“Das ist also mein neuer Bruder?”, fragte ein kleiner Rotschopf seine Mutter. “Er sieht seltsam aus.” “Mach dir darüber keinen Kopf, Ben.”, sagte seine Mutter und küsste ihn sanft auf die Stirn. “Er ist ein ganz normaler Junge; bitte behandle ihn auch so.” Sie nahm den kleinen Säugling hoch und betrachtete ihn sanft. Seine grossen, grün leuchtenden Augen strahlten zurück. Mit seiner hellen, nahezu weißen Haut wirkte er um einiges zerbrechlicher als er tatsächlich war. “Er hat in seinem kurzen Leben schon viel durchgemacht, Schatz. Ich hoffe, du wirst ihm ein guter großer Bruder sein!”, lächelte sie ihren siebenjährigen Sohn an und erhielt ein strahlendes Gesicht, das seine Sommersprossen noch mehr hervorhob, als Antwort: “Das werde ich, Mama! Ich werde der beste große Bruder auf der ganzen Welt sein!” Mit stolzen Augen verließ er den Raum, um seinem Vater davon zu berichten. Sie blickte ihm hinterher, drückte den Säugling sanft an sich und flüsterte: “Willkommen in der Familie, Severin Blade.”
“Warte, Ben!”, rief ein -für sein Alter sehr großer und ein wenig schlaksiger- Junge einem älteren hinterher, dessen roten Haare im Wind wie Feuer leuchteten. Ben hastete vor und ließ seinen kleineren Bruder zurück. “Komm, Severin! Das darfst du dir nicht entgehen lassen!”, rief er zurück, woraufhin der jüngere, hellhäutigere Junge seinen Schritt beschleunigte. Er war auch in der Dämmerung noch deutlich zu erkennen, da seine Haut so hell erschien, dass sie fast weiß wirkte. “Was willst du mir denn zeigen, Ben?”, fragte Severin aufgeregt, als er seinen ungleichen Bruder eingeholt hatte, nachdem dieser stehen geblieben war. “Warte. Gleich müsste es passieren.” Ben starrte gebannt in den Sonnenuntergang. Severin tat es ihm nach, wusste aber nicht so recht, worauf er überhaupt achten sollte. “Was..”, setzte Severin an, doch Ben legte nur einen Finger auf seine Lippen und zeigte danach langsam auf die Sonne, die jetzt hell orange leuchtete. Severin strengte sich an, nicht zu blinzeln, um das Ereignis nicht zu verpassen. Er starrte in die untergehende Sonne und ihm stockte der Atem: die Sonne schien mit einem Mal aufzuflackern, wie eine gewaltige Flamme; aus den züngelnden Flammenschweifen, bildeten sich langsam Figuren, die anfingen um das Feuer, das einst die Sonne war, zu tanzen. Eine der Figuren, die kleinste von allen, schien Severin immer näher zu kommen. Die flammende Gestalt wurde immer größer und nahm direkten Kurs auf Severin. Große, mächtige Flügel waren nun zu erkennen, und ein langer Vogelschwanz. Severin wusste was es war: ein Phoenix. Einige hundert Meter vor Severin wurde der Vogel langsamer und richtete sich in der Luft auf. Ohne es wirklich zu bemerken und von der Neugier geleitet, ging er einige Schritte auf den Flammen-Phoenix zu. Dieser beobachtete ihn bedacht. Und noch bevor Severin reagieren konnte, schnellte der riesige Vogel auf ihn hinab. Die hundert Meter Abstand, hatte der Vogel im Sturzflug binnen weniger Sekunden zurückgelegt. Severin hatte seine Lage und die Taten des Phönixes erst jetzt erkannt und schaffte es, noch einen Schritt zurück zu gehen, seine Augen zu schließen und sich zum Schutz zu krümmen, ehe ihn die riesige Flammengestalt durchdrang. Doch anstatt der glühenden Hitze der Sonne, verspürte Severin wohlige Wärme in sich. Er fühlte sich leicht und unbeschwert, und ein Gefühl des Glückes durchströmte ihn.
Er öffnete die Augen. Über ihm stand Ben, mit besorgtem Blick auf ihn hinabblickend. “Hey! Alles Okay mit dir, Sev?” Er half ihm aufzustehen. “Was war denn mit dir los?” Severin konnte nur lächeln. Noch immer spürte er dieses starke Glücksgefühl in sich. “Alles Bestens, danke!”, strahlte er Ben an. “Wow. Das war einfach toll!” “Jaah, nicht wahr.”, sagte Ben ein wenig erleichtert und nun auch lächelnd. “Diese Flammen in der Sonne entstehen nur verdammt selten! Ich weiß leider nicht genau, wann immer, aber heute hatten wir Glück!” Ben schaute hinauf zu den Sternen, die zu Milliarden über ihren Köpfen prangten. Severin tat es ihm nach. Sein großer Bruder wandte sich nach kurzer Zeit wieder ihm zu. Dieses Mal mit fragender Miene: “Sag mal, warum bist du eigentlich auf die Sonne zugelaufen?” Sev sah ihn ein wenig erstaunt an. “Bin ich das? Nun ja, ich denke ich wollte es mir genauer ansehen.” “Mh..”, murmelte Ben nun etwas nachdenklich. “Fandest du diese Flammen so aufregend? Ich meine, jaah, sie sind sicher aufregend, aber ein halbe Stunde lang flackerten sie nur vor sich hin, ehe sie wieder verschwanden.” “Aber,”, stammelte Severin verwirrt. “Hast du denn die Figuren nicht gesehen?? Oder den riesigen Phoenix, der auf mich zu flog?” Ben sah ihn an, und setzte einen Gesichtsausdruck auf, den ein großer Bruder aufsetzte, wenn der kleinere behauptete einen Geist gesehen zu haben. “Ich denke es ist besser, wenn wir wieder nach Hause gehen. Unsere Eltern machen sich noch Sorgen!”, sagte Ben und legte einen Arm um die Schultern seines Bruders. Sie gingen zusammen zurück, und doch warf Severin noch einmal ein Blick zu der Stelle, an der er das bisher wunderbarste und fantastischste seines ganzen Lebens erlebt hatte – dieses Erlebnis würde er nie vergessen!
Als sie an ihrem Haus ankamen, drehte sich Ben noch einmal kurz zu Severin: “Das, was heute abend passiert ist, bleibt unser kleines Geheimnis, ja?” Er lächelte Severin an und öffnete die Tür. Sie konnten schon vom Flur aus den Ferseher im Wohnzimmer hören. Sie gingen hinein und fanden ihre Eltern eingenickt ineinander geschlungen vor. “Sie haben auf uns gewartet.”, flüsterte Ben Severin zu. “Mum, Dad.”, flüsterte Severin seinen Eltern zu und rüttelte sie vorsichtig. Langsam erwachte seine Mutter. Noch ein wenig verträumt schaute sie ihn an und war mit einem Mal hellwach. “Arnold… Schatz!”, flüsterte sie ihrem Mann zu, der sie noch immer umklammert hielt. Er regte seinen Kopf, öffnete träge seine Augen und schaute sich um. Auch er war nun hellwach. “Jungs! Da seid ihr ja!”, sagte Arnold. Seine Stimme klang sowohl erleichtert, als auch ein wenig vorwurfsvoll. “Wo, um Himmelswillen wart ihr?” Er blickte Ben durchdringend an, doch Severin ergriff das Wort: “Ben wollte mir nur kurz etwas zeigen. Wir wollten nicht, dass ihr euch Sorgen macht!” Er fügte noch ein gespielt-beschämtes Lächeln hinzu. Auf diese Art und Weise hatte er seine Eltern schon immer davon überzeugen können, dass alles in bester Ordnung war. Seine Mutter lächelte nun zurück. “Na gut. Dann geht jetzt am besten beide ins Bett. Wir stehen morgen sehr früh auf!”, sagte sie, während sie sich noch immer müde aus den Armen ihres Mannes befreite, um selbst zu Bett zu gehen. Ohne Widerworte gingen Ben und Severin die Treppe hinauf zu ihren Zimmern. Severin ging in das rechte, Ben ins linke, doch bevor sie beide durch ihre Türen gingen, warfen sie sich noch ein strahlendes Lächeln zu und wünschten sich eine gute Nacht. Noch angezogen ließ sich Severin auf sein Bett fallen. Das, was er heute erlebt hatte, war einfach unglaublich. Und noch während er über das Erlebte nachdachte, fielen ihm die Augen zu und er schlief ein.
Am nächsten Morgen wurde er von einem lauten Hämmern gegen seine Tür geweckt. Er hob den Kopf und bemerkte, dass er auf dem dunklen Teppichboden, zur Hälfte unter dem Bett versteckt lag. “Wach auf, kleiner Bruder!”, rief Ben über sein Hämmern hinweg. Severin hievte sich aus seiner seltsamen Schlafstätte hervor und schmunzelte bei dem Gedanken, wie er da hinunter gekommen war. Er sah an sich hinab und stellte fest, dass er im Schlafanzug dasaß. Ach, Ben!, dachte er sich und zog sich frische Sachen an. Das Hämmern hatte bereits aufgehört, als Severin die Tür öffnete und seine Schwester, mit zerzaustem blond-roten Haar, vor ihm stand. “Guten Morgen!”, nuschelte sie ihm zu und verkroch sich dann ins Bad. Er ging hinunter in die Küche, wo der Frühstückstisch bereits gedeckt war und setzte sich neben seinen Bruder. Dieser verbarg ein verschmitztes Laecheln, als er fragte: “Und? Wo bist du heute früh aufgewacht?” Er grinste noch breiter, als er seinen verwirrten Vater bemerkte. “Halb unter meinem Bett.”, sagte Severin und versuchte ernst zu blicken. “Aber danke, dass du mir immerhin meinen Schlafanzug angezogen hast.” Sein Vater machte ein Gesicht, in der Form eines großen Fragezeichens, schüttelte dann kurz den Kopf, murmelte etwas vonwegen ‘Jungs…’ und versteckte sich hinter seiner Zeitung. Ben schaute ein wenig beleidigt drein. “Halb unter deinem Bett? Wie bist du denn dort hingekommen?”, fragte er mürrisch und fügte leise hinzu: ” Ich hatte dich doch eigentlich auf deinen Schreibtisch gelegt.” Severins Augen weiteten sich, doch bevor er etwas erwidern konnte, kam seine Schwester die Treppe hinunter getrottet und seine Mutter stellte die Brötchen auf den Tisch. “Guten Morgen, Schatz!”, sagte sie liebevoll zu Severin und wiederholte sich, als sie ihre noch immer müde Tochter heranschleifen sah. Alle frühstückten nun ausgelassen, bis Severin fragte, was sie denn heute unternehmen würden. Arnold und Angelica blickten sich freudig an und verkündeten: “Wir fahren heute ans Meer!” Das war tatsächlich eine freudige Überraschung, denn normalerweise hatten sie nicht genug Geld, um irgendwohin zu fahren. “Wow!”, rief Ben begeistert. Auch Diane schien nicht minder erfreut und war plötzlich hellwach. “Wann geht es denn los?”, fragte sie begeistert. Arnold schaute auf seine Uhr. “Mh…ah… Genau in einer Stunde!” Dianes Augen weiteten sich vor Schreck. Sie sprang vom Tisch auf und raste hoch ins Bad. Der Rest der Familie grinste in sich hinein und frühstückte ruhig weiter, während von oben immer wieder laute Poltergeräusche erklangen.
Nachdem alle ihre Habseligkeiten zum Baden gepackt hatten, fuhren sie auch schon los. Der kleine VW Golf reichte geradeso für die fünfköpfige Familie und während Arnold fuhr und Angelica neben ihm die Landschaft betrachtete, saßen die drei Kinder hinten zusammengequetscht; Severin saß in der Mitte, rechts von ihm Ben und links Diane. Alle drei hatten ihre Taschen auf ihren Schößen, da der Kofferraum bereits voll war. Sie fuhren knapp 3 Stunden, hörten ruhig der Musik aus dem Radio zu und betrachteten die vorbeiziehende Landschaft. Als sie ausstiegen, streckte sich die ganze Familie. Die Luft roch herrlich nach Salzwasser und alle waren voller Tatendrang. Obwohl es schon Herbst und das Wasser sicher kühl war, wollten alle an den Strand und baden. Als sie dort ankamen, waren sie die einzigen. Lediglich ein paar Möwen schienen ihnen Gesellschaft leisten zu wollen. Am Wasser angekommen, entledigten sie sich ihren Sachen, zogen die Badesachen an und rannten ins kalte Nass. Severin genoss den Schwall kalten Wassers, der seinen Kopf zu benebeln schien, als er untertauchte. Auch seine Geschwister waren nun komplett nass und alle drei begannen eine riesige Wasserschlacht, in der auch bald ihre Eltern einstimmten. Nach einer halben Stunde erbitternden Kämpfens, gaben die Frauen auf und gingen an den Strand, um die letzten Sonnenstrahlen noch zu nutzen. Arnold begann seine Bahnen zu ziehen und Ben sammelte im seichten Wasser Steine und Fossilien. Er meinte immer eines Tages genug Knochen und Fossilien beisammen zu haben, um beweisen zu können, dass es einst vor Jahrmillionen Drachen in dieser Gegend gab. Jedesmal wenn er Severin diese Geschichte erzählte, saß auf Bens Gesicht nur ein riesiges Grinsen, welches er immer aufsetzte, um seine ungewöhnlichen Hobbys zu erklären und seine Mutter zu besänftigen, wenn er wieder mit einem großen Haufen Steine ankam. Severin hingegen, liebte es zu tauchen. Er holte tief Luft, hielt den Atem an und ließ sich dann langsam ins Wasser zum Grund gleiten. Das Salzwasser biss zunächst ein wenig in seinen Augen, doch schnell hatte er sich daran gewöhnt und schaute durch das – für ein Meer sehr klare -Wasser. Er suchte den Boden ab, ohne etwas Spezielles zu suchen und tauchte ab und an wieder auf, um seine Lungen mit frischer Luft zu versorgen. Wenn er dies tat, besah er sich immer seiner Familie. Sie waren nicht sonderlich schwer zu erkennen: er brauchte nur nach ihren knallroten- oder Angelicas und Dianes leicht blonden – Haarschöpfen Ausschau zu halten. Nach einiger Zeit war er der Letzte im Wasser. Seine Eltern packten bereits zusammen, da es immer kühler wurde. Ben winkte ihm zu, um ihm zu bedeuten, er solle herraus kommen. Severin vermittelte ihm mitthilfe provisorischer Zeichensprache, dass er gleich kommen würde und tauchte ein letztes Mal ab. Doch dieses Mal war es anders. Er hatte nicht sonderlich viel Luft geholt, konnte aber dennoch länger als gewöhnlich unter Wasser bleiben, ohne den Druck in der Lunge zu spüren. Er tauchte eine Weile, bis ihm auffiel, wie geschmeidig und behände er schwamm. Ein starkes Gefühl der Freiheit packte ihn und er schwamm los: immer schneller und weiter. Beeindruckt von seiner Beweglichkeit, hielt er kurz an und sah den tiefen Abgrund des Meeres unter sich. Wie weit er geschwommen war, wusste er nicht und es kümmerte ihn auch nicht weiter. Mit einem Mal horchte er auf. Obwohl er Unterwasser nur bedrückt Geräusche wahrnehmen konnte, hörte er ein lautes Platschen in seiner Nähe. Er sah sich im Wasser um und erschrak auf Tiefste: wenige Meter vor ihm konnte er eine riesige Fischflosse erkennen, die sanft durchs Wasser glitt. Angst packte ihn: Was, wenn er nun von einem Hai angegriffen wurde? Wie könnte er sich dann wehren? Doch bevor er sich weiter panisch Fragen stellen konnte, sah er den vorderen Teil des fischflossigen Körpers vor sich: Der Oberkörper eines Jungen war an der Flosse fest gewachsen. Als der Meerjunge Severin entdeckte, schrak auch er zusammen. Doch dann packte Ihn anscheinend die Neugierde und er kam langsam auf Severin zu. Dieser wich ein wenig zurück, doch war auch er fasziniert von dem Jungen. Dessen hübsches Gesicht liess ihn Severin auf ungefähr 12 bis 13 Jahre schätzen – also ungefähr so alt, wie er selbst. Auch Severin bewegte sich langsam auf den Jungen zu. Sie waren nun keinen halben Meter mehr voneinander entfernt, als beide innehielten. Der Meerjunge hob seine linke Hand wie zum Gruß, doch Severin verstand. Er hob nun seine rechte und legte seine an die des ihm gegenüber befindlichen Jungen. Severin war überrascht: die Haut des Jungen war ein wenig schuppig und eiskalt. Die Finger des Meerjungen waren länger, als Severins, doch genauso hell und blass. Severins Augen ruhten zunächst auf den Händen, wandten sich dann aber den grün Leuchtenden Augen des Jungen zu. Der Junge grinste und entblößte eine Reihe spitzer, langer Zähne. Dann nahm er seine Hand von Severins und deutete auf sich. Er formte mit den Lippen ein Wort und wartete kurz, dann versuchte er es erneut und brachte tatsächlich Toene hervor: “Marius.” Severin nahm nun seine rechte Hand, deutete auf sich und versuchte seinen Namen zu sagen, doch alles was aus seinem Mund kam, waren große Luftblasen. Marius kam ein Stückchen näher, und legte seine Finger an Severins Hals. Er bedeutete ihm, es noch einmal zu versuchen und Severin gehorchte: “Severin.” Seine Stimme klang klar und deutlich als wäre er an der Luft. Marius grinste ihn an, nahm seine Finger weg und sagte mit erstaunlich hoher Stimme: “Du kannst jetzt immer unter Wasser reden, Severin.” Ein wenig überrascht, grinste Severin zurück und antwortete beeindruckt: “Vielen Dank, Marius!” Severin brannten tausende Fragen auf der Zunge, doch bevor er auch nur eine davon stellen konnte, hörte er mehrere laute Platscher hinter sich und sah in der Ferne jemanden auf sich zu schwimmen. Marius wirkte nun stark verängstigt und schwamm ein wenig rückwärts. “Tut mir leid, Marius. Ich muss gehen!”, sagte Severin hastig. “Aber ich versuche, so bald wie möglich wieder zu kommen!” Er sah Marius zum Abschied kurz Winken, bevor dieser pfeilschnell in der Tiefe verschwand. Neben ihm tauchte nun Bens Rotschopf ins Wasser. Er war komplett angezogen und erst als er Severin packte, um ihn an die Oberflaeche zu ziehen, bemerkte dieser, wie lange er nun schon unter Wasser sein musste. Prustend holte Ben Luft, als sie an Land ankamen. Ben hatte Severin so fest gepackt gehabt, dass dieser nicht hatte allein zum Ufer schwimmen können. Da Severins lange schwarze Haare nun sein Gesicht verdeckten, konnte niemand wirklich sehen, dass er wohlauf war. Sein Bruder ließ ihn in den Sand fallen, um sich dann über ihn zu beugen. Durch seine schwarzen Haare konnte Severin Tränen in Bens Augen sehen, welche in Rinnsalen sein Gesicht hinabliefen. Auch seine Mutter konnte er neben sich schluchzen hören. “SEV?? SEVERIN!”, brüllte ihn sein Bruder an. Er wurde leicht geschüttelt, bevor er sich aus eigener Kraft auf die Ellenbogen hievte. Seine Arme fühlten sich seltsam schlaff an und auch der Rest seines Körpers ließ sich kaum bewegen. Angelica strich ihm die Haare aus dem Gesicht und Severins hellbraune Augen trafen blinzelnd auf ihre blauen. Sie schrie kurz auf und drückte ihn dann fest an sich- noch immer schluchzend. Ben schob seine Mutter beiseite und umklammerte Severin nun so fest, dass er kaum noch Luft bekam. “Ben…”, hauchte Severin. Sein Mund fühlte sich vollkommen trocken an und seine Stimme klang wie eingerostet. Bens Griff klammerte sich noch fester um Severins Oberkörper. “Ben… Ich… krieg keine… Luft!”, flüsterte er Ben mühevoll ins Ohr, welcher sofort losließ. Sie wickelten Severin und auch Ben in eine Decke. Severin versuchte aufzustehen, doch seine Beine gaben immer wieder nach. Ben klemmte seinen Kopf unter Severins Schulter, stützte ihn zunächst und zog ihn dann auf die Beine.
Sie verließ den Strand schnell und machten sich auf den Weg nach Hause. Severin war ohne zu wissen warum, so erschöpft von dieser Begegnung, dass er die ganze Autofahrt hindurch schlief. Zu Hause angekommen ging er schweigend in sein Zimmer und setzte sich auf sein Bett. Was war da passiert? Ist es wirklich gewesen? Aber wie hatte er so lange unter Wasser bleiben koennen und warum war er so unglaublich erschöpft danach gewesen? Stumm sah er aus dem Fenster. Er kratzte sich gerade an seinem Arm, als er bemerkte, wie rauh seine rechte Hand war. Er sah sie sich genauer an und blickte verwundert: seine Handfläche glitzerte leicht im letzten Schein der Sonne, der durch das Fenster drang und kleine, schuppenähnliche Unebenheiten waren zu erkennen. Er betastete sie mit seiner linken Hand und spürte eine eisige Kälte durch seinen Körper fahren. Es war die gleiche Kälte, die er verspürt hatte, als er den Jungen berührte. Die kleinen Schuppen auf seiner Haut waren zwar ein wenig hart, doch konnte er seine gesamte Hand ohne Probleme bewegen und auch Tasten stellten kein Problem dar. Weder die Kälte noch die kleinen Schuppen störten ihn groß, da sie ihn keineswegs negativ beeinflussten. Doch was, wenn seine Eltern es sahen? Er wusste, dass sie nicht viel von Märchen und Fabeln hielten, und seine Geschichte würden sie ihm niemals abkaufen. Hastig ging er zu seinem Schrank, zog eine große Kiste heraus und begann, darin zu kramen. In der Kiste bewahrten sie immer seine Wintersachen auf, damit sie im Sommer keinen Platz im Kleider-Schrank verbrauchten. Er suchte ein paar Lederhandschuhe heraus und streifte sich den Rechten über. Er überprüfte mit seiner linken Hand, ob er die Kälte dadurch spüren konnte, und stellte zufrieden fest, dass dies nicht der Fall war. Er zog sich auch den linken Handschuh an und setzte sich wieder beruhigt aufs Bett.
Was Severin in den letzten Wochen wiederfahren war, war ohne jeden Zweifel nicht normal: erst durchdrang ihn ein riesiger Phoenix, der aus der Sonne kam, dann begegnete er einem Meerjungen, mit dem er geredet hatte und von dem er seine schuppige, rechte Hand bekommen hatte und seit wenigen Tagen traeumte er immer wieder von einer riesigen, dunklen Gestalt mit langen schwarzen Fluegeln, die ein Schwert in der rechten Hand hielt. Und jedes Mal, wenn er diese Gestalt sah, wachte er schweissgebadet auf. So auch diesen Morgen. Nachdem er sich mit seinem Schlafanzug den Schweiss aus dem Gesicht gewischt hatte, schaute er aus dem Fenster, hinter dem sich der Regen ergoss und die Welt grau faerbte. Er wusste nicht, warum er diese Traeume hatte, doch jedes Mal danach, fuehlte er sich unglaublich schlecht. Severin stand auf und sah auf eine alte Uhr, die auf seinem Schreibtisch stand. 5 Uhr. Er zog sich rasch einen Morgenmantel an, streifte sich, wie in den letzten Tagen schon, den Lederhandschuh ueber und ging ins Wohnzimmer. Seine Mutter sass bereits am Fruestueckstisch und blaetterte in der Zeitung, als er sich dazu setzte. Sie lugte hinter der Zeitung hervor: “Guten Morgen, Severin! Warum bist du denn schon wach?” “Albtraum.”, sagte er knapp und kaute auf einem Broetchen herum. Seine Mutter hatte heute Fruehschicht im Lager und deckte an den Tagen den Tisch immer bevor sie losging. “Severin?”, fragte seine Mutter. “Warum traegst du neuerdings immer deine Lederhandschuhe? Und das auch noch bei Tisch.” Severin ueberlegt kurz, da er ihr die Wahrheit nicht sagen konnte. “Weiss ich nicht. Mir gefaellt es einfach.” Bevor seine Mutter stirnrunzelnd antworten konnte, hoerten sie jemanden die Treppe hinabsteigen. Ben kam ins Wohnzimmer, wuenschte den beiden einen guten Morgen und wandte sich dann komplett seiner Mutter zu: “Mum? Kann ich kurz unter vier Augen mit dir reden?” Sie nickte, legte die Zeitung weg und gab Severin zu verstehen, dass er auf sein Zimmer gehen solle. Severin stand ohne Widerspruch auf und ging die Treppe hinauf. Er wartete am Treppenabsatz und setzte sich auf die oberste Stufe. Er wollte unbedingt hoeren, was Ben von seiner Mum wollte, und vorallem, warum er es nicht hoeren sollte. “Mum. Ich muss dir etwas sagen.”, hoerte er Ben aus dem Wohnzimmer sagen. Er klang aufgeregt. “Also, es geht darum… Ich wuerde gerne… Nun ja… Ausziehen!” Stille. Severin war geschockt. Ben wollte ausziehen? Warum? Er lauschte gespannt. Seine Mutter hatte sich gerade geraeuspert. Auch sie schien ueberrascht. Dann hoerte er ihre Stimme: “Nun… Ich habe nichts dagegen.” Sie sprach leise; so wie sie immer sprach, wenn sie traurig oder enttaeuscht war. “Hast du denn schon eine neue Wohnung?” “Ja.”, sagte er entschlossen und wartete kurz. “Keine Sorge, Mum. Es ist alles bereits geregelt. Ich brauchte nur noch eure Einwilligung.” Severin konnte etwas rascheln hoeren. Sicher hatte Ben seine Mutter umarmt, um sie zu troesten. “Aber… Eine Bedingung.. Habe ich!”, schluchzte sie. “Wir duerfen dich besuchen kommen!” Stille. “Nun, wie soll ich es sagen…”, murmelte Ben, der anscheinend einige Schritte von Angelica fort gegangen war. “Das gestaltet sich aeusserst schwierig.” “Was meinst du damit?”, Angelicas Stimme klang sowohl ein wenig zittrig, als auch barsch und ein wenig wuetend. “Soll das etwa heissen, wir bekommen dich nur noch zu Gesicht, wenn du mal Zeit findest, uns zu besuchen?” Sie war wuetend. “So nicht, mein Lieber! Du bist ein Teil dieser Familie und die wirst du jetzt nicht einfach wegschmeissen, als waere sie nichts!” Severin hoerte etwas krachen und ein kurzes Fluchen, bevor er hinter sich eine Tuer aufgehen hoerte. Er drehte sich um uns erblickte das muede Gesicht seines Vaters. “Was ist hier los?”, fluesterte er noch halb, bevor er sich aufmachte, die Treppen hinabzusteigen. “Solch ein Laerm um diese Uhrzeit!”, murmelte er und erreichte das Wohnzimmer. Dann schrie er entsetzt: “Angelica! Was machst du denn da?” Severin hielt es nicht mehr aus und rannte hinunter. Im Wohnzimmer sah es absolut chaotisch aus: die Kissen des Sofas lagen ueberall im Raum verstreut, die Scherben einer Vase bestreuen den Boden und hinter dem Fernseher versteckt, konnte er Bens roten Haarschopf erkennen. Angelica sass auf dem Sofa und schluchzte laut, waehrend Ben aus seinem Versteck kam. Diane kam gerade ins Zimmer und machte grosse Augen. Sie schien von alledem nichts mitbekommen zu haben. Arnold lehnte sich an Angelica und versuchte sie zu troesten: “Was ist denn passiert, Schatz?” Doch Ben meldete sich zuerst zu Wort und erzaehlte das Passierte. Als dieser endete, nickte Arnold nur beschwichtigend und wandte sich wieder seiner Frau zu. “Und deswegen rastest du so aus, Liebling? Es ist doch ganz natuerlich, wenn Kinder ausziehen! Ausserdem ist Ben schon ein richtiger Mann; er ist immerhin schon 19 Jahre alt.”
Angelica beruhigte sich im Laufe des Tages, redete aber mit niemandem ein Wort, ausser Diane, da sie das ganze ja nicht mitbekommen hatte. Ben nutzte den Tag und packte seine Sachen, doch Severin hatte das Gefuehl, er wollte ihm aus dem Weg gehen: Jedes Mal, wenn sie sich im Haus trafen, wechselte er prompt die Richtung und verschwand.
Nach einer Woche war Ben vollstaendig ausgezogen. Sein Zimmer war komplett leergeraeumt und auch er verschwunden. Niemand aus der Familie wusste wohin, da er es niemadem hatte sagen wollen. Die kommenden Tage verliefen ruhig, doch betruebt. Am Tisch sprach man nur noch wenige Worte miteinander und sagte auch sonst nicht viel. Jeder dachte an Ben. Jeder warf mindestens einmal am Tag den Blick in sein Zimmer, in der Hoffnung, sich geirrt zu haben; in der Hoffnung, er sei wieder da. Doch er war nicht da und er kam auch nicht. Nicht an Angelicas Geburtstag; nicht an Dianes.
Severin war bedrueckt. Er wusste nicht mehr, was er tun sollte, mit wem er reden sollte, wem er vertrauen sollte. Er vermisste Ben stark und wuenschte sich nichts sehnlicher, als dass er zumindest an seinem Geburtstag kommen und ihm gratulieren wuerde.
Tag der Veröffentlichung: 21.04.2014
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