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Geraldine ging wie jeden Tag unmotiviert zur Schule und wartete nur darauf, wieder dieses Gefühl zu bekommen, nichts zu können. Sie schrieb bestenfalls mittelmäßige Noten, meistens jedoch vieren. Ihr Lieblingsfach war Kunst, jedoch nicht, weil sie besonders gut malen konnte, sondern weil sie in diesem Fach nicht denken musste. Geraldine hatte nicht die leiseste Ahnung, warum sie überhaupt noch zur Schule ging. Es war lediglich die einzige Alternative, um nicht arbeiten zu müssen, wofür sie sich noch nicht bereit fühlte. Sie wusste generell nicht, was sie mit sich anfangen sollte. In der Schule schaute sie ständig auf ihre Uhr und sehnte sich nach Unterrichtsschluss, doch Zuhause langweilte sie sich bloß, weil sie nichts tat außer im Internet zu chatten oder fernzusehen. Überhaupt hatte sie kaum Spaß im Leben. Eines Tages im Januar als sie von der Schule nach Hause kam, musste sie die schreckliche Nachricht erfahren, dass ihr großer Bruder Jan bei einem Autounfall gestorben ist. „Oh Geraldine, das ist so schrecklich. Es tut mir Leid, dass du in deinem Alter eine so schreckliche Erfahrung musst“, konnte ihre Mutter nur unter Tränen sagen. Im ersten Moment wusste Geraldine gar nicht, was sie denken sollte. Ihr Bruder war immer für sie da gewesen. Ihr Bruder war einfach perfekt. Nicht nur dass er ein erfolgreicher Handballspieler im Verein war, er hatte auch viele Freunde und war glücklich mit seiner Ausbildung zum Polizisten. Er war immer verständnisvoll gegenüber seiner Schwester und nahm sich viel Zeit für sie. Dies nahm Geraldine ein wenig das Gefühl, eine Versagerin zu sein. Ihr Bruder hatte so viel geschafft und sie lebte bloß in den Tag hinein und wartete, dass irgendetwas passierte. Sie war sich sicher, dass ihre Eltern Jan deswegen lieber mochten. Und nun war ihr, trotz dieser Vorbildfunktion, geliebter Bruder tot, weil irgendein Trottel nicht aufgepasst hat und ihm ins Auto gefahren ist. Sie konnte es einfach nicht fassen. Das Gefühl, mit jemandem reden zu wollen, unterdrückte sie einfach. Ihre Eltern waren traurig genug und Ronja wollte sie nicht mit etwas belästigen, was sie nicht nachvollziehen konnte. Ronja lebte in einer perfekten Familie, die viel Geld hatte. Nie ging bei ihr etwas schief und sie bekam was sie wollte. Manchmal war Geraldine neidisch auf ihre Freundin. Überwältigt von all diesen Gefühlen, rannte sie nach unten in die Küche, schnappte sich eine Tüte Chips und aß sie komplett auf. Das Essen lenkte sie ab von ihren seelischen Schmerzen. So ging das einige Wochen, bis Geraldine geschockt feststellen musste, dass sie 6 Kilo zugenommen hatte. Sie schämte sich nun noch mehr. Sie hatte generell kaum Selbstbewusstsein. Wie auch, als unauffälliges graues Mäuschen? Genau an diesem Tag beschloss sie, ihr Leben endlich umzukrempeln. Sie wollte ihren Eltern einen Gefallen tun, indem sie ein bisschen von Jan wieder herbrachte. Sie wollte Sport machen, sich schminken und endlich bei anderen Menschen beliebt sein. Auch eine vernünftige Zukunft wollte sie endlich vor Augen haben. Geraldine fing an, sich nach der Schule Schminke zu kaufen und schaute sich im Internet ab, wie man sich richtig schminkte. Sie zupfte ihre Augenbrauen, rasierte sich die Achseln und Beine und probierte neue Frisuren aus. Es machte sie glücklich, anders auszusehen und nicht mehr so unscheinbar zu wirken. „Vielleicht bekomme ich so auch endlich mal einen Freund“, hoffte sie insgeheim, doch dass sie sich nach Liebe sehnte, würde sie niemals vor anderen zugeben. Weil im Internet stand, Blondinen kämen am Besten an, färbte Geraldine sich ihre Haare von brünett zu blond. Ihre Eltern waren zunächst geschockt über ihren äußerlichen Wandel und fragten sie, warum sie das täte, doch ließen sie in Ruhe, weil sie wussten, dass es nichts brachte, ihr etwas zu verbieten. Geraldine entschied sich, regelmäßig ein Fitnessstudio zu besuchen, weil sie schlank sein wollte wie ihre Klassenkameradinnen. Erstrecht jetzt, wo sie so viel zugenommen hatte, war das nötig, sagte sie sich. Somit ging Geraldine nun 5mal die Woche zum Fitness, wenn sie das Bedürfnis danach hatte, etwas Ungesundes zu essen, sogar noch öfter. Sie tat alles, um nicht in ihr altes Leben zurückzufallen, denn sie war endlich einmal Glück in ihrem Leben. Sie hatte im Fitnessstudio sogar neue Freunde gefunden und so kam es dazu, dass sie drei Wochen nach ihrer Anmeldung dort jemanden fand, der ihr Nachhilfe gab. Ihre Nachhilfelehrerin hieß Amira und ging in die 13. Klasse. Sie hatte in den Augen von Geraldine nicht nur eine unglaubliche Intelligenz, sondern auch eine schlanke Figur. Geraldine fühlte sich geehrt, dass jemand so Hübsches mit ihr etwas zu tun haben wollte, auch wenn es anfangs nur die Nachhilfe und sportlicher Kontakt waren. Es gab ihr ein gutes Gefühl, Leute besser kennen zu lernen und als Freunde zu gewinnen. Somit wuchs ihr Selbstwertgefühl und auch die Nachhilfe brachte ihr viel. Angespornt von diesem neuen Lebensgefühl beteiligte sich Geraldine im Unterricht, schrieb immer bessere Noten und hatte sogar Spaß in der Schule. Ihre Eltern waren positiv überrascht. „Es freut uns sehr, dass du so erfolgreich bist, mein Schatz. Aber bitte übertreib es nicht. Lass dir immer Zeit für dich und stress dich nicht!“, lobte sie ihre Mutter. Doch Geraldine fühlte sich durch diese Aussage angegriffen. „Denken die, ich könnte keinen Stress aushalten? Nur, weil ich früher nie etwas getan habe, heißt das doch nicht, dass ich bei jeder Kleinigkeit überfordert bin.“ Sie wollte ihren Eltern beweisen, dass sie noch viel mehr drauf hatte und nicht das dumme Kind von früher war. Sie wollte wie Jan sein. Weil ihre Schulkameradinnen seit ihrer äußerlichen Verwandlung viel positiver auf sie reagierten und ihr wegen ihrer schulischen Leistungen Respekt erwiesen, vernachlässigte Geraldine ihre alte Freundin Ronja. „Ich brauche Ronja nicht mehr. Ich kann jetzt auch mit den anderen Mädchen was machen“, dachte sich Geraldine. Sie redete kaum noch ein Wort mit Ronja und ging lieber mit ihrer neuen Clique Klamotten shoppen. „Ich muss mit den anderen Mädchen mithalten. Ich kann schließlich nicht jede Woche dieselbe Kleidung tragen“, dachte sie sich. Als die Mädchen an einem Hip Hop Laden vorbeikamen, schwärmten die Mädchen vom der neu eröffneten Tanzschule in der Stadt, in der sie gemeinsam Hip Hop tanzten. Geraldine meldete sich auch dort an, weil sie nichts verpassen wollte, was ihre neuen Freundinnen erlebten. Das Tanzen machten ihr großen Spaß und sie stellte sich gar nicht schlecht an. Der Tanzlehrer war sogar ganz entzückt von ihr. Er hieß Nils und war ein wirklich hübscher Junge, wahrscheinlich 18 Jahre alt. Weil Geraldine so verzaubert von Nils war, ging sie auch an Tagen zum Tanzen, an denen sie eigentlich zum Fitness gegangen wäre. Sie erzählte Amira oft von Nils: „Er ist so unglaublich hübsch, das glaubst du gar nicht. Sein Lächeln bringt mich total durcheinander.“ – „Bist du etwa verliebt, Süße?“ Geraldine antwortete: „Ich… Ich weiß es nicht. Ich war noch nie verliebt, aber wenn sich Verliebt sein so anfühlt, bin ich’s gerne.“
Geraldine war ganz perplex als Nils sie einen Tag nach dem Tanztraining ansprach: „Du bist wirklich super, Kleines. Ich kenne niemanden, der in der kurzen Zeit so gut war wie du. Respekt!“ „Danke, Nils“, brachte Geraldine nur heraus. Sie hätte ihn so gerne nach seiner Telefonnummer gefragt, aber sie traute sich nicht. Sie glaubte ihren Ohren kaum, als Nils sagte „In ein paar Wochen ist ein Hip Hop Contest, bei dem ich gerne teilnehmen würde. Genauer gesagt sind Paare gefragt. Würdest du vielleicht mit mir dort teilnehmen? Du hast so eine unglaubliche Ausstrahlung und die anderen Mädchen hier sind mir irgendwie zu zickig.“ Geraldine musste sich bemühen, nicht in die Luft zu springen und einen Freudentanz aufzuführen. Sie grinste ihn glücklich an und sagte: „Na klar mach ich das!“ So kam es unweigerlich dazu, dass die Beiden ihre Telefonnummern austauschten und oft zusammen tanzten.
Am Tag des Hip Hop Contests war Geraldine total aufgeregt. „Was, wenn ich’s vergeige?“ fragte sie ängstlich. Nils versuchte, sie zu beruhigen: „Was soll denn schief gehen? Beim Training hat doch auch alles geklappt, also beruhige dich.“ Er küsste sie behutsam auf die Stirn. Geraldine war so glücklich, aber ihre Beine zitterten und sie konnte sich kaum noch auf den Auftritt konzentrieren. Die beiden machten letztendlich den 18. Platz von 30 teilnehmenden Paaren. Geraldine war sehr geknickt und es plagten sie Selbstzweifel. Sie konnte Nils kaum noch in die Augen gucken.
Auch die nächsten Tage nahm Geraldine keinen Anruf von Nils an, weil sie sich schämte. Sie hatte bei ihrem Auftritt keine gute Figur gemacht und war sich sicher, dass sie wegen ihr nur den 18. Platz bekommen hatten. Sie ging ins Fitnessstudio, um dort ihren Aggressionen freien Lauf zu lassen. Amira fragte ständig nach, was denn nun mit Nils sei, aber Geraldine wollte nicht drüber reden. Am Abend fand sie im Internet eine Werbung, die sportliche junge Mädchen ansprach. Es wurde ein Tanz Workshop angeboten. Sie wollte die Anzeige gerade wieder wegklicken, doch da öffnete sich ein Album mit Bildern. Darauf sah man tausende hübsche Mädchen an der Stange tanzen; in einem Übungsraum und sogar in Discos. Je mehr sich Geraldine über diese Tanzart informierte, desto neugieriger wurde sie. „Diese Workshops sind teuer, aber ich muss es einfach versuchen. Bei Nils kann ich ja jetzt wohl nicht mehr ankommen, also ist es höchste Zeit sich was Neues zu suchen!“, sprach sie sich Mut zu. Bald hatte Geraldine ihren ersten Workshop im Pole Dance, an der Stange tanzen. Dank ihrem Training konnte sie sich lange an der Stange halten, obwohl es sehr anstrengend war. Sie lernte sehr schnell. Die Lehrerin machte ihr viele Komplimente, wie talentiert sie doch sei. Geraldine machte kaum Pausen. Sie war neidisch auf die anderen Frauen, die 18 Jahre alt waren, weil die am Abend in einer Disco auftreten konnten, wenn sie gut waren. Sie war mit ihren 17 Jahren leider noch zu jung. Als die Zeit des Workshops zu Ende ging, wurden die zu jungen und nicht so guten Tänzerinnen aussortiert. Geraldine konnte es nicht fassen, als die Lehrerin ihr sagte, sie könne bei ihr eine Ausnahme machen. „Wie jetzt? Heißt das ich bin dabei?“, fragte sie ungläubig. Die Lehrerin bestätigte das. An diesem Tag begann Geraldines Karriere als Tänzerin an der Stange. Der erste Tag in der Disco war überwältigend, sie spürte die Blicke der Männer förmlich auf ihr. Es machte sie glücklich, so begehrt zu sein. „Geht doch. Ich brauche Nils nicht. Und das hier ist sowieso viel mehr mein Ding“, dachte sich Geraldine. Sie hatte insgesamt an 5 Workshops teilgenommen, da sagte man Geraldine, sie könne jederzeit herkommen und in der Disco tanzen. Das hieß für sie, sie brauchte nicht am Unterricht teilnehmen und somit kein Geld bezahlen. Sie konnte also kostenlos auftreten so oft sie wollte. Von da an bestand ihr Leben nur noch aus Männern. Sie wurde ständig angesprochen, weil sie so viel Selbstvertrauen und Glück ausstrahlte. Eines Abends rief Nils sie an. Weil sie keine Lust mehr hatte, von ihm genervt zu werden, hob sie ab und teilte ihm ihre Meinung mit: „Vergiss es, Nils! Du wirst mich nie mehr wieder sehen! Ich bin viel zu gut für diesen dämlichen Hip Hop! Ich habe viel mehr drauf. Bei unserem Auftritt, da habe ich extra so schlecht getanzt, kapiert? Du hättest ja sonst von meinem Erfolg mitprofitiert und das konnte ich einfach nicht zulassen. Tschüss, du Loser!“ Hinterher tat ihr das, was sie gesagt hatte, ein wenig Leid, doch sie fand, sie war im Recht. Das Einzige, was sie bereute, war, dass sie sofort aufgelegt hatte. Sie hätte gerne gehört, was Nils ihr antworten wollte. „Egal, so einen brauche ich nicht. Also interessiert mich auch seine Meinung nicht!“, redete sie sich ein. Schließlich hatte sie genug Jungs, die mit ihr zu tun haben wollten. Sie gab vielen Jungs ihre Telefonnummer, telefonierte oft mit welchen und traf sich auch mit einigen. Doch irgendwie machte sie das nicht glücklich. Geraldine sehnte sich nicht nur nach der Aufmerksamkeit und Bewunderung, sondern eben nach Liebe. Als sie nachdenklich in ihrem Zimmer hin und her lief, entdeckte sie ein Foto, dass ihr die Tränen ins Gesicht schießen ließ. Es zeigte sie mit Nils an einem Tag, an dem sie zusammen für den Hip Hp Contest geübt hatten. Sie sahen so glücklich aus. Sie waren glücklich gewesen. Erst jetzt bemerkte Geraldine, dass sie einen großen Fehler gemacht hatte. Doch es war zu spät. Ihr Stolz erlaubte es ihr nicht, Nils um Vergebung zu bitten. Sie war zu gemein zu ihm. Sie hatte ihn gar nicht verdient. Geraldine versuchte, sich die nächsten Tage bei ihren Auftritten in der Disco abzulenken, doch ohne Erfolg. Die Blicke der Männer interessierten sie nicht mehr. Sie schüttete ihr Herz bei Amira aus, doch auch ihr Trost half Geraldine nicht. Sie gab sich in der Schule besonders Mühe, um wenigstens dort Erfolgserlebnisse zu haben, doch diese ließen sie völlig kalt. Sie wollte wieder mit Nils reden. Mit ihrer Mädchenclique redete sie gar nicht erst, weil sie bemerkt hatte, dass dort alles nur um Oberflächlichkeiten ging. Dies war eigentlich gar nicht ihre Welt. Im Inneren war sie immer noch ein liebes Mädchen, dass vergeblich nach Liebe suchte. Sie war verzweifelt, weil sie sich nicht ablenken konnte. Diese Verzweiflung zwang sie doch, Nils um Vergebung zu bitten. Sie rief bei ihm an, doch er ging nicht ans Telefon. Sie nahm allen Mut zusammen und entschloss sich, zur Tanzschule zu gehen. Vielleicht redete Nils dann mit ihr. Doch Nils schaute sie nur abweisend an. Sie bat ihn, ihm alles zu erklären, doch er gab nur zurück: „Du hast mir bereits erklärt, dass ich ein Idiot war, als ich glaubte, du seist meine Traumfrau. Doch von innen bist du richtig hässlich. Ich will dich hier nicht mehr sehen, geh alleine deinen Weg!“ Dass Geraldine zu weinen anfing, war Nils egal. Geraldine wusste, dass sie das verdient hatte, aber sie konnte nicht anders, als sich zu bemitleiden. Ihre Eltern waren Gott sei Dank nicht da, als sie nach Hause kam. Sie hätte keine Lust gehabt, ihnen zu erklären, warum sie so verzweifelt war. Sie geriet in tiefe Depressionen und fragte sich, was das Leben überhaupt noch für einen Sinn hatte, jetzt wo ihr nichts mehr Spaß machte. Nils war ihr Sinn gewesen, doch den gab es nicht mehr. Schnurstracks lief sie in das Schlafzimmer ihrer Eltern, von dem sie vermutete, dass ihre Mutter dort noch Schlaftabletten aufbewahrte. Erleichtert, welche gefunden zu haben, ging sie wieder in ihr Zimmer, machte die Tür zu und begann, die Tabletten in sich hineinzustopfen. Nach einiger Zeit setzte Geraldines Atem aus.
Als ihre Eltern nach Hause kamen und ihre Tochter mit der Packung Schlaftabletten neben ihr fanden, konnten sie nichts mehr für sie tun. Das Einzige, was sie noch fanden war ein Zettel von ihr, auf dem stand:
„Liebe Mama, lieber Papa! Es tut mir Leid, dass ich euch das antun muss! Ich möchte, dass ihr wisst, dass ich euch ganz doll lieb habe! Ich wollte euch bloß Stolz machen, doch auf dem Weg dahin habe ich viele Fehler gemacht. Ich kann einfach nicht mehr und bin mir sicher, dass es so besser ist. Ich werde bestimmt auf Jan treffen und ihm ausrichten, dass ihr ihn über alles liebt. Ihn konnte eben keiner ersetzen. Mich zu ersetzen, wird bestimmt nicht schwer sein. Macht’s gut! Geraldine“

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Tag der Veröffentlichung: 23.12.2011

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