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© Christian Heinke

 

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sowie der Übersetzung in andere Sprachen.

 

Originalausgabe

 

heinkedigital.com

Titel

 

 

 

 

 

 

Christian Heinke

 

Das Mal

 

 

 

Thriller

Inhalt

 




INHALT

 

Teil Eins

Teil Zwei

Teil Drei

Teil Vier

Nachwort

Über den Autor

Widmung

 

 

 

 

 

 

Für Caroline

Immer.

Immer wieder.

Zitat

 

 

 

 

 

 

»Die Herrschaft der Tiere hat begonnen.«

Albert Camus, 1939

Teil Eins

 

 

 

 

 

 

TEIL EINS

Prolog

 

 

 

 

 

 

PROLOG


Das Dröhnen des Motors erfüllte den Frachtraum der Junkers K-45 und ließ Boden und Wände der Maschine erzittern. Es war eine beruhigende Vibration. Langsam wich die Anspannung in Wilhelm Körber. Kaum zu fassen. Sie hatten es wirklich geschafft.

Er hatte natürlich nie daran gezweifelt, dass sich seine Theorie als richtig erweisen würde. Allerdings hätte er nie im Traum daran gedacht, sie schon durch die erste Expedition nach Alaska beweisen zu können.

Wenn alles gut ging, würden sie in einigen Stunden in Seward landen. Von dem kleinen Hafen war es dann noch eine weite Reise zurück nach Deutschland; doch sie würden sich endlich von dieser klirrend kalten Einöde am Ende der Welt verabschieden können.

Körbers Glieder schmerzten und seine Zehen und Fingerspitzen waren immer noch taub vor Kälte. Er freute sich auf die Rückkehr in die Zivilisation. Er sehnte sich nach einem heißen Bad. Sie alle stanken erbärmlich. Ausrüstung und Kleider waren muffig und feucht und hatten den Geruch der weiter hinten im Frachtraum angeketteten Schlittenhunde angenommen.

Ein weiteres unangenehmes Aroma drang in Körbers Nase  aus Richtung Bug.

Althen saß dort an einem der kleinen Fenster, blickte nachdenklich in die vereiste Ferne und paffte dabei genüsslich eine seiner stinkenden Zigarren.

Nun, jeder beging den Triumph des Erfolges auf seine Weise. Körber öffnete die schmale, stählerne Kassette, in der er seine Kladde für Aufzeichnungen aufbewahrte und begann einen neuen Eintrag.

 

13. November 1936

Erfolg! Nach all den Strapazen und dem Ausfall von Eisner befinden wir uns nun auf dem Rückflug.

Unsere Fracht ist wohl auf.

 

Er hielt inne und sah zur Kiste. Sie maß etwa eineinhalb Meter in Breite, Höhe und Tiefe und auf der ihm zugewandten Seite prangte groß der Reichsadler.

Mit dem, was die Kiste in ihrem Inneren verbarg, konnte er sehr zufrieden sein. Es war nicht alles so verlaufen, wie er es sich vorgestellt hatte - aber das Ergebnis war, was zählte.

Das Mädchen war wach. Ihre Haut war dunkel und ihr Haar schlohweiß. Körber schätzte ihr Alter auf zwölf Jahre. Sie lugte durch eines der schmalen Löcher, die sie ins obere Drittel der Kiste gebohrt hatten, damit ihre wertvolle Fracht nicht erstickte.

Die dunklen Augen des Mädchens bedachten ihn mit einem prüfenden Blick, ohne jede Emotion.

Weder Gefühl noch Verstand. Da hat das Biest was mit Althen gemeinsam, dachte er grimmig.

»Und? Ist sie ruhig?« fragte Althen, der plötzlich neben ihm stand. Körber fuhr vor Schreck zusammen und versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Das zufriedene Grinsen in Althens Gesicht zeigte, dass er damit keinen Erfolg gehabt hatte.

»Warum so nervös?« Aufmunternd klopfte Althen ihm auf die Schulter. »In Berlin werden sie uns als Helden feiern.«

»Wir werden sehen … Und ich bin keineswegs nervös.« Zur Bekräftigung klappte er die Kassette mitsamt der Kladde wieder zu.

Althen grinste immer noch.

»Nun, wenn das so ist, Professor …« Er nahm den Stummel seiner Zigarre, steckte sie durch eines der Löcher in der Kiste und drückte die Glut auf dem Körper des Mädchens aus. Es heulte vor Schmerz auf und klang dabei fast wie ein beseeltes Wesen. Körber roch versengtes Fleisch und verzog angewidert das Gesicht.

»Sind sie wahnsinnig?« schrie er und sprang auf, um den Schaden zu begutachten.

»Was denn?«, verteidigte sich Althen achselzuckend. »Wenn das Biest ist, für was sie es halten, dann macht es ihr nichts aus. Sehen sie’s als einen ersten, kleinen Test.« Zu seiner eigenen Überraschung hielt er Althens herausfordernden Blick stand.

»Sie haben wohl immer noch nicht begriffen, was wir hier haben, Althen, nicht wahr?« Körbers Gesicht war krebsrot angelaufen. Althen warf einen Blick auf das Mädchen.

»Eine verfilzte, stinkende Indianerfotze?«

Seine kalten, wasserblauen Augen musterten Körber. Dabei spielte er mit etwas in seiner behandschuhten Hand. Mit einer schnellen Bewegung griff Körber danach und nahm es ihm ab.

»Woher haben sie das?« fragte er. Althen deutete nur mit einem Kopfnicken zur Kiste.

»Hatte es bei sich.« Körber sah ihn an. Althen schnalzte mit der Zunge »Sie trug es um den Hals.«

Körber begutachtete Althens ›Fundstück‹. Es war ein steinernes Amulett, das an einem ledernen Band befestigt war. Der Stein schien nichts Besonderes zu sein. Ein geschliffener Hämatit in Form eines Sterns, dessen Eckpunkte mit feinen weißen, in den Stein geritzten Linien miteinander verbunden waren.

»Warum haben Sie es ihr abgenommen?« fragte er und sah wieder in die Kiste. Das Mädchen zeigte erstmals eine menschliche Regung: Sie lächelte. Sie lächelte und hielt sich die von Althen verbrannte Stelle.

»Dieses Gehänge sah mir zu … jüdisch aus.« Körber verstand sofort, worauf Althen anspielte. Ungläubig über soviel Ignoranz schüttelte er mit dem Kopf.

»Herr Gott, Althen. Das ist ein Pentagramm! Ein fünfeckiger Stern! Ein Davidstern ist sechseckig!«

Glaubte dieser Idiot wirklich, dass eine nordamerikanische Indianerin ein jüdisches Symbol um den Hals trug? Wütend hielt er Althen das Amulett unter die Nase. Althen verzog keine Miene.

»Ich kenne durchaus den Unterschied zwischen einem Pentagramm und einem Davidstern.« erklärte er im Plauderton. »Aber wollen Sie es wirklich darauf ankommen lassen, dass der Reichsführer den Unterschied kennt - oder schlimmer - unser geliebter Führer selbst?« Er öffnete seine Hand und wartete.

Da hatte Althen natürlich Recht. Die Gefahr einer Fehlinterpretation an oberster Stelle war zu groß. Sie hatten mit dieser Operation bereits zuviel riskiert. Er musste an Eisner denken. Mit einem Seufzer gab er Althen den Talisman zurück. Dieser nahm ihn stumm und ließ ihn in seiner Brusttasche verschwinden.

Plötzlich hörten sie aus der Kiste ein Wimmern. Beide Männer sahen sich kurz an, dann stürmten sie zur Kiste und sahen hinein. Das weißhaarige Mädchen lag auf dem Boden und krümmte sich vor Schmerz.

Die Schlittenhunde begannen zu Bellen und zu Jaulen. Wie von Sinnen zerrten sie an ihren Ketten und schnappten hysterisch um sich. 

Was zum Teufel geht hier vor? dachte Körber. Doch um die Hunde konnte er sich später kümmern.

»Sie kollabiert! Wir dürfen sie nicht verlieren!« schrie er und begann sich nach etwas umzusehen, um die Kiste zu öffnen. Kurz entschlossen zog er eine der Zeltstangen aus einem der verzurrten Bündel mit der Ausrüstung neben ihm und setzte sie dann als Brechstange ein, um eines der vernagelten Bretter aufzuhebeln. Er spürte, wie Althens Hand ihn grob zurück riss.

»Sind Sie übergeschnappt? Denken Sie daran, was dieses Ding mit Eisner angestellt hat!« Mit einem Ruck löste sich Körber aus Althens Griff.

»Da war Vollmond, Sie Idiot! Helfen Sie mir lieber, zum Teufel.« knurrte er ihn an und begann die Kiste aufzustemmen. Immer noch wand sich das weißhaarige Mädchen in größter Pein. Ihre Augen waren verdreht und schienen im schummrigen Licht des Frachtraums zu glühen.

Wir verlieren sie! dachte er, während er das erste schwere Brett vom Deckel der Kiste hob. Wir waren so kurz davor. Es darf nicht so enden.

Nicht so.

Vollmond

 

 

 

 

 

 

VOLLMOND


Mondlicht sickerte zwischen den Wolken hervor und tauchte den Wald in fahles Silber. Der kleine Junge achtete nicht darauf. Er hatte genug damit zu tun, um sein Leben zu rennen.

Der Name des kleinen Jungen, der blutend durch den Schnee um sein junges Leben stapfte, war Björn Eggert. Er war sechs Jahre alt und hatte braunes Haar, um das ihn Frau Müller, die ihm die Haare schnitt, immer schon beneidet hatte. Björn erinnerte sich gut daran, wie sie ihm nach dem Schneiden immer noch einmal über das Haar strich. Sie begutachtete sein Abbild in dem großen Spiegel, an dem entlang schwatzende Frauen saßen und mit ihren Friseusen über die neuesten, unwichtigen Wichtigkeiten der Stadt tratschten.

Frau Müller sah dann gewöhnlich zu Björns Mutter, die unter einer der Trockenhauben saß und in irgendeiner Illustrierten blätterte, die auf ihrem bunten Titelblatt die Geburt eines hübschen Babys irgendeiner Adeligen verkündete. Seine Mutter bemerkte schließlich Frau Müllers Blick, sah nun hoch und lächelte, wie es nur eine stolze, gut aussehende und nicht zu alte Mutter vermochte.

»So schönes Haar, der Junge. So schön.«, seufzte Frau Müller dann für gewöhnlich. Sie selbst konnte keine Kinder mehr bekommen, hatte seine Mutter ihm erklärt. Björn war nicht ganz klar, was das in letzter Konsequenz bedeutete, aber es war ihm schon bewusst, dass Frau Müller wohl auch deshalb besonders nett zum ihm war.

Doch jetzt war Björns Haar nicht mehr ganz so schön und sauber wie gewöhnlich. Es war nass von Schweiß und Schnee. Strähnig klebte es an Björns Kopf. In ihm kreisten panische Gedanken um die Frage, wie er es wohl vermeiden konnte, vom Bösen gefressen zu werden. Seine schmale Brust begann durch die Anstrengung des Laufens zu schmerzen. Seine Lungen brannten. Keuchend stieß er mit seinem Atem kleine weiße Wolken in die Winternacht, als wäre er die verwunschene Spielzeuglokomotive aus einem seiner Kinderbücher. Er trug nur schmutzige Unterwäsche und ein paar kleine, hellbraune Socken, die früher einmal weiß gewesen waren. Bart Simpson auf einem Skateboard war darauf gedruckt. Doch Barts fröhlich gelbes Gesicht war durch Schmutz und die Nässe des Schnees zu sepiafarbener Vergangenheit geworden.

Björn konnte nicht mehr. Er spürte, dass sein Körper die Grenze seiner Leistungsfähigkeit bereits weit überschritten hatte. Er würde es vielleicht nicht schaffen.

Er … Er musste sich kurz ausruhen. Er blieb stehen und lauschte. Er hörte seinen schweren Atem und den pochenden Spurt seines Herzens. War da nicht auch ein anderes Geräusch? Das trockene Geräusch von Krallen auf Schnee vielleicht? Nein. Da war nur das Rauschen fallender Flocken. Er konnte sich nicht erinnern, wann jemals so früh im November hier in Lüneburg Schnee gefallen war.

Alles war irgendwie falsch. In ein paar Wochen war doch Weihnachten. Er wünschte sich etwas von Lego. Und vielleicht auch einen iPod Touch. Aber seine Mutter hatte ihm schon gesagt, dass der Weihnachtsmann dieses Jahr ein wenig weniger bringen würde, als gewöhnlich. Sie nannte das Krise. Diese Krise musste wirklich schlimm sein, wenn sie sogar die Kräfte des Weihnachtsmannes beschnitt.

Da war doch ein Knurren? Nein. Er sah sich um. Er stand am Fuß einer kleinen Anhöhe an dessen Kuppe sich ein Spalier schmalstämmiger Birken zu einer Lichtung hin öffnete. Er sah nichts, was er irgendwie wieder erkannte. In seinem Kinderglauben wusste er nicht, dass sich ohne Orientierungspunkt selbst ein erfahrener Pfadfinder im Wald verirren konnte. Er hoffte, dass er hier schon mal gewesen war, wenn er im Sommer mit seinen Freunden durch den Forst in der Nähe der alten englischen Truppenübungsplätze streunte, um nach Patronenhülsen – echt cool! – oder nach alten Übungshandgranaten – noch besser! – zu suchen. Seine Mutter wusste davon natürlich nichts. Sie wollte nicht, dass er mit seinen Freunden in den Wald ging  - Und unartige Kinder bestrafte der Weihnachtsmann schließlich sofort. Das wusste ja wohl jeder.

Er musste weiter. Jetzt nicht schlapp machen. Er lief die Anhöhe hinauf und trat in einen vom Schnee bedeckten Eingang eines Kaninchenbaus. Sein linker Fuß stieß in das Loch und ein grausiger Schmerz schoss von seinem Knöchel das Bein herauf. Er fiel nach vorn auf sein Gesicht und schmeckte warmes Blut und mit erdigen Waldboden vermischten Schnee. Er hatte sich auf die Zunge gebissen. Er rappelte sich auf und spuckte einen warmen Klumpen rosafarbenen Speichels in das glitzernde Weiß.

Plötzlich roch er etwas, dass in ihm eine irrsinnige Assoziation auslöste. Es stank nach Kaptän Iglus Fischstäbchen in einer kalten Pfanne. Doch dieser Geruch war älter, ranziger … und böser.

Hinter ihm hörte er ein Knurren.

Es gehörte eindeutig zu einem Tier. Doch es war ein Tier, das schon seit Äonen auf der Erde zu wandeln schien. Ein Tier, das so durch und durch böse war, dass es eigentlich nur in Märchen vorkommen durfte.

Aber es war real. Und es war direkt hinter ihm. Björns Zähne klapperten. Doch nun nicht mehr vor Kälte. Seine Blase versuchte sich zu entleeren. Doch es war nichts darin, was der Mühe lohnte. Mit einem Ruck versuchte er sein Bein aus dem Kaninchenbau zu ziehen.

Er blickte die Anhöhe hinauf. Der Mond schien hellweiß und teilnahmslos auf die Szenerie.  Er spürte wie ein heller, klarer Schmerz sein Rückgrat hinauf schoss, als hornige Klauen seinen Rücken aufrissen. Ein plötzlicher Schwall wohltuender Wärme erfasste ihn.

Er schrie nicht. Es tat gar nicht weh. Verblüfft betrachtete er die Menge seines eigenen, im kalten Schnee dampfenden Blutes. Er wurde herumgerissen und sah als Letztes dem Bösen in die glühenden Augen. Sie waren so kalt und fern wie die Sterne und der volle Mond weit über ihm. Dann gruben sich gewaltige Zähne in seine Kehle. Er spürte gerade noch das Kitzeln von Fell auf seinen Wangen.

So schönes Haar, so schön.

 

 

Schon komisch, wie ruhig die erste Einsatzfahrt mit einem neuen Kollegen sein kann, wenn man ihm gerade einen Zahn ausgeschlagen hat, dachte Ruth Marx, als sie den wuchtigen Streifenwagen durch die Winternacht steuerte. Trotz des Vierradantriebs hatte Ruth Mühe, den schweren VW Tuareg auf dem dunklen, gefrorenen Feldweg zu halten. Ulbrich neben ihr wurde ganz schön durchgerüttelt, doch Ruths Mitleid hielt sich Grenzen.

Sie kannte diesen Idioten gerade erst einen halben Tag. Bei ihrem letzten Kollegen hatte es über zwei Monate gedauert, bevor sie sich handgreiflich eines sexuellen Übergriffs erwehren musste.

Neuer Rekord, dachte sie. Er hatte den Tag über schon so merkwürdige Andeutungen gemacht, die dann vor fünf Minuten darin geendet hatten, dass er seine Hand auf ihren Schenkel legte und sie mit einem ziemlich dummen Spruch anmachte.

Es machte Ruth nichts aus, dass so etwas bei der deutschen Polizei noch im 21. Jahrhundert  vorkam. Ruth liebte ihren Beruf. Und sie fühlte sich nicht dazu berufen, die verkrusteten Strukturen der Polizei zu ändern.

Wenn ihr allerdings so ein grüner Junge wie Ulbrich dumm kam, kostete ihm das halt einen Zahn.

Wegen ihrer wehrhaften Art wurde sie von ihren Kollegen nur die Rote Ruth genannt.

Sie selbst mochte ihre roten Haare eigentlich nicht und bändigte sie immer zu einem Pferdeschwanz. Außerdem empfand sie ihre Lippen als zu schmal, und ihre Augen standen ein wenig zu eng beieinander. Dennoch passte wohl ihre akzeptable Erscheinung in das Beuteschema des durchschnittlichen niedersächsischen Polizeibeamten.

Und hinter vorgehaltener Hand hatten die Jungs natürlich ein paar deftigere Kosenamen für sie in Petto. Als Polizistin Frauen zu lieben kam zwar häufiger vor, als man gemeinhin glaubte, aber damit stieß dieser Umstand noch lange nicht auf breite Akzeptanz. Und es half auch nicht, dass Ruth eine dreimal so gute Polizisten wie die meisten ihrer Kollegen war.

Der Wagen schlitterte aus der Spur und Ruth versuchte, sich wieder auf Weg den zu konzentrieren. Einen schnellen Blick auf das Elend neben ihr konnte sie sich aber nicht verkneifen. Peter Ulbrich blickte stur nach vorn. Seine rechte Hand drückte ein Papiertaschentuch gegen die aufgeplatzte Lippe.

»War das wirklich nötig?«, fragte er in das von den Scheinwerfern beleuchtete Nichts vor ihnen. Ruth antwortete nicht.

Okay, du bist ein Profi. Das musst du ihm zeigen. Sonst war ihr gemeinsamer Dienst nur noch gegen ihn und die verschworene Bruderschaft der Jungs möglich.

»Wie viel?« fragte sie.

»Was?!«

Ulbrich, ganz das eingleisig denkende Männchen, hatte eine Antwort erwartet, keine Gegenfrage. Ruth seufzte. Immer das gleiche Spiel.

»Um wie viel haben die Jungs mit Ihnen gewettet, dass die Rote Ruth es liebt von ihrem neuen Kollegen so richtig rangenommen zu werden?«

Ulbrich sah sie entgeistert an. Ein kleiner roter Fleck hatte sich auf dem Taschentuch gebildet. Er besann sich auf seine Ahnenreihe von stoischen, niedersächsischen Bauern und schwieg, die geschwollene Unterlippe eine wenig nach vorn geschoben. Doch die leicht roten Flecken auf seinen Wangen waren Ruth Antwort genug. 

»Soviel, also.« stellte sie knapp lächelnd fest. Sie gönnte den Jungs ihre Spielchen mit jedem Frischling. Aber irgendwo war Schluss. Ulbrich schwieg und schaltete das Radio an. Auf NDR2 trällerten die frühen Beatles Mr. Moonlight.

Sofort bekam Ruth ein ungutes Gefühl.

Mist. Sie hatte die Beatles doch schon lange überwunden.

»Anderer Sender, bitte.« forderte sie schlicht.

»Was denn nun wieder?« fragte Ulbrich sichtlich genervt.

»Ich kann die Beatles nicht ausstehen, okay?«

Näher würde sie auf das Thema nicht eingehen.

»Wer mag denn nicht die Beatles?« fragte Ulbrich. Ruth sah in nur an.

»Schon gut, schon gut«, brummte Ulbrich. Er tippte auf die nächste Sendertaste. Es war FFN. Irgendwas von den Bangles.

Besser. Nicht gut, aber besser.

 

 

Durch das weißschwarze Spalier der Birken vor Ihnen drang das blaue Geisterlicht der Einsatzfahrzeuge und spiegelte sich hundertfach in den Tropfen, auf der Windschutzscheibe. Der auf Intervall gestellte Scheibenwischer machte ihnen ein jähes Ende. Jetzt konnte Ruth erkennen, dass um den Fundort der Leiche bereits ein ziemlicher Trubel herrschte. Die gehetzten Gesichter der Kollegen, die vor Ort waren, erzeugten in Ruth ein Gefühl der Unruhe, dass sie seit Jahren erfolgreich verdrängt glaubte.

Irgendetwas stimmt hier nicht. Sie konnte es fast mit den Händen greifen.

»Ich möchte mich entschuldigen«, sagte Ulbrich plötzlich und vertrieb Ruths ungutes Gefühl. Er machte eine Pause und knüllte das Taschentuch zwischen seinen Händen. »Normalerweise bin ich nicht so. Die Jungs haben gesagt …« Er verstummte. Vielleicht gab es doch noch Hoffnung für ihn.

»Wir reden später, Ulbrich.«

Sie stellte den Motor ab. Sie stiegen aus und Ruth begutachtete die Position der Bälle auf dem Tisch.

 

 

Durch ihre Zeit bei der Mordkommission hatte Ruth gelernt sich den Tatort eines Verbrechens als eine äußerst komplizierte Stellung beim Billard vorzustellen. Der Täter hatte seinen Stoss gemacht und nun lag es an ihr aus der vor ihr liegenden Struktur von Spuren zu deuten, wie der Täter sein Verbrechen begangen hatte.. Daraus konnte sie dann schließen, mit was für einem Täter sie es zu tun hatte.

Ruth blickte sich suchend nach Ulbrich um und bekam gerade noch mit wie er Schmitt wütend auf die Schulter boxte. Schmitt grinste. Mensching, der neben ihm stand, führte Mittel- und Zeigefinger zum »V« gestreckt an den Mund und ließ dazwischen die Zunge auf und ab schnellen – Die Macho-Geste für eine Lesbe. Ulbrich starrte die Beiden nur finster an und stapfte dann davon.

Sie wollte gerade zu den Männern hinübergehen, als sich Heiner Enke ihr in den Weg stellte. Offensichtlich war er der ermittelnde Kripobeamte vor Ort.

Gott steh uns bei, dachte sie.

Ruth hatte gehofft einen schnellen Blick auf den Tatort werfen zu können, doch mit Enke war das nicht zu machen. Er schien wirklich zu glauben, dass er seinen Posten allein durch seine Gott gegebenen Fähigkeiten als Superpolizist gekommen war. Die weniger spektakuläre Wahrheit war jedoch, dass Enke Ruths Posten übernommen hatte, als sie sich vor zwei Jahren entschlossen hatte, sich zum Kommissariat Bardowick versetzen zu lassen.

Enke war hager und einen halben Kopf kleiner als Ruth. Er trug die legere Kleidung eines Zivilfahnders und gelte seine dünner werdendes Haar immer noch nach hinten. Enke Grinsen war breit und verhieß nichts Gutes.

»Bist richtig sexy in Uniform, Marx.« begrüßte sie Enke.

»Das ist der Unterschied zwischen uns, Enke. Du wirst nie sexy aussehen.« entgegnete sie freundlich.

»Immer noch ganz die Alte.« Ein zufriedener Ausdruck der Überlegenheit erschien auf seinem Gesicht. »Ich hatte gehofft, dass dich der Streifendienst ein wenig zahmer macht.«

Wütend ging Ruth einen Schritt auf Enke zu. Enke stoppte sie, indem er seine flache Hand auf ihre Brust legte. Sie ballte die Fäuste und stemmte sich gegen ihn. Doch Enke hielt dem Druck stand.

»Ah-Ah-Ah, Marx. Du zertrampelst mir nur die Spuren an meinem Tatort.«

Sie würde ihn schlagen. Jetzt.

In diesem Moment war es ihr egal, ob sie ein Disziplinarverfahren bekam. Da rief jemand von der Spurensicherung Enkes Namen. Er lächelte sie an und nahm ein wenig zu langsam seine widerliche Hand von ihr. »Ich werde gebraucht.« sagte er und machte eine scheuchende Handbewegung.

»Husch, husch. Sei schön brav und pass' auf wo du hintrittst.« Damit ließ er sie stehen.

Pass auf wo du hintrittst. Was bildete sich dieser arrogante Sack nur ein? Sie hatte sich gerade umgedreht und einen Schritt vorwärts gemacht, als sie bemerkte, wie sie mit ihrem rechten Stiefel gegen etwas Hartes trat, dass vom Schnee verborgen war. Es fühlte sich irgendwie seltsam an. Sie blickte zum Fundort der Leiche. Im Nachtfrost dampfende Halogen-Scheinwerfer beleuchteten hell das Quadrat des Tatorts, etwa zehn Meter vor ihr. Enke stand dort und versuchte im strahlenden Gegenlicht möglichst wichtig auszusehen. Hatten die Jungs von der Spurensicherung vielleicht etwas übersehen? 

Sie benutzte ihre Stiefelspitze als Schaufel und befreite das ›Etwas‹ vom Schnee. Es war länglich und steckte in der Mulde eines alten Kaninchenbaus. Wahrscheinlich nur ein Ast oder eine Wurzel. Nichts von Belang. Sie bückte sich und zog es mit ihren behandschuhten Fingern heraus. 

Es war der Unterschenkel eines Kindes.

Die Enden des Waden- und Schienenbeinknochens ragte aus dem blassen Fleisch. Sie zog den Beinstumpf ganz heraus. Eine gewaltige Kraft musste den Schenkel vom Körper getrennt haben. Am unteren Ende steckte auf dem kleinen Fuß noch ein Söckchen. Undeutlich war darauf eine verblasste Comicfigur zu erkennen.

Nur auf Socken durch den Schnee. Gott, du musst so gefroren haben, mein Kleiner, dachte Ruth.

Der Schocks umfing Ruth wie ein Schwall kalten Wassers. 

Alles, was sie die letzten zwei Jahre erfolgreich verdrängt hatte, durchstieß die Oberfläche und packte ihren Verstand bei der Kehle.

Leonies leerer Sarg. Die gelbschwarze Stoff-Tigerente, halbbedeckt von Erde und ein paar Blumen. Maries starrer, verbitterter Blick am Grab. Leonies fröhliches Lachen. Ihr wunderschönes Gesicht. Sommerduft. Marie, schlafend in Ihren Armen. Als ihr Leben noch gut und heil war.

Ich werde schreien. Ich werde schreien, weil es wieder da ist. Es hat mich gefunden und eingeholt. Und jetzt wird es mir ganz einfach den Verstand rauben. Oh bitte, Gott!

Sie bemerkte, wie im Traum, Ulbrich, der sich lautstark erbrach.

Schon in Ordnung, dachte sie, denn sie folgte beinahe seinem Beispiel. Aber nur beinahe.

Du darfst nicht die Kontrolle verlieren. Das macht dieses Kind nicht wieder lebendig. Ebenso wenig Leonie. Und Marie hasst dich dafür keinen Deut weniger.

ABER ES WAR DOCH WIEDER DA! ES WAR WIEDER DA! ES WAR ALLES WIEDER DA!

Sie sog die kalte Luft ein. Schmitt kam, und half ihr beim Aufstehen. Sie nickte ihm dankend zu. Dann begann ihr Magen zu rebellieren und sie riss sie sich plötzlich los. Mit schnellen Schritten versuchte sie den Tatort zu verlassen.

Nicht den Tatort mit Deiner DNA kontaminieren. Nicht den Tatort mit Deiner DNA kontaminieren. Nicht den Tatort …

Sie hätte es beinahe geschafft. Dann fühlte sie fast dankbar, wie ihr Mageninhalt, scharf und brennend wie Säure, ihren Hals herauf schoss.

Zum ersten Mal in zwanzig Dienstjahren übergab sich die Ruth Marx an einem Tatort.

 

 

Spät in der Nacht saß Ruth in ihrem kleinen Büro im Polizeikommissariat Bardowick. Der Ort im Norden von Lüneburg war eine eigenständige Gemeinde, die schleichend von der Stadt verschluckt wurde.

Doch noch war es nicht soweit. Daher verfügte Bardowick über ein eigenes Kommissariat, in dem Ruth Marx die Leitung hatte. Das Interieur der Wache war noch nicht im neuen Jahrtausend angekommen. Es bot die verträumte Kulisse aus einer schlechten Polizeiserie im Fernsehen, in der Polizeikommissare nie befördert und die Assistenten ewig den Wagen zu holen hatten.

Hölzerne Regale, auf denen sich Akten stapelten, graue Siemens-Telefone und von Zigarettenrauch vergilbte Fahndungsplakate. Auf einigen wurden noch Terroristen der RAF gesucht. Die Computer stammten aus einer Zeit, in der Bill Gates noch seine Akne pflegte, oder stammten von Kollegen, die sich für Ihren Sohn bei Aldi einen neuen Rechner zugelegt hatten und den alten in den Dienst der Polizei stellten.

Ruth hatte den Stapel der aktuellen Akten auf ihrem Schreibtisch beiseite geräumt und starrte beim spärlichen Licht ihrer alten, metallenen Schreibtischlampe auf den Schirm ihres privaten Apple Laptops.

›BYOD‹ - ›Bring Your Own Device‹ war gerade der neueste Schrei in der Geschäftswelt - Bei der Polizei Niedersachsen war es ein notweniges Übel, wenn man vernünftig arbeiten wollte.

Ruth kannte Herbert, den Fotografen der Spurensicherung noch gut von früher und hatte ihn überredet, die Bilder vom Tatort zu kopieren. Sie überflog die verkleinerte Bilderflut, die sich ihr in einem grausamen Patience-Spiel auf dem Schirm präsentierte. Sie klickte eines der Fotos an und die Abbildung des Beweisstückes 2010-6 der Mordsache Unbekannt, Aktenzeichen 2010-38-12-11 erschien.

Es handelte sich um eine einzelne Kindersocke der Größe 31, weiß, mit verblichenem Aufdruck.

Selbst in einem idyllischen Landkreis wie Lüneburg wurden ›Straftaten gegen das Leben‹ begangen. (Ruth irritierte die euphemistische Sachlichkeit des Begriffs seit sie ihn auf der Polizeischule das erste Mal gehört hatte).

Im vergangenen Jahr hatte es im Regierungsbezirk Lüneburg 16 Mordversuche gegeben. Sechs davon führten zum Tod des Opfers. Keines davon war ein Kind. Die Aufklärungsquote lag bei diesen Delikten nahezu bei 95%. Die fehlenden Prozentpunkte in der Statistik rührten daher, dass in zwei Fällen das Landeskriminalamt die Ermittlungen übernahm, da die Täter sich außerhalb des Bezirkes aufhielten.

Für einen Polizisten war es besonders schlimm, wenn ein Kind das Opfer eines Verbrechens oder eines tödlichen Unfalls wurde. In ihren zwanzig Dienstjahren hatte Ruth schon mehrmals miterlebt, wie Kinder von Lastwagen überfahren, aus Fenstern gestürzt oder bei Wohnungsbränden erstickt waren. Es gab hier auch die - Gott sei Dank relativ seltenen - Fälle von sexuellem Missbrauch.

Aber dass ein Kind von einem Täter buchstäblich in Stücke gerissen wurde, war in der Lüneburger Kriminalgeschichte noch nicht vorgekommen.

Und dann gab es noch die selteneren Fälle, in denen ein Kind spurlos verschwand.

 

 

Es geschah an einem Samstag, kurz vor vier Uhr nachmittags. Leonie spielte im Garten des roten Backsteinhauses, dass sie mit ihrer Mutter Marie und ihrer zweiten Mutter Ruth am Rand des Kurparks bewohnte.

Leonie sollte in diesem Jahr eingeschult werden. Sie war ein aufgewecktes, fröhliches und absolut unkompliziertes Kind. Ruth erinnerte sich noch gut daran, wie sie und Marie gerade in der Küche saßen und Leonie beim Spielen beobachteten.

Ruth und Marie waren seit sechs Jahren ein Paar. Sie trafen sich zum ersten Mal auf einer Party einer gemeinsamen Freundin und Ruth verliebte sich auf der Stelle in die schöne, etwas scheue dunkelhaarige Marie. Ruth war gerade Hauptkommissarin geworden und Marie stand kurz vor der Fertigstellung ihrer Doktorarbeit in Biologie.

Es brauchte einige Wochen, bis Ruth mit Sicherheit wusste, dass Marie wie sie selbst lesbisch war.

Vor sieben Jahren hatte Marie ihren Mann Volker kennengelernt und geheiratet. Doch Volker machte sich bei Leonies Geburt aus dem Staub und zog es vor, lieber Altertümer irgendwo in der Osttürkei auszugraben.

Nach ersten, unsicheren Wochen dauerte es dann weitere zwei Monate bis Ruth und Marie zusammenfanden. Für Marie war Ruth die erste Beziehung mit einer Frau seit ihrem Studium.

Nur kurze Zeit darauf zogen Ruth, Marie und Leonie in das rote Haus in der Uelzener Straße. Es lag gegenüber dem Oberverwaltungsgericht und in der Nähe des MTV Sportplatzes, den Leonie immer Em-Ti-Vi aussprach, da für ein Kind ihres Alters MTV nicht mehr die Abkürzung für ein Männer-Turn-Verein, sondern die eines in die Jahre gekommenen Musiksenders war.

Ruth trocknete gerade das Geschirr. Sie sah auf und konnte Leonie nicht mehr im Garten spielen sehen.

Es war ein warmer, schöner Sommertag. Ruth sah fragend zu Marie.

»Hast du sie gesehen?«

»Sie ist bestimmt in den Park zu den Hunden gelaufen.« Sie wollten schon lange das Loch im Zaun flicken lassen. Maries Tonfall war gelassen, doch ihr besorgter Blick sagte etwas anderes. Sie war gerade dabei gewesen, einen Kuchen zu backen. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Etwas Teig klebte an ihren Fingern.

»Gehst Du?« fragte sie. Ruth lächelte nickend und stibitzte ein wenig Teig aus der Schüssel.

»Hey!« rief Marie. Noch Jahre später musste Ruth an diesen Moment denken. Er war perfekt gewesen.

Das reine Glück.

 

 

Ruth ging hinaus und schlüpfte durch das schmale Loch im Zaun, der ihren Garten vom Kurpark trennte. Sie stand auf dem Sandweg der parallel zu den Häusern verlief. Sie sah nach links und rechts. Keine Leonie.

»Leonie!« rief sie. Ach, dieses Kind. Bestimmt war sie auf der Wiese. Leonie hatte sich Hals über Kopf in den Cockerspaniel von Herrn Berger verliebt, den er immer im Park Gassi führte. Wie hieß er noch gleich?

»Hitchcock!« rief eine Stimme auf der großen von Bäumen umrahmten Wiese vor ihr.

Hitchcock. Richtig. Würde eher zu einem Mops passen, dachte Ruth als sie auf Jürgen Berger traf. Berger war Dozent für Angewandte Kulturwissenschaft an der Leuphana-Universität. Ruth, die nie studiert hatte, brachte Akademikern wie Berger eine gesunde Portion Skepsis entgegen. Sie hatte bei verschiedenen Gelegenheiten einige Vertreter dieser gesellschaftlichen Kaste kennengelernt. Ruths Erfahrung nach waren drei Viertel  nicht in der Lage ihr eigenes Arschloch mit einer Taschenlampe zu finden.

Und Berger fiel genau in in diese Kategorie.

Ruth blieb stehen und beschirmte mit der flachen Hand ihre Augen vor der Nachmittagssonne. Berger war ein Mann in den späten Vierzigern. Sein Blick glitt unverhohlen über weite Teile von Ruths Körper. Sie trug Jeans und ein schlichtes, bauchfreies Tanktop. Aufreizend genug für einen Geisteswissenschaftler. Sie gönnte ihm den Spaß. Sie hatte von Marie gehört, dass Bergers Frau ihn gerade verlassen hatte.

»Haben sie vielleicht Leonie gesehen?« fragte Ruth außer Atem.

»Nein, Heute noch nicht.« Bergers Taxierung war beendet und er blickte sie jetzt mit ernsthafter Besorgnis an. »Ist sie weggelaufen?«

»Wahrscheinlich stromert sie nur herum. Aber eigentlich weiß sie, dass sie sich immer abmelden muss.«

»Kinder.« pflichtete der kinderlose Berger bei.

»Irgendetwas stimmt nicht.« murmelte Ruth mehr zu sich selbst. 

»Hören sie, ich geh den alten Kurpark und die Tennisplätze ab und geben ihnen sofort Bescheid, wenn ich sie sehe.«

»Das ist sehr nett, Danke.« antworte Ruth. »Oh, Haben Sie überhaupt unsere Nummer?«

»Ich glaube ich habe die Handy-Nummer von Marie.« Er sah in seinem Mobiltelefon nach. »Ja, die habe ich. Hier ist sie.«

Er verabschiedete sich und ging in Richtung der Tennisplätze.

Ruth ging wieder zurück in den nördlicheren Teil des Parks, der auch der ›Neue Kurpark‹ genannte wurde. Sie steuerte den Ententeich an und fragte ein Paar junge Mütter die mit ihren Kindern die Enten fütterten nach Leonie. Auch die Mütter verneinten Leonie gesehen zu haben und begutachteten kritisch Ruths legere Erscheinung.

Kann sich nicht richtig anziehen und auf ein Kind kann sie auch nicht aufpassen.

Ruth ließ sie stehen und ging weiter Richtung Norden.

 

 

Ruth nahm zuerst das plätschernde, beruhigende Rauschen des Springbrunnens wahr. Plötzlich flammte vor ihrem geistigen Auge Leonies kleines Gesicht unter der Wasseroberfläche auf. Es war schon vorgekommen, dass kleine Kinder in einem flachen Gartenteich ertrunken waren.

Sie ist schon fast sieben. Hab ein bisschen vertrauen.

Trotzdem … So schnell sie konnte, rannte sie zum Brunnen. Im Grunde war es nur ein etwa sieben mal fünf Meter großes, flaches Becken. Aus der Mitte stob eine Fontäne, von der Leonie in ihrem Kinderglauben zunächst annahm, dass sie von einem einbetonierten Wal stammte. Daraufhin hatten Marie und Ruth eine Gute Nacht Geschichte über die tapfere Leonie erfunden, die den kleinen Wal befreite und ihn - auf seinem Rücken reitend - zu seinen Eltern zum nördlichen Polarmeer lotste.

Mit einem schnellen Blick suchte Ruth das seichte Wasser des Brunnens und den vorgelagerten, rechteckigen Ablauf ab.

Nichts. Gut. Eine Sorge weniger. Aber dennoch hatte Ruth weiterhin ein ungutes Gefühl. Leonie spazierte nicht einfach davon. Wie lange suchte sie jetzt schon nach ihr? Fünf Minuten? Zehn? Vielleicht war Leonie schon wieder zu Hause. Sie lief zum Haus zurück. Doch Leonie war nicht dort. Gemeinsam mit Marie suchte sie systematisch den Park und die umliegende Umgebung ab.

Nichts.

Marie rief Leonies Freundinnen vom Kindergarten an, Ruth verständigte ihre Kollegen auf Streife, dass sie Ausschau nach Leonie halten sollten. Doch Leonie Weber blieb für immer spurlos verschwunden.

 

 

Ruth hatte Ulbrich erst bemerkt, als er mit einem Räuspern auf sich aufmerksam machte.

Hatte sie geweint? Mit einer schnellen Bewegung prüfte sie die Wangen ihres Gesichts. Nein. Alles klar.

Ulbrich hielt zwei Becher dampfenden Kaffees in den Händen. Im Gegenlicht konnte man Peter Ulbrich für ein ganz ansehnliches Exemplar von Mann halten. Er war groß, gut gebaut, blondes Haar und blaue Augen.

Er reichte Ruth stumm einen der Becher. Ein sprechendes Hanfblatt war darauf abgebildet, und fragte in einer Sprechblase über seinem Blättern, ob der Benutzer des Bechers nicht high werden wolle. Ruth sah Ulbrich fragend an. 

»Oh. Das ist mein Becher. Ist von meinen Kumpels. Sie fanden es witzig, weil ich ja Polizist bin und …«

Er unterbrach seinen ungewöhnlich ausführlichen Redefluss und kratzte sich verlegen am Kopf. Er warf einen Blick auf ihr Laptop.

»Nettes Teil.« Ruth nickte stumm und klappte den Bildschirm des Laptops herunter. Sie wollte nicht unbedingt, dass Ulbrich mitbekam, dass sie sich die Bilder vom Tatort überspielt hatte.

»Teuer?« fragte er.

»Was?« fragte Ruth verwirrt zurück. »Äh, es geht.« entgegnete sie.

Ulbrich nickte. Es entstand eine peinliche Pause. Schließlich fasste sich Ulbrich ein Herz und brach die Stille.

»Ich möchte mich für mein Verhalten vorhin nochmals entschuldigen. Ich … ich weiß auch nicht warum ich mich auf diese blöde Wette eingelassen habe. Ich …«, begann Ulbrich.

Sie brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Mit einer weiteren bat sie ihm ihr gegenüber Platz zu nehmen. Ulbrich, rot wie eine Tomate, setzte sich.

»Entschuldigung ist jetzt akzeptiert.« Sie seufzte. Jetzt war wohl sie an der Reihe.

»Ich möchte mich auch in aller Form für meine Tätlichkeit entschuldigen. »Ich habe überreagiert. Sorry.«

»Nein. Das haben sie nicht. Ich hatte es echt verdient.« stellte Ulbrich knapp fest. Er sah ihr in die Augen, und sie konnte nur ehrliche Betroffenheit darin entdecken.

»Neustart?« fragte er und streckte Ruth die Hand hin.

Ruth betrachtete die Hand, dann Ulbrich. Schließlich lächelte sie und schlug ein.

»Neustart.«

Ulbrichs Blick fiel auf den Bericht über den Fund von Björn Eggerts Bein, den Ruth in Begriff war zu schreiben.

»Schöne Scheiße, was?«

»Wir können es uns nicht aussuchen.« Ruth überlegte. Ulbrich war offensichtlich nicht so dumm, wie sein vorheriges Verhalten vermuten ließ. Daher formulierte sie die folgende Frage so belanglos wie möglich: »Wissen sie, ob man noch weitere Spuren gefunden hat?«

»Wenn es noch weitere gab, dann hat sie der Schnee von heute Nacht zugedeckt.«

Ausgerechnet in diesem Jahr hatte der Klimawandel in Norddeutschland eine Pause eingelegt. Normalerweise war der November in Lüneburg nur eine kältere Version des Aprils. Norddeutsches Schmuddelwetter. Doch dieses Jahr hatte es schon Anfang November Schnee gegeben, der liegen blieb. Die Meteorologen sprachen schon von einem bevorstehendem Jahrhundertwinter. 

»Der Förster hat das Kind gefunden. Kontrollierte die Futterstände für das Wild. Hat seine Aussage gemacht.« Er berührte mit seiner Zunge leicht die Lücke in seiner Zahnreihe.

»Habe seine Aussage aufgenommen und ihn nach Hause geschickt. Meinen sie, dass das für Enke in Ordnung geht?«

»Sicher.« entgegnete Ruth zerknirscht. Natürlich war es für Enke in Ordnung mit einem Zeugen nicht persönlich zu sprechen. Enke war ein Idiot.

»Haben wir irgendwelche Meldungen über vermisste Kinder reinbekommen?« fragte sie.

»Nein. Vorgestern hatten sich drei Jungen bei Hitzfeld im Wald verlaufen. Waren aber ein paar Stunden später wieder Zuhause.«

»Würden sie mir einen Gefallen tun?«

»Klar.«

»Könnten sie ab und zu mal horchen, was die Kollegen von der MoKo in Erfahrung gebracht haben?«

Ulbrich zögerte, dann nickte er.

»Ich denke, dass lässt sich machen.«

Wieder Stille. Ulbrich blickte sie fragend an. Dann hatte er es.

»Okay, dann.« Er stand auf und verschüttete dabei ein wenig Kaffee aus seiner Tasse. Er deutete auf ihre.

»Behalten sie die Tasse erstmal. Ich meine, solange sie sie brauchen.«

Irgendwie war er ganz süß, dachte sie schmunzelnd, als Ulbrich das Büro verlassen hatte.

Plötzlich fühlte sie sich unendlich einsam. Vielleicht sollte sie Selina anrufen. Sie war in Ruths Leben das, was einer Freundin am Nächsten kam.

Nein. Du bist ein großes Mädchen. Du schaffst das auch allein.

Dann kamen endlich die Tränen.

Ruth Marx beweinte das tote, unbekannte, Kind, die verschwundene Leonie, ihre verlorene Liebe zu Marie … und sich selbst und ihr beschissenes Leben.

Sie weinte, bis ihre Lungen brannten und sie vor Erschöpfung keine Kraft und keine Tränen mehr übrig hatte.

Langsam fühlte sie, wie es ihr besser ging. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und begann dann ihren Bericht zu schreiben.

28 Tage

 

 

 

 

 

 

28 TAGE


Die Polizeidirektion Lüneburg war ein schmuckloser Bau im Norden der Stadt. Ruth mochte dieses Gebäude. Hier hatte sie als Kriminalkommissarin Lüneburg jeden Tag ein wenig sicherer gemacht - oder es zumindest versucht. Als Polizistin wusste sie, dass Sicherheit im Grunde nur eine zerbrechliche Illusion war.

Vor Leonies Verschwinden war sie noch selbst dieser Illusion erlegen.

Vielleicht konnte sie jetzt wieder einen kleinen Beitrag leisten. Sie stand kurz in der Kälte vor der Eingangstür und nestelte nervös an ihrem wie immer widerspenstigen Haar.

Dann holte sie ihren Dienstausweis hervor, wies sich an der Pforte aus, hinterließ ihre Dienstwaffe und wurde eingelassen.

Die Rote Ruth kriecht zu Kreuze. Allein deswegen würde Enke sie mit in die Ermittlungen einbeziehen – das war zumindest der grobe Plan.

 

 

»Vergiss es.« sagte Enke. Ruth stand ein wenig verunsichert vor Enkes Schreibtisch in dem kleinen Büro, dass einmal ihr Büro gewesen war. Das Gespräch entwickelte sich nicht ganz so, wie sie es sich zurechtgelegt hatte. Seufzend stieß sie die Luft aus. Eine ihrer roten Strähnen erhob sich dabei in die Luft.

»Enke.«

Enke sah sich ein paar Protokolle an und tat so, als hätte sich Ruth in Luft aufgelöst. Er sah verblüfft auf, als wäre er überrascht, dass sie noch immer vor ihm stand.

Ruth hasste diese Art von Spielchen. Nein. Eigentlich hasste sie Enke.

»Was machst du noch hier?« fragte er.

Männer waren einfach nur Kinder, die irgendwann aus ihren Kindersachen herauswuchsen. Ansonsten veränderten sie sich nach ihrem achten Geburtstag nicht mehr großartig.

»Herrgott, muss ich mich vor dir auf den Boden werfen und betteln?«

»Glaub mir, an jedem anderen Tag würde ich dafür sogar was springen lassen, aber leider hab ich hier im Moment den Mord an einem kleinen Jungen aufzuklären.«

Ruth stand kurz vor der Explosion.

»Das wars, also?« Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. Sie war kurz davor die Kontrolle über sich zu verlieren. Das süffisante Grinsen von Enke war ihrer Beherrschung nicht gerade förderlich.

»Ich denke schon. Wünsche noch einen schönen Tag, Schutzpolizistin Marx.« Ruth konnte ihre Wut nicht mehr zügeln.

»Ich glaube, der Mord an dem Jungen steht im Zusammenhang mit dem Verschwinden von Leonie. Siehst du das nicht?«

»Alles, was ich im Moment sehe, ist eine ehemalige Kriminalkommissarin, die vor

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 18.02.2014
ISBN: 978-3-7309-8470-3

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Caroline Immer. Immer wieder.

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