Cover

Hey, du! Wie geht es dir? Alles fit? Ich hoffe doch. Bei mir sieht es momentan leider nicht so gut aus. Ehrlich gesagt geht es mir richtig dreckig. Ich kann kaum schlafen und wenn doch, habe ich Albträume. Ich bin depressiv, nervös und bekomme Panikattacken. Doch ich bin selber schuld. Aber damit du die Gründe nachvollziehen kannst, erzähle ich dir erstmal etwas über mich. Ich heiße Viviane, bin 16 Jahre alt und wohne normalerweise mit meiner Mutter und ihrem neuen Freund in einer schönen Wohnung in Frankfurt. Aber momentan befinde ich mich in einer Klinik für Jugendliche. Eigentlich sollte ich mich in einer speziellen Klinik für Drogensüchtige befinden, aber weil ich auch schwanger bin und meine Psyche ziemlich unter dem leidet, was ich erlebt habe, bin ich glücklicherweise hier. Hier in der Klinik für Jugendliche hilft man mir nicht nur, von den Drogen und vom Nikotin loszukommen, sondern hilft mir auch bei wichtigen Lebensentscheidungen. Die Psychologen überlegen mit mir zusammen, wie es nach meinem Klinikaufenthalt weitergehen soll, ob ich wieder auf dieselbe Schule zurückgehe wie vorher und was ich mit meinem Baby mache. Wären da nicht diese Entzugserscheinungen, würde ich mich hier perfekt aufgehoben fühlen. Sicher fragst du dich jetzt, wie es dazu kommen konnte. Nun, ich will es dir erzählen. Vielleicht lernst du sogar daraus, nicht so einen Mist zu machen wie ich. Ich würde mich freuen, wenn ich Leuten damit helfen könnte. Nun gut, ich werde versuchen, dir alles zu erzählen, egal wie peinlich es mir ist…
Ich war nicht schon immer die 'Gangsterbraut' wie jetzt. Anfangs war ich sogar ziemlich schüchtern. Meine Naturlocken und Sommersprossen im Gesicht verunsicherten mich, weil ich damit anders aussah als die anderen. Auch hatte ich oft Angst, dass man mich für einen Streber hielt, weil ich so gut in der Schule war. Deswegen war ich auch sehr überrascht als Shania mich an einem Schultag in der Pause fragte, ob ich nicht auch zu ihrer Geburtstagsparty am Samstag kommen wollte. „Ja, ich komme gern“, sagte ich zu ihr und hielt das natürlich auch ein, obwohl ich super aufgeregt war. Ich kaufte mir vor der Party extra große auffällige Ohrringe und trug sogar eine Leggings mit einem langen Oberteil, was ich sonst nie tat. Aber schließlich konnte ich nicht so langweilig aussehen wie immer. Ich hatte wohl ein gutes Händchen für mein Outfit bewiesen, denn Shania war am Tag ihrer Geburtstagsparty ganz überrascht und machte mir Komplimente. „Wow, ich hätte nicht gedacht, dass du dich so herausputzen kannst, Viviane! Fehlt nur noch ein bisschen Schminke, dann wäre es perfekt“, sagte sie zu mir. Ich bedankte mich und sagte ihr, dass sie auch super aussah. Ich ließ mich an dem Abend sogar überreden, eine Mischung aus Wodka und Cola zu trinken, obwohl ich vorher noch nie Alkohol angerührt hatte. Es fühlte sich gut an, dazu zu gehören. An diesem Abend entwickelte sich eine enge Freundschaft zwischen Shania und mir.
Ich traf mich an den Nachmittagen oft mit Shania. Wir schauten zusammen Filme, gingen in die Stadt und ich lernte sogar noch weitere Leute durch sie kennen. Shania gab mir sogar Hilfe beim Schminken. Ich fand, ich sah aus wie ein völlig anderer Mensch. Wie ein hübscherer Mensch. Ich vertraute Shania, dass sie alles aus mir herausholte, was aus mir herauszuholen war. Seitdem ich mit den Schminkutensilien umzugehen wusste, schminkte ich mich selber jeden Tag. Doch was mir fehlte, waren schöne Klamotten. Shania hatte für jede Gelegenheit schicke Klamotten. Sie hatte Röcke, Hosen in verschiedenen Stoffen und Farben, Oberteile mit Pailletten und trug sogar High Heels. Ich vertraute ihr an, dass ich ein bisschen neidisch auf sie war. Da beruhigte sie mich: „Wir kriegen das schon hin, Süße. Frag einfach deine Mutter nach ein bisschen Geld, dann gehen wir mal zusammen shoppen.“ – „Danke, Shania, du bist die Beste“, erwiderte ich glücklich. Doch es blieb nicht nur ein einmal. Wir gingen immer öfter zusammen shoppen. Anfangs gab meine Mutter mir immer Geld. Wahrscheinlich hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil ihr neuer Freund Stefan einfach zu uns gezogen ist, obwohl ich ihn nicht besonders mochte. So übel nahm ich das meiner Mutter nicht, aber es war eine nette Geste, dass sie so großzügig war und mir mehr Geld gab als sonst. Doch irgendwann war es damit vorbei. Meine Mutter bemerkte: „Hör mir mal zu, ich habe dir im letzten Monat schon 200 Euro gegeben. Das muss doch reichen. Was willst du überhaupt mit so viel Geld? Du spinnst doch.“ Ich war total sauer und kotzte mich bei Shania aus. Sie verstand mich und munterte mich auf, dass wir trotzdem in die Stadt könnten. Es sei kein Problem, auch so an Klamotten zu kommen. Ich verstand nicht, wie sie sich das vorstellte und war skeptisch, doch als ihre Freundin ging ich natürlich mit. Shania fand für jedes Problem eine Lösung. Als ich in einem Laden ein wunderschönes Top anprobierte, fragte mich Shania ob ich es haben wollte. Ich sagte: „Ich würde das total gerne haben, aber du weißt doch, dass ich kein Geld habe. Da kann man halt nichts machen.“ Shania blieb total locker und sagte: „Gib her, ich regel das schon für dich.“ Ich verstand nur Bahnhof. Trotzdem gab ich ihr das Top natürlich und musste geschockt beobachten, wie sie das Sicherheitsetikett wie selbstverständlich von der Kleidung abriss und es in ihre Handtasche steckte. Ich war so geschockt, dass ich gar nichts sagen konnte. Wollte Shania das Top wirklich klauen? Sie nahm meinen Arm und zog mich mit aus der Umkleidekabine und raus aus dem Laden. Mein Herz pochte wie wild und ich wollte die ganze Zeit sagen, dass wir das lieber lassen sollten, aber ich wollte mich nicht gegen meine Freundin stellen. Niemals. Shania war mittlerweile meine beste Freundin geworden. Als wir den Laden hinter uns gelassen haben, schaute ich sie staunend an und fragte, ob das wirklich ihr ernst gewesen war. Sie erwiderte: „Du hast doch gesehen, dass das ein Kinderspiel war. Man konnte mich gar nicht erwischen. Nicht, dass ich es nötig hätte, aber ich bin ein Profi in so was.“ Ich konnte darauf gar nicht antworten. Im Kopf sah ich schon die Polizei um die Ecke fahren und uns anhalten. Doch was sich in meinem Kopf abspielte, bewahrheitete sich glücklicherweise nicht. Ich traute meinen Ohren kaum, als Shania mir ins Ohr flüsterte: „Da ist ein richtig teurer Laden. Die haben die edelsten Klamotten, das kannst du dir nicht vorstellen. Nun bist du dran!“ Ich war total perplex. Ich bin dran? Was sollte das heißen? Verlangte sie wirklich von mir, dass ich auch etwas klaute? Sie schob mich förmlich in den Laden hinein, gab mir Klamotten an und ging mit mir in die Umkleidekabine. Sie schaute mich auffordernd an und flüsterte: „Na los, du musst das Etikett abschneiden.“ Sie gab mir eine Schere und ich tat, was sie mir sagte, obwohl ich eine große Angst im Bauch hatte. Doch es klappte. Wir stopften insgesamt 3 Kleidungsstücke in unsere Handtaschen und gingen völlig unschuldig wieder aus dem Laden hinaus. Es schien tatsächlich ein Kinderspiel zu sein, doch ich fragte mich, ob es das Richtige war. Shania erzählte ich nicht von meinen Zweifeln. So kam es dazu, dass wir immer öfter Klamotten klauten. Wenn Shania sagte: „Lass mal wieder was Schickes abziehen!“, war klar, was wir tun würden. Irgendwann hatte auch ich keine Hemmungen mehr.
„Viviane, kennst du eigentlich Marie aus der Stufe über uns?“, fragte mich Shania während des Matheunterrichts. Ich sagte: „Nö, wer ist das? Wieso fragst du?“ – „Das ist die Blonde, die immer bauchfrei herumläuft. Total bekannt. Die hat jetzt ein Zungenpiercing. Sieht total klasse aus. Und hat mir gesagt, wie man so das macht. Man braucht nur eine spezielle Nadel zum Durchstechen und ein Piercing. Lass uns auch mal so eins machen.“ Zum ersten Mal sagte ich ihr meine ehrliche Meinung. Nämlich, dass das eine total verrückte Idee war. „Tut das nicht weh? Und macht das die Zunge nicht kaputt? Wie willst du das denn machen lassen?“ Aber Shania war überzeugt von der Sache und erklärte mir, dass das nicht so doll weh täte. Außerdem zwinkerte sie mir zu: „Und was heißt hier machen lassen? Wir machen uns das selber!“ Weil es Shania war, von der diese Idee kam, konnte ich ihr einfach nicht widersprechen. Es sah ja auch nicht schlecht aus, also warum nicht? Shania besorgte also die Nadel zum Durchbohren und zwei Piercings für uns. Beide waren pink, schön mädchenhaft. Wir schlossen uns in Shanias Zimmer ein und diskutierten, wer zuerst dran sei. Shania hatte auch Angst, das merkte man ihr an. Doch sie gab es genauso wenig zu wie ich. „Das war doch deine Idee, also wo ist das Problem?“, neckte ich sie und dann beschloss sie, den Anfang zu machen. Sie stellte sich vor einen Spiegel und bohrte sich einfach die dicke Nadel durch ihre Zunge. Man sah ihr an, dass sie dabei Schmerzen hatte. Das machte meine Nervosität nicht besser. Aber nach einigem Gefummel hatte sie tatsächlich ihr Piercing in der Zunge und grinste mich stolz an. „Jetzt bist du dran“, sagte sie. Weil ich wusste, dass ich mir nie selber weh tun könnte, bat ich sie, das Durchbohren zu übernehmen. Ich streckte die Zunge raus, machte die Augen zu und merkte nach einigen Sekunden den Schmerz. Ich musste mir Mühe geben, mit der Zunge nicht wieder zurückzuzucken. Doch nach einer gefühlten Minute war der Schmerz vorbei und ich konnte mir meine Tränen aus den Augen wischen und mein Piercing bewundern. Es war schön, also hatte sich die Angst und der Schmerz gelohnt. Wir umarmten uns beide und Shania sagte: „Jetzt sind wir so richtig coole Säue!“ Da widersprach ich ihr natürlich nicht. Die anderen aus der Schule würden uns bestimmt beneiden.
Als sich in der Schule und unter unseren Freunden längst herumgesprochen hatte, dass Shania und ich jetzt ein Zungenpiercing besaßen, nahm mich Shania eines Morgens mit zu einer Ecke auf dem Schulhof, in der ich noch nie gewesen war. Kein Wunder, wir befanden uns ja auch in der Raucherecke. Ich wunderte mich, was Shania hier wollte, denn sie rauchte doch gar nicht. Dieser Gedanke erwies sich aber als falsch, als ich meine beste Freundin plötzlich an einer Zigarette ziehen sah. „Endlich wieder eine Kippe. Ich hatte so Schmacht!“, sagte sie laut vor den anderen. Ich konnte nicht verstehen, warum sie so etwas tat. Jeder wusste doch, wie schädlich Zigaretten sind. Wer wollte schon Lungenkrebs und den ganzen anderen Kram? Während ich so in meinen Gedanken war, bemerkte ich gar nicht, wie mich die anderen ansahen. Cody, einer der Raucher, bat mir an, auch mal an seiner Zigarette zu ziehen. Ich wollte gerade klar und deutlich Nein sagen, da zwinkerte Shania mir aufmunternd zu und sagte: „Na los, sei kein Fisch. Ist doch nichts Schlimmes. Es gibt nichts Besseres als eine Kippe, wenn man genervt ist.“ In mir drin herrschte ein Kampf zwischen meinem guten Gewissen und der anderen Seite, die kein Außenseiter sein wollte. Doch die schlechte Seite gewann. Ich durfte nicht zu lange zögern, sonst wäre ich so oder so der Fisch gewesen. Also zog ich an der Zigarette und versuchte, ein großes Husten zu unterdrücken, doch ich konnte nicht anders. „Kein Ding, war bei meiner ersten Kippe auch so. Versuch es noch mal“, erklärte mir Cody. Als ich mit meiner Hustaktion fertig war, zog ich noch einmal an der Zigarette und es wurde tatsächlich besser. Es schmeckte scheußlich, aber ich rauchte die Zigarette zu Ende. Ab dem Tag, wie konnte es anders sein, wurde auch das Rauchen für mich zu einer Selbstverständlichkeit.
Cody schlug der ganzen Rauchergruppe ein paar Tage später vor, zusammen am Freitagabend ins Velvet, in eine Disco, zu gehen. „Da geht’s voll ab, Leute!“ Die Gruppe war von der Idee begeistert. Dagegen hatte auch ich nichts. Bisschen tanzen halt. Was soll da schon passieren? Doch da fragte Shania: „Ist das nicht erst ab 18? Hier sind doch einige noch nicht 18. Wie sollen wir da rein kommen?“ Aber Cody sagte, dass sei kein Problem: „Ach, ihr stylt euch einfach auf und dann ist das kein Problem. Die machen ganz selten Ausweiskontrolle.“
Weil ich noch keine discotauglichen Schuhe hatte, ging Shania zusammen mit mir in die Stadt, um nach schicken Schuhen zu schauen. Doch bei Schuhen ging es nicht so einfach, sie zu klauen, sagte Shania. Weil ich meine Mutter schon nach dem Eintrittsgeld für die Disco fragen musste, blieb mir nichts anderes übrig, als ihr das Geld für die Schuhe zu klauen. Sie war gerade mit ihrem Freund beschäftigt, von daher war es kein Problem, an ihr Portemonnaie heranzukommen. Mein Gewissen sagte mir, dass ich schon wieder etwas Falsches tat, doch ich hatte einfach keine andere Wahl. Ich konnte schließlich nicht mit Turnschuhen in eine Disco gehen. Die anderen hätten mich doch ausgelacht.
Am Freitagabend standen wir also alle aufgestylt vor der Disco. Wir kamen zum Glück alle rein, aber Cody war der Clown, weil er als einziger Erwachsener seinen Ausweis zeigen musste. „Sind Sie denn überhaupt schon 18, mein Herr?“, machte Shania lachend den Türsteher nach. Cody war das sichtlich peinlich, also schlenderte er direkt zur Bar, um sich etwas Alkohol hineinzukippen. Shania hatte zum Glück erstmal nicht das Bedürfnis, sich zu betrinken. Somit hatte ich auch erstmal meine Ruhe und wurde zu nichts überredet. Wir beiden hatten großen Spaß auf der Tanzfläche. Ich tanzte einfach so, wie Shania es tat und hoffte, mich nicht zu blamieren. Diese Angst war scheinbar völlig unberechtigt, denn auf einmal tanzte mich ein süßer Junge an. Ich schätzte, er war um die 20. Bald hatte auch Shania einen Tanzpartner und wir verloren uns aus den Augen, was aber kein Problem für mich war, weil der Junge, mit dem ich tanzte, ganz nett zu sein schien. Ich war froh, dass meine Mutter ihren neuen Freund hatte, denn früher hätte sie mich auf dem Handy angerufen, um mich zu fragen, wie es mir ging, obwohl ich gesagt hatte, dass ich bei Shania schlief. Ich war total entzückt, als mein Tanzpartner mir etwas ins Ohr rief, denn er hatte eine richtige süße Stimme. Er fragte: „Wollen wir nicht zusammen was trinken? Ich lade dich ein, Süße.“ Ich nickte und ging mit ihm zu der nächstliegenden Bar, an der er zwei Tequilas bestellte. Währendessen schrieb ich eine SMS an Shania, in der ich ihr schrieb, dass ich eben was trinken war und sie nicht nach mir suchen sollte. Als ich damit fertig war, waren unsere Drinks schon fertig. Der Junge sagte mir, dass er Oliver hieße und wir stießen an. Als wir ausgetrunken hatten, gingen wir wieder auf die Tanzfläche. Oliver schaute mich ganz oft an und fragte ein paar mal, ob es mir noch gut ginge. Ich fühlte mich geschmeichelt und dachte mir nichts dabei. Doch irgendwann wurde mir ein wenig schlecht. Hinzu kam, dass sich in meinem Kopf alles drehte, also hielt ich mich an Oliver fest. Er fragte mich, ob er mich nach draußen an die frische Luft bringen sollte, aber ich konnte ihm gar nicht mehr antworten. Ungefähr ab dem Zeitpunkt fehlte mir die Erinnerung. Dieser miese Typ musste mir etwas ins Glas gekippt haben. Jedenfalls bin ich am nächsten Morgen ein paar Straßen weiter von der Disco aufgewacht. Ich hatte keine Ahnung, wie ich dorthin gekommen bin. Das Erste, was ich kontrollierte, war, ob mein Geld und mein Handy noch da waren. Ich hatte große Schmerzen. Diese Schmerzen zogen sich durch meinen ganzen Körper. Meine Handyuhr sagte mir, dass es 10 Uhr morgens war. Ich entschied, zur nächsten Bushaltestelle zu laufen, um von dort aus mit dem Bus nach Hause zu fahren. Das Geld dafür hatte ich und ich war mir sicher, dass meine Mutter gerade einkaufen sein musste. Ich wollte nicht, dass sie oder ihr Freund mich so sahen. Sie würden mich mit Fragen überhäufen, wo ich gewesen war und was mit mir passiert war. Darauf konnte ich gerne verzichten. Als ich Zuhause war, legte ich mich erst ein paar Minuten hin und versuchte, mich an den gestrigen Abend zu erinnern, doch ich wusste nicht mehr viel. Da piepte mein Handy und es kam eine SMS von Shania: „Süße, wo bist du? Wir haben gestern noch die ganze Disco nach dir umgeschaut. Du bist doch nicht mit dem Kerl abgehauen? Bitte antworte mir.“ Dies erwachte ein paar Erinnerungen an Oliver. Doch ich wusste noch immer nicht, was passiert war, nachdem er mich aus der Disco gebracht hatte. Als ich auf die Toilette ging, musste ich plötzlich feststellen, dass sich ein bisschen Blut in meinem neu gekauften Tanga gesammelt hatte. Wo sollte das herkommen? Oliver hatte mir doch nichts in mein Getränk getan und mich dann vergewaltigt, wie in diesen Geschichten? Ich war total geschockt und wusste nicht, was ich denken sollte. „Erstmal keine Partys mehr!“, schwor ich mir in diesem Moment. Ich fühlte mich so angeekelt, dass ich sofort in die Dusche stieg und mich umzog. Danach schrieb ich Shania, dass es mir gut ging. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihr von meinen Vermutungen, dass Oliver mich vergewaltigt haben könnte, erzählen sollte. Ich behielt es vorerst für mich.
Die nächsten Tage ging ich es relativ ruhig an. Ich vermied Partys und ging auch nicht so oft in die Stadt. Ich traf mich lieber mit Shania alleine. Als sie mir von ihrer Eroberung in der Disco erzählte, stießen mir plötzlich Tränen in die Augen. „Aber was ist denn los, Viviane? Ist doch etwas mit dir passiert an dem Abend?“, fragte Shania mich beunruhigt. Ich war total gerührt, weil ich sie noch nie so mitfühlend erlebt hatte. Ich erzählte ihr also die ganze Geschichte von Oliver. Na ja, wohl eher die halbe Geschichte. Oder zumindest das, was ich selber wusste. Shania tat das Ganze unheimlich Leid. Doch das nützte mir nichts. Damit musste ich jetzt zurechtkommen.
Doch 2 Wochen später sollte ich den Schock meines Lebens bekommen. Ich ging am Morgen ins Badezimmer, um mich fertig zu machen. Da sah ich einen Tampon, der meiner Mutter offensichtlich aus ihrer Dose gefallen ist. Da meldete sich mein Verstand wieder. Wie lange hatte ich meine Tage nicht mehr gehabt? Das durfte nicht wahr sein! Konnte es sein, dass Oliver mich geschwängert hatte? Ohne, dass ich es bemerkte hatte? Aber dann konnte er mich doch auch mit Aids anstecken, oder? Fragen um Fragen wirrten mir im Kopf herum. Ich ging sofort, nachdem ich mich gewaschen hatte, zum nächsten Drogeriemarkt, um mir einen Schwangerschaftstest zu besorgen. Wieder Zuhause kam es mir wie eine Ewigkeit vor, auf das Ergebnis zu warten. Auf dem Schwangerschaftstest war ein rotes Plus zu erkennen. Mit der Bedeutung, dass ich tatsächlich schwanger war. Ich wollte nicht begreifen, dass mir so etwas passierte. Ich, als einst so liebes und unschuldiges Mädchen, hatte so etwas doch nicht verdient, oder? Ich brauchte unbedingt jemanden zum Reden und meldete mich bei Shania. Wir trafen uns in der Stadt und setzten uns auf eine Bank. Ich wollte sitzen, um sicherzugehen, dass ich nicht umkippte, während ich ihr das Unmögliche erzählte. Shania wollte es erst nicht glauben, aber dank meinem ernsten Gesichtsausdruck verstand sie, dass dies kein Spaß war. Dann kam Shania wieder mit einen ihrer Ideen. Um genau zu sein war dies die dümmste Idee, die sie jemals hatte. Aber ich hätte ja nein sagen können. Shania schleppte mich zu einem Freund namens Roman. Ich ging mit, weil sie mir erzählte, er wüsste, wie ich von meinen Gedanken wegkäme. Doch so hatte ich mir das nicht vorgestellt. Denn Roman war ein richtig schmieriger Typ. Ein Drogendealer. Er bat uns Kokain zum Spritzen an. Aber seit ich wusste, dass ich schwanger war, war mir alles andere irgendwie egal. Ich hätte wahrscheinlich sogar vom Hochhaus springen können. Also saßen wir zu dritt bei Roman und spritzten uns Kokain, auch Shania. Ich wusste nicht, dass Kokain eines der am stärksten abhängig machenden Drogen war. Ab dem Tag waren Shania immer öfter bei Roman, um Kokain zu konsumieren. Ihm passte das, weil er natürlich einiges an Geld von uns bekam. Dieses Geld stammte wieder aus dem Portemonnaie meiner Mutter. Sie bemerkte nicht, dass ich sie beklaute, worüber ich sehr froh war. Stress mit meiner Mutter hätte ich nicht auch noch gebrauchen können. Durch das Kokain bekam ich immer weniger Hunger und wurde dünner und dünner. Eigentlich hatte ich das gar nicht bemerkt. Ich wollte nicht wissen, ob ich zu- oder abnahm wegen dem Baby, dass ich bekommen sollte. Dadurch, dass ich immer dünner wurde, wurde meine Mutter doch aufmerksam. Oder vielleicht war es ihr Freund, der sie darauf aufmerksam machte. Ich wusste es nicht. Als ich eines Abends wieder später nach Hause kam, als abgemacht, fragte mich meiner Mutter: „Viviane, was ist eigentlich los mit dir? Du hast dich so verändert und jetzt wirst du auch noch immer dünner. Warum isst du denn nichts?“ Ich erwiderte nur: „Ich habe eben keinen Hunger. Ist doch nur eine Phase, kein Grund, sich gleich Sorgen zu machen. Chill mal!“
Das Kokain, dass ich zu mir nahm, hatte längst nicht nur positive Auswirkungen. Ich war oft gereizt. Am Schrecklichsten war, dass ich plötzlich sogar unter einem Verfolgungswahn litt. Doch ich wollte nicht einsehen, dass es an dem Kokain lag. Im Grunde genommen war es mir egal, wie alles andere auch. Shania und ich schwänzten immer öfter die Schule und gingen lieber Klamotten klauen oder zu Roman. Roman schenkte uns manchmal ein paar Zigaretten aus Dankbarkeit. Wir waren inzwischen seine Stammkunden geworden.
Am nächsten Wochenende fühlte ich mich total ausgelaugt. Ich stand erst um 12 Uhr auf und musste überrascht feststellen, dass meine Oma zu Besuch war. Sie schaute mich an, als wäre ich eine lebendige Leiche. „Aber Kind, was ist denn mit dir passiert? Du bist ja ganz dünn und blass. Du siehst richtig krank aus!“, rief sie erschrocken. Ich versuchte, sie zu überzeugen, dass es mir gut ging, doch meine Oma konnte ich nicht täuschen. Sie hatte schon immer ein gutes Gespür für so etwas erwiesen. Nachdem sie mich lange anstarrte, drehte sie sich um und ging zu meiner Mutter. Dort hörte ich, wie sie meiner Mutter lauthals Vorwürfe machte: „Was hast du mit deiner Tochter gemacht? Hast du sie dir schon mal angeguckt? Sie ist ganz krank. Viviane muss ganz dringend zum Arzt!“ Dass meine Oma sich solche Sorgen um mich machte, rührte mich irgendwie. Ich musste weinen und ging ins Badezimmer. Ich mochte noch nie vor anderen Menschen weinen. Auf einmal hörte ich, wie jemand an der Badezimmertür klopfte. Es war meine Mutter. Sie schien ganz aufgebracht und umarmte mich weinend. „Wir gehen morgen zum Arzt, Viviane“, sagte sie.
So kam es zu meiner 'Rettung'. Anders könnte man es nicht beschreiben. Am nächsten Tag begleitete meine Mutter mich zum Arzt. Der Arzt stellte fest, dass mein Blutdruck und mein Herzschlag keine normalen Werte hatten. Er unterzog mich einer kompletten körperlichen Untersuchung und schickte meiner Mutter kurz raus, um mit mir alleine zu reden. Er äußerte mir gegenüber seine Vermutungen: „Ich sehe und rieche, dass du rauchst. Das schadet deinem Körper enorm. Nimmst du noch andere Drogen? Hast du eventuell auch eine Essstörung?“ Weil ich so langsam begriff, dass ich mir alleine nicht helfen konnte, gab ich zu, dass ich auch regelmäßig Kokain konsumierte. Ich erzählte meinem Arzt auch den Auslöser: Die Schwangerschaft. Nur die Tatsache, dass der Vater ein Arschloch ist, der mich vergewaltigt hatte, behielt ich für mich. Der Arzt machte mir mit besänftigender Stimme klar: „So kann das nicht weitergehen, Viviane. Du machst dir alles kaputt. Außerdem machst du dein Kind kaputt. Du weißt doch bestimmt, dass Rauchen während der Schwangerschaft schwere Folgen haben kann. Drogen erstrecht. Möchtest du das Kind denn überhaupt gebären?“ Auf diese Frage wusste ich keine Antwort. Ich hatte mir darüber überhaupt noch keine Gedanken gemacht. Dies sagte ich ihm auch. Der Arzt holte meine Mutter wieder herein und verkündete, dass er mich in eine Klinik bringen musste. Diese Klinik wäre für Jugendliche spezialisiert und behandelte alles, was ich brauchte. Meine Mutter konnte nicht fassen, was ihr der Arzt über mich erzählte. Ich glaube, sie machte sich schwere Vorwürfe. Ich hatte von diesem Arztbesuch an noch den Resttag Zeit, um meine Sachen zusammenzupacken und mich auf den Klinikaufenthalt vorzubereiten. Auch von Shania verabschiedete ich mich liebevoll. Theoretisch müsste ich sauer auf sie sein, weil ich vieles durch sie getan habe. Doch Shania hatte nun selber Probleme mit Drogen. Ich versuchte, sie zu überzeugen, dass sie es nötig hatte, mitzukommen, aber sie lehnte dies ab. Ich habe sie seit diesem Tag nicht mehr gesehen.
Und nun bin ich, wie bereits gesagt, in dieser Klinik für Jugendliche. Vor allem der Drogenentzug ist hart, aber auch die Entscheidung, ob ich mein Kind zur Welt bringen möchte, rückt immer näher. Ich bin jetzt in der 9. Woche und habe nicht mehr viel Zeit, um abzutreiben. Ob ich mein Leben jemals wieder in den Griff bekomme? Ob ich Verantwortung für ein Kind tragen könnte? Das sind Fragen, auf die ich noch immer keine Antworten weiß. Aber was ich weiß, ist, dass ich hier gut aufgehoben bin. Mir wird momentan abgeraten, mit anderen Menschen von draußen in Kontakt zu treten, doch die Entscheidung bleibt trotzdem mir überlassen. Ich bin froh, Zeit für mich zu haben. Ich habe in 5 Stunden meinen nächsten Termin bei der Psychologin, Frau Gansel. Sie wird mit mir die Möglichkeiten abklären, die ich bezüglich meines Kindes habe. Ihr habe ich mittlerweile sogar von der Vergewaltigung erzählt. Sie hilft mir, dieses Geschehen zu verarbeiten. Ich hoffe, ich werde noch mal ein normales Leben führen können. Und ich hoffe, dass ich dir mit dieser Geschichte klarmachen konnte, wie viel man im Leben falsch machen kann und wie wichtig es ist, über sein Handeln nachzudenken. Mein Lieblingssprichwort aber vor allem heißt: Höre auf den Herz. Nicht auf die Menschen, die dir sagen, was du tun sollst.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 24.12.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /