„Ihr seid schon soweit geschwächt, dass ich Euch die ersten Erfahrungspunkte wieder abziehen muss“, warf der Meister in persona von Mrs. Drake dazwischen.
„Welchen Grund gibt es, dass diese Weiber lachend vor den Spiegeln stehen?“, fragte sich Woodstick mit letzter Kraft. Die anderen beiden konnten nur mit den Schultern zucken. Ohne Absprache teilten sie sich auf und stellten sich jeweils vor eine der Hexen. Denn darüber waren sich nun alle im Klaren, freundliche Wesen waren diese drei höhnisch lachenden Frauen nicht.
„Mineheart, tu etwas. Ich kann nicht gegen Frauen kämpfen, ich bin ein edler Ritter.“
„Kein Problem", rief Mineheart und hieb mit seiner Axt gegen eines der vor ihm aufragenden Frauenbeine. Doch mit einer Dreizehn und einem Gegenwurf von Mrs. Drake mit nur einer Neun, aber viel mehr Erfahrungspunkten der Hexen, konnte er überhaupt nichts ausrichten und der Axthieb ging ins Leere. Nur eine winzige Ecke des Spiegels splitterte ab, vor dem die mittlerweile wieder blutjung aussehende Hexe stand.
Bei Mr. Drake, Francis und Gina ging der Puls jetzt schneller, es war eine Situation auf Leben und Tod.
„Der Spiegel blinkt mir ins Auge und ich sehe ganz feinen Rauch aufsteigen“, rief Francis erregt. Ein Würfelwurf bestätigte dies. „Ich laufe zu Mineheart“, Francis fasste Gina fest bei der Hand, „und stelle mich daneben. Da sehe ich, dass das Spiegelbild, das die Hexe verdeckt, nicht ihres ist, sondern das von Mineheart.“
Mrs. Drake nickte. „Sehr gut. Weiter!“
„Ich sage Mineheart, dass er den Spiegel zerstören soll.“
Der Zwerg schlug mit der Axt von der Seite auf diesen ein. Eine Sechs reichte aus und das Glas zerbrach in tausend Scherben.
„Der Spiegel entlässt Hunderte von Seelen toter Männer und auch die Seele von Mineheart“, jubilierte Francis.
„Das stimmt, Mineheart hat alle seine Kräfte wieder und bekommt noch die bisher unverbrauchten Kräfte der Hexe dazu“, bestätigte Mrs. Drake.
„Gut, ich renne jetzt zu den anderen Spiegeln und schlage sie ebenfalls entzwei.“
Zu diesem Zeitpunkt bemerkte Gina als Erste die Veränderung, die vor sich ging. Sie sah Francis an, der vor Aufregung glühte, und sah die Wände der Küche verschwinden. Auf einmal saßen sie mit ihrem Küchentisch im Garten des Hexenhauses. Von dort konnten sie in den Saal hineinsehen und ihre Figuren erkennen, die ihre Kraft aus den zerbrochenen Spiegeln schöpften und die Hexen, die zunehmend schneller alterten, um schließlich zu Staub zu zerfallen.
Mr. und Mrs. Drake standen Mund und Augen weit offen, als sie die Trugbilder erkannten, doch Francis war nicht mehr zu bremsen. Im Spiegelsaal barsten jetzt die Scheiben nach außen und ein Steinhagel von der Decke setzte ein. „Raus hier!“, schrie Woodstick und alle drei schafften es mit viel Glück durch die leeren Fensterhöhlen ins Freie. Hinter ihnen brach das Haus in einer gigantischen Staubwolke zusammen.
… obwohl es gar keinen realen Staub gab, wegen dem dies nötig gewesen wäre. Das Trugbild erlosch ebenso rasch wie Francis Aufregung über das gewonnene Abenteuer und sie saßen wieder in der Küche.
„Du wirst noch ein bisschen üben müssen“, sagte Gina lachend und spürte im selben Moment, als sie in Francis' Gesicht sah, wie enttäuscht er war. Er saß wie erstarrt auf seinem Stuhl und aus dem rechten Auge sickerte fast unmerklich eine Träne. Er konnte in diesem Augenblick noch nicht einmal wahrnehmen, dass seine Eltern nur erleichtert waren, dass diese für sie bedrohliche Situation vorbei war, und gar nicht auf die Idee kamen, dass ihr Sohn dieses als Niederlage empfinden könnte. Sie standen schon auf und schüttelten damit die Erlebnisse in dem Hexenhaus von sich wie Brotkrümel von der Hose ab, als dieser immer noch wie versteinert wirkte. Doch es dauerte nur ein paar Sekunden, in der Gina sich wegen ihres Lachers schämte und sich gleichzeitig darüber ärgerte, wie kaltherzig die Drakes über Francis' Missgeschick hinweggingen.
Mr. Drake klopfte ihm auf die Schulter. „Das war großartig, mein Junge. So sachlich, so gegenständlich, so greifbar. Viel besser als früher. Du hast enorme Fortschritte gemacht.“ Er nickte Gina breit grinsend zu, die kaum in der Lage war zu verstehen, dass Mr. Drake diesen Rückfall gar nicht als solchen erkannte.
Mrs. Drake schloss sich ihrem Gatten an: „Das stimmt. Früher hat er immer nur diffuse Gefühle und Farben projiziert. Das hier war ja fast wie Erlebnistheater. Möchte noch jemand einen Glühwein?“
Francis hob langsam den Kopf und nur Gina konnte sehen, wie er sich ärgerlich die Träne von der Wange wischte. Sie zog den Widerstrebenden zu sich hoch und nahm ihn in den Arm. Bange Sekunden vergingen, bis er die Umarmung erwiderte und Gina im Gleichklang mit ihm begann, ruhiger zu werden. „Wir kriegen das hin!“, sagte sie leise und tröstend. Er nickte nur mit dem Kopf, dann löste sich die Runde auf und jeder ging, mehr oder minder sorgenvoll oder gedankenverloren, in sein Bett.
Der Donnerstag begann mit einer Wetterberuhigung und der Schnee ließ sich, zwar mit viel körperlicher Arbeit, aber immerhin überhaupt wieder weitestgehend entfernen, nur konnte man den festgetretenen Eis- und Schneeschichten mit dem Streusalz kaum mehr Herr werden, sodass von den meisten Anwohnern Asche gestreut wurde.
Francis war heute Morgen sehr still zum Frühstück gekommen. Zwar konnte Ginas Anblick ihm endlich wieder ein verzagtes Lächeln entreißen, aber selbst wenn man die dunklen Ringe unter seinen Augen nicht gesehen hatte, konnte jeder merken, dass er in der Nacht wenig geschlafen hatte. Gemeinsam kämpften sie schweigend gegen die Auswirkungen des Winters an, bis Gina, die die Last auf Francis Seele fast körperlich spürte, sich ein Herz fasste und ihn darauf ansprach.
„Worüber hast du in der letzten Nacht nachgedacht?“
Er drehte sich zu ihr um. „War das alles zwecklos?“ Klamme Beklommenheit legte ihr schmutzig grünes Gewand über die im Sonnenlicht glänzenden Schneeflächen, nahm ihnen den Glanz und Ginas Herz gefangen.
Sie schüttelte sich, um dieses beengende Gefühl abzuwerfen und fasste ihn bei den Händen. „Nein, auf keinen Fall. Kannst du denn nicht sehen, welche Fortschritte du in den wenigen Wochen gemacht hast? Vorher hast du dich versteckt und jetzt kannst du dich schon ganz normal unterhalten.“ Sie verschwieg ihm, dass das gerade im Moment nicht so ganz der Wahrheit entsprach.
„Das stimmt“, sagte er nachdenklich und das beklemmende Gefühl wurde schwächer. „aber dieser Rückschlag tat weh.“
„Das tun Rückschläge immer.“ Gina hätte sich ohrfeigen können für diese Plattitüde. „Aber wir werden zusammen weiter daran arbeiten. Du bist nicht allein.“
Er nahm sie in den Arm und sagte: „Ja, das werden wir. Wir sind zusammen.“
Sie blickte ihm direkt in die Augen. „Ja, wir sind zusammen.“
Bis zum Nachmittag war in Gina eine Idee herangereift, die ihr neue Hoffnung gab und ihrem Geliebten weiterhelfen würde. Er musste ihre aufkeimende Zuversicht gespürt oder in ihrem Gesicht abgelesen haben, denn auch er schöpfte wieder sichtbar neuen Mut. Als er sie nach dem Mittagessen in den Arm nahm, sagte er: „Ich sehe es dir an, du hast doch einen neuen Plan!“ Er stupste ihr mit dem Finger auf die Nase.
Sie küsste ihn zur Antwort auf den Mund. „Ja, habe ich, aber den kann ich noch nicht verraten. Fürs Erste wäre es gut, wenn du bis Samstag weiterhin die Märchen laut liest.“
Er zog spielerisch enttäuscht die Augenbrauen hoch. „Nicht noch mehr Märchen.“
„Wenn du willst, kannst du auch jedes andere Buch nehmen, aber du solltest weiterhin laut lesen. Das hat immerhin schon eine Menge gebracht.“
Er seufzte ergeben und Gina grinste.
„Lass dich überraschen. Später möchte ich mit dir etwas Neues probieren. Wollen wir Samstag zu Sally gehen?“, wechselte sie übergangslos das Thema.
„Du müsstest vorgehen, weil ich ja noch bis zur Sperrstunde arbeiten muss.“
„Gut. Immerhin brauchst du, dank Mrs. Foster, jetzt nicht mehr über den Dachboden zu klettern. Da hatte diese unsägliche Szene doch wenigstens ein Gutes.“
Er nickte und strich ihr mit der Hand über das Haar.
Am Samstag wollte das Gespräch zwischen Gina und Sally nicht recht in Gang kommen. In der Woche war außer Mrs. Fosters Auftritt und die Enthüllung von Ginas und Francis' Liebe, die beide mit allen Berichten und Spekulationen schnell geschildert waren, nur noch das Spiel als Neuigkeit erwähnenswert, doch irgendwie wollte Gina das erst nicht so recht erzählen. Sie hatte das Gefühl, dass sie Sally mit dem Bericht dieses wunderbaren Erlebnisses noch ein bisschen mehr von der Welt ausschließen würde. Schließlich entschied sie sich aber doch dafür, weil sie ja von Francis' Rückfall berichten musste, der zu seiner neuen Aufgabe heute Abend führen sollte. Doch Sally war, zu Ginas grenzenloser Erleichterung, keineswegs davon betroffen, dass es wieder einmal etwas gab, an dem sie nicht teilhaben konnte, sondern freute sich im Gegenteil, dass Francis' Entwicklung fast sprichwörtlich in ihrem Wohnzimmer und damit vor ihren Augen stattfand.
Sally fieberte der Stunde entgegen, in der es endlich an der Vordertür klopfen würde, und die Spannung brachte dann doch noch eine lebhafte Diskussion der Freundinnen darüber in Gang, was heute Abend alles passieren könnte. So lebhaft wurde das Gespräch, dass sie fast das heftige Hämmern an der Vordertür überhört hätten. Als Sally endlich öffnete, ließ sie mit einem entschuldigenden und verschämten Lächeln einen heftig frierenden Francis ein. Er hatte schon mehrere Minuten dürftig bekleidet draußen gestanden.
Dieser ließ sich nicht lange bitten, sondern eilte ohne ein Wort an den Ofen. Als er schließlich aufhörte zu zittern und alle Begrüßungsrituale abgeschlossen waren, fragte er kurzum: „Und was hast du heute für mich vorgesehen?“
Gina lächelte geheimnisvoll und deutete auf das Märchenbuch, das er in der Zwischenzeit auf den Tisch gelegte hatte. „Wir haben bisher zwei unterschiedliche Dinge probiert. Das Erste war das Vorlesen und das Zweite baute darauf auf und war die freie Rede. Bei beiden, mein Schatz, kannst du meistens deine Gefühle in den Hintergrund drängen“, Sally und Francis grinsten sich in einer spontanen und übereinstimmenden Erinnerung an den Spieleabend an, „weil du dir immer entweder vorher überlegen kannst oder aber von fremder Seite vorgegeben bekommst, was du sagen sollst. Ich würde das Ganze jetzt gerne etwas steigern.“ Gina begann etwas nervös im Raum umherzugehen, weil sie nicht wusste, ob sie die richtigen Worte finden würde. „Schön wäre es, wenn du eine längere Zeit frei sprechen musst, ohne dass du dir vorher überlegen kannst, wie deine Worte wirken. Ich möchte“, sie deutete auf das Buch, „dass du uns eine Geschichte erzählst. Wenn du willst, aus dem Buch oder eine, die du dir ausdenkst. Was hältst du davon?“ Zum Schluss hatte sie vor Aufregung und Ungewissheit, wie ihr Vorschlag ankommen würde, immer schneller gesprochen.
Francis dachte lange nach, solange, dass seine Freundin schon glaubte, er würde ihren Vorschlag wie befürchtet ablehnen. Dann zog er unvermittelt einen Sessel so vor den Ofen, dass er sich mit der Wärme im Rücken halb auf die Lehne setzte, halb dagegen lehnte. „Gut. Setzt euch.“
Die so Angesprochenen rückten nun ihrerseits die Sitzgelegenheiten so zurecht, dass sie den etwas erhöht sitzenden Francis wie auf einer Bühne sehen konnten. Dieser strahlte eine unerwartete Ruhe aus, seine Augen blickten ins Leere. Sein Kopf schien größer zu werden und seine Schultern breiter. Dieses neue Bild von Francis würde Gina nie vergessen. Dessen Augen hatten sich nach oben gedreht, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Das erschreckte Gina dann doch etwas.
Der Raum um sie herum verdunkelte sich, bis nur noch Francis im Schein einiger flackernder Kerzen erhellt wurde und zu erzählen begann: „Als ich ein kleiner Junge war, ...“
Für Gina wurde es mit Francis’ erstem Wort schwarz vor den Augen und sie klammerte sich erschrocken an der Armlehne fest, bis sie sich urplötzlich viele Meter über den Erdboden geschleudert fühlte. Es war wie ein Höllenritt in der Achterbahn. Für Sekunden schwebte sie bewegungslos über einem betonierten Gelände, das an einen großen, hässlichen, rotgeklinkerten Bau grenzte. Erst schwach, dann lauter, als die Eingangstür von einem Hausmeister aufgestoßen wurde, schepperte eine altersschwache Schulklingel und entließ für ein paar freie Minuten vielleicht fünfzig Kinder auf den Hof, die sich rufend und schreiend in die verschiedenen Ecken zurückzogen. Ein Nachzügler von vielleicht sieben Jahren, für sein Alter ungewöhnlich klein und in viel zu große, umgekrempelte Hosen und Hemden gesteckt, trat durch die Tür und blinzelte in die Sonne. Mit einem Aufschrei begann Gina zu fallen, stürzte immer rasanter auf den Jungen zu und war sicher, dass ihr Sturz ihn jeden Moment unter sich begraben würde, bis sie auf einmal langsamer wurde und in den Körper des Jungen schlüpfte. Jetzt blinzelte sie durch seine Augen in die Sonne und fühlte das gleiche mulmige Gefühl, das den Jungen jede Pause beschlich.
„Na los, Idiot, geh aus der Tür und troll dich zu den anderen“, schnarrte die unfreundliche Stimme des Hausmeisters in seinem Rücken. Und noch bevor er reagieren konnte, fühlte er einen Stoß, der ihn die ganze Treppe hinunter befördert hätte, wenn er nicht zufällig am Geländer gestanden und sich noch gerade so hätte festhalten können.
„Was soll das, Patrick?“ Mrs. Fosters Stimme erklang im Treppenhaus. „Was machen Sie da mit dem Jungen?“
„Gar nichts, Mam. Ich muss hier nur die Türen zuschließen.“
„Ich will nicht sehen, dass sie noch einmal so grob zu einem Jungen sind!“, rief sie erbost.
„Blöde Betschwester!", murmelte der Hausmeister fast unhörbar und schloss die Tür. „Ja, Mam!“, hörte Francis ihn noch rufen.
Freunde hatte er hier keine und deshalb suchte er den Weg zum einsameren linken Rand des Schulhofes, wo ein hoher Maschendrahtzaun das Gelände von einer ehemaligen Munitionsfabrik abgrenzte, die noch im letzten Kriegssommer von einer Fliegerbombe teilweise zerstört worden war. Zumindest hatte es so sein Vater erzählt, der einen guten Freund in den Trümmern verloren hatte. Außerdem hatte er noch hinter vorgehaltener Hand berichtet, dass im Ort gesagt wurde, dass seit damals niemand mehr das verseuchte Gelände betreten hätte aus Angst, es könnten noch Blindgänger vorhanden sein. Ein wohliger Schauer lief über seinen schmalen Rücken, er gruselte sich gar zu gern.
„Hi Francis, willst du mit mir gehen?“
Francis drehte sich um und stand Elisabeth gegenüber. Sie war vier Jahre älter und hatte ihre übliche Mädchentruppe um sich versammelt, die jetzt beifällig kicherten. Sie lachte wiehernd los und entblößte die riesigsten Pferdezähne, die Francis je gesehen hatte.
Er schwieg.
„Na los, Idiot, sag was!“, rief ihm ein anderes der Mädchen zu. Der Kreis, den sie um ihn schlossen, ließ keinen Ausweg mehr zu. Gina spürte tief in ihm drin die Angst, die sich zu einem schmerzhaften Ball in seinem Bauch sammelte.
„Genau, Betty, der wäre was für dich!“, rief hämisch einer von zwei Jungen in Elisabeths Alter, die sich ebenfalls in den Kreis gedrängt hatten. „In die Hosen würdest du glatt noch mit hineinpassen.“
Der Schmerz der Angst breitete sich aus und lastete so schwer auf seinem Brustkorb, dass er fast keine Luft mehr bekam. Die Angst stand in seinen Augen, als er sich rückwärts an den Zaun drückte und flüsterte: „Was wollt ihr? Lasst mich in Ruhe!“
Sie war für alle spürbar, greifbar und stachelte sie immer weiter an.
„Nein, so würde ich ihn nicht nehmen.“ Elisabeths Stimme hatte einen gehässigen Unterton bekommen. „Erst muss er beweisen, dass er mich wirklich liebt.“ Sie blickte triumphierend in die Runde.
Francis sah nur noch die Leiber der näher rückenden Kinder um sich und hoffte auf das Pausenklingeln, aber die Sekunden zogen sich zu Stunden in die Länge.
„Erst muss er mir“, ihr Blick wanderte auf der Suche nach der geeignetsten Demütigung umher und blieb an dem Bombenkrater hängen, „eine volle Patrone von da drüben bringen. Hörst du, Idiot? Keine leere Hülse sondern eine volle, klar?“ Sie hieb ihm mit der rechten Hand unter das Kinn. „Sieh mich an, wenn ich mit dir rede, Idiot. Hören kannst du doch noch, oder?“
Francis' Augen weiteten sich und Gina spürte, wie ihm die Angst aus jeder Pore seiner Haut kroch, und er sackte am Zaun immer weiter in sich zusammen.
„Hey Betty“, rief Raymond, „nimm doch lieber mich.“ Er gackerte. „Mit so einem Schisser hättest du ja doch keinen Spaß.“
Elisabeth wandte sich ihm zu. „Und was würdest du für mich tun?“ Sie stemmte die Hände in die Hüfte und wackelte mit dem Hintern, wie sie es im Kino gesehen hatte.
Raymond lehnte sich jetzt lässig über dem zusammen-gekauerten Francis an den Zaun. „Na, ich werde dir die Patrone schenken, die Idiot für mich holen wird.“ Alles lachte und mit diesen Worten holte Raymond aus und verpasste Francis einen Schlag an den Kopf, dass der nur halb so schwere Junge über den Beton kugelte und mit dem Kopf an einen Stein prallte.
Dann wurde es dunkel um Gina und sie fühlte sich emporgerissen. Gleichzeitig vergingen der Schmerz, die Scham und die Angst, die eben noch seine Gedanken dominiert hatten, sodass für anderes kein Platz mehr war. Sanft landete sie in ihrem Sessel und im gleichen Moment wurde es wieder heller um sie.
„Zwei Jahre später nahm mich meine Mutter von der Schule.“
Einen Augenblick herrschte atemlose Stille im Raum, bis sich Sally und Gina wieder orientiert hatten. Derweil hatten sich auch Francis' Augen wieder zurückgedreht und blickten mit sanfter Trauer auf Gina.
„Hast du auch erlebt, was ich gesehen habe?“, fragte Sally.
Gina nickte wortlos und sah ihren Freund bedauernd an.
„Ich weiß nicht, wie du das gemacht hast, Francis, aber diese Vorstellung war atemberaubend. Ich hätte mir fast in die Hose gemacht vor Angst.“ Unwillkürlich fühlte Gina in ihrem Schritt, aber da war nichts zu spüren. „Das war die Realität nicht? So war es wirklich damals?“
Er nickte. „Ja. Der ängstliche Junge war ich. Der Idiot. Der Außenseiter.“
Sie stand auf, und als sie ihn in den Arm nahm, um ihm zu zeigen, dass sie zu zweit diese Welt bewältigen könnten, reichte ihr Kopf gerade noch bis unter sein Kinn.
Eines hatte sich also heute Abend nicht wieder zurückverwandelt, dachte Gina. Francis ist gewachsen, er hat sich verändert.
… Francis' Erzählung erlebt hatten, verlief das Gespräch schnell im Sande, so beeindruckend war dieses Erlebnis gewesen. Und so verabschiedeten sie sich schon bald voneinander.
Im ganzen Haus der Drakes herrschte tiefe Stille, denn das Spiel im Speisesaal war in vollem Gange. Die Ereignisse bei Sally hatten in die noch junge Liebe der beiden eine bisher ungeahnte Nähe gebracht und so standen sie, fast voneinander abgewandt, da und verharrten in ihren Gedanken und Bewegungen. Wie sollten sie jetzt miteinander umgehen? Dann zog Francis Gina zärtlich zu sich und nahm sie fest in den Arm.
„Du hast dich verändert“, konstatierte sie flüsternd.
„Ja!“, antwortete er schlicht. „Du hast diese Veränderung ausgelöst.“
„Ich weiß.“
„Ich habe mich in den letzten vier Wochen weiter entwickelt, als in meinem ganzen Leben zuvor.“
Sie sah ihn fragend an. „Weil du jetzt sprechen kannst?“
„Nein“, er schüttelte den Kopf, „nicht nur. Als ich dich kennenlernte, konnte ich doch kaum sprechen, ohne dass ich automatisch meine Gefühle auf andere übertrug.“
„Ja, das weiß ich.“
„Nein, tust du nicht. Ich habe irgendwann bei meinen Übungen plötzlich gespürt, wie es sich in meinem Kopf anfühlt, wenn ich es schaffe keine Trugbilder zu erzeugen. Es ist, als ob ich die gleichen Gefühle habe, nur viel kälter, flacher. Und diese liegen unter meinen wahren Gefühlen versteckt. Aber ich muss da hindurchtauchen, um sie dort zu finden.“ Er brach ab und ruderte hilflos mit den Armen. „Ich weiß nicht, wie ich es anders beschreiben soll.“
Gina blickte ihn begeistert an. Sie begann das erste Mal zu verstehen, wie er wirklich fühlte.
Er fuhr fort: „In dem gleichen Maße, wie ich gelernt habe vorzulesen, ohne meine Emotionen zu transportieren, habe ich auch gelernt, gezielt die Farben und Bilder, die in dem Gefühlsbereich entstehen, auswählen zu können und auf alle Anwesenden zu übertragen.“
„Marks Angriff auf mich?“
„Ja." Er nickte und sah zu Boden. „Dann habe ich gelernt frei zu reden und gleichzeitig konnte ich auf einmal ganze Szenen in euren Köpfen erschaffen, in denen ihr selbst handeln konntet, wie eine Bühne, die ich euch leihe.“
Gina bekam große Augen. „Das stimmt, das habe ich gemerkt.“
„Und jetzt …“, Francis' Stimme war nur noch ein Beben und Gina musste mit den Händen seinen Kopf heben, damit sie ihm in die Augen blicken konnte, „und jetzt bin ich noch weiter gewachsen.“
„Wie genau bist du noch weiter gewachsen?“
„Jetzt kann ich wirklich erzählen. Jetzt kann ich, auch ungefragt, jeden einzelnen meiner Zuhörer in die Geschichte bringen, die ich möchte.“
„Das ist eine ungeheure Macht.“ Ginas Stimme zitterte jetzt auch bei den Dimensionen, die das Ganze angenommen hatte.
„Das ist mehr, das ist Vergewaltigung.“
„Blödsinn!“ Gina reagierte heftiger, als sie eigentlich wollte, vielleicht weil sie tief im Innern spürte, dass er recht hatte. "Das ist doch keine Vergewaltigung.“ Für ein paar Schrecksekunden, in der ihr das gerade Gesagte wirklich klar wurde, hielt sie die Luft an. „Doch, du hast recht. Das ist es schon.“
Stille breitete sich zwischen den beiden aus. Gerade wollte Francis schon den Mund öffnen, um etwas zu sagen, da unterbrach ihn Gina brüsk: „Aber ich bin sicher, dass du diese Macht nicht missbrauchen wirst. Du bist doch am ehesten derjenige, der weiß, wie man sich fühlt, wenn einem Gewalt angetan wird.
Francis nickte mit dem Kopf und fuhr fort, ohne direkt darauf einzugehen: „Es gibt noch etwas Neues: Vorhin ging, ohne jede Vorankündigung, die letzte Veränderung mit mir vor. Ich spüre auf einmal Gefühle von anderen und diese beeinflussen mich.“
„Du spürst meine Gefühle? Das ist gut, dann brauche ich dir nicht mehr zu sagen wie sehr ich dich liebe“, versuchte Gina einen matten Scherz.
Doch Francis ging darauf nicht ein. „Ich kann die Gefühle von allen spüren. Von allen Menschen um mich herum, vielleicht sogar von allen Menschen in der Stadt, ich weiß es nicht. Es ist wie eine neue Gefühlsebene, die sich unter die kältere und flachere geschoben hat. Vorhin überflutete mich plötzlich eine Welle von Hass und Angst und Aggressionen, die ich irgendwie aufgenommen habe, und daraus ist dann das geworden, was ich erzählt habe.“
„Dann ist dir das damals gar nicht passiert?“
„Doch ist es. Aber diese Geschichte wollte ich eigentlich gar nicht erzählen. Aber das ist es, was ich jetzt bin, das spüre ich genau. Ich bin ein Erzähler.“
„Und du kannst Menschen an deinen Geschichten direkt teilnehmen lassen.“
„Schlimmer, ich kann sie manipulieren und ich weiß nicht, ob ich es schaffe, das immer zu kontrollieren.“
Sie standen noch lange danach Arm in Arm im Flur und versuchten sich Kraft zu geben.
In der folgenden Zeit nach dieser für ihn so einschneidenden Erkenntnis über sein wahres Wesen und die Verantwortung, die damit verbunden war, wurde Francis von Tag zu Tag nachdenklicher und unruhiger.
Seine Mutter vermutete im Gespräch mit ihrem Mann, dass Francis sich zu viel zumuten und dass Gina ihn zu stark anspornen würde, doch Mr. Drake winkte energisch ab.
„Rede mir die Gina nicht schlecht! Francis ist ein erwachsener Mann und er muss wissen, was er tut. Zumindest glaube ich nicht, dass sie ihn über Gebühr anspornt. Im Gegenteil, ich glaube er ist auf dem richtigen Weg aus seiner Einsamkeit herauszukommen. Dafür sollten wir ihr dankbar sein.“
„Du hast ja recht“, gab Mrs. Drake kleinlaut zu, ein Verhalten, das ihr eigentlich gar nicht ähnlich sah, „aber ich habe halt Angst um unseren Jungen. Er ist so verändert.“
Einen Augenblick schwiegen beide.
„Vielleicht sollten wir unsere kleine Spielrunde am Mittwoch fortsetzen?“, fragte Mrs. Drake. „Ich habe Angst, dass uns unser Sohn entgleitet. Und so bekommen wir wenigstens noch ein bisschen von dem mit, was er denkt und fühlt.“
„Gute Idee!“ Mr. Drake nickte wohlwollend. Auch wenn er die Bedenken seiner Frau nicht teilte, wäre das eine angenehme Möglichkeit sie zu beruhigen. „Ich werde es ihnen nachher vorschlagen.“
Am Mittwochabend hatten Sir Fearless, der Zwerg Mineheart und der Magier Woodstick nach dem Abenteuer in dem verhexten Spiegelhaus noch eine kleinere Aufgabe zu bestehen und wollten gerade den Berg der verschleppten Jungfrau in Angriff nehmen, da unterbrach sie das Telefon mitten im Spiel. Und noch bevor jemand an den Apparat gehen konnte, sagte Francis mit düsterer Stimme: „Schlechte Nachrichten, Dad. Es sind schlechte Nachrichten.“ Er wurde bleich.
Die anderen am Tisch sahen sich kurz verständnislos an, dann ging Mr. Drake an den Apparat. „Hier ist der Neunarmige Krake.“
„Paul?“, drang eine leicht verzerrte Stimme durch das Telefon.
„Reverend?“
„Ja. Ich habe traurige Nachrichten.“
In der Küche sagte Francis tonlos: „Es hat einen Unfall gegeben. Ich fühle abgrundtiefen Hass. Menschen sind verletzt.“
„Ja?“, sagte Mr. Drake, der Francis nicht hören konnte, ins Telefon.
„Die Blacksmiths haben einen Unfall gehabt, als sie vom Weihnachtseinkauf zurückkamen. Ihr Wagen ist von der Straße abgekommen.“
„Und?“ Mr. Drake schnürte es plötzlich die Kehle zu.
„Sie sind beide schwer verletzt und werden im Kreiskrankenhaus gerade operiert. Der Constable hat mich gerade angerufen, weil er ja weiß, dass ich die beiden kenne."
„Das ist ja furchtbar.“
„Ja, das ist es. Sag du es bitte Sue. Ich kümmere mich um die Benachrichtigung der Kinder.“
„Ist gut. Das mache ich. Können wir sonst etwas tun?“
„Im Moment nicht. Ich halte euch auf dem Laufenden.“
„Ja, danke. Tu das bitte.“ Er legte auf und ging in die Küche zurück. Mit versteinertem Gesicht blieb er in der Tür stehen und wollte gerade den Mund zu einer Erklärung öffnen, da schnitt ihm Francis das Wort ab, indem er so ruckartig von seinem Stuhl aufstand, dass dieser nach hinten kippte und umfiel.
„Es war kein Unfall. Ich spüre deutlich, wie Leute lachen. Es war kein Unfall.“ Und ohne ein weiteres Wort rannte er aus der Küche in Richtung seines Zimmers.
Den Drakes blieb die Sprache weg und Gina wurde blass. „Er hat es mir vor ein paar Tagen erst gesagt. Er kann jetzt auch die Gefühle anderer empfangen. Ich glaube aber“, ergänzte sie, „dass er sie nur ganz diffus empfindet, ohne dass er sie zuordnen kann. Aber deshalb hat er eben wohl geahnt, was Sie am Telefon hören würden.“
... hatten die Drakes wegen der wirtschaftlichen Probleme, die viele ihrer Landsleute derzeit hatten, gar nicht mehr gerechnet und waren dann umso erfreuter, dass ab Donnerstag immer mehr Essensanmeldungen für das Wochenende eingingen. Kurzerhand waren in der Stadt noch einige Weihnachtsfeiern geplant worden und Mrs. Drake musste mit einem freudigen Lächeln, das sie gar nicht zu verbergen versuchte, Gina bitten, am Samstag auch zu arbeiten. Gina war insgeheim ein wenig enttäuscht, denn sie hatte sich bereits auf den gemeinsamen Abend mit Sally gefreut, aber selbstverständlich konnte sie die Drakes mit der ganzen Arbeit nicht allein lassen und sagte ihre Hilfe zu.
Mrs. Drake gab sich die größte Mühe besonders festliche Menüs für das Wochenende zusammenzustellen und kam mit den Vorbereitungen fast gar nicht mehr aus der Küche heraus. Deshalb entdeckte Mr. Drake den Reverend als Erster, als dieser am Freitagabend kurz vor der Essenszeit die Tür öffnete und mit einer größeren Schneewolke hereinwehte.
Er sah ihn fragend an. „Guten Abend, Reverend? Möchtest du dich setzen? Ich könnte mir vorstellen, dass du jetzt einen kräftigen Grog vertragen könntest, so verfroren, wie du aussiehst.“
„Danke Paul. Gute Idee.“ Seine Augen suchten und fanden den einzigen freien Tisch in der Nähe des überheizten Kamins. „Der Platz ist gut, für andere bestimmt zu heiß, aber da bekomme ich wieder ein bisschen Wärme in die Knochen ...“
„Warst du in der Stadt?“, fragte Mr. Drake, als er die heiße Tasse servierte.
„Ich bin gerade mit dem Abendzug zurückgekommen. Die British Rail war ein Genuss.“ Er musste lachen. „Weil es so kalt ist, ist leider die Heizung im Zug eingefroren.“
Gina und Francis traten hinzu und stellten sich hinter Mr. Drake. „Gibt es Neuigkeiten von den Blacksmiths?“
„Gott sei Dank, ja!“, lächelte der Reverend. „Sie sind beide über den Berg und sie werden höchstwahrscheinlich beide wieder vollständig gesund werden, auch wenn sie auf jeden Fall noch bis ins neue Jahr hinein im Krankenhaus bleiben müssen.“
„Das ist trotz allem eine gute Nachricht.“ Francis lächelte emphatisch zurück und nahm Gina in den Arm.
Der Reverend schlürfte an seinem Grog. „Ich wollte dich noch etwas fragen Paul. Und Sue natürlich auch, wenn sie da ist.“
„Ja, natürlich, sie ist in der Küche. Soll ich sie holen?“
„Das hat keine Eile. Ihr beide solltet auch gerade einmal hierbleiben“, sagte der Reverend zu Gina und Francis, die sich schon wieder an die Arbeit machen wollten. Trotz des Lärms der vielen Anwesenden fuhr er leiser fort: „Paul, ich weiß nicht, wie ihr beide darüber denkt, aber ihr habt mir ja von eurer Mittwochs-Spielrunde erzählt und da dachte ich mir, dass es vielleicht ganz schön wäre, wenn Gina und Francis die Plätze von den Blacksmiths am Samstag einnehmen würden, bis diese wieder zurück sind. Was haltet ihr davon?“
Die beiden Angesprochenen sahen sich wie auf Befehl an und nickten gleichzeitig. „Von uns aus gerne.“
„Okay“, sagte Mr. Drake. „Für mich ist es auf jeden Fall in Ordnung, aber ich werde sicherheitshalber Sue fragen. Was ist mit den anderen?“
„Die habe ich schon gefragt und sie sind alle einverstanden.“
„Dann bin ich es natürlich auch", ließ sich Mrs. Drake vernehmen, die unbemerkt hinter die kleine Gruppe getreten war. „Aber werden ihre Spielfiguren weit genug sein, um mit unseren mithalten zu können?“
„Ich denke, ihr solltet trotzdem für den Anfang eure Mittwochsrunde aufrecht erhalten, dann werden sie sich schon schnell genug entwickeln.“
Ein Mann war auf der anderen Seite des Kamins aufgestanden und hatte sich an den Tresen gestellt. „Miss, kann ich bitte zahlen?“
Das lenkte Gina erst einmal ab. Im gleichen Moment krümmte sich Francis unmerklich zusammen. Missgunst und Hass gehen von dem Typen aus, schoss es ihm durch den Kopf und dann erkannte er ihn, obwohl er ihn seit Jahren nicht gesehen hatte. Raymond! Was will der denn hier?
Für den Rest des Abends war Francis sehr nachdenklich und in sich gekehrt, doch das fiel in erster Linie seiner Freundin auf. Um ihn wieder ganz in die Realität zu holen, ging sie ein paar Mal dicht an ihm vorbei und streichelte ihm über den Rücken oder legte eine Hand auf seine Schulter. Doch im besten Falle sah er sie nur kurz und verhalten lächelnd an, wenn er überhaupt reagierte. Er schien von irgendetwas in Anspruch genommen zu sein, das nur er wahrnehmen konnte. Selbst als alle Gäste gegangen und die Eltern Drake sie mit den restlichen Aufräumarbeiten allein gelassen hatten, blieb er so in sich gekehrt.
„Francis?“
„Mmh.“ Er wischte mit deutlich mehr Energie als nötig gewesen wäre die Armaturen blank.
„Was ist mit dir?“
Er sah sie nur gequält an.
Sie überlegte. „Ist irgendetwas mit uns passiert, dass du mich so vollständig ignorierst?“
„Nein! Natürlich nicht“, sagte er schnell und hob beschwichtigend die Hände. Und für einen winzigen Moment hatte Gina ein Déjàvu: Der mausgraue, viel kleinere Francis, der die gleiche Geste zeigte, überlagert von dem mittlerweile aufrechten und bestimmt einen Kopf größeren Mann, den sie liebte. Viel mehr liebte, als sie je einen Menschen geliebt hatte.
„Es ist nur so, dass im Moment so viel auf mich einstürzt. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen.“
„Du meinst die Emotionen von anderen?“
Er nickte und sie trat heran, um ihn in Arm zu nehmen, als sei er wieder ein Junge, der beschützt werden müsste.
„Es kommt in Wellen, die über meine eigenen Gefühle spülen, und es erstickt mich.“
Schweigend beendeten sie die letzten Reinigungsarbeiten. Dann standen sie Arm in Arm an der Küchentür.
„Wenn du mich hältst, ist es besser. Dann spüre ich nur noch deine Liebe und kann mich darauf konzentrieren. Das gibt mir Kraft.“
Gina spürte, wie das Glück sie nach den Momenten des Zweifels wieder durchströmte, und ein völlig irrwitziger Gedanke machte sich in ihr breit, doch sie traute sich nicht, ihn Francis mitzuteilen.
Francis konzentrierte sich auf das warme Braun ihrer Augen. „Du bist gut für mich. Aber das, was du jetzt möchtest, wäre gegen jede Regel.“
Ohne es zu wollen, wurde sie rot. „Aber ich glaube, es wäre gut für uns.“
Seine sehnsüchtig geweiteten Augen verrieten ihn und dann versanken sie in einen tiefen Kuss. Ohne hinzusehen, legte Francis dabei den letzten Lichtschalter um und der Raum versank in fast vollständige Dunkelheit. Einige wenige Lichtstrahlen fanden den Weg durch die geschlossenen Fensterläden und das restliche Glimmen der Glut im Kamin verbreitete einen warmen, rötlichen Schein. Ihrer beider Hände machten sich auf die Suche nach dem anderen und fanden ihn, ertasteten und streichelten ihn, während ihre Münder nicht voneinander lassen konnten. Sein Körper ist so viel muskulöser und härter, als seine samtweiche Seele es je hätte erahnen lassen!, war der einzige klare Gedanke, der Gina noch durch den Kopf ging. Francis konzentrierte alle seine Sinne auf das Entdecken dieses weiblichen Körpers, fuhr den weichen Bauch nach oben und erfühlte unter dem Büstenhalter mit ihren Brüsten die Bereiche des weiblichen Körpers, die er noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Dann hob er sie sanft hoch, sie umklammerte mit ihren Beinen seine Hüfte und ihre Gedanken und Gefühle verschmolzen miteinander.
… die Sonne war noch nicht aufgegangen, hauchte er ihr einen Kuss auf die Wange, entzündete ein Feuerchen im Kamin, das er mit dem Gitter abdeckte, und begann seine und ihre Kleidungsstücke einzusammeln, damit nichts Verräterisches von den vergangenen Stunden gefunden werden konnte. Er atmete genussvoll ein, denn er hatte immer noch die Erinnerung ihres Nachtgeruchs in der Nase, und während er sich anzog, wurde ihm plötzlich klar, dass dieses Zusammensein ihm geholfen hatte eine Barriere nach außen aufzubauen. Er ging durch das schlafende Haus und konnte die Welt anderer Gefühle spüren und wahrnehmen, aber sie reichten nicht mehr an ihn heran, die Liebe hatte einen Wall um ihn errichtet. Und bester Laune begann er den frühen Tag mit Schneeschippen.
Wie erwartet wurde der Tag sehr arbeitsreich und Gina fand nur mit Mühe zwischendurch Zeit, Sally Bescheid zu sagen, damit diese nicht abends auf sie wartete. Natürlich wirkte Sally ein wenig enttäuscht und Gina hatte auch ein entsprechend schlechtes Gewissen, zumal sie ja wusste, dass es für Sally immer schwierig war, aus dem Haus zu kommen, aber sie freute sich mit zusammengebissenen Zähnen und verlangte nur, ihr in den nächsten Tagen ausführlich Bericht zu erstatten. Gina dankte ihr erleichtert, nahm sie herzlich in die Arme und musste auch schon wieder schnell den Weg zur Arbeit finden.
Die Spielrunde selbst war für Gina und Francis ein wenig ernüchternd, denn durch die vielen Mitspieler wurde der Handlungsablauf spürbar zäher und im Übrigen waren ihnen die anderen in der Entwicklung ihrer Figuren sehr weit voraus. Sie würden noch viel Spielzeit brauchen, um auf Augenhöhe mit ihnen zu kommen. Aber letztlich interessierte sie das nicht, denn sie hatten das Spiel gefunden, das sie beide begeisterte und nicht zuletzt konnten sie zusammen sein. Für Gina war das fast schon wie eine Sucht.
Nach dem Abend zählte sie insgeheim schon wieder die Tage, bis sie in ihrer kleineren Familienrunde ihr Spiel fortsetzen würden.
Der Mittwoch kam und mit ihm die Nachricht, dass die Drakes nach dem gemeinsamen Frühstück in die Kreisstadt fahren werden, weil jetzt gerade die Straßen ausreichend frei seien und sie gerne die Blacksmiths im Krankenhaus besuchen würden. Im Übrigen könne man am Nachmittag die Zeit nutzen, um ein paar Weihnachtseinkäufe zu tätigen.
„Fährst du mit, Francis?“, fragte Mrs. Drake.
„Nein, ich glaube nicht, Mama“, antwortete er. „Aber richtet bitte Grüße aus.“
Mrs. Drake nahm diese Absage gelassen hin und machte sich kurz darauf mit ihrem Mann auf den Weg. Gina freute sich über diese Entscheidung von Francis, bedeutete sie doch, dass sie einen ganzen Tag allein zusammen sein konnten. Doch diese Freude war nur von kurzer Dauer, denn als er vom Frühstückstisch aufstand und sich zu ihr herüber beugte, um ihr einen Kuss zu geben, sagte er: „Ich werde jetzt auf mein Zimmer gehen, Gina. Ich muss nachdenken. Bis nachher!“, und ohne eine Antwort abzuwarten, machte er kehrt und ließ Gina vor den Kopf gestoßen allein in der Küche zurück.
Da war er wieder, der fiese Stachel allein zu sein, doch nicht gebraucht zu werden. Doch sie schalt sich einen Dummkopf, wenn überhaupt jemand Zeit brauchte, um die vielen Veränderungen zu verarbeiten, dann war das doch Francis und sie zog sich mit einem guten Buch in ihren Lieblingslesesessel zurück.
Nur wenige Stunden später klopfte es zaghaft an der Tür und ein scheinbar heiterer, aber im Inneren bedrückter Francis kam herein. „Störe ich?“
Sie schaute ihn erfreut an und legte ihr Buch beiseite. „Nein, du störst nie. Bist du weiter gekommen, worüber du auch immer nachdenken wolltest?“
„Nein, nicht wirklich.“ Er zog die gespielt widerstrebende Gina zu sich hoch. „Hast du Lust auf einen Spaziergang? Du wolltest mir doch immer mal unsere Stadt im weihnachtlichen Lichtermeer zeigen.“
„Schafskopf!“, schalt sie ihn zärtlich. „Dafür ist es doch noch viel zu früh!“ Sie zog ihn dicht zu sich heran, doch er wich ein paar Zentimeter zurück.
„Ich würde jetzt aber gerne einen Spaziergang machen. Ich könnte dir auch etwas zeigen, wenn du magst.“
Noch einmal war sie ein klein wenig enttäuscht, holte sich aber trotzdem noch einen Kuss. „Na klar, wenn du das möchtest? Für einen Spaziergang bin ich immer zu haben.“
Und während sie sich anzogen, fragte sie: „Was willst Du mir denn zeigen?“
„Lass dich überraschen!“ Er zog Gina eilig nach draußen und in Richtung Hafen. Dort wollte sie schon aus reiner Gewohnheit nach links abbiegen, doch Francis zog sie nach rechts. Hand in Hand spazierten sie die Harbourstreet entlang, die schon vor dem Ende der Mole aufhörte. Diese zog sich noch ein paar Hundert Meter weiter um die Bucht herum und endete vor einem niedrigen Berg, dem Firehill, auf dessen Spitze unübersehbar ein alter, mittlerweile unbenutzter Leuchtturm den Möwen als Sammelplatz diente.
Die tiefstehende Sonne wärmte sie und zauberte ein bisschen Winterglück auf Francis' Gesicht, je weiter sie liefen. Bis hierhin waren sie in stiller Eintracht schweigend neben-einander hergegangen.
„Und nun? Da vorne ist die Mole zu Ende.“
„Warte es ab. Siehst du da, ein Stückchen tiefer beginnt ein Fußweg, da müssen wir entlang.“
Wieder schweigend kletterten sie mit dem schmalen Fußpfad den Hügel hinan, bis Francis kurz vor dem Gipfel seitlich zum Wasser hin den Pfad verließ und ein paar Büsche beiseite drückte. Vor ihnen lag ein kreisrunder Höhleneingang.
„Du möchtest, dass ich mitten im Winter in eine dunkle, kalte Höhle klettere?“
Er lachte und zum ersten Mal seit Langem klangen wieder die Glocken unbeschwerten Glücks in seiner Stimme mit. „Nein. Ich wollte dir nur zeigen, wo ich einen guten Teil meiner Kindheit verbracht habe.“
„Hier?“ Sie lächelte ihn ungläubig an.
„Ja, hier. Hier hat mich nie irgendjemand von den anderen Kindern gefunden und ich hatte meine Ruhe vor meinen Eltern, wenn ich sie brauchte.“
Gina erinnerte sich an die Geschichte aus der Schule und wurde wieder ernst. „Ich verstehe.“
„Und zusätzlich“, er hatte ihren Stimmungsumschwung noch gar nicht bemerkt und zog sie vom Weg weg in den Höhleneingang, „und zusätzlich hat man von hier einen atemberaubenden Blick auf die Stadt.“
Die Sonne versank gerade im Meer und bemalte mit ihren Farben die dicht an den Berg geschmiegten Häuser. Dann begann mit zunehmender Dunkelheit das Geflacker der Gaslaternen in den Straßen und vereinzelte Kerzen leuchteten auch schon in den Fenstern.
„Schön!“, sagte sie schlicht und staunte in die Welt.
Francis sah ihr tief in die Augen und antwortete: „Wunderschön. Einfach wunderschön.“ Und dann küsste er sie so lange, bis ihnen die Kälte in die Beine kroch.
Ohne sich abzusprechen, liefen sie den Fußweg zurück und bogen dann von der Mole in die Londonroad ab. Durch diesen Teil des Ortes war Gina nur einmal bei ihrer Ankunft gelaufen und war überrascht zu sehen, dass hier der etwas wohlhabendere Bereich zu finden war. Bevor sie die Mainstreet erreichten, bogen sie nach rechts in die Shortstreet und lugten neugierig in die Fenster hinein, wie die Menschen hier ihre Wohnungen für Weihnachten geschmückt hatten.
„Nicht, Gina, das fällt doch auf“, sagte Francis das eine oder andere Mal lachend und zog sie zu sich zurück, um dann ein paar Häuser weiter wieder einschreiten zu müssen.
Doch unvermittelt blieb er stehen und presste sich die Hände an den Kopf.
„Was ist?“
„Hier liegt Hass in der Luft!“, stöhnte er, „lass uns schnell verschwinden."
Obwohl sie ihre Schritte beschleunigten, spürte er keine Besserung. Sie kamen um zwei enge Kurven und plötzlich meinte Gina ihre Umgebung wieder zu erkennen. Sie drehte sich neben dem schwer atmenden Francis um und blickte direkt auf die hell erleuchteten Fenster des Gemeindehauses. Sie erstarrte vor Schreck. Dann rieb sie sich die Augen, doch als sie wieder hinsah, war ein Teil des Trugbildes verschwunden. Nur noch Mrs. Foster sah aus einem Fenster im unteren Stockwerk und blickte sie direkt an.
„Lass uns weitergehen, Francis“, murmelte sie und wollte ihn mit sich fortziehen, doch er blieb stehen.
„Was hast du gesehen?“
Sie sah ihn groß an und fragte sich, was sie ihm erzählen sollte, doch ein Drumherumreden wäre unsinnig gewesen. „Ich dachte gerade, ich hätte Mrs. Foster im Gespräch mit irgendeiner Frau und Mark gesehen. Aber das kann natürlich nicht sein.“
„Warum nicht? Sie hat doch selbst gesagt, dass sie ihn getroffen hat.“ Jetzt zog er sie ein Stück weiter. „Komm weiter, hier ist nur Hass und Aggression in der Luft.“
Doch vor ihnen tauchten zwei junge Männer in Stiefeln und Lederjacken auf, von denen einer einen Knüppel und der andere einen Schlagstock hielt.
„Ich glaube nicht, dass es hier weitergeht“, sagte der Wortführer, in dem Francis mit Schrecken Raymond erkannte. Er stand einen Schritt vor dem anderen und ließ den Schlagstock in seine Handfläche klatschen. „Sind das nicht unsere Spieler aus dem Pub, vor denen uns Pastor Mirtow immer gewarnt hat?“
Francís stellte sich schützend vor seine Freundin, doch von hinten ließ eine wohlbekannte Stimme dieser das Blut in den Adern gefrieren. „Hallo Gina. Das ist ja wirklich eine Überraschung. Ich habe meinen neuen Freunden hier erst vor Kurzem erzählt, dass sie eine Hexe in der Stadt haben.“
Gina fuhr herum und stand jetzt Rücken an Rücken mit Francis. Sie hatte Angst vor der Bedrohung, die in der Stimme mitschwang, aber Francis' Gegenwart beruhigte sie. Obwohl sie sich darüber im Klaren war, dass sie beide gegen die drei Rocker nicht viel würden ausrichten können. „Hast du ihnen denn auch erzählt, dass du ein widerlicher Schläger bist, der sich nur an wehrlosen Frauen vergreift?“
„Ich rate dir, den Mund nicht zu voll zu nehmen. Und der Typ hinter dir, ist das der, der dir jetzt das Bett warmhält? Musstest du ihn auch verhexen oder ist er auch einer von euch?" Die Lederjacken lachten.
„Du weißt, was man mit Hexen machen muss?“ Mark und seine Schläger zogen den Halbkreis enger und drängten Gina und Francis rückwärts in einen Hauseingang hinein. Gegenüber drehte sich Mrs. Foster, die dem Schauspiel bisher ausdruckslos zugesehen hatte, vom Fenster weg und sprach auf eine erschrocken aussehende Frau ein.
„Aber es gibt Errettung für euch, sagt die Bibel, Hexen müssen brennen.“ Er schnippte hässlich lachend ein Benzinfeuerzeug auf und wirbelte vor Ginas Gesicht herum.
Diese schrie ängstlich auf.
Francis flüsterte: „Achte auf mich und folge mir.“
Doch einer der Schläger holte in diesem Moment mit seinem Knüppel aus und schlug nach Francis' Kopf, der aber im letzten Augenblick ausweichen konnte. Dabei trat er instinktiv einen Schritt zurück und drängte damit, ohne es zu wollen, Gina weiter in Marks Richtung.
„Was soll das hier werden, Raymond? Ein vorsätzlicher Mord? Mitten auf der Straße? Musst du dich wieder vor jemandem aufspielen?", giftete Francis den Schläger an.
„Ist das der Raymond, von dem du erzählt hast?“, fragte Gina atemlos.
„So, was hat dir der Schisser denn von mir erzählt?“ Er ließ spielerisch den Schlagstock an einem Lederriemen von der Hand baumeln. „Hat er dir denn auch erzählt, wie er uns früher immer mit seiner Stimme provoziert hat? Wie er uns immer verrückt machen wollte, indem er uns Sachen gezeigt hat, die gar nicht da waren?“
„Das ist eine Lüge!“, brüllte Francis. In einem Anfall von Panik wirbelte Gina herum und trommelte an die Haustür, doch diese blieb verschlossen und kein Gesicht schaute zum Fenster hinaus.
„Oh, es wird keiner sehen, wenn wir euch in die Hölle schicken, wo Pack wie ihr hingehört.“ Er zeigte mit dem Schlagstock auf die umliegenden dunklen Häuser. „Von da könnt ihr keine Hilfe erwarten, alle Anwohner sind zum Adventskaffee ins Gemeindehaus eingeladen."
„Ja, und da kommt ihr des Weges geschlichen. Als wolltet ihr euer Schicksal herausfordern. Ein klarer Beweis für Gottes Fügung“, krächzte der Heisere.
Noch einmal flammte das Feuerzeug vor Ginas Gesicht auf, doch dieses Mal war es für sie fast zu spät, um zu reagieren, da sie einen Moment unaufmerksam gewesen war und sich von den Knüppeln ablenken ließ. Instinktiv schlug sie mit dem Arm das Feuerzeug weg, das in hohem Bogen durch die Luft flog und weit entfernt durch einen Gullideckel polterte.
„Du brennst!“, rief Francis und während Mark wie irre anfing zu lachen, sah Gina auf ihren Mantel. Das Feuer hatte sofort begonnen, sich gierig an dem Ärmel hoch zu fressen. Gina war vor Schock wie erstarrt, doch Francis warf sie mit einem kräftigen und schmerzhaften Stoß um und sie fiel mit dem ganzen Oberkörper in eine Schneewehe, die das Feuer fast augenblicklich zum Erlöschen brachte.
Die Zeit schien stehen zu bleiben und sie nahm alles um sich herum überdeutlich wahr: Mark, der immer noch gackernd lachte; die Rocker, die wie in Zeitlupe einen Schritt zurückwichen, offensichtlich von der aktuellen Entwicklung überrumpelt; das Zischen des Schnees, der die Flammen löschte und ihren Mantel durchnässte, und Francis, der sich im selben Moment, in dem er sie gestoßen hatte, auch schon wieder zu den Lederjacken herumdrehte.
„Ist es das, was ihr wollt? Menschen umbringen, Raymond?“
Und begleitet von Marks irrem Kichern schüttelte der unmerklich den Kopf.
Da rief Francis mit donnernder Stimme „Nebel!“ und zog im selben Augenblick Gina aus dem Schnee wieder hoch. Er legte alle Feuchtigkeit, Kälte, Beklemmung und Furcht, die er damit in Verbindung brachte, in dieses einzige Wort. Doch zu Ginas Erstaunen merkte sie von alldem nichts, sondern konnte die Wirkung nur an den drei Angreifern erkennen, die blind mit trüben Augen in der Umgebung herumtasteten.
„Hexen! Hier sind Hexen!“, schrie Mark panisch und stolperte in den Rinnstein, als er versuchte einen Rückweg zu ertasten.
„Das kann nicht sein. Das ist nicht echt“, brüllte der Schläger mit der heiseren Stimme und blieb wie gebannt an seinem Ort stehen.
Nur Raymond ging wieder zum Angriff über, als die plötzliche Blindheit den Schreck über die Feuerattacke vertrieb. Er konnte zwar nicht sehen, was er tat, aber er drosch mit seinem Schlagstock auf den Ort ein, an dem eben noch Gina und Francis gestanden hatten. Doch diese hatten sich schon in die Lücke geschlichen, die Mark hinterlassen hatte, umrundeten die Schläger unhörbar leise und begannen dann zu rennen. Hinter ihnen brüllten die Schläger die wildesten Verwünschungen, aber sie folgten ihnen nicht.
... machte sich auch bei Francis der Schock über das eben Geschehene bemerkbar. Sie liefen, ohne rechts oder links etwas zu sehen. Sie wichen mehr automatisch Laternenpfählen aus, stolperten in ungesehene Schneehaufen, rutschten auf spiegelglatten Steinflächen aus und konnten sich nur noch mit Mühe aufrecht halten, bis sie schließlich zitternd vor dem Neunarmigen Kraken standen. Im selben Moment, in dem Francis den alten Wagen seiner Eltern bemerkte und registrierte, dass diese schon zu Hause sein mussten, erschien das Gesicht seiner Mutter am Küchenfenster. Nur Sekunden später riss sie die Tür auf und stand mit schreckgeweiteten Augen vor ihnen.
„Kommt rein! Kommt rein!“ Energisch zog sie Gina und Francis, die in ihrem Schock fast erstarrt waren, in den Flur, wo sie beschützende Wärme umfing.
„Paul, Noah! Kommt sofort her!“, rief Mrs. Drake in die Küche.
Alarmiert von seiner Frau stand Mr. Drake nur wenige Augenblicke später im Flur, doch der sonst so behäbig wirkende Constable Noah Gordon erreichte die kleine Gruppe sogar noch vor ihm und rief: „Was ist denn hier passiert?"
Francis und Gina boten ein Bild des Jammers. Sie waren beide von oben bis unten von schmutzigen Schneeresten verkrustet, die Haare standen wirr von ihren Köpfen ab, die Gesichter zeigten mit ausdruckslosen Augen, dass das augenblickliche Geschehen von den beiden nicht mehr vollständig wahrgenommen werden konnte und dann fiel Mrs. Drakes Blick auf Ginas Mantel. Sie schrie auf und riss sich die Hände vor den Mund. Wo vorher an dem dick wattierten braunen Wintermantel noch ein linker Ärmel gewesen war, konnte man nur noch eine nasse, verkohlte Masse erkennen.
„Paul, du setzt frischen Tee auf!“, übernahm sie wie gewohnt das Kommando, „und Sie Noah, ziehen Francis in der Küche die nassen Sachen aus. Dann holt einer die Decken aus der Gaststube und wickelt ihn ein. Ich kümmere mich um Gina.“ Sie führte die teilnahmslose Gina die Treppe hoch und in ihr warmes Badezimmer. Mit Grausen starrte sie auf die verbrannte Stelle, überwand dann aber ihren ersten Schreck und machte sich an die Arbeit, wie sie es damals im Krankenhaus gelernt hatte.
Der Mantel war nur bis zur Schulterhöhe verbrannt, was vermutlich noch Glück im Unglück gewesen war, denn nur Sekunden später hätten sonst wahrscheinlich Ginas Haare in Flammen gestanden. Sie schnitt den Mantel rundherum an der noch unversehrten Stelle auf und zog ihn Gina von den Schultern. Doch was Mrs. Drake dann sah, ließ sie neuen Mut schöpfen. Gina hatte unter dem Mantel einen dicken Schurwollpullover getragen, und als sie ihn ihr vorsichtig über den Kopf streifte und dann von den Armen zog, glitt er ohne Probleme herunter. Die Wolle hatte den Flammen widerstanden und so das Schlimmste verhindert. Der Pullover war zwar ebenfalls ruiniert, aber die Haut darunter nur gerötet. Gina zeigte das erste Mal wieder eine Reaktion und sah an ihrem Arm herunter.
„Was ist bloß mit euch passiert, Kindchen?“
„Es war ein Überfall.“ Ihr Gesicht belebte sich wieder etwas und Gina begann, stumm zu weinen.
„Oh, Gott. Aber darüber reden wir später. Ich creme dich erst einmal ein, dann heilt es schneller. Bist du sonst noch verletzt?“
Gina schüttelte den Kopf. „Nein! Nein, ich glaube nicht. Nur der Arm tut weh.“
„Das gibt sich bald wieder.“ Mrs. Drake trug eine etwas unangenehm riechende Paste auf, wickelte vorsichtig locker eine Binde darum und steckte Gina kurzerhand in ihren Morgenmantel. Dann führte sie diese, die langsam lebendiger wurde, nach unten in die Küche. Dort legte sie die verbrannten und stinkenden Kleidungsstücke auf eine Arbeitsplatte.
Francis sprang bei ihrem Eintreten auf und schleuderte, ohne darauf zu achten, die Decken von sich, um Gina in den Arm zu nehmen. „Wie geht es dir? Tut es sehr weh?“
Der stürmische Empfang verängstigte Gina und sie brauchte ein paar Augenblicke, bevor sie sich gefasst hatte und antworten konnte. „Ich weiß nicht. Ich denke ich habe Glück gehabt. Es ist nicht so schlimm, wie es aussah.“
Constable Gordon notierte sich ein paar Stichworte zum Zustand der Kleidung. „Sie sind ohne Vorwarnung von den drei Männern angegriffen worden, Miss?“
Ihr Blick irrte zu ihm und verriet, dass sie immer noch nicht vollständig Herr ihrer Sinne war. „Ja! Allerdings.“
„Gibt es irgendwelche Zeugen, die Sie benennen können?“
Francis brauste auf und hielt dem Polizisten die verbrannte Kleidung entgegen. „Reicht das nicht?“
Noah Gordon seufzte. „Nein, das reicht erst einmal nicht. Im Falle eines Prozesses müssen wir hieb- und stichfeste Beweise haben. Es reicht nicht, wenn Aussage gegen Aussage steht.“
Gina räusperte sich, während Francis seine Decke wieder um den Oberkörper wickelte. „Mrs. Foster, von der Bücherei, hat alles aus dem Fenster des Gemeindehauses mit angesehen.“
„Tja, die werden wir befragen, aber wenn sie als Kopf hinter dem Ganzen steckt, müssen wir schon großes Glück haben, dass sie sich verrät. Wir werden sehen.“ Er klappte sein Notizbuch zu und steckte den Stift in die Brusttasche. „Ihr beide solltet jetzt erst einmal euren Tee trinken und euch dann ein bisschen frisch machen.“
„Wie geht es jetzt weiter?“
Constable Gordon erhob sich von seinem Platz und sah Mr. Drake an. „Ich gehe jetzt auf die Wache und nehme die Anzeige für euch auf und dann beginnen die Ermittlungen, Paul. Der Detektiv wird entscheiden, wie es weitergeht.“ Und auf die nicht ausgesprochene Frage antwortete er schon vorweg. „Ich werde euch natürlich benachrichtigen, wenn es Neuigkeiten gibt. Bis dahin solltet Ihr euch aber vielleicht draußen nicht alleine aufhalten. Meine Kollegen und ich werden ein paar Mal häufiger auf Streife unterwegs sein, denke ich, um die Lage ein wenig zu beruhigen.“
Dann verabschiedete er sich, und bevor er nach draußen in die wieder beginnenden Schneefälle trat, nahm er Mrs. Drake noch kurz beiseite. „Ihr solltet Gina heute ein bisschen beschäftigen, damit sie nicht zu sehr ins Grübeln kommt.“ Er tippte mit dem Finger an die Mütze und ging, ohne eine Antwort abzuwarten.
In der nächsten Stunde drängte Mrs. Drake die beiden mehrere Tassen Tee zu trinken und schmierte einige Scheiben Brot, immer darum bemüht in dieser Zeit keine Gesprächspausen aufkommen zu lassen, in denen die Unterhaltung wieder auf den Überfall zurückkommen könnte. Francis hatte den ersten Schock schneller überwunden und reagierte nur noch wütend auf das Geschehene und auf die anscheinende Hilflosigkeit der Polizei. Gina hingegen war immer noch einsilbig und wirkte bedrückt.
„Ist es besser, wenn ich die Stadt verlasse?“, wollte sie einmal wissen, doch Mrs. Drake winkte entschlossen ab und Francis nahm sie in den Arm und meinte, dass er sie nie mehr loslassen werde.
„Wir dürfen uns doch das Beste, was wir an uns haben, nicht von so einem dahergelaufenen Irren kaputtmachen lassen.“
Schließlich hatten sich alle soweit beruhigt, dass Mrs. Drake einen Vorschlag wagte: „Ich glaube, ich fände es gut, wenn wir jetzt unser Spiel vom letzten Mittwoch fortsetzen würden. Das bringt uns doch alle wenigstens auf andere Gedanken. Was haltet ihr davon?“ Gespannt sah sie die anderen an.
Ihr Mann war zwar einigermaßen überrascht, wollte aber seiner Frau nicht in den Rücken fallen und stimmte zu. Gina nickte nur, weil sie sich im Moment nichts Schlimmeres vorstellen konnte, als allein auf ihrem Zimmer zu sitzen und nicht mit Francis zusammen sein zu können.
Nur ihr Freund schien sich ehrlich über den Vorschlag zu freuen: „Das ist eine gute Idee, Mama. Ich glaube ich habe da etwas Neues, was euch allen Spaß machen wird.“ Mit einem Satz, der Gina unerwartet aus ihrer Lethargie riss, sprang er auf und holte seiner Mutter das Spieleköfferchen und die vier Bögen Schreibpapier, die bisher nebeneinandergelegt mit dem Spielplan bemalt worden waren. Das Wirtshaus am Start war ebenso darauf, wie das Hexenhaus, der Sumpf mit den mannsgroßen Schlangen, die sich aufrecht hinter Bäumen versteckten, um verirrte Wanderer zu fressen, und für den nächsten Teil des Abenteuers ein Berg, auf dem ein Zauberer ebenfalls eine holde Jungfrau gefangen hielt, die man heute würde befreien müssen.
Gina sah sich die Vorbereitungen an und sagte dann matt: „Ich weiß nicht, ob ich heute die Fantasie aufbringen kann, mir das alles vorzustellen. Ich meine, wenn ich die Handlung nicht vor mir sehe, wie soll ich dann reagieren?“
Die Drakes blickten sich an, als sei ihnen gerade die wunderbarste Idee des Abends zerplatzt, doch Francis behielt seine heitere Laune. „Warte es ab, mein Goldstück. Du hast mir in den letzten Wochen so viel von meiner Welt und meinen Möglichkeiten gezeigt“, er unterbrach seine Vorbereitungen und blickte ihr in die Augen, „jetzt werde ich dir diese Welt zeigen.“
Gina fühlte, wie ihr unter seinem Blick leichter zumute wurde. Sie hing wie hypnotisiert an seinen Augen und Stein für Stein zerbarst der Fels auf ihrer Seele. Diese Augen waren wieder einmal der Quell ihrer Kraft und ihrer Liebe. Sie nickte.
Der Meister kündigte an, dass alle im Tausch für einige Erfahrungspunkte ihre Fähigkeiten verbesssern können: Der Zwerg erhielt eine nie verlöschende Fackel, ihr Sohn den Zauberspruch Amplifico und Mr. Drake als Sir Fearless ein neues Langschwert zusammen mit einem besseren Schild.
„Wo waren wir? Lasst mich sehen.“ Mrs. Drake starrte auf den Plan und überlegte, doch da meldete sich Francis zu Wort.
„Darf ich euch jetzt etwas zeigen?“
Auf das allgemeine Nicken legte er seine Fingerspitzen an die Schläfen und konzentrierte sich. Auf dem papiernen Plan begann es zu flimmern und von unten nach oben entstand zuerst eine Wiese mit Bäumen, die kaum streichholzhoch waren. Dann wuchs in der Mitte ein Berg heraus, unten dicht bewaldet und nach oben immer kahler werdend, den ganz oben nur noch die Ruine einer verlassenen Burg krönte. Schwungvoll legte sich eine Straße durch die Wiese und ein abzweigender Weg ringelte sich rund um den Berg und wand sich immer höher hinauf, bis er vor der Burg auf eine hochgezogene Zugbrücke traf. Zum Schluss belebte er die in einem unspürbaren Wind sich wiegende Welt mit ein paar winzigen Tieren und Vögeln, die in dieser perfekten Miniaturlandschaft herumkrochen und flatterten. Es war eine ein Quadratmeter große Idylle, welche die Drakes und Gina bestaunten, als Francis die Finger herunternahm und auf den Fuß des Berges deutete. Da lagerten plötzlich drei winzige Gestalten um ein noch winzigeres Lagerfeuer.
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll!“ Mrs. Drake bekam ihren Mund vor Staunen nicht mehr zu.
Francis tat übertrieben bescheiden, obwohl man ihm den Stolz durchaus ansehen konnte. „Oh, das war nicht viel. Nur die Idee, dass ich die Bilder, die ich erschaffen kann, einfach etwas kleiner zu machen brauche. Wir werden sehen, ob ich das den ganzen Abend durchhalte.“ Er lachte und sein Lachen klang so befreit von der Last der Welt, dass die Drakes und Gina endgültig das Gewicht auf ihren Schultern hinter sich lassen konnten, um sich auf das Spiel zu konzentrieren.
Der Zwerg nutzte die Gunst des Schicksals, die ihm die Fackel zu Füßen gelegt hatte. „Ich werde mich auf die Suche nach einer Höhle oder Tunnel in diesem Berg machen. Der Zauberer hat bestimmt einen zur Flucht angelegt und ich kann ihm dort den Rückweg abschneiden. Im Berg bin ich besser zu gebrauchen als hier in der Sonne.“ Gina würfelte eine Dreizehn und fand nach einiger Suche den Tunnelausgang eines alten Minenschachtes auf der Rückseite des Berges.
Der Zauberer Woodstick und Sir Fearless machten sich zu Fuß auf den Weg den Berg hinauf. Der Bildausschnitt der Karte wurde kleiner und die Spitze des Berges versank in Wolken, dafür waren die Figuren, Bäume und Tiere jetzt deutlicher und größer zu sehen. Ein Kreischen kündigte einen Flugdrachen an, der dicht über sie hinwegflog und versuchte, sie in seinem Hunger zu packen, doch er griff glücklicherweise immer wieder daneben.
„Was soll ich tun?“, rief Woodstick, „mir fällt nichts ein!“
„Warte einen Moment. Ich habe gelesen, dass der verwundbarste Punkt eines Drachen die Stelle ist, an der sein Herz in der Brust schlägt.“ Bei dessen nächster Attacke ließ er sich flach auf den Boden fallen, und als der Lindwurm sich für einen erneuten Angriff zurückzog, sprang Sir Fearless nach oben auf eine der Klauen, hielt sich mit der behandschuhten Linken am Bein fest und stach mit seinem neuen Langschwert dem Drachen mitten ins Herz. Solchermaßen getroffen flog das Untier noch ein paar Hundert Meter im Todeskampf schreiend in die Höhe, bevor es das Bewusstsein verlor und auf die Erde niederfiel. Sir Fearless schnitt im Fallen das Drachenherz heraus und sicherte sich damit eine enorme Erfahrungspunktzahl, bevor er, von den Baumkronen unsanft gebremst, lachend auf den Boden krachte. Die Rüstung hatte zwar ein paar Dellen abbekommen, doch der Ritter konnte sich nahezu unverletzt wieder erheben.
Woodstick hingegen begann, unter den Bäumen zu suchen. „Es ist doch Pilzzeit. Meine alte Großmutter hat mir von einem violetten Pilz erzählt, der fast geschmacklos ist und sofort betäubt. Den können wir vielleicht brauchen.“ Nach ein paar Minuten erfolglosen Suchens hieb er sich vor die Stirn und sagte lachend: „Das geht auch einfacher!“ Er rief: „Adveni Pilz!“, und ein paar der herbeigerufenen Gewächse erschienen auf seinem aufgespannten Rock. Gemeinsam machten sie sich darauf wieder auf den Weg.
Vor der hoch gezogenen Zugbrücke angekommen, konnten sie aus dem höchsten Turm schon das Wehklagen der Jungfrau hören, deren einzelne, von deftigen Kraftausdrücken durchsetzte Worte glücklicherweise nicht zu verstehen waren.
Mit einem „Amplifico Sir Fearless!“ vergrößerte Woodstick den Ritter so sehr, dass dieser sich mit einem Schritt über den Burggraben hinwegsetzte, der von Krokodilen geradezu brodelte, und die Zugbrücke herunterdrückte, damit auch er unbeschadet in die Burg gelangen konnte. Dann zog Sir Fearless die morsche Holzkonstruktion wieder nach oben, um keinen Verdacht zu erregen, und wurde wieder zur Normalgröße verkleinert.
„Warum hast du das nicht selbst gemacht?“
„Weil ich nur andere verzaubern kann, nicht mich selbst.“
Sie wurden vom Innenhof herkommenden Kampfeslärm unterbrochen und lugten vorsichtig um eine Ecke. Dort kämpfte der Zwerg aus einem bisher wohl gut versteckten Eingang in der Burgmauer heraus gegen den Zauberer, der die Axthiebe des Zwergs mit erschreckender Leichtigkeit mit seinem Schild abwerte. Es war keine Überraschung, dass der Zwerg den Weg schneller als sie geschafft hatte, da er von keinem Drachen aufgehalten worden war.
Sir Fearless signalisierte dem energisch kämpfenden, aber hoffnungslos unterlegenen Mineheart, dass er den Zauberer noch ein paar Minuten aufhalten solle, bevor er sich zurückziehen könne, dann lief er Woodstick nach, der schon auf der Suche nach der Schlossküche war. Dort schnitt er die mitgebrachten Pilze in eine leise vor sich hinkochende Suppe und zusammen suchten sie sich ein sicheres Plätzchen. Der Kampfeslärm verklang und sie konnten nur hoffen, dass Mineheart es geschafft hatte, unverletzt zu entkommen.
Zu ihrer nicht unerheblichen Freude mussten sie feststellen, dass der Zauberer die Suppe nicht nur aß, sondern sie vorher auch noch seiner wirklich bezaubernd schönen, aber mit einer enormen Ausdruckskraft gesegneten Gefangenen servierte, sodass beide augenblicklich in einen tiefen Schlummer fielen, aus denen sie erst mit einem Kuss würden wieder erweckt werden können. Unnötig zu sagen, dass niemand vorhatte, den Zauberer zu küssen.
Francis lehnte sich nach einigen Stunden Spiel mit verspannten Schultern zurück. „Ich kann nicht mehr!“, sagte er und das Bild begann sofort zu verblassen.
„Das ist enorm. Das macht dieses Spiel so viel wirklicher!“ Mrs. Drake fand keine Worte mehr.
Mr. Drake dachte laut nach. „Wenn du das am Samstag machen würdest, könnten wir einige Leute wirklich überraschen.“ Er lachte in sich hinein.
„Warum nicht? Wenn ich vorher noch ein bisschen Schlaf bekomme, könnte ich das bestimmt schaffen. Vielleicht würde ich es nicht ganz so aufwendig machen, damit es mich nicht so anstrengt, aber ja, das könnte ich tun!“ Francis nickte eifrig.
„Ja, das wäre schön!“ Gina gähnte herzhaft und reckte sich. „Aber jetzt muss ich ins Bett.“
„Das kann ich verstehen“, sagte Mrs. Drake und stand auf, um Gina in den Arm zu nehmen. „Es ist ja auch schon spät geworden und morgen müssen wir wieder ran.“
Damit löste sich die Runde auf und Francis brachte Gina unter den misstrauischen Augen seiner Mutter zu ihrem Zimmer.
Als sie sich zum Abschied noch einmal in die Arme nahmen, sah Gina wiederum etwas besorgt aus.
In der Annahme, dass ihre Gedanken zu dem Überfall zurückgekehrt seien, versuchte Francis Gina zu beruhigen: „Mach dir keine Sorgen. Hier im Haus kann dir nichts passieren.“
Sie hob erstaunt den Kopf und sah ihn für einen Moment verständnislos an, doch dann klärten sich ihre Züge und sie musste schmunzeln. „Daran habe ich gar nicht gedacht. Ich dachte nur, dass du dich schon wieder weiterentwickelt hast, obwohl ich doch angenommen hatte, dass du als Erzähler jetzt komplett bist. Ich glaube, langsam ängstigt mich diese Entwicklung ein bisschen.“
Er sah ihr in die Augen. „Du brauchst keine Angst zu haben. Dieses Mal ist es anders. Erinnerst du dich noch an die ersten Male, als wir uns getroffen haben?“
Sie nickte.
„Erinnerst du dich auch an die Gefühle, die ich in dir ausgelöst habe, obwohl ich gar nichts gesagt hatte?“
Sie nickte erneut. „Ja?“
Er nickte ebenfalls. "Daran habe ich mich erinnert. Ich muss gar nicht unbedingt sprechen. Es ist alles hier in meinem Kopf. Nur deswegen konnte ich euch diese Projektion zeigen, ohne dass ich den Mund aufgemacht habe.“
Gina wirkte erleichtert und schloss ihn fester in die Arme. „Das beruhigt mich.“
Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, als sie sich an ihn drückte, sonst hätte sie seine Beunruhigung gesehen. Und doch ist das nur die halbe Wahrheit. Das war der erste Schritt, den ich allein weiter gegangen bin. Wohin wird mich das führen?
… klingelte Sally an der Haustür. Ihr Gesicht war von Trauer gezeichnet. Mrs. Drake und Gina hatten sie in kürzester Zeit an den Küchentisch platziert, ihr eine frische Tasse Tee vorgesetzt und sich dann eindringlich erkundigt, was vorgefallen sei. Sally brach erneut in Tränen aus und konnte zunächst kein Wort herausbringen.
„Es war furchtbar! Ich bin mitten in der Nacht von einem lauten Krachen wach geworden. Da bin ich natürlich sofort aufgesprungen und in Mutters Zimmer gerannt, aber obwohl sie sonst kaum noch alleine gehen kann und ich sie sogar auf die Toilette begleiten muss, damit sie nicht stürzt, war sie jetzt ganz alleine aufgestanden.“
„Und sie ist gefallen?“, erkundigte sich Gina einfühlsam.
Sally schüttelte den Kopf. „Nein. Sie hatte die Lampe vom Nachttisch geworfen und stand jetzt mitten in den Scherben. Und als ich die Tür aufgemacht habe, um nach ihr zu sehen, hat sie angefangen, mit Sachen nach mir zu werfen. Dann ist sie barfuß durch die Scherben gegangen. Oh, mein Gott, es war so furchtbar und ich habe mich so erschrocken.“ Sally liefen die Tränen über das Gesicht. „Ich wollte zu ihr, um sie zu beruhigen, aber dann hat sie den großen Schrank umgeworfen. Ich weiß überhaupt nicht, wie sie das geschafft hat. Der ist so schwer, dass ich ihn alleine beim Saubermachen nicht wegrücken kann, sie war wie eine Furie. Und dann hat sie noch die kleine Anrichte umgeworfen, auf der immer die große Schale mit ihren Waschwasser steht.“ Sallys Sätze wurden immer wieder von Schluchzern unterbrochen. „Das ganze Zimmer lag in Trümmern und alles schwamm in dem ausgekippten Wasser. Es war furchtbar!“ Sie schlug die Hände vor das Gesicht.
Gina nahm sie still in den Arm und konnte nichts sagen.
„Ich wusste nicht, dass die Krankheit schon so weit fort-geschritten ist.“ Mrs. Drake stützte sich beim Hinsetzen mit den Händen auf dem Tisch ab. Diese unerwartete Entwicklung machte ihr sichtlich zu schaffen. „Ist sie jetzt im Krankenhaus?“
Sally nickte. „Ich kam ja nicht an sie ran und da habe ich von der Telefonzelle an der Ecke aus den Krankenwagen angerufen.“
Eine Weile herrschte Schweigen in der Küche, bis Sally sich soweit beruhigt hatte, dass sie ihre Tasse Tee trinken konnte. Plötzlich fiel ihr Blick auf Ginas verbrannten Mantel und ihre Augen weiteten sich vor Schreck.
„Ist dir etwas passiert? Ich meine, der Mantel da, hast du dich verbrannt?“
Gina seufzte. Diesen Bericht hatte sie Sally eigentlich vorerst ersparen wollen, da diese im Moment mit ihren eigenen Problemen mehr als ausreichend beschäftigt war, aber da sie gestern vergessen hatten, die Mantelreste und den Pullover in den Müll zu werfen, kam sie jetzt wohl nicht mehr darum herum. Sie erzählte Sally nur das Nötigste und hatte dabei schon das Gefühl, dass sie Sally über Gebühr belastete.
„Das ist ja furchtbar! Der Mann ist ja völlig durchgedreht! Was sagt denn Constable Gordon dazu?“
Gina zuckte mit den Schultern. „Es wird natürlich weiter untersucht, aber er macht sich nicht viel Hoffnung, dass dabei etwas herauskommt. Im Moment stehe nur Aussage gegen Aussage.“
„Was willst du jetzt tun?“
„Gina wird erst einmal gar nichts machen. Der Constable sagt, dass sie sich vorläufig im Haus aufhalten soll. Auf jeden Fall soll sie nicht alleine nach draußen. Mehr können wir im Moment nicht tun“, kam Mrs. Drake ihr zuvor.
„Aber warum hat er dich denn überhaupt angegriffen?“
Nun war Gina schneller mit einer Antwort parat. „Er hält mich für eine Hexe!“
Sallys Augen leuchteten verstehend auf. „Er denkt, dass du diese Bilder gezaubert hast, die ihn letztens verjagt haben.“
„Wahrscheinlich.“ Sie machte eine Pause. „Ich habe mir das Ganze letzte Nacht noch einmal durch den Kopf gehen lassen und es kommt mir so völlig wirr vor. Ich vermute mal, dass er irgendwie aus dieser Anstalt herausgekommen sein muss, dann wird er wohl wieder hierher gefahren sein und diese 'kirchliche Kampftruppe' getroffen haben.“
Jetzt war es an Mrs. Drake, verwirrt drein zu schauen. Sie blickte von Gina zu Sally und wieder zurück. „Einen Moment, Mädchen! Ich denke, dass es da ein paar Sachen gibt, die ich noch nicht weiß.“
Die beiden Freundinnen sahen sich an und wurden rot. Doch es half nichts, Gina musste Mrs. und auch Mr. Drake, der gerade dazugekommen war, erzählen, wie Francis ihr damals geholfen hatte. Erst war diese Beichte noch etwas stockend, doch dann erzählte sie immer flüssiger, als sie sah, dass sich auf den Gesichtern der Eltern Drake nicht Ärger sondern Verstehen breitmachte.
Mrs. Drake lächelte. „So hat das also alles mit euch angefangen.“
Einen Augenblick herrschte Schweigen. Mr. und Mrs. Drake mussten offensichtlich die längere Erzählung erst einmal in allen ihren Einzelheiten verarbeiten und Sally und Gina waren derweil mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt.
Da ertönte Francis' Stimme von der Tür her: „Ich glaube, wir haben bei der ganzen Sache einen wichtigen Punkt übersehen.“ Er trat an Ginas Stuhl heran und legte ihr die Hände auf die Schultern. „Es ging bei dem Überfall nicht nur um die Rache eines ehemaligen Liebhabers, sondern es war ganz klar, dass sich diese kirchliche Truppe wieder einmal an unserem Spiel aufhängte.“
„Und?“, fragte Mr. Drake.
„Und ich glaube, dass ihr religiöser Wahn jetzt ganz neue Züge angenommen hat.“ Er unterband aufkeimenden Wider-spruch, indem er die rechte Hand hob. „Nein, wartet! Die Foster hatte vorher schon zu Mark Kontakt, das hat sie selber gesagt und Gina glaubt auch, dass sie sie vor dem Überfall mit Mark und einer fremden Frau im Gemeindehaus erkannt hat. Das heißt, da der Überfall direkt danach stattgefunden hat, müssen Raymond und der andere Schläger auch schon im Gemeindehaus gewesen sein. Doch warum sollte sich die Foster mit solch gefährlichen Brüdern abgeben, wenn sie nicht etwas von ihnen will?“
„Das heißt, wir sind alle in Gefahr!“, entgegnete Mrs. Drake.
„Das sehe ich auch so. Aber nicht nur wir sind in Gefahr, sondern auch alle anderen, die mit uns zusammen spielen!“
Sie beratschlagten noch lange, was nun zu tun sei. Schließlich beschlossen sie, alle anderen Mitspielern einzuweihen und zu warnen. Mr. Drake versuchte die wenigen, die ein Telefon hatten, anzurufen und Francis wollte sich den Mantel holen, um alle anderen persönlich aufzusuchen.
Doch da schritt Sally ein: „Ich glaube nicht, dass das klug ist, Francis!“ Er stockte und sah sie erstaunt an. „Du solltest bei der derzeitigen Lage auf jeden Fall nicht allein auf die Straße gehen. Also wäre es nur sinnvoll, wenn ihr mir die Namen auf eine Liste schreibt und ich loslaufe, um die Leute zu besuchen. Erstens habe ich jetzt eine Menge Zeit und brauche eine Aufgabe, die mich ablenkt und zweitens wird mich keiner mit eurer Spielrunde in Verbindung bringen.“
Diesem vernünftigen Vorschlag konnte sich niemand widersetzen und nach einem kräftigen Frühstück, das die Laune aller fünf Teilnehmer deutlich hob, holte sich Sally ihre Winterstiefel und ihren Mantel und machte sich auf den Weg.
Der Samstag kam und wie schon in der Woche zuvor hatten sie zum Adventswochenende hin so viel zu tun, dass die Arbeit vorerst ihre Ängste und Sorgen vertrieb. Gina freute sich besonders darüber, dass die loyale Zuneigung Mrs. Drakes zu ihrer Freundin dazu führte, dass sie Sally erst einmal für die Feiertage zusätzlich als Aushilfe einstellte, damit diese wieder auf die Beine kam.
Als Sally am Samstagabend nach Hause gegangen war und sich die Spielrunde wieder im Speisesaal versammelt hatte, entbrannte eine hitzige Diskussion.
Der Reverend klopfte mit der Hand auf den Tisch und verschaffte sich so Gehör. „Ich glaube, wir sollten die Kirche im Dorf lassen.“ Er lächelte. „Es ist furchtbar, was Gina und Francis passiert ist, aber ich glaube nicht, dass die gottesfürchtigen Menschen der katholischen Kirche damit etwas zu tun haben. Und auch Pfarrer Mirtow würde doch nie zulassen, dass so etwas in seiner Gemeinde passiert. Ich denke, so schlimm das Ganze auch ist, dass die beiden lediglich zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort waren. Schließlich ist Ginas Exfreund Mark ganz offensichtlich der Dreh und Angelpunkt dieses Angriffes gewesen.“
„Ich weiß nicht,“ sagte Mr. Prosper, der ältere der beiden Fischer, „ob du da richtig liegst. Denke an die Mastersons! Was, wenn das nun gar kein Unfall gewesen ist?“
„Genau, wir wissen es nicht!“, versuchte der Reverend zu beruhigen. „Deshalb bin ich dafür, dass wir uns nicht verrückt machen. Ich will damit nicht sagen, dass wir nicht vorsichtig sein sollen, aber wenn das stimmt, dass die Angriffe vom Gemeindehaus ausgehen, dann wird unsere Polizei die Verbrecher auf jeden Fall dingfest machen. Ich verspreche euch, dass ich morgen noch einmal beim Constable nachfragen werde, ob es irgendwelche Neuigkeiten gibt. Seid ihr damit einverstanden?“
Es gab ein allgemeines Nicken, denn sie waren hier zum Spielen und nicht zum Diskutieren zusammen gekommen.
„Als Nächstes möchten uns Francis und Gina vor Beginn noch etwas so Fantastisches erzählen, dass allein der Inhalt besser ist, als so manche von uns gespielte Geschichte.“
Ungläubige Gesichter hefteten sich auf die zwei Neulinge und Gina rutschte, obwohl sie sonst nicht auf den Mund gefallen war, Schutz suchend an Francis heran. Sie hatte bisher noch gar keinen Gedanken daran verschwendet, dass sie nicht einfach mit der Projektion im Spiel auftauchen konnten, sondern darum herum ein bisschen mehr würden erklären müssen. Als Francis bemerkte, dass seine Freundin nicht wie von ihm erwartet das Wort ergreifen würde, erhob er sich und begann zu erzählen. Die eigentliche Entwicklung ließ er aus, berichtete dafür aber etwas ausführlicher über seine Probleme mit der noch unkontrollierbaren Fähigkeit als Kind und über seine Fähigkeiten jetzt. Und wenn er am Ende erwartet hatte, dass es Diskussionen oder Mitleidsbekundungen für das arme Kind gäbe, das er gewesen war, oder dass ihn die Zuhörer für ein Monster hielten, so wurde er zu seiner Freude enttäuscht.
Der einzige Einwurf kam wieder von Mr. Prosper: „Und?“
„Ich habe am Mittwoch etwas ausprobiert, das ich euch zeigen möchte.“ Und er baute vor den Staunenden ein Bild des Spielfeldes auf, das nicht so reich an Details war, wie er es auch schon angekündigt hatte, aber das den erfreulichen Effekt besaß, dass danach die ganze Spielhandlung viel schneller und flüssiger wurde, weil jeder sehen wollte, wie seine Figur in dem Spiel agierte.
Diese Nacht wurde ein abenteuerlicher Traum für die Spieler. Ritter preschten in voller Rüstung zum Kampf über flaches Grasland, die Magier beschützten die Gruppe vor herabstoßenden Drachen und Riesenadlern, Zwerge und Gnome buddelten sich mit winzigen Hacken und Spaten in Berge, um Diamanten zu bergen und Goldminen zu erschließen, und Narren tanzten vor Königen, damit diese ihre Geldbörsen nicht mehr so genau im Blick hatten.
Es wurde spät diese Nacht und, wie fast immer, war es der Reverend, der zum Aufbruch drängte, weil er derjenige war, der am Sonntagmorgen zuerst würde arbeiten müssen. Die Drakes und Gina räumten noch kurz die Gläser und Tassen beiseite, während die Spieler ihre Unterlagen und Würfel einpackten und in ihren dicken Mänteln verschwanden. Sie verabredeten sich wieder für den ersten Samstag im neuen Jahr und einer nach dem anderen wurde in die frostklare Nacht entlassen.
„Gute Nacht, Sue. Geh schnell wieder hinein, es ist kalt hier draußen.“ Der Reverend winkte kurz zum Abschied.
„Gute Nacht, Peter.“ Sie sah ihm noch einen kurzen Augenblick sorgenvoll hinterher. Sie war sich nicht sicher, ob sie wirklich so unbekümmert sein konnten, dann schloss sie die Tür und drehte den Schlüssel zweimal um.
Der Reverend stapfte frohgemut durch den frisch gefallenen Schnee. Er liebte es in das unberührte Weiß seine Stiefel-abdrücke zu setzen und summte ein munteres Lied. Es war kurz vor drei Uhr und er hing immer noch sehr seinen Gedanken um diesen sonderbaren Jungen nach, als er den Schlüssel aus der Manteltasche fingerte und so auch nicht das leise knirschende Geräusch hörte, das sich ihm von hinten näherte. Er spürte nur noch das Aufschlagen eines Stockes auf seinem Schädel, fühlte, wie seine Knie unter ihm nachgaben, und versank dann in Dunkelheit.
… es war der dritte Advent, klingelte es in aller Herrgottsfrühe an der Haustür, und als die Drakes davon endlich wach wurden, war es für sie, als ob sie gerade erst ins Bett gegangen seien.
„Noah? Was machst du denn so früh am Morgen schon hier? Ist etwas passiert?“, fragte der entgeisterte Mr. Drake, als er die Tür öffnete und den Constable erblickte.
Dieser sah ihn sorgenvoll an. „Lässt du mich rein, Paul, oder muss ich hier draußen erfrieren?“
Mr. Drake führte den Polizisten direkt in die warme Küche und machte sich sogleich am Herd zu schaffen, um Tee zu kochen. Seine Frau trat dazu, die eben noch in Pullover und Hose geschlüpft war, um eventuellen Besuchern nicht im Bademantel gegenüberzustehen.
„Guten Morgen, Sue.“ Der Constable schnäuzte sich ausführlich in sein Taschentuch. „Es tut mir leid, euch so früh schon stören zu müssen, aber ich muss euch ein paar Fragen stellen.“ Dann zückte er sein kleines Notizbuch.
„Wieso musst du uns ein paar Fragen stellen? Was ist denn passiert?“ Mrs. Drake setzte sich besorgt dazu.
„Gleich, gleich! Wart ihr vier heute Nacht alle zu Hause?“
„Na, ich denke doch schon! Also Sue und ich sind nach unserem Spielabend auf jeden Fall direkt ins Bett gegangen. Bei Francis und Gina denke ich auch, dass sie auf ihre Zimmer gegangen sind, aber das weiß ich natürlich nicht“, murmelte Mr. Drake unzufrieden. „Aber was soll das denn alles?“
„Würdest du dann bitte einmal nachsehen?“ Der Constable wirkte müde und ungeduldig tat er die letzte Frage mit einer Handbewegung ab.
Genervt verzog Mr. Drake das Gesicht, demonstrativ langsam machte er sich dann aber auf den Weg zu Francis’ Zimmer.
„Er ist nicht da! Ist etwas mit ihm passiert?“, rief er noch nicht ganz wieder in der Küche angekommen.
„Nein, mit Francis ist nichts passiert“, beruhigte ihn der Beamte. „Sue, würdest du bitte einmal nachsehen, ob du Gina herunterholen kannst?“
Auf Mrs. Drakes Stirn hatten sich tiefe Sorgenfalten eingegraben. Und obwohl sie sich nicht gerne herum-kommandieren ließ, machte sie sich auf, um nach ihrer Kellnerin zu sehen. Sie musste mehrere Male klopfen, bis deren Tür sich endlich einen Spaltbreit öffnete und Ginas morgendlich zerzauster Kopf heraussah. „Guten Morgen. Ist es schon so spät?“
„Guten Morgen. Nein, es ist noch sehr früh, aber Constable Gordon sitzt in der Küche und möchte uns alle sprechen. Ist Francis bei dir?“
Gina wurde rot, nickte aber nur und von hinten drang Francis' Stimme heraus: „Wir kommen sofort herunter, Mama!“
Mrs. Drake nickte mit dem Kopf in Richtung Tür und sah erleichtert aus. „Gut, dass Francis bei dir ist. Ich habe mir schon Sorgen gemacht, als sein Zimmer eben leer war.“
Mr. und Mrs. Drake mussten sich noch die ganze Zeit in der Küche gedulden, bis der Constable auch von Gina und Francis gehört hatte, dass sie die ganze Nacht zusammen gewesen waren. Er kommentierte dieses zwar nicht, aber sein amüsiertes Grinsen sprach Bände. Doch dann wurde er wieder ernst. „Ich muss euch leider sagen, dass Peter Hummingworth heute Nacht überfallen worden ist.“
Mrs. Drake schlug sich vor Schreck die Hand vor den Mund und Mr. Drake ballte vor plötzlicher Wut die Fäuste. „Was ist passiert? Wie geht es ihm? Habt ihr die Täter schon? Können wir helfen?“ Viele Fragen prasselten auf den Constable ein und er musste einen Augenblick abwarten, bis er überhaupt zu Wort kommen konnte.
„Der Reverend ist heute Nacht vor seiner Haustür niedergeschlagen worden. Der Küster, Mr. Fotherington, hat ihn heute Morgen um fünf Uhr gefunden, als er die Kirche aufschließen wollte. Die gute Nachricht ist, er lebt. Aber er ist von einem Schlag auf den Kopf lebensgefährlich verletzt worden und die Kälte hat ihm sehr stark zugesetzt, sodass wir noch nicht mit ihm reden konnten.“ Er machte eine kurze Pause, bevor er traurig hinzusetzte: „Es ist noch nicht einmal sicher, dass er überleben wird!“
Mrs. Drake räusperte sich. Tränen waren in ihre Augen geschossen, die sie wütend wegwischte. „Er ist so gegen drei Uhr hier weg. Gibt es Zeugen für die Tat?“
„Nein, wieder einmal haben die Täter genau aufgepasst, dass sie niemand sieht.“ Der Constable sah nachdenklich nach unten und sagte dann: „Ich dürfte es euch eigentlich gar nicht sagen, also geht damit bitte nicht hausieren, aber wir haben an dem Auto der Mastersons Spuren gefunden.“
„Was für Spuren?“, fragte Mr. Drake.
„Wir müssen im Moment davon ausgehen, dass die Mastersons auf ihrer Heimfahrt von einem anderen Auto abgedrängt wurden.“ Stille breitete sich aus.
„Und das heißt?“, fragte Gina.
„Das heißt, dass es jemand auf die Gruppe abgesehen hat“, antwortete Francis und nahm damit dem Polizisten die Worte aus dem Mund. Dann stand er nachdenklich auf, ging einige Male hin und her und setzte sich schließlich auf eine Arbeitsplatte. „Wir werden uns überlegen müssen, was wir jetzt tun können.“
„Gar nichts könnt ihr tun!“, reagierte der Constable unwirsch. „Ihr solltet den Kopf unten halten und die Polizei ihre Arbeit tun lassen. Ist das klar?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, stand er auf und knöpfte seine Jacke wieder zu. „Und noch eines: Ich persönlich würde euch empfehlen, dass ihr im Dunkeln nicht mehr nach draußen geht. Außerdem solltet ihr auch tagsüber nicht mehr alleine unterwegs sein. Wenn irgendetwas Dringendes ansteht, dann ruft bitte auf der Wache an, damit wir euch begleiten. Ich sage euch sofort Bescheid, wenn ich irgendetwas Neues weiß.“
Dann steckte er die Hände in die Taschen und sah einen Augenblick lang überrascht aus, als die Finger seiner rechten Hand auf das schwarze Büchlein des Reverends stießen. Kurzerhand angelte er es heraus, blätterte auf den ersten paar Seiten und hielt Mrs. Drake dann das aufgeschlagene Buch hin. „Bevor ich es vergesse, Sue, kannst du mir sagen, ob diese Liste eurer Spielrunde vollständig ist?“
Mrs. Drake murmelte beim Lesen die Namen vor sich hin und nickte dann, als sie am Ende der Liste angelangt war. „Ja, das sind alle.“
„Gut, dann werde ich jetzt auch mit ihnen reden. Mal schauen, ob einer was gesehen hat.“ Mit einem Nicken verabschiedete er sich und hinterließ eine ratlose Familie Drake. Waren sie nach dem Überfall auf Francis und Gina noch recht sorglos mit der Situation umgegangen, so konnte jetzt keiner von ihnen mehr seine Angst verleugnen.
Auch ein paar Tage danach hatte man den schwer verletzten Reverend noch nicht befragen dürfen, waren noch immer keine Zeugen gefunden, die etwas gesehen hatten, und bis auf ein paar klare Stiefelabdrücke im Schnee, die eindeutig dem Verbrechen zugeordnet werden konnten, hatte man keine weiteren Spuren gefunden. Die Ermittlungen der Polizei traten auf der Stelle und das war für die Presse ein gefundenes Fressen. Ihre Artikel führten dazu, dass in dieser Vorweihnachtszeit die Atmosphäre in der Stadt mehr als gedrückt war.
So war die Situation auch fast unverändert, als Gina am dreiundzwanzigsten Dezember wie geplant ihren Koffer packte, um quer durch das Land zu ihrer Mutter zu fahren. Dem Reverend ging es mittlerweile etwas besser. Der Constable hatte ihnen zwischendurch die Nachricht gebracht, dass er außer Lebensgefahr sei.
Gegen Mittag trug Gina ihren Koffer nach unten. Francis hatte darauf bestanden, dass er sie mit dem Auto zum Bahnhof fahren würde. Seit ein paar Tagen waren die Temperaturen wieder angestiegen, Schnee und Eis hatten angefangen zu tauen und heute war sogar ein leichter Nieselregen dazugekommen, sodass sich Gina doppelt freute, sich während der regulären Arbeitszeit von Francis so privat verabschieden zu können. Ganz Kavalier trug er ihr sogar den Koffer durch das Bahnhofsgebäude auf den überdachten Bahnsteig.
„Es ist schade, dass du nicht mitkommen kannst. Ich glaube meine Mutter hätte dich gerne kennengelernt.“ Eine Träne lief ihr über das Gesicht.
„Ich kann hier nicht weg, mein Goldstück. Aber du wirst zu Hause eine großartige Zeit haben und in einer Woche sehen wir uns ja schon wieder.“ Er strich ihr über das Haar und küsste die Träne von der Wange.
„Ohne dich ist das aber gar kein richtiger Urlaub. Ich werde jeden Tag zählen, bis ich wieder bei dir sein kann.“
„Du wirst sehen, wenn du erst bei deiner Mutter bist, wirst du die Zeit auch genießen und ich werde froh sein, dich in Sicherheit zu wissen.“
Aus der Ferne vernahmen sie das langanhaltende Quietschen des Zuges, der vor dem Bahnhof eine große Kurve durch-fahren musste. Francis nahm Ginas Kopf in die Hände und drückte ihr einen sanften Kuss auf den Mund, dann sah er ihr tief in die Augen. Dieses wunderschöne Braun faszinierte ihn immer wieder.
Mit kreischenden Bremsen verlangsamte die Lok bei der Einfahrt ihr Tempo.
„Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt!“, sagte Gina in diesem Moment, doch bei dem Lärm konnte Francis die Worte nur von ihren Lippen ablesen.
„Ich liebe dich auch!“ Er nahm ihre Hände, die ihn bisher umfasst hatten in die seinen, drückte auf jeden Finger noch einen Kuss und wünschte Gina eine gute Reise. Dann war es schon an der Zeit, dass er Gina die Waggontür aufhalten und den Koffer hinein heben musste, damit sie nicht vor lauter Abschiedsschmerz den Zug verpasste. Er hatte es bisher nur im Kino erlebt, aber nun wusste er, dass große Verabschiedungen am Bahnhof nichts für ihn waren. Er war fast ärgerlich über den Stich der Trauer in seiner Magenkuhle.
Als die Waggons sich langsam in Bewegung setzten, winkte ihm Gina aus dem Fenster heraus zu und musste mitansehen, wie ihr geliebter Francis fast schon vor ihr den Bahnhof verlassen hatte. Glücklicherweise war sie allein im Abteil, sodass sie ohne Scham ihren Tränen freien Lauf lassen konnte. In ihrer Hand zerknüllte sie unbewusst ein Taschentuch, und wenn draußen der Regen nicht stärker geworden wäre, hätte sie das Fenster heruntergezogen, um lieber den Schmerz des kalten Windes als den vorübergehenden Verlust von Francis zu spüren. Die Fahrt nach Hause war eine Reise von einer Welt in eine andere und sie würde ihr viele Stunden Zeit geben nachzudenken. Und nachdenken musste sie. Sie musste sich darüber im Klaren werden, ob sie nach dieser Woche zu einem Mann zurückfahren würde, von dem sie annahm, dass sie ihn viel mehr liebte als er sie.
Aber tief in sich drin spürte sie, dass sie selbstverständlich zurückfahren würde. Sie würde um ihr kleines Glück kämpfen!
Dann wurde ihr plötzlich schlecht und sie musste sich flach auf die Bank legen, damit sie sich nicht übergeben musste. Es war einfach viel zu viel gewesen, was in den letzten Wochen auf sie eingestürmt war und ihr Leben von Grund auf umgekrempelt hatte.
… hatte sich bereits lange im Voraus auf die Weihnachtswoche mir ihr gefreut und organisiert, dass Gina mit ihrem schweren Koffer von ihrer Schwester am Bahnhof abgeholt wurde. Doch als sie endlich nach langen eineinhalb Monaten ihre Tochter wieder in die Arme schließen konnte, waren es sehr zwiespältige Gefühle, die sich in ihrer Brust einnisteten. Die Wiedersehensfreude überragte natürlich alles und sie konnte ihre von der Reise erschöpfte Tochter kaum aus ihren Armen lassen. Gina strahlte eine Lebendigkeit aus, die Mrs. Trippelton-Mews nicht mit Worten hätte beschreiben können, die sie mehr mit ihrem Herzen wahrnahm. Gleichzeitig spürte sie, dass von ihr eine Erschöpfung, eine Mattigkeit und wie sie vermutete sogar eine Enttäuschung ausging, die sie von ihr nicht kannte. Doch sie beruhigte sich damit, dass Gina vermutlich bei den Drakes viel mehr hatte arbeiten müssen als zu Hause und dass ihr ein paar Tage in ihrer Obhut schon wieder auf die Beine helfen würden.
Letztlich dauerte es dann bis zu den Weihnachtsfeiertagen, bis Gina wieder etwas selbstbewusster durch die Welt schritt, die ihr bekannt und die ihre Basis war. Erst dann begann sie auch zu erzählen, von ihrer Arbeit, die tatsächlich deutlich anstrengender war als bisher gewohnt, von den Drakes, von denen sie trotz der kurzen Zeit fast in die Familie aufgenommen worden war, von Sally, die ihr eine echte Freundin wurde und irgendwann auch von Francis, dem Mann, den sie so ganz anders liebte als die Freunde, mit denen sie bisher zusammen gewesen war. Viel tiefer gehend, viel reifer waren ihre Gefühle für ihn, als sie je zuvor gewesen waren.
Die Berichte von der Stadt, ihren Bewohnern und dem Spiel, das sie so sehr begeisterte, nahm Mrs. Trippelton-Mews dann schon gar nicht mehr richtig wahr, für sie lösten sich ihre Sorgen in Wohlgefallen auf und sie glaubte, zu verstehen. Die viele Arbeit, die fremde Umgebung, die große Liebe und die nach ihrer Einschätzung ungesunde Verbindung zum Arbeitgeber, das alles konnte einer jungen Frau, geballt in einer so kurzen Zeit, schon sehr zusetzen.
Gina selbst gewann tatsächlich zu Hause wieder an Kraft und zwischen ihr und ihrem bisherigen Leben stand nur noch, dass sie nichts von Francis’ Fähigkeiten berichtete. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Mutter das verstehen würde.
Selbst die Bauchschmerzen, die sie nach der Bahnfahrt noch gehabt hatte, waren verschwunden. Nur Essen konnte sie nicht mehr so viel wie früher, weil ihr doch morgens häufig übel war, aber das verging, wenn sie sich erst ein paar Schritte bewegt hatte. Alles in allem fühlte sie, dass hier ihr Leben wieder zur Ruhe kam.
Seit Ginas Abfahrt gingen in Francis subtile Veränderungen vor, die von seinen Eltern unbemerkt blieben, weil sie viel zu sehr von ihrer Arbeit in Anspruch genommen wurden: Er war wieder in sich gekehrter und unzugänglicher, sprach erheblich weniger und fiel mehr und mehr in die introvertierten Verhaltensweisen zurück, die er vor Ginas Ankunft gezeigt hatte. Sie bemerkten auch nicht die ungeheure Anspannung, die von ihm ausging, die immer mal wieder mit Phasen schreckhafter Zurückgezogenheit und extremer Blässe abwechselte, einer Blässe, die schon fast in Farblosigkeit seiner gesamten Erscheinung gipfelte.
Doch einen Tag, bevor Gina zu Hause wieder in den Zug steigen wollte, geschah etwas, das Francis' volle Aufmerk-samkeit beanspruchte. Lucia Fortescue, die ehemalige langjährige Kellnerin der Drakes betrat am späten Abend die fast leere Gaststube. Mrs. Drake, die gerade Getränke servierte, wäre fast das Tablett aus der Hand gefallen, denn die Frau war kaum wieder zu erkennen. Ein Auge war zugeschwollen, das ganze Gesicht war übersät von Blutergüssen und Platzwunden und die Kleidung, unter dem langen, offen stehenden Herrenmantel, war an vielen Stellen zerrissen.
Mrs. Drake stellte eilig die Gläser ab und zog dann Lucia an einen freien Tisch im hinteren Teil des Schankraumes, in dessen Nähe sich keine ungewollten Zuhörer befanden.
„Mein Gott, Lucia, hast du einen Unfall gehabt? Brauchst du einen Arzt?“ Mrs. Drake drückte sie energisch auf einen Stuhl neben dem Kücheneingang.
Lucie Fortescue schüttelte den Kopf. „Nein, ich wollte zu Ihnen, Mrs. Drake“, brachte sie durch ihre geschwollenen Lippen hervor. Offensichtlich verursachte ihr das Sprechen erhebliche Schmerzen.
„Bist du sicher?“
Lucia nickte matt und versuchte anscheinend sich auf etwas zu konzentrieren, was sie sagen wollte.
Mrs. Drake sah sich die Verletzungen genauer an und erschrak. Diese Verletzungen zusammen mit einem Mantel, der bestimmt nicht der sehr auf ihre äußerliche Erscheinung achtenden Lucia gehörte, ließen nur einen Schluss zu. „Du bist doch verprügelt worden!“ Ihre Stimme wurde vor Erregung lauter. „Irgendjemand hat dich zusammengeschlagen! Soll ich die Polizei rufen? Noah Gordon ...“, doch sie konnte den Satz, denn Lucia richtete sich mit schmerzverzerrtem Gesicht hoch auf.
„Keine Polizei. Sonst gehe ich sofort.“ Sie sank wieder in sich zusammen. „Er hat gesagt, wenn ich zur Polizei gehe, dann bringt er mich um.“
Mrs. Drake goss ihr einen großen Brandy ein und schob ihn vor Lucia. „Keine Polizei, keinen Arzt, ganz wie du willst. Aber was, um Himmels willen, ist dir passiert.“
„Bitte, Mrs. Drake, lassen Sie Gott aus dem Spiel. Es war Mark, Mark Pettigrew, der Exfreund von Ihrer neuen Kellnerin.“
Mrs. Drake ahnte Böses. „Wie bist du denn an den geraten?“
Der nächste Satz kostete Lucia Fortescue offensichtlich Überwindung. „Mrs. Foster hat ihn mir in der Bibelstunde im Gemeindehaus vorgestellt. Sie sagte, er sei neu und ganz allein in der Gemeinde und es sei meine Christenpflicht, mich ein bisschen um ihn zu kümmern.“ Dann begannen die Worte aus ihr hervorzusprudeln. „Ich habe mir gar nichts dabei gedacht und er war auch sehr nett zu mir. Er hat mich ausgeführt und so. Nur dass er immer mit Raymond und seinem Bruder Tim herumhing, hat mich etwas gestört.“
Aus der Küche war das Scheppern von umfallenden Töpfen zu hören und Lucia fuhr erschrocken hoch. „Was war das?“, keuchte sie.
„Nichts.“ Mrs. Drake zog sie wieder auf ihren Platz. „Paul macht uns in der Küche ein spätes Abendessen“, setzte sie kurz entschlossen hinzu. „Wer von den Dreien hat dich denn so zugerichtet?“
Lucia Fortescues Augen richteten sich bittend auf Mrs. Drake. „Alle“, flüsterte sie.
„Alle drei?“, donnerte Mrs. Drake.
„Sie haben versucht mich zu vergewaltigen, im Keller vom Gemeindehaus, aber Pfarrer Mirtow hat sie gestört, als er mit ihnen sprechen wollte, und da konnte ich fliehen.“
„Oh mein Gott!“
„Aber Ihnen werde ich alles sagen!“ Ms. Fortescues Stimme klang plötzlich trotzig.
„Was willst du sagen?“
„Ich werde Ihnen alles erzählen, was passiert ist. Und dann können Sie damit machen, was Sie wollen. Ich will nur nicht mit der Polizei reden, nachher lande ich noch im Knast, oder so.“
Und dann erzählte Lucia Fortescue ohne Punkt und Komma, was sie seit Marks Ankunft erlebt hatte. Es dauerte auch nicht lange, bis sie zu der Stelle kamen, die Mrs. Drake am meisten interessierte. Ms. Fortescue beschrieb detailliert, nur von gelegentlichen Worten des Bedauerns unterbrochen, wie sie den Überfall erlebt hatte. Ohne es zu wissen, bestätigte sie damit Francis' Aussage, dass Gina vor dem Überfall sie selbst Mrs. Foster und Mark nach der Bibelstunde gesehen hatte. Die Brüder Raymond und Tim hatten durch das Kellerfenster das Pärchen gesehen und darauf Mark Bescheid gesagt. Sie war dann von Mrs. Foster nach unten geschickt worden, nicht ohne aber vorher noch gesehen zu haben, wie sich die drei Männer bewaffneten. Als der Trupp nach dem Überfall wieder in den Keller zurückkam, hatte sie die wildesten Geschichten von dem Misslingen gehört, die sie aber alle für Ausgeburten männlicher Übertreibungen hielt. Laut bejubelt hingegen wurde die Brandattacke auf Gina.
Mindestens genauso interessant war dann die Erzählung von der Samstagnacht, als Lucia Fortescue Mark und die beiden Brüder in eine Diskothek begleitet hatte, wo die drei Männer ihren Spaß daran hatten, sie betrunken zu machen. Auf dem Rückweg war es dann zu unsittlichen Annäherungen gekommen und sie war froh gewesen, als sie in der Ferne den Reverend gesehen hatte. Kurzzeitig hatte sie die Hoffnung, dass die drei Männer wegen der Nähe des Pfarrers von ihr ablassen würden, aber Mark erkannte in ihm einen von den verhassten Spielern und hetzte die beiden Brüder auf Mr. Hummingworth. Die eigentliche Tat konnte sie leider nicht beobachten, weil Mark in diesem Moment wieder zudringlich geworden ist. Im Anschluss daran war den Männern wohl klar geworden, dass sie in ihr eine Zeugin vor sich hatten, und sie wurde bis zum heutigen Tage in den Kellerraum im Gemeindehaus eingesperrt.
„Ich glaube, das musst du der Polizei erzählen!“, sagte Mrs. Drake. „Das waren ja eine ganze Reihe von schweren Verbrechen!“
„Nein! Das mache ich nicht! Solange die nicht hinter Gittern sind, sage ich zur Polizei kein Wort.“
„Und wie sonst sollen diese Information dann helfen?“
„Na, Sie kennen doch genug Leute, da sind doch wohl genügend Männer dabei, die die drei fertigmachen können!“
Mrs. Drake verkniff sich jeden Kommentar. Sie bemerkte den versteckten Wink ihres Mannes und schlug Lucia vor, dass sie vorerst in einem der Gästezimmer bleiben könne, und brachte sie nach oben.
In der Küche stieß Constable Gordon, der als Personenschutz dort Posten bezogen hatte, einen leisen Pfiff aus. „Es ist besser als nichts, aber letztendlich hat sie nichts wirklich gesehen.“
„Aber es bestätigt doch Francis' und Ginas Aussage!“, ereiferte sich Mr. Drake.
„Das tut es, und vor Gericht wird es ein wichtiges Indiz sein, aber ich glaube nicht, dass der Staatsanwalt ohne eine direkte Aussage das Risiko eingeht, ein Gemeindehaus durchsuchen zu lassen.“
„Und was wird nun geschehen? Wie lange müssen wir diese Verbrecher denn noch ertragen?“
Darauf musste ihm der Constable die Antwort schuldig bleiben.
Dabei begann alles so harmlos, als Gina am frühen Morgen ihren Koffer packte, sich von ihrer Mutter und ihrer Schwester verabschiedete und endlich wieder den Zug zu Francis besteigen durfte. Wieder hatte sie eine mehrstündige Fahrt vor sich, für die sie aber dieses Mal besser gerüstet war. Sie war in der einen Woche mit sich ins Reine gekommen, wusste jetzt, was sie fühlte, und war entschlossen, dafür zu kämpfen.
Auf der anderen Seite der britischen Insel hatte Francis eine schlaflose Nacht hinter sich gebracht. Ohne zu bemerken, dass das Feuer in seinem Kamin lange schon ausgegangen war, hatte er im Schneidersitz auf seinem Bett gesessen und sich konzentriert. Immer wieder hatte er laut Worte in den Raum gerufen und die Auswirkungen mehr oder minder unzufrieden kontrolliert. Er fühlte, dass er mit seinen Trugbildern noch nicht an das Ende seiner Möglichkeiten gekommen war, und es fehlte ihm nur noch ein kleiner Anstoß, die letzte Hürde zu überwinden. Über viele Stunden versenkte er sich soweit in sich selbst, dass er weder registrierte, dass der nächste Tag längst begonnen hatte, noch dass dieses der Tag war, an dem Gina nach Hause kommen würde. Und als seine Eltern ihn nach dem ausgelassenen Frühstück zur Arbeit holen wollten, konnten selbst sie ihn nicht zum Aufstehen bewegen.
Der Constable hatte noch am vorigen Abend seinen Detective aus dem Bett geklingelt, obwohl er tatsächlich nicht an einen Erfolg glaubte. Doch immerhin konnte er in dem Gespräch erreichen, dass der Detective einsah, dass die Bedrohung der Mitglieder der Spielrunde erheblich zugenommen hatte. Er bekam die Anweisung, dass er am nächsten Morgen dafür sorgen solle, dass weitere Polizisten aus dem Umland und der Kreisstadt angefordert werden, um einen vernünftigen Personenschutz zu gewährleisten. Und während Gina noch eine Fahrstunde von ihrem Ziel entfernt war, versammelten sich die Polizisten in einem Festsaal, weil die Räume der örtlichen Polizei für die vielen Männer zu klein waren.
Mark hingegen hatte es geschafft von einem Bekannten, der als Schaffner auf dem Heimatbahnhof arbeitete, Ginas vermutliche Ankunftszeit zu erfahren. Ihm ging es einzig und allein darum sie wieder zu bekommen, der religiöse Wahn, dem seine Helfershelfer verfallen waren, waren lediglich nützliches Beiwerk und sicherte ihm die Hilfe dieser Idioten. Trotzdem war er vorsichtig, was er ihnen erzählte, und so sagte er ihnen auch nicht, was er vorhatte, als er sich mit einem Auto auf den Weg zum Bahnhof machte. Er wollte nur versuchen an Gina heranzukommen und, wenn möglich, allein mit ihr zu reden.
Das Kreischen der Bremsen war noch nicht ganz verklungen, als Gina schon die Waggontür aufriss und rückwärts ihren Koffer herauswuchtete. Sie sah sich um und musste zu ihrer Enttäuschung entdecken, dass sie vollständig allein am Gleis stand. Nur ein älterer Stationsvorsteher, der aber nicht weiter auf sie achtete, signalisierte mit seiner Kelle dem Lokführer, dass er weiterfahren könne, und verschwand nach Anrucken des Zuges in einem der vielen Räume des Bahnhofes.
Gina seufzte, griff ihren Koffer und ging zum Ausgang. Vermutlich war Francis schon auf dem Weg und hatte sich nur etwas verspätet. Vor dem Bahnhof blieb sie ungläubig stehen und blickte sich um. Die ganze Mainstreet lag verlassen da und glänzte in einem leichten Nieselregen, nur ein Auto stand auf dem Parkstreifen. Sie entschloss sich vor dem Gebäude zu warten und zog eine Zeitschrift aus ihrem Gepäck hervor. In dem Moment drückte jemand von hinten seine behandschuhte Rechte auf ihren Mund, was sie zu Tode erschreckte. Der Angreifer stieß die vor Angst gelähmte Frau samt ihres Gepäcks in das geparkte Auto, setzte sein Opfer mit einem gezielten Hieb außer Gefecht und raste mit aufheulendem Motor davon. Sein unüberlegtes, spontanes Handeln brachte ihn in eine schwierige Lage. Wohin sollte er die Entführte bringen? So gut es seine Aufregung zuließ, dachte er nach, es gab nur eine Lösung für sein Problem.
Francis hatte tatsächlich Ginas heutige Ankunft vollständig vergessen. Nur zufällig fühlte er ungefähr zur gleichen Zeit endlich die erhoffte neue, berauschende, stärkere Kraft in sich aufsteigen, mit der er in der Lage zu sein glaubte, gegen die Verbrecher vorzugehen, gegen die die Polizei offensichtlich machtlos war. Er hatte sich einen genauen Plan zurechtgelegt und hoffte nur in einem Punkt auf glückliche Fügung. Für ihn war es entscheidend, dass er alle Verbrecher gleichzeitig antreffen würde.
Strotzend vor Kraft, wie einer der Muskelhelden aus den Filmen, die er so gerne im Kino sah, zog er sich vollständig an und ging nach unten. Er konnte hören, wie seine Eltern in der Schankstube die Gäste betreuten, was ihm sehr zustatten kam, denn er musste seinen Plan, auf jeden Fall allein durchführen. Er wollte weder seine Eltern noch jemand anderen gefährden, indem er sie mit hineinzog. Er verließ das Haus nahezu geräuschlos und wandte sich nach links.
Er war so konzentriert und auf sein Ziel fixiert, dass er überhaupt nicht bemerkte, dass er den Mantel an der Garderobe hängen ließ. Sein Körper streckte sich und ein abwesender Ausdruck legte sich über sein Gesicht, während er langsam die Habourlane hinanschritt. In den Hauseingängen erschienen Personen, die hinter ihm Reihe um Reihe über die gesamte Breite der Straße bildeten. Als er in The Mall einbog, lief ihm der Regen aus den Haaren, seine Kleidung war vollständig durchweicht, aber er schritt unbeirrbar den Menschen hinter ihm voran. Bis die Menge sich mit Francis in der Mitte vor dem Gemeindehaus versammelt hatte, war sie auf mehrere Hundert Personen angewachsen, die jetzt mit grimmigen Gesichtern und mit den unterschiedlichsten Gegenständen bewaffnet, schweigend auf der Straße ausharrten. Es war eine geheimnisvolle, unwirkliche und fast fühlbare Stille. Niemand konnte mehr das Gebäude betreten oder verlassen, ohne dass er an dieser Masse vorbeigekommen wäre.
Nur wenige Minuten zuvor hatte Sally Blake, von Mr. Drake beauftragt, den Wagen gestartet, um noch einige Vorräte einzukaufen, da die Drakes immer noch der strikten Anordnung der Polizei folgten, ohne Schutz das Haus nicht zu verlassen. Sie taten derweil ihre Arbeit im Pub und ahnten nichts. Sally fuhr ebenfalls die Harbourlane hoch, und als sie an der Kreuzung zu The Mall anhalten musste, konnte sie im Licht der Staßenlaternen Francis sehen, der die Stufen zum Gemeindehaus hochstieg. Trotz der ihn umgebenden Menschenmenge brachte er sich gerade in höchste Gefahr, aber sie konnte ihm allein nicht helfen. Auf dem schnellsten Weg fuhr sie, ohne auf die Verkehrsregeln zu achten, zur Polizeistation, wo sie einen einsamen Wachhabenden alarmierte. Ungläubig verfolgte dieser ihre Aussage und wollte sich schon zur Protokollaufnahme an seine Schreibmaschine setzen, als Sally ihm das Papier aus der Hand riss, auf den Boden warf und ihn anschrie: „Wenn Sie nicht sofort Ihre Kollegen in Marsch setzen, wird in The Mall auf der einen oder anderen Seite ein Unglück geschehen. Begreifen Sie das nicht?“
Glücklicherweise ließ sich der Beamte von ihrem Ausbruch einschüchtern und verständigte seinen Vorgesetzten, Constable Gordon. Dieser unterwies gerade die Bereit-schaftspolizisten im Festsaal des Hotels Empire, das passenderweise hinter der katholischen Kirche gelegen war, in die örtlichen Gegebenheiten. Sofort setzten sich die Beamten in Richtung des Krisenherdes in Bewegung.
Francis stieg die Treppe zum Eingang des Gemeindehauses nach oben, gefolgt von etwa zehn martialisch anmutenden Männern, denen man ihre Wut und ihre Entschlossenheit schon von Weitem ansehen konnte. Hinter ihnen begann ein nervenzerfetzendes Gejohle und Getrommel.
Er riss die Tür zu einem leeren Vorflur auf und der Lärm der Menge auf der Straße schwappte in das Gebäude. Seine Anspannung stieg. Ohne Rücksicht stieß Francis die Innentür zur Halle so heftig auf, dass sie gegen die Wand prallte und das Glas zersplitterte. Bruchstücke verteilten sich über den ganzen Boden.
Und im gleichen Moment, als er rief: „Mark, Raymond, Tim, seid ihr hier? Zeigt euch ihr Pack!“ wurde auch schon die Kellertür aufgestoßen und die drei stürzten, aufgeschreckt von dem bedrohlichen Lärm, mit gezogenen Knüppeln auf den Flur. Beim Angesicht der mehr als entschlossen aussehenden Männer vor ihnen, mit einem Francis, der mit verdrehten Augen und seitlich angehobenen Armen wie ein Racheengel aussah, blieben sie wie angewurzelt stehen. Unweigerlich bestärkte das ihren Glaube an Hexerei und Mark versuchte, sich unauffällig hinter Raymond zu schieben.
„Was wollt ihr hier? Ihr seid wohl verrückt geworden, hier so einzudringen. Das ist Kirchengelände!“ brüllte er, um seine Angst zu verbergen.
„Wir wollen drei Verbrecher festnehmen“, antwortete einer der Männer freundlich und trat, scheinbar ohne Waffen, aus der Reihe neben Francis.
Raymond und sein Bruder wurden blass. „Ihr könnt uns gar nichts. Sowas kann nur die Polizei.“
Mark sprang ihm bei und tönte selbstgefällig aus der hinteren Reihe: „Und die Tatsache, dass hier keine Polizei ist, um uns festzunehmen, zeigt doch wohl, dass wir nichts verbrochen haben.“
Ein zweiter Mann trat neben den immer noch triefenden Francis und zog ein Foto aus der Tasche, das er Mark und seinen Komplizen vor die Füße warf. Irgendwie schaffte es das Foto, sich im Flug zu entrollen. Die drei blickten mit schreckgeweiteten Augen auf das Bild einer übel zugerichteten Lucia.
Marks Grinsen war jetzt schon nicht mehr ganz so sicher. „Davon weiß ich nichts. Damit haben wir nichts zu tun.“
„Na dann werdet ihr uns bestimmt den Weg freimachen, damit wir uns euren Keller einmal ansehen können. Ich denke, da müsste so einiges an Blutspuren von ihr zu finden sein.“ Der Mann zeigte ein raubtierhaftes Grinsen und ließ ein Springmesser aufschnappen.
Plötzlich begann das Licht im ganzen Haus zu flackern und fiel teilweise aus. Die Eingangshalle lag fast im Dunkel, nur noch spärlich erleuchtet von den hereinscheinenden Straßenlaternen. Marks Gesichtsfarbe und die seiner Schläger wurde so weiß wie die Wand. Neben ihnen flog eine Tür auf und Mrs. Foster trat neben die kleine Gruppe. „Was ist hier los?“, herrschte sie Mark an.
Für ihn antwortete der erste Sprecher aus Francis' Abordnung ohne jede Gesichtsregung, während vor der Tür die Menschen zu johlen und zu schreien begannen. „Gut, dass Sie auch hier sind, Mrs. Foster. Wir werden Sie jetzt festnehmen und der Polizei übergeben.“ Er zog ein Bündel Handschellen aus einer Tasche und ließ sie laut gegeneinander klappern. Ein seltsames Echo verstärkte den Lärm, sodass er Mark und seinen Kumpanen in den Ohren schmerzte.
„Das ist Lynchjustiz!“, kreischte Mrs. Foster. „Aber Gott der Herr wird uns beschützen.“ Sie zog ihre große Handtasche Halt suchend vor ihre Brust.
Ein einsamer Regentropfen, der über die Stirn von den Haaren herabgelaufen war, löste sich von Francis' Nase und fiel auf den Boden, ohne dass dieser irgendeine Regung zeigte. Mrs. Fosters Augen weiteten sich erstaunt.
„Darauf sollten wir es ankommen lassen“, antwortete der zweite Mann und draußen wurde die Meute noch unruhiger. Vereinzelt wurden jetzt leere Flaschen gegen das Haus geworfen und zerbarsten klirrend an der Hauswand. Dann gingen Francis' zehn Begleiter langsam um ihn herum, auf die vor Schreck wie gelähmten Verbrecher zu.
„Halt!“, kreischte Mrs. Foster mit einem satanischen Grinsen, zog aus ihrer Handtasche eine riesige, uralte Pistole, die sie auf Francis richtete. Francis' Männer blieben unschlüssig stehen und dann fuhr sie an die drei gewandt fort. „Das ist Hexerei, merkt ihr das nicht? Sie gehen über Glas, aber es knirscht nicht, der Hexer trieft vor Wasser, aber die anderen sind trocken, ich sage Euch die sind nicht echt!“ Und im selben Moment drückte sie die Pistole ab und schoss auf Francis. Wie Rauch verloren sich die Leute um Francis herum, als er wie in Zeitlupe blutend zu Boden sackte und auch die Menschenmenge vor der Tür löste sich auf. Sogar das Licht normalisierte sich schlagartig wieder, sodass Mrs. Foster und die drei Helfershelfer einen Moment lang geblendet die Augen schließen mussten.
Plötzlich wurde die Kellertür von unten aufgestoßen und traf Mrs. Foster in den Rücken, die noch immer die Pistole haltend zu Boden stolperte. Doch ehe Gina sich in der Halle orientieren konnte, wurde sie von Mark, der sich am schnellsten erholt hatte, weiter in diese hineingestoßen, dann stürmte er zurück in den Keller, die Tür hektisch hinter sich verschließend. Raymond und Tim erkannten entsetzt, dass ihnen nur noch die Flucht nach vorn blieb, und spurteten auf den Ausgang zu. Dann erblickte Gina Francis, der in einer größer werdenden Blutlache inmitten von Glasscherben auf dem Boden lag und stürzte auf ihn zu.
„Nein, nein! Bitte nicht! Du kannst nicht tot sein!“, brach es aus ihr heraus. Sie warf sich neben ihm auf die Knie und hob den Kopf von Francis auf ihren Schoß. „Hilfe!“, schrie sie aus Leibeskräften. „Ich brauche Hilfe! Einen Krankenwagen, bitte, jemand muss doch helfen!“ Tränen strömten über ihr Gesicht und nahmen ihr die Sicht. Immer wieder rief sie um Hilfe.
Eine kleine Gruppe der Polizei, die auf dem Weg zum Gemeindehaus gewesen war, hatte den Schuss gehört, die Umgebung abgesichert und war, als schon lange alle Trugbilder aufgelöst waren, langsam vorgerückt. Sie betraten eben das Gebäude, als Mrs. Foster sich wieder, mit der Waffe noch in der Hand, erhob. Sie zielte zitternd auf die wehrlose und mit Francis' Blut verschmierte Gina. „Da ist ja noch eine von den Hexen!“ keifte sie, doch bevor sie abdrücken konnte, schlug ihr ein junger Sergeant die Waffe mit seinem Knüppel aus der Hand.
Knapp gab Constable Gordon, der den Trupp angeführt hatte, die Befehle: „Nehmt die Frau fest und lest ihr ihre Rechte vor. Ihr anderen sichert das Haus. Es halten sich wahrscheinlich noch drei Männer hier auf, die möglicherweise bewaffnet sind.“
Dann beugte er sich zu Gina, schob sie sanft beiseite und untersuchte oberflächlich Francis' Schusswunde. „Hier brauchen wir schnell einen Krankenwagen“, sagte er zu einem Beamten. Und zu Gina gewandt fuhr er fort: „Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Der Schuss hat nur die Schulter getroffen. Er wird wieder auf die Beine kommen.“
Gina schluckte und Tränen der Erleichterung liefen ihr aus den Augen. „Zwei von denen sind zur Vordertür raus!“
Und während im Gemeindehaus Mrs. Foster bei ihrer Festnahme wie eine Wahnsinnige kreischte: „Ihr nehmt die Falsche fest. Die Hexe ist die da vorne! Wir müssen die Welt vor dieser Satansbrut bewahren!“, waren im Ort bereits mehrere Beamte unterwegs, um die beiden Schläger dingfest zu machen. Sie konnten nur wenig später am Bahnhof gestellt werden, als sie versuchten einen Fluchtwagen aufzubrechen. Sie gestanden ihre Verbrechen noch an Ort und Stelle.
Irgendwann schlug Francis wieder die Augen auf und verzog schmerzerfüllt das Gesicht. Als er Gina sah, grinste er. Dann sagte er leise: „Glaube mir Gina, ich war niemals in Gefahr. Nichts kann uns trennen!“
Nur Mark blieb verschwunden. Ein junger Polizist meldete: „Der Keller war leer, aber es gibt eine versteckte Hintertür, die offen stand.“
Die Suche nach Mark wurde über die ganze Stadt ausgedehnt und jeder Polizist, der in der Region wohnte, in die Fahndung eingebunden. Weit konnte er nicht gekommen sein, denn bei seiner Flucht kam er nicht an sein Auto heran, bei dem zufälligerweise eine Gruppe von Streifenpolizisten Deckung bezogen hatte. Innerhalb kürzester Zeit stellte Constable Gordon Teams zusammen, die die Wohnungen der Beteiligten durchsuchten, doch leider ohne Erfolg. Mark blieb wie vom Erdboden verschwunden.
Constable Gordon lief nachdenklich in der Halle des Gemeindehauses auf und ab und überlegte, wo er sich versteckt hätte, wenn er sich in der Stadt nicht auskennen würde, als ein junger Sergeant ihm die Waffe von Mrs. Foster zeigte. „Sollen wir die Tatwaffe zur Station bringen, Sir?“
„Was?“ Noah Gordon schreckte aus seinen Gedanken hoch.
„Sollen wir die ...“, weiter kam der Beamte nicht, denn der Blick des Constables richtete sich auf die Waffe.
„Ist das die Tatwaffe?“
„Ja, Sir!“
„Ist das nicht ein Armeerevolver aus dem Weltkrieg?“
„Ich weiß nicht genau, Sir.“, erwiderte der Beamte, bis ihm klar wurde, dass der Constable gar nicht mit ihm, sondern mit sich selbst sprach.
„Sergeant?“, auf dem Gesicht des Constables zeichnete sich eine Idee ab. „Wenn ich mich im Ort verstecken müsste, dann fällt mir nur ein Platz ein, wo ich sicher vor der Neugier der Einheimischen bin. Und den werden wir uns jetzt einmal ansehen.“ Unverzüglich riegelte die Polizei das Gelände der Munitionsfabrik neben der Schule ab.
In kürzester Zeit zog die Polizei einen Ring rund um den hohen Zaun des Gebäudes, um Mark jeden Fluchtweg abzuschneiden. Mit einem Megafon forderte der Constable Mark auf, mit erhobenen Händen herauszukommen. Er wollte nur ungern in ein Gebäude eindringen, von dem niemand genau wusste, welche gefährlichen Stoffe darin vielleicht noch lagerten. Doch seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Er rief die Aufforderung zur Aufgabe noch fünf Mal über das verlassen wirkende Gelände und manch einer seiner Einsatzkräfte fragte sich ernsthaft, ob sie hier nicht ein leeres Gebäude belagerten, bis Mark sich auf dessen Dach zeigte. Er hatte sich mit mehreren Munitionsgürteln behängt und trug eine Maschinenpistole und mehrere Handgranaten. Noah Gordon vermutete zu Recht, dass die Brüder Raymond und Tim dort ein illegales Waffenlager eingerichtet hatten.
„Ich komme nur raus, wenn ich meine Gina wiederkriege!“, kreischte er und bekam einen Lachanfall.
Auf ein verstecktes Zeichen hoben alle bewaffneten Beamten ihre Feuerwaffen und richteten sie auf Mark.
„Ha! Ihr könnt nicht auf mich schießen!“, brüllte der mit überkippender Stimme. „Nur eine Kugel und ich lasse die Handgranaten fallen. Dann fliegt hier alles in die Luft.“ Und er schwenkte auf dem Dach die Waffen in der Luft herum. Doch dann entglitt ihm eine der Handgranaten und Mark blieb erschrocken stehen. Als die Granate auf dem Dach aufschlug, brüllte der Constable: „Rückzug!“ Bei dem Aufprall wurde der Sicherungsstift herausgeschleudert und sie prallte ein kleines Stück in die Luft zurück, bevor sie wieder fiel. Doch dieses Mal fiel sie in den Treppenaufgang, und als die Beamten schon die ersten Meter auf ihrem Fluchtweg geschafft hatten, sah Mark von seiner Position immer noch der Granate interessiert hinterher. Ein paar metallisch klingende Abpraller konnte er noch auf der Betontreppe hören, bis die Granate explodierte. Nach außen richtete diese Explosion keinen größeren Schaden an, aber im Inneren setzte sie eine Kettenreaktion in Gang. Ein Grollen kündigte Schlimmeres an und kurz danach wurde in einer gigantischen Explosion das Dach des Hauses, mit Mark darauf, mehrere Meter in die Luft gedrückt, bevor es mit infernalischem Krachen in einer Feuersäule zurückstürzte und die Außenwände wegdrückte. Wer sich in der Nähe aufhielt und bis zu diesem Zeitpunkt noch keine Deckung gefunden hatte, wurde von einer enormen Druckwelle umgeworfen.
Als der Brand am Neujahrsnachmittag endlich gelöscht war, konnte niemand mehr Reste einer Leiche entdecken und Constable Gordon sollte später mit den Worten zitiert werden: „Nun braucht die Armee dieses Gelände wenigstens nicht mehr zu sanieren.“
… und der Prellung im Gesicht zusammen mit Francis zur Untersuchung in das Krankenhaus gebracht. Er überstand die Operation ohne Probleme und die Ärzte konnten Gina am nächsten Tag schon mitteilen, dass er wieder vollständig genesen würde. Es sei keine lebensbedrohliche Verletzung, sondern nur eine stark blutende Fleischwunde gewesen.
„Darf ich ihn sehen?“
Der Arzt zögerte einen Moment, nickte dann aber. „Wenn Sie mir versprechen, ihn nicht aufzuwecken. Er braucht jetzt viel Schlaf.“
Am späten Silvester Nachmittag machte sich Gina auf den Weg durch die langen Korridore des Kreiskrankenhauses. Sie setzte sich im Halbdunkel der Schlafbeleuchtung neben Francis und betrachtete sein Gesicht, das jetzt wieder so friedlich aussah. Irgendwann streichelte sie ihm über den Kopf, doch es schien ihn nicht zu stören. Im Gegenteil, sie hatte den Eindruck, dass er sie wahrnahm und sich in ihre Hand schmiegte. So saß sie stundenlang da und wachte über ihn.
Um Mitternacht hauchte sie einen Kuss auf seine trockenen Lippen. „Ein frohes neues Jahr, Francis! Ich werde dich immer lieben!“
Er schlug die Lider auf und blickte ihr tief in die Augen. „Ich werde dich auch ewig lieben. Egal was passiert, du wirst mich nie verlieren!“ Dann schlief er wieder ein.
Etwas über eine Woche später stimmten die Ärzte Francis' Entlassung zu, nachdem die Wunde überraschend schnell verheilt war und der Patient in den letzten beiden Tagen so ungeduldig auf seine Entlassung gewartet hatte, dass er vermutlich zu Hause besser aufgehoben war. Sein Vater holte ihn am Samstag mit dem Auto ab und brachte seinen Sohn mit einem eindrucksvollen Schulterverband und genauen Pflegeanweisungen wieder nach Hause.
Noch bevor sie Francis begrüßen konnte, fiel Gina auf, dass er trotz seiner Verletzung kraftstrotzend und selbstbewusst wirkte. Hatte er sich schon wieder weiterentwickelt? Dann nahm sie ihn nach seiner Mutter, die nichts von den Veränderungen zu bemerken schien, vorsichtig in den Arm. In beiden breitete sich ein Glücksgefühl wie flüssiges Gold in den Adern aus.
„Wieso ist im Pub so wenig los?“, erkundigte sich Francis misstrauisch.
„Seit dieser Geschichte glauben offensichtlich einige von diesen Dörflern, dass du ein Hexer bist.“ Mrs. Drakes Stimme klang verbittert. „Außerdem haben viele kein Geld mehr, um in die Kneipe zu gehen. Wahrscheinlich machen sie sogar uns für die Explosion verantwortlich.“
Francis sah erst sie, dann Gina fragend an. „Das kannst du ja noch gar nicht wissen.“ Mr. Drake seufzte und ergänzte dann bei einer Tasse Tee Francis' Informationen.
Am frühen Abend füllte sich der Pub dann doch noch. Nicht nur die Teilnehmer der Spielrunde, die strickt auf ihre heutige Verabredung pochten, auch viele normale Gäste bevölkerten das erste Mal seit Ginas Entführung wieder die Tische und natürlich wollten sie alles haarklein aus erster Hand berichtet haben, sodass Gina froh darüber war, dass Sally im Hintergrund weiterarbeiten konnte, wenn sie erzählen musste.
Irgendwann nach der Sperrstunde hatten sich die Teilnehmer der Spielrunde im Speisesaal versammelt und es wurde ihnen erst jetzt wieder bewusst, dass ihr Spielleiter noch im Krankenhaus lag. Auch er war nach dem letzten Stand der Dinge auf dem Wege der Besserung, aber niemand wusste, wann er wieder seine Kirche betreten würde.
„Jetzt wäre es gut, wenn du ihn herhexen könntest“, scherzte der große Fred und versenkte sein Gesicht in einem Bierkrug.
„Verdammt, ich bin kein Hexer!“, rief Francis plötzlich auffahrend und hieb mit der gesunden Hand auf den Tisch, dass die Gläser und Tassen wackelten. „Ich bin ein Erzähler. Ich kann die Realität nicht verändern.“
„Ist ja schon gut“, ruderte Fred besorgt über seinen Ausbruch zurück. „Ich meinte ja nur, das ist doch irgendwie das Gleiche, oder?“
„Nein, ist es nicht.“ Francis richtete sich zu seiner vollen Größe auf, die mittlerweile sogar an Fred heranragte. Eine Aura von Macht und Zorn flirrte um ihn und die ganze Runde starrte ihn beeindruckt an. „Aber da euch das Spiel so wichtig ist, werde ich jetzt das nächste Abenteuer leiten, und ich werde es auf meine Weise tun.“ Und dann veränderte sich schlagartig die Welt.
Sie wandelte sich so drastisch, wie noch nie zuvor. Nicht nur Trugbilder fremdartiger Gestalten und Räume tauchten auf, sondern Gina selbst wurde zu einem Zwerg und fühlte, dass sie Mineheart war und nicht nur spielte.
Nach einem kurzen Moment des Schwindels, den offensichtlich alle Spieler gerade abschüttelten, brauchten sie ein paar Augenblicke um sich neu zu orientieren. Sie standen persönlich als die Spielfiguren mit den passenden Gewändern in einem niedrigen, dunklen Raum, der mehr an einen Stall als an ein Haus erinnerte. Nur eine Person saß. Francis steckte in langen, verschmutzten, ehemals edlen Gewändern, die seinen Körper mit kostbaren Farben umspielten. Doch seine Haare waren nun zottelig und verfilzt, seine Haut starrte vor Dreck und seine Augen hatte sich so weit verdreht, dass er wie erblindet aussah.
Es blieb ihnen kaum Zeit die Umgebung in sich aufzunehmen, als er auch schon das Wort an sie richtete: „Ich denke mir, es ist besser, wenn ich noch einmal den Stand der Dinge zusammenfasse, da es doch schon Wochen her ist, seit wir das letzte Mal gespielt haben. Der Baron von Syslington County hatte genug davon, sich dem König unterordnen zu müssen.“ Francis schwang sich kräftiger aus dem Stuhl, als es seine Erscheinung vermuten ließ, und begann dozierend auf und ab zu gehen, wobei alle anderen dem Blinden ohne Aufforderung auswichen. Beglückte Faszination über das Reale ihrer Umgebung machte sich auf den Gesichtern breit und ließ keinen Platz mehr für die gerade erlebten Unstimmigkeiten.
„Er sicherte sich die Hilfe zweier Verbündeter, zweier riesenhafter Flugdrachen, mit deren Unterstützung er die Länder in der Umgebung unterwarf. Ihr seid in vielen Monaten durch diese Länder gezogen und habt euch Ruhm und Ehre erworben.“ Der Ritter und die Zauberin sahen sich stolz an und auch die Blicke der anderen waren noch geschmeichelter auf Francis gerichtet. „Und nun wird euch die letzte Aufgabe an den Hof dieses Barons führen, der den Zwerg Mineheart und den Narren Foundjoy beim letzten Abenteuer entführt hat.“
Gina und Fred sahen sich noch kurz an, bevor sich alles um sie herum in Nebel auflöste und sie sich auf der offenen Spitze eines Turms wiederfanden, angekettet an eine mannsdicke Felssäule in der Mitte dieses künstlichen Plateaus. Es war eine warme Nacht, über ihnen prangte ein prächtiges Sternenzelt, doch wie weit es von ihrem Platz auf dem Turm nach unten ging, ließ sich nicht abschätzen, denn unter ihnen lag alles im tiefsten mondlosen Dunkel.
Gina war die Erste, die sich auf das Spiel einließ, weil sie die Situation so wiedererkannte, wie sie nach dem letzten Spiel gewesen war. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass es dieses Mal keine Fantasie war, sondern fühlbar feste Materie. „Ich wüsste nicht, was ich im Moment tun kann!“, sagte Mineheart. „Man hat mir meine Waffen abgenommen und der einzige Zauber, den ich beherrsche, ist Erze aus Stein hervorquellen zu lassen. Aber ich wüsste nicht, was uns das nützen könnte.“
„Lass es lieber sein!“, antwortete Foundjoy. „Nachher bricht noch der Turm zusammen.“
„Es wird wieder Tag.“ Der Erzähler fuhr mit der Geschichte fort und vor der Hütte zeigte sich ein rosiger Streifen am Horizont. „Und Ihr, Sir Pellingworth, lagert mit dem Paladin Pimplefiz, der Zauberin Merlinia und dem Waldläufer Runner vor der Burg des Barons. Er weiß, dass Ihr sein letzter ernst zu nehmender Gegner seid. Und Ihr wisst, dass er ab Mittag die Drachen auf die Gefangenen loslassen wird, wenn Ihr bis dahin nicht vor ihm erschienen seid.“ Die Hütte, mit Francis in der Mitte, löste sich vor ihren Augen auf und übrig blieb nur ein dünner Bodennebel, der sich gleichmäßig über eine kurz gemähte Wiese vor den hohen Burgmauern legte.
Die Mauern waren hoch und aus regelmäßigen Steinquadern errichtet.
„Ich werde das Gelände erkunden“, sagte Runner, warf sich seinen Köcher mit den Pfeilen sowie die zusammengerollte Schlafdecke über die Schulter und sprintete los. Er brauchte lange, bis er von der anderen Burgseite wiederkam, und war trotzdem nicht außer Atem. „Dieses Spiel ist prima!“, sagte er. „Zu Hause hätte ich dieses Tempo nie durchgehalten.“
Die Zauberin rollte genervt die Augen nach oben. „Das interessiert uns nicht. Siehst du eine Möglichkeit hineinzukommen?“
Runner nickte. „Eigentlich ist das überhaupt kein Problem und genau das macht mich so misstrauisch.“
„Wieso?“ Pimplefiz runzelte die Stirn.
„Wie ihr es hier seht, ist es auf der ganzen Burgmauer: Es steht kein einziger Wächter dort. Mit ein paar wohl gezielten Schüssen müsste ich ein Seil hinüberschießen können, an dem wir hochklettern könnten.“
Sir Pellingworth sah auf seinen, von einer schweren Rüstung bedeckten, dicken Bauch. „Das könnte ein Problem werden.“
„Oder“, fuhr Runner fort, „wir gehen über die herunter-gelassene Zugbrücke hinein.“
„Kann eigentlich irgendetwas noch mehr nach Falle riechen?“, moserte Pimplefiz.
„Moment. Ich habe da doch noch den Schwebezauber.“ Die Zauberin breitete die Arme aus, schwenkte kurz den Zauberstab und stieg senkrecht in den schon sommerblauen Himmel. Ein paar Minuten später hatte sie die Lage erkundet und landete wieder sanft bei ihnen. „Pimplefiz hat recht. Das Ding muss eine Falle sein. Ich konnte nirgendwo Soldaten oder Bogenschützen sehen, es gibt keine patrouillierenden Zauberer und in einem Innenhof wird gerade der Frühstückstisch gedeckt. Ganz oben im Haupthaus nimmt die Königin im Kreise ihres Hofstaates völlig ungeschützt ein Bad. Noch nicht einmal Späher sind auf den Außentürmen. Nur auf dem Drachenturm konnte ich aus der Ferne gerade noch unsere beiden angeketteten Helden erkennen. Bisher scheint ihnen noch nichts passiert zu sein.“
Nach einer schnellen Beratung stimmten alle Runner zu, dass der Weg durch das Tor eine zu deutliche Falle wäre und sie entschieden sich für seinen Weg über die Mauer. Er montierte ein leichtes aber sehr stabiles Elfenseil, das er einmal einer bösen Hexe abgenommen hatte, an einem Pfeil und schoss diesen in Richtung der Mauerkrone. Doch kurz bevor der Pfeil sein Ziel erreichte, prallte er von etwas Unsichtbaren ab und fiel zu Boden.
„Ein magischer Schutzschirm!“, beschied die Zauberin. „Mach das noch einmal, wenn ich nach oben gestiegen bin. Ich möchte mal sehen, ob ich erkennen kann, wie groß der Schirm ist.“
Sie stieg nach oben, der Pfeil wurde geschossen, prallte erneut ab und kam wieder herunter. „Hier sind ungeheure magische Kräfte am Werk. Ich konnte von oben das Flimmern des Schutzschildes sehen, als er vom Pfeil getroffen wurde. Der erstreckt sich über die ganze Burg, nur der Drachenturm ragt daraus hervor.“
„Wahrscheinlich soll der Schutzschild den Baron auch vor den Drachen selbst schützen. Sehr clever!“ Sir Pellingworth wirkte unzufrieden.
Über die Wiese kam in seinen weiten Gewändern und mit einem Blindenstock der Erzähler herbeigeschritten.
„Was machst du hier?“ Pimplefiz war verblüfft.
„Ich muss doch mitbekommen, was ihr tut, damit ich diese Welt weiterhin für euch erschaffen kann.“ Er lachte ihn mit seinen blinden Augen an.
„Kannst du uns denn keinen Tipp geben?“
„Nein“, schüttelte Francis energisch den Kopf. „Ich erzähle diese Geschichte nur, ich gestalte sie nicht. Das macht ihr in jedem Moment, da ihr sie spielt. So ist die Regel.“
„Da hast du natürlich recht. Aber wie kommst du dann selbst hierher, vor Ort meine ich?“, entgegnete Pimplefiz.
Francis überlegte einen Moment und wurde dann nachdenklich. „Du hast recht. Das verstehe ich auch nicht, ich sollte nicht körperlich hier sein. Ich werde darüber nachdenken.“
Die anderen wandten sich von dem Erzähler ab, von dem in diesem Moment keine Hilfe zu erwarten war, und versanken ebenfalls in nachdenkliches Schweigen. Schließlich brach es aus Sir Pellingworth heraus: „Also ich weiß keine Lösung. Die beiden sind da oben und werden zu Mittag von den Drachen verspeist und der einzige Weg in die Burg ist das Tor. Wir müssen da rein, wir können die doch nicht ihrem Schicksal überlassen. Gerade Mineheart hat noch nicht so viele Lebenspunkte, dass sie mehr als einen Angriff der Drachen überleben dürfte.“
„Also ich kann euch da drinnen nicht von Nutzen sein“, bemerkte die Zauberin. „Wo so starke magische Kräfte herrschen, müssen gewaltige Zauberer am Werk sein. Dagegen kann ich nichts ausrichten.“
„Ich sehe es wie Sir Pellingworth.“ Runner prüfte mit der Fingerkuppe die Spitze seiner Pfeile. „Er muss da rein und sich dem Baron stellen, sonst bekommen wir Mineheart und Foundjoy nie frei.“
Pimplefiz nickte und damit war es entschieden. Sie umkreisten die Burg bis zur Zugbrücke und schritten durch das Tor. Rasselnd fiel hinter ihnen das Fallgitter herunter. Sie saßen, wie erwartet in der Falle. Klammen Herzens gingen sie weiter und fanden schließlich den Baron mit seinen Mannen bei der Waffenpflege.
„Ich frage mich immer noch, was ich hier soll!“ Francis war ihnen verwirrt nachgegangen.
„Sir Pellingworth, ich habe erwartet, dass Ihr heute kommen würdet.“ Der Baron zeigte lächelnd die Zähne. „Ich stelle Euch zur Wahl, bei der Fütterung der Drachen zuzusehen oder Euch mir in einem Turnierkampf zu stellen. Solltet Ihr wider Erwarten gewinnen, dürft Ihr das Drachenfutter natürlich mitnehmen. Wenn nicht? Nun ja, dann braucht Ihr Euch darüber ohnehin keine Gedanken mehr zu machen. Sagt mir Bescheid, wenn Ihr Euch entschieden habt.“ Der Baron nickte Sir Pellingworth höflich zu und mit einem Fingerschnipsen verschwand außer dem Drachenturm alles, was sich im Innern der Burgmauern befand.
Die vier Recken schauten sich voller Schrecken um. „Hier ist nichts mehr. Niemand, den wir angreifen können. Was sollen wir tun? Wie soll ich in einem Kampf gegen den Baron bestehen, wenn er dermaßen mächtig ist?“
„Ihr müsstet eine Zwanzig würfeln“, antwortete Francis automatisch. „An dieser Stelle kann nur noch das Schicksal entscheiden.“
„Gab es denn vorher noch eine andere Lösung?“
Francis nickte, ohne etwas zu sagen, und entfernte sich dann etwas von der Gruppe. Er grübelte.
Sir Pellingworth entschied sich, ohne noch lange zu zaudern, für den Waffengang, und hatte diesen Entschluss kaum laut ausgesprochen, als auf der großen freien Fläche eine Turnierarena entstand. Großmütig überließ der Baron ihm die Wahl der Waffen und Sir Pellingworth wählte den Lanzenritt.
Laut klapperten die Hufe der Pferde auf dem Kopfsteinpflaster und das Echo fiel hart von den Mauern zurück. Als die Ritter die Lanzen senkten und aufeinander zu preschten, legte Francis wie zum Gebet die Hände zusammen und wie ein kaum wahrnehmbarer dunstiger Schatten rollte ein viele Meter hoher, schwarzer Würfel zwischen den Reitern hindurch. Er zeigte die Drei. Die Lanze des Barons stieß vor den Brustharnisch von Sir Pellingworth und schleuderte diesen hoch aus dem Sattel. Mit einem schmerzhaften Krachen landete er auf dem Rücken.
Angstschreie klangen von dem hohen Turm herunter. Mineheart und Foundjoy hatten das Ergebnis des Kampfes genau verfolgt. Der Erzähler musste Sir Pellingworth Lebenspunkte abziehen und der Baron begann, schallend zu lachen.
„Ihr könnt nicht mehr gewinnen. Die zwei da oben überlasse ich den Drachen und Ihr solltet Euch glücklich schätzen, wenn ich Euch noch in meine Dienste lasse.“
Sir Pellingworth rappelte sich wieder hoch. „Ich bin noch nicht tot. Der Kampf geht weiter!“
„Was soll das, Ihr habt doch schon jetzt nicht mehr genug Punkte, um mich zu besiegen. Aber wie Ihr wollt. Welchen Einsatz möchtet Ihr setzen?“
„Mein Leben!“
„Angenommen! Knappen, bereitet alles vor.“
Die Zauberin rannte mit Panik im Gesicht und wehenden Kleidern zu Francis, der ein wenig abseitsstand. „Francis. Du musst ihm helfen!“ Tränen der Verzweiflung rannen ihr aus den Augen. „Gina und dein Vater werden sterben. Das hier ist kein Spiel mehr.“
„Kein Spiel mehr?“
„Nein, dein Vater blutet bereits unter seinem Panzer.“
„Aber wie kann ich ihm helfen? Ich habe die Regeln nicht gemacht.“ Jetzt war auch Francis nah an der Verzweiflung.
„Dann beende das Spiel jetzt, auf der Stelle.“
„Das kann ich nicht, das habe ich schon versucht“, antwortete er kleinlaut.
Die Ritter bauten sich mit ihren Pferden und Lanzen auf den Startpositionen auf.
„Tu irgendetwas, wenn du es schon nicht beenden kannst."
Die Ritter gaben ihren Pferden die Sporen.
„Francis, brich die Regeln!“ Dieser Befehl seiner Mutter und der Entsetzensschrei von Gina, die von fern die Drachen angeflogen kommen sah, dröhnten wie eine Kakophonie in seinen Ohren und veränderten ein letztes Mal etwas in Francis. Er konzentrierte sich.
Er konzentrierte sich auf einen kleinen Igel, der voller Entsetzen den Baron auf sich zureiten sah und sich zu einer Kugel zusammenrollte. Das Pferd des Barons trat auf den Igel. Es stieg hoch in die Luft und schleuderte ihn nach oben. Die Lanze Sir Pellingworths war nicht mehr zu bremsen. Sie schob sich von unten unter die Rüstung und durchbohrte den Baron vollständig. Er war bereits tot, als er auf steinernen Boden aufschlug.
Die Mauern, die Pferde und die Sonne verschwanden. Sie lösten sich wie alles andere in Dunst auf und die sechs Helden landeten wieder auf den harten Stühlen des Speisesaals Harbourstreet vierundzwanzig.
„Jetzt bin ich wirklich ein Erzähler“, sagte Francis mehr zu sich selbst. „Jetzt kann ich die Regeln machen.“
… doch dann war die Begeisterung bei den meisten Spielern überwältigend. Nur Gina und die Drakes hatten die wirkliche Gefahr erkannt, in der sie für wenige Stunden geschwebt hatten.
Doch es war spät geworden in dieser Nacht und so löste sich die Gruppe zügig auf, nicht ohne immer wieder Francis zu seiner Leistung zu gratulieren und ihm lachend zu versichern, dass man jetzt genau verstanden habe, wo der Unterschied zwischen ihm, als Erzähler, und einem Hexenmeister liege.
Am nächsten Morgen konnte Gina nicht sagen, was sie geweckt hatte, doch vor dem Fenster herrschte noch tiefe Dunkelheit und nur ein besonders früher Laster dröhnte über die Harbourstreet. Eine plötzliche Wahrnehmung stellte sich ein, der Platz im Bett neben ihr war leer und kalt. Völlig irrational tastete sie das ganze Bett ab, aber Francis blieb verschwunden.
Er wird in sein Zimmer gegangen sein, sagte sich Gina tapfer, obwohl sich ein böses Gefühl in ihrer Magengegend breitmachte. Dann kam mit einem Schlag die Übelkeit. Sie presste die Hand auf den Mund und stürzte zur Toilette.
Nachdem sich ihr Magen wieder soweit beruhigt hatte, dass sie aufrecht stehen konnte, ging sie die Treppen hinunter in die Küche, um sich ein Glas frisches Wasser zu holen. Und dort sah sie ihn. Den Brief. Mitten auf dem Küchentisch lag der Umschlag. Unverklebt und ohne Anschrift war er so abgelegt worden, dass er auf jeden Fall als Erstes gefunden werden musste. Wie in Trance ging Gina auf den Tisch zu, ließ sich auf einen der Stühle fallen und nahm das Schreiben in die Hand. Es dauerte lange, bis sie den Mut fand, das einzelne Blatt Papier herauszuziehen, und der Knoten im Magen war wieder auf Fußballgröße angewachsen, bis sie begann, die Zeilen zu lesen.
Geliebte Gina, ich denke, dass du es sein wirst, die diesen Brief finden wird, denn wir haben in den letzten beiden Monaten eine Verbundenheit entwickelt, die viele Menschen nie kennenlernen werden. Wenn du diesen Brief gefunden hast, wirst du wahrscheinlich allein in der Küche sitzen, diesen hübschen Morgenmantel tragen und die Hand auf den Mund pressen, um nicht zu weinen. Gina nickte unwillkürlich. Aber du brauchst nicht zu weinen, denn, wie ich dir schon gesagt habe, kann uns nichts trennen! Unwillkürlich musste Gina sich umschauen, sah aber doch nur die leere, kalte, unpersönliche Küche um sich.
Tränen liefen über ihr Gesicht. "Wo bist du?", flüsterte sie. Ich habe durch dich angeregt in den letzten beiden Monaten so viel über mich gelernt, dass ich dir auf Knien danken möchte. Aber das, was ich gelernt habe, hat mich auch verändert. Es hat mich so verändert, dass es mich zwingt, meinen eigenen Weg zu finden und das wird nicht der Weg sein, den meine Eltern für mich erdacht hatten. Denn wenn ich bliebe, würde unsere Stadt nie zur Ruhe kommen und die Anfeindungen eher noch schlimmer werden. In ihrem Schmerz zerknüllte Gina beim Lesen den Umschlag zu einem kleinen Ball. Auch du wirst hier nicht bleiben können, deshalb habe ich dir meine Ersparnisse in die Handtasche gesteckt. Welchen Weg du auch wählen wirst, meine Welt wird immer ganz dicht bei deiner liegen und ich werde wieder bei dir sein können. Ich werde dich immer lieben, Francis
Gina begann zu wimmern. Ein Schmerz unendlichen Verlustes leerte alles Gefühl aus ihrem Körper. Sie presste die Hände auf ihren Bauch, legte die Arme dicht an den Körper und zog die Beine an ihre Brust. Sie weinte. Ihr ganzes Wesen beklagte den Verlust des Menschen, den sie am meisten brauchte. Schließlich brach Wut aus ihr hervor. Unbändige Wut auf Francis, der sie verlassen hatte und trotzdem die Stirn hatte zu behaupten er würde immer bei ihr sein. Tief holte sie Atem, schleuderte vor unbändigem Zorn die Papierkugel durch den Raum und war im gleichen Moment entsetzt. Wie konnte sie so wütend auf den Menschen sein, den sie so liebte? Wieder nahmen ihr die Tränen die Sicht, aber sie konnte und wollte auch gar nichts mehr sehen.
Irgendwann später, die Tränen waren versiegt, hörte sie schwere Schritte auf der Treppe, doch sie konnte sich nicht überwinden, hoch zu schauen.
Verwundert hob Mr. Drake die Papierkugel auf, die im Türrahmen liegen geblieben war, und wollte schon den Mund öffnen, um Gina einen guten Morgen zu wünschen, als er registrierte, wie sie aussah. Mit dem gleichen Blick erfassten seine Augen den Brief auf dem Küchentisch, der Ginas kraftlosen Händen entfallen war. Dann ließ er seine massige Statur auf einen der Stühle sinken und begann zu lesen. Gina spürte, dass sie etwas sagen sollte, sie fühlte sich auf einmal so schuldig, doch sie besaß nicht mehr die Kraft dazu.
Francis' Vater musste diesen Brief einige Male gelesen haben, bis er den Inhalt wirklich begriffen hatte, denn es dauerte lange, bis er seinerseits voller Wut die Papierkugel durch die Küche schleuderte. Aus den Augenwinkeln konnte Gina sehen, wie er aufstand als würde er ferngesteuert. Er kam um den Tisch herum und stellte sich vor sie. Dann zog er sie zu sich hoch auf die Beine und nahm sie in den Arm. „Das hätte ich schon viel früher tun sollen!"
Lange standen sie so da, bis sie sich voneinander lösten. Er starrte wieder fassungslos auf den Brief in seiner herunterbaumelnden rechten Hand. Dann sah er Gina mit so viel Leid im Gesicht in die Augen, dass Gina ihren eigenen Schmerz fast nicht mehr fühlen konnte. „Ich glaube, Francis hat recht. Es ist besser, wenn du erst einmal gehst. Ich werde Sue Bescheid sagen, wenn sie von allein aufwacht. Sie soll noch einmal unbelastet ausschlafen dürfen." Er ließ den Brief gedankenverloren los und hatte sich schon abgewandt, um zur Tür zu gehen, als der Zettel vor Ginas Füßen landete. Seine Schritte verklangen oben an der Treppe, als Gina ihre Fassungslosigkeit überwand, den Brief nahm und auf ihr Zimmer ging, um ihren Koffer zu packen.
Als Gina, ohne die Drakes noch einmal zu sehen, etwa eine Stunde später mit ihrem Koffer und zwei großen Tüten die Straße betrat, war von ihr nichts zurückgeblieben, als der Geruch einer zweimonatigen Anwesenheit. Leichter Regen hatte den meisten Schnee von den Wegen gewaschen und nur noch einige hässliche, schmutzige Haufen zurück gelassen. Er lief über ihr Gesicht und vermischte sich mit den Tränen der Fassungslosigkeit. Wie konnte es passieren, dass Francis sie verließ? Wie konnte es sein, dass er trotzdem immer wieder ihre Liebe beschwor?
Sie spürte erneut eine aufkommende Übelkeit, aber sie kämpfte sie erfolgreich nieder. Noch einmal ging sie zum Hafen hinunter und bog dann nach rechts ab. Sie trug ihre Tüten und den Koffer wie ihre seelische Last über die Wege ihrer Erinnerung. Sie blickte nach rechts, doch auch in Sallys Haus herrschte noch tiefer Frieden. Ein Lastwagen nahm ihr die Sicht und sie wandte sich ab, ging die Mole entlang und versuchte an ihrem Ende, durch den Regenschleier noch von Ferne den Eingang zu Francis' Höhle zu entdecken, aber das herabfallende Grau verhinderte jede Sicht.
Sie bog in die Londonroad ein und ging Meter für Meter, jedes Nachdenken vermeidend, zur Mainstreet. Sie überquerte die Straße und warf einen letzten Blick auf die beiden Kirchen und die Menschen zwischen ihnen, die sich am heutigen Sonntag in die eine oder andere Richtung orientierten.
Auf der katholischen Seite fiel ihr ein großer schwarzer Wagen auf, der mit verhängten Fenstern auf dem Kirchenparkplatz stand. Ein junger Priester trug zwei riesige Koffer vor einem ältlichen Geistlichen her und verfrachtete sie in den offenstehenden Kofferraum. Der Ältere musste sie erkannt haben, denn er hielt einen Moment inne und schickte ihr aus der Ferne einen hasserfüllten Blick zu, bevor er sich in den Innenraum beugte. Gina war froh, dass der Letzte, der Hass gesät hatte, aus der Stadt verschwand. Sie drehte sich mit ihrem Gepäck zum Bahnhof um und betrat das Gebäude. Vom Bahnsteig dampfte ihr für einen Augenblick eine alles vernebelnde Wolke entgegen und ließ sie stehen bleiben, bis die Sicht wieder besser wurde. Es musste der Museumszug aus London sein.
Zu ihrer Überraschung trat Reverend Hummingworth aus der Wolke heraus und rollte einen Koffer vor sich her. Einen Verband konnte Gina zu ihrer Erleichterung nicht mehr entdecken.
„Reverend, wie schön Sie zu sehen.“ Für Gina war dieser Anblick bisher der Lichtblick dieses Morgens. „Geht es Ihnen besser?“
Der Reverend ließ einen erstaunten Blick über ihr Gepäck gleiten. „Vielen Dank, Gina. Jetzt auf jeden Fall. Ich hatte gar nicht gehofft, hier so früh jemanden zu treffen.“
Gina senkte den Kopf. „Es ist viel passiert in der letzten Zeit.“ Sie stockte.
„Setzen wir uns?“ Der Reverend deutete auf eine einsame Holzbank mitten in der leeren Bahnhofshalle.
Gina atmete tief durch und unterdrückte einen neuerlichen Weinkrampf. „Francis ist weg!“
Der Reverend zog fragend die Augenbrauen hoch.
„Sie haben von dem Polizeieinsatz gehört?“
„Ja, soweit bin ich im Bilde.“
„Dann muss ich Ihnen wohl den zweiten Teil der Geschichte noch erzählen. Francis hat sich verändert.“ Der Reverend nickte erneut und Gina fasste sich ein Herz und berichtete ihm in einer Kurzfassung, was in den letzten Wochen mit Francis passiert war, von den Geschehnissen am gestrigen Abend und reichte ihm zum Abschluss den Brief.
Nachdem er ihn gelesen hatte, sah er sie einen Moment lang an. „Ich bin sicher, er wird sich wieder bei Ihnen melden. Sonst hätte er es nicht so deutlich geschrieben.“
„Sind Sie sicher?“
„Ja, ganz sicher. Er ist jemand ganz Besonderer und er hätte es doch gar nicht nötig, Sie nur beruhigen zu wollen. Wenn er wirklich nur hätte verschwinden wollen, wäre er einfach gegangen.“
„Das klingt sehr schön, wenn Sie das sagen.“
„Haben Sie etwas, dann Sie an ihn erinnert?“
Unwillkürlich, aber nicht unbemerkt, glitten ihre Hände zu ihrem Bauch. „Ich glaube ja Reverend. Es gibt da etwas, das uns für immer verbindet.“
„Sehen Sie. Er steht noch am Anfang eines neuen Lebens und er muss seinen Weg finden, aber dann wird er wiederkommen.“ Eine große Dampfwolke drang vom Bahnsteig herein und er erhob sich. „Ich glaube, Sie müssen Ihren Zug bekommen.“
„Danke für alles, Reverend.“
„Sehr gern geschehen, ich würde mich freuen, wenn wir uns einmal wiedersehen würden.“
Und mit einem Nicken wollte sich Gina schon abwenden, da fiel ihr noch etwas ein. „Reverend?“
„Ja?“
„Sally Blake wird wahrscheinlich im Pub meine Stelle einnehmen. Sie könnte Ihre Hilfe gebrauchen, ihre Mutter ist sehr krank.“
„Ich dachte, sie wäre katholisch.“
„Ist sie auch, aber ich glaube sie mag Sie. Und Sie könnten sie von mir grüßen.“ Dann drehte sie sich um und trug ihr Gepäck in den Nebel der Dampfwolken.
Dieses Buch widme ich all meinen Freunden, die es zu lesen bis hierher durchgehalten haben.
Doch ganz besonders widme ich es Claudia Schröder und meinen Kindern Rahel und Jascha, die ich über zwei Monate erfolgreich über die Arbeit an dieser Geschichte an der Nase herumführen konnte.
Darüber hinaus möchte ich noch meinen beiden Lektorinnen danken, die mir nur um des gemeinsamen Projektes Willen mit viel zeitlichen Engagement und ihrem enormen Wissen geholfen haben.
Zur Erläuterung: Das im Buch vorkommende Spiel „Magier & Ritter“ ist einer der zahlreichen Vorläufer der Dungeon And Dragon Spiele als Paper + Pencil-Version.
Ich wünsche Euch Allen ein Friedliches Weihnachtsfest und ein Gesundes Neues Jahr.
Euer
Dirk Achterberg
Texte: 2010 Dirk Achterberg
Lektorat: Mäzena und Euterpe
Tag der Veröffentlichung: 20.04.2012
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